Sisyphos im Management - Stefan Kühl - E-Book

Sisyphos im Management E-Book

Stefan Kühl

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Beschreibung

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen heute eigenverantwortlich handeln, aber möglichst nur in dem vom Management vorgegebenen Rahmen. Man fordert von ihnen, wie »Unternehmer in Unternehmen« zu agieren, dabei immer im Sinne des gesamten Unternehmens. Stefan Kühl analysiert systematisch die Paradoxien und Widersprüche, die durch die neuen Managementkonzepte entstehen. Anhand aktueller Trends im Managementdiskurs zeigt er, warum die Suche nach einer optimalen Organisationsstruktur vergeblich ist und warum das Management diese Suche trotzdem nicht aufgeben sollte.

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Stefan Kühl

Sisyphos im Management

Die vergebliche Suche nach der optimalen Organisationsstruktur

2., aktualisierte Auflage

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen heute eigenverantwortlich arbeiten, aber möglichst nur in dem vom Management vorgegebenen Rahmen. Stefan Kühl analysiert systematisch die Paradoxien und Widersprüche, die durch die neuen Managementkonzepte entstehen. Anhand aktueller Trends zeigt er, warum die Suche nach einer optimalen Organisationsstruktur vergeblich ist und warum das Management diese Suche trotzdem nicht aufgeben sollte.

Vita

Stefan Kühl ist Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Organisationsforschung an der Universität Bielefeld. Er arbeitet als Organisationsberater der Firma Metaplan in Quickborn für Ministerien, Unternehmen, Verwaltungen, Krankenhäuser und Universitäten.

In seiner Trilogie zu neuen Entwicklungen im Management sind im Campus Verlag außerdem »Wenn die Affen den Zoo regieren. Die Tücken der flachen Hierarchien« (6., akt. Auflage 2015) und »Das Regenmacher-Phänomen. Widersprüche im Konzept der lernenden Organisation« (2., akt. Auflage 2015) erschienen.

Kontakt zum Autor über [email protected] [email protected].

Inhalt

Die optimale Organisationsstruktur und die Suche nach dem heiligen Gral der Organisation – Vorwort

Die drei Seiten einer Organisation

Wider den Drang zum »Allerneusten«

Zum Spannungsverhältnis von Organisationstheorie und Organisationspraxis

Kapitel 1Zum Umgang mit Paradoxien und Dilemmata neuer Organisationsformen – Einleitung

1.1. Das Junktim zwischen zweckrationaler Entscheidungsfindung und dem bürokratischen Organisationsmodell

1.2. Eine neue Vorstellung, wie die optimale Organisationsstruktur aussieht

1.3. Paradoxien und Dilemmata – ein neuer Fokus

Kapitel 2Die Heimtücke der eigenen Organisationsgeschichte

2.1. Das »Sei-Selbstständig«-Paradox: Die zentralistische Einführung dezentraler Strukturen

2.2. Das »Entscheide-selbst-aber-nur-unter-Vorbehalt«-Paradox: Das Management lässt entscheiden

2.3. Das »Organisier-dich-selbst-aber-nicht-so«-Paradox: Die Bedrohung der bereits existierenden Selbstorganisation

2.4. Paradoxien: Eskalation oder Bewältigung

Kapitel 3Die Mythen um unternehmerisch handelnde Mitarbeiter

3.1. Mythos: Unternehmerisches Handeln lässt sich auf allen Ebenen der Organisation gleichzeitig einführen

Nicht jeder kann Unternehmer sein – Widersprüche im Konzept des »Unternehmers im Unternehmen«

Interne Konflikte und informale Abmilderungsprozesse

3.2. Mythos: Die Mitarbeiter als neue Machthaber im Unternehmen

Fiktion der reinen Märkte

Die Unterschiede zwischen internen und externen Märkten

3.3. Mythos: Das Konzept der Intrapreneurship fördert die Integration der Mitarbeiter in das Unternehmen

Das Dilemma der Gleichzeitigkeit von Integration und Ausschluss der Mitarbeiter

Das Paradox von »Unternehmern im Unternehmen«

Die Internalisierung des Dilemmas von Einschluss und Ausschluss

3.4. Paradoxe Verhaltensanforderungen in vermarktlichten Organisationen

Kapitel 4Qualität: Paradoxe Effekte und ungewollte Nebenfolgen des Qualitätsmanagements

4.1. Die Auseinandersetzung mit den impliziten Spielregeln: Informalität als Umgangsform mit paradoxen Verhaltensanforderungen

Probleme bei der Überführung informalen Wissens in Standards

Die Funktionalität von Regelabweichungen

4.2. Der paradoxe Effekt eines integrierten Qualitätsmanagements

Konkurrenz zwischen betrieblichem Vorschlagswesen, KVP und Kaizen: Der Fall eines Mittelständlers

Ansätze zu einem integrierten Qualitätsmanagement: Die Verschärfung des Konflikts

4.3.·Der Rückstoßeffekt: Der Japan-Mythos im Qualitätsmanagement

Mythos: Das effektive und effiziente Qualitätsmanagement war für den wirtschaftlichen Erfolg Japans verantwortlich

Der Rückstoßeffekt: Probleme der japanischen Wirtschaft

4.4. Anpassung an die Interessen der Beratungsfirmen und Qualitätsabteilungen

Qualitätszirkel und Kaizen: Angepasst an die Funktionsweise von Beratungsfirmen

Stärken und Schwächen eines workshopbasierten Qualitätskonzeptes

4.5. Der Zwang zu zählbaren Leistungen: Die Schweigespirale des Qualitätsmanagements

Der Hang zur Quantifizierung der Erfolge im Qualitätsmanagement

Das Mythenbündnis aus Qualitätsmanagern, Beratern und Teamleitern

Vom Schweigezirkel zur Schweigespirale: Die Steigerung der Mythenbündnisse

4.6. Qualitätsmanagement ist die Antwort – doch was war eigentlich die Frage?

Kapitel 5Zentralisierung durch Dezentralisierung

5.1. Das Managementkonzept des Führens im Team: Die Erweiterung der Gruppenarbeit auf die erste Führungsebene

Planungs- und Beratungsgruppen als teamorientierte Führungsstruktur im operativen Management

Gründe für die Einführung von Teamstrukturen

5.2. Probleme der Zusammenarbeit im Team

Das Problem der Entscheidungsfindung unter den Bedingungen des Konsensprinzips

Diffusion von Verantwortung

Das Gegeneinanderausspielen des Führungsteams durch die Mitarbeiter

Machtkämpfe in Führungsgruppen

Die blinden Flecken beim Führen im Team

5.3.·Das Dezentralisierungsparadox: Führung im Team und die Zentralisierung von Entscheidungen

Hierarchische Durchgriffsmöglichkeiten bei teamorientierten Führungsstrukturen

Hierarchie als Stoppregel für Leerlauf bei der Entscheidungsfindung in Gruppen

Erosion dezentraler Entscheidungsstrukturen

5.4. Variationen der zentralisierten Dezentralisierung: Konsequenzen für die Diskussion über neue Organisationsformen

Zentralisierte Dezentralisierung als Managementstrategie

Paradoxe Effekte, ungewollte Nebenfolgen und Dilemmata der Dezentralisierung

5.5. Zentralisierung der Entscheidungskompetenzen als ungewollte Nebenfolge der Dezentralisierung

Kapitel 6Über das erfolgreiche Scheitern von Gruppenarbeitsprojekten

6.1. Die Relativität des Effizienzarguments in der Gruppenarbeit

Die Relativität des Effizienzarguments

Die Konstruktion von Effizienz und Effektivität und der Streit um die Deutungsmacht

Perspektive: Die Dekonstruktion von Effizienzbestimmungen

6.2. Das Humanisierungsargument, machttheoretisch gewendet: Gruppenarbeit – eine problematische Tauschbörse für die Mitarbeiter

Der Hybridcharakter der Macht und die Skepsis gegenüber der Gruppenarbeit

Drohender Machtverlust für die Mitarbeiter durch die Umstellung von Konditional- auf Zweckprogrammierung

6.3. Das fehlende Lock-in: Die Erosion von Gruppenarbeit

Konditionalprogramme, Technisierung und Lock-ins

Das Modell der Entscheidungsprämissen und die Bedeutungszunahme von Personal in der Gruppenarbeit

Die Probleme der Entscheidungsprämisse Personal

Das gespaltene Lock-in der Gruppenarbeit

6.4. Das erfolgreiche Scheitern von Gruppenarbeitsprojekten

Kapitel 7Innovation trotz Imitation

7.1. Vom Nutzen und Schaden des schönen Scheins

Lernschwäche: Schwierigkeiten mit der doppelten Wirklichkeit von Unternehmen

Die Entmoralisierung der Auseinandersetzung über die doppelte Wirklichkeit

Die Funktion der doppelten Wirklichkeit

7.2. Organisationsstruktur als Marketinginstrument

Gründe für die zunehmende Bedeutung der doppelten Wirklichkeit

Organisationsstruktur: Das Marketinginstrument der Organisation

7.3. Wie entstehen neue Organisationsformen? Imitation plus

Mehr als einfaches Kopieren

Die Institutionalisierung der Leitbildinnovation

7.4. Paradoxe Anforderungen

Kapitel 8Jenseits eines verengten zweckrationalen Organisationsverständnisses

8.1. Die Unmöglichkeit der andauernden Thematisierung von Paradoxien und Dilemmata

8.2. Der Nutzen der Sisyphusarbeit

Nachwort zur Methodik

Anmerkungen

Literatur

Die optimale Organisationsstruktur und die Suche nach dem heiligen Gral der Organisation – Vorwort

Den Traum von der optimalen Organisationsstruktur gab es schon, bevor sich im 17. und 18. Jahrhundert ein allgemeines Verständnis ausbildete, was eine Organisation überhaupt ist. Schon die Sassaniden, die im 3. Jahrhundert nach Christus Persien dominierten, debattierten, wie man die Herstellung von Glas und Seide optimieren könnte. Zur Hochzeit des Stadtstaates Venedig im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit diskutierten die Räte, wie die Schiffsproduktion am effizientesten organisiert werden könnte. Die holländischen und britischen Kaufleute, die im 16. und 17. Jahrhundert ihre Schiffe nach Asien schickten, um Gewürze einzukaufen, berieten darüber, wie diese Unternehmungen am besten strukturiert werden könnten. Und heute verwenden Unternehmen, Verwaltungen, Armeen, Krankenhäuser, Universitäten, Schulen und Verbände viel Zeit darauf, die Organisationsform auszumachen, die ihnen den am besten geeigneten Rahmen für die optimale Ausführung ihrer Arbeiten bietet.

Gibt es diese optimalen Organisationsstrukturen aber wirklich? Zwar suggerieren Managementbücher, Artikel in Wirtschaftszeitschriften und die Foliengewitter in Praktikervorträgen, dass man den heiligen Gral der Organisation gefunden hat oder jedenfalls sehr nahe daran ist, ihn zu finden. Schaut man jedoch genauer hin, wird offenbar, mit wie viel Widersprüchen die nach Perfektion strebenden Organisationen zu kämpfen haben.

Einerseits sollen Mitarbeiter als »Unternehmer im Unternehmen« innerhalb der Organisation konkurrieren, andererseits sollen sie mit anderen Mitarbeitern kooperieren können. Motto: Alle ziehen gemeinsam an einem Strang, aber nur die Besten setzen sich durch. Einerseits wird von den Mitarbeitern verlangt, dass sie ihren eigenen Weg gehen, andererseits sollen sie das Gesamtziel der Organisation nicht aus den Augen verlieren. Motto: Jeder sucht sich seinen eigenen Weg, aber wir sitzen alle in einem Boot. Einerseits sollen die Mitglieder – wenn nötig – die von oben verordneten Regelwerke verletzen, andererseits die von der Organisation vorgegebenen Strukturen achten. Motto: Tu, was du willst, aber verletze ja nicht die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze. Einerseits soll für Querdenker mit ihrer Kreativität und Flexibilität Platz und Handlungsspielraum vorhanden sein, andererseits sollen die Ressourcen der Organisation möglichst effektiv eingesetzt werden. Motto: Sei unorthodox, behindere dadurch aber nicht die im Namen der Effizienz stattfindende Standardisierung von Abläufen.

Gerade in Organisationen, die Entscheidungskompetenzen dezentralisieren, ihre Hierarchiestufen reduzieren und die strikte Abgrenzung von Abteilungen auflösen, stellen sich grundlegende Koordinationsprobleme: Wie wird die schwierige Koordination zwischen selbstständigen, vorrangig auf sich selbst bezogenen Einheiten hergestellt? Wie lässt sich die Koordination zwischen teilautonomen Gruppen, Prozesslinien, Segmenten oder Profitcentern organisieren, obwohl ihnen ein hohes Maß an Autonomie zugestanden wird? Wie findet der Ausgleich zwischen der geförderten und geforderten lokalen Rationalität der Teams und der Gesamtrationalität der Organisation statt? Das grundlegende Problem von Organisationen ist: Je mehr die einzelnen Einheiten einer Organisation in der Lage sind, sich zu verselbstständigen, desto dringender, aber auch komplizierter wird die Integration dieser Einheiten in die Gesamtorganisation. Mit der zunehmenden Differenzierung in selbstorganisierte, teilautonome Einheiten wird die Integration immer schwieriger, gleichzeitig aber auch immer notwendiger.

Unter diesen Bedingungen ähnelt die Suche nach der optimalen Organisationsstruktur den Bemühungen des Sisyphos, der vergeblich versucht, mit seinem Felsbrocken den Gipfel des Berges zu erklimmen. Genauso wie der Felsbrocken Sisyphos immer wieder entgleitet, genauso wird die Hoffnung des Managements, die optimale Organisationsstruktur gefunden zu haben, immer wieder zunichtegemacht. Die Maßnahmen zur stromlinienförmigen Gestaltung der Organisation produzieren ungewollte Nebenfolgen, die häufig erst nach einiger Zeit zutage treten. Ein zentrales Organisationsproblem mag man in den Griff bekommen haben, aber nur auf Kosten neuer organisatorischer Baustellen, die sich vor dem Management auftun.

Dieses Buch zerstört die Hoffnung, eine optimale Organisationsstruktur für ein Unternehmen, eine Verwaltung, ein Krankenhaus, eine Universität oder eine Armee finden zu können. Es erklärt die ungewollten Nebenfolgen und die paradoxen Effekte, mit denen sich das nach Perfektion und Qualität strebende Management herumschlägt. Nach einer grundlegenden Erörterung des Problems der Suche nach der optimalen Organisationsstruktur (Kapitel 1), die problemlos auch erst am Ende gelesen werden kann, beschäftige ich mich in diesem Buch mit den zentralen Fragen, die sich das Management von Organisationen stellt, wenn es versucht, die Organisation zu optimieren: Warum wehren sich Mitarbeiter gegen die eigene »Ermächtigung« im Rahmen von Dezentralisierungsmaßnahmen (Kapitel 2)? Weswegen lässt sich eine Organisation nicht wie ein großer interner Markt organisieren (Kapitel 3)? Weswegen führt Qualitätsmanagement häufig nicht zu mehr Qualität, sondern zu mehr Bürokratie (Kapitel 4)? Weswegen ist das Ergebnis einer konsequenten Dezentralisierung in einigen Fällen die Zentralisierung von Entscheidungen (Kapitel 5)? Weswegen sind Gruppenarbeitsprojekte nach den Kriterien der Promotoren häufig nur begrenzt erfolgreich und am Ende dann doch erfolgreich scheiternde Projekte (Kapitel 6)? Wie versuchen Unternehmen sich an den Vorstellungen von »gutem Management« zu orientieren und sich trotz der Orientierung an der Best Practice als »einzigartig« darzustellen (Kapitel 7)? Und wie soll man mit den Schwierigkeiten bei der Suche nach der optimalen Organisationsstruktur umgehen (Kapitel 8)?

Die drei Seiten einer Organisation

Bei der Analyse von Organisationen kommt es darauf an, immer die drei Seiten der Organisation im Blick zu haben: die Schauseite, also die nach außen dargestellte aufgehübschte Fassade der Organisation; die formale Seite, die mehr oder minder präzise aufeinander abgestimmten Erwartungen also, an die sich ein Mitglied zu halten hat, wenn es Mitglied bleiben will; und die informale Seite, die Routinen also, die sich in der alltäglichen Arbeitspraxis eingeschlichen haben und sich im Schatten der formalen Seite ausbilden.

Es ist ein unvermeidlicher Effekt der Arbeitsteilung, dass die Mitglieder der Organisation ihre Perspektive besonders auf eine Seite richten (vgl. Kühl 2011: 92). Im mittleren Management dominieren Spezialisten für die formale Programmierung von Organisationen. Hier werden Zielvorgaben ersonnen und neue Regeln formuliert, an die sich die Mitarbeiter zu halten haben. In den operativen Bereichen einer Organisation müssen diese formalen Vorgaben umgesetzt werden. Dies erfordert aber häufig viel spielerische Kreativität beim Auslegen, Reinterpretieren und Unterlaufen der formalisierten Vorgaben. Spezialisten für die informale Seite werden verständlicherweise nicht – beispielsweise als »Chief Informality Officer« – im Organigramm einer Organisation ausgeflaggt; häufig übernehmen Mitarbeiter aus der Personalentwicklung die Rolle des Ansprechpartners für alles, was sich nicht ohne Weiteres in der Formalstruktur der Organisation auffangen lässt. Eine vorrangige Aufgabe der Spitzenpositionen in Organisationen ist es – unterstützt durch Kommunikations-, Presse- und Marketingabteilungen –, die Schauseite der Organisation herzurichten.

Auch wenn es zum guten Stil eines Organisationsmitglieds gehört, zu betonen, dass man immer alle drei Seiten der Organisation im Blick hat, tendieren Organisationsmitglieder abhängig von ihrer Position jedoch dazu, eine der Seiten zu verabsolutieren. Die Formalstrukturexperten haben auf die vielfältigen Ausprägungen von Informalität und die alltäglichen Regelverletzungen in Organisationen häufig nur eine Perspektive: Sie müssen »in Ordnung« gebracht werden. Es werden Berater für Qualitätsmanagement bestellt, die die häufig vorkommenden Regelabweichungen identifizieren und eliminieren sollen. Oder es werden eigene Abteilungen für Controlling oder Konformität – neudeutsch: Compliance – eingerichtet, die die Aufgabe haben, die Regelabweichungen in der Organisation zu minimieren. Schließlich sehen die »Kulturexperten« in den informalen Arbeitsprozessen nicht selten sowohl den »Hort der Menschlichkeit« in einer entfremdeten Arbeitswelt als auch den »Schlüssel zu einer gesteigerten Wirtschaftlichkeit«. Die Verbesserung der »Chemie« wird als Ansatzpunkt dafür gesehen, sowohl glücklichere Mitarbeiter als auch bessere Organisationsergebnisse zu erzielen. Beim Spitzenpersonal von Organisationen lässt sich dagegen beobachten, dass die Prozesse in der Organisation vorzugsweise von der »Schauseite« aus betrachtet werden. Schon Chester Barnard (1938: 120), selbst eine Zeit lang Spitzenmanager beim Telefonkonzern AT&T, hielt fest, dass das Spitzenpersonal das Regelwerk der eigenen Organisation häufig nicht überschaue und weitgehend ahnungslos sei, welche Einflüsse, Einstellungen und Verhaltensweisen die Organisation im Alltag prägen.

Die Spezialisierung und Fokussierung auf je eine Seite der Organisation leuchtet im Sinne von Arbeitsteilung ein. Genauso wie es Sinn ergibt, dass in Unternehmen Spezialisten für Einkauf, Produktion und Vertrieb beschäftigt werden oder in Krankenhäusern jeweils gesonderte Experten für die ärztliche Behandlung, die Abrechnung von Leistungen und die Reinigung der Gänge, scheint es funktional zu sein, wenn Organisationen unterschiedliche Expertisen für die formale Seite, für die informale Seite und für die Schauseite der Organisation vorrätig halten. Eine Ministerin würde sich – und besonders ihr Ministerium – überfordern, wenn sie neben ihrer Schaufensterfunktion für politische Entscheidungen auch noch den Anspruch hätte, das für die Organisation relevante formale Regelwerk zu verstehen und die vielfältigen informalen Abstimmungsprozesse in ihrem Ministerium zu überblicken. Für eine Fließbandarbeiterin in einem Automobilzulieferbetrieb reicht es aus, wenn sie die für sie relevanten formalen Anforderungen mitgeteilt bekommt und sich ein Wissen aneignet, wie diese im Notfall informal unterlaufen werden können. Für den Aufbau der Schauseite des Unternehmens braucht sie sich nicht zuständig zu fühlen.

Will man jedoch ein umfassendes Verständnis von der Funktionsweise einer Organisation erhalten, dann muss man nicht nur in der Lage sein, alle drei Seiten der Organisation mit ihren jeweiligen Logiken zu erfassen, sondern darüber hinaus auch verstehen, wie diese drei Seiten in Organisationen ineinandergreifen. Ich nehme in diesem Buch die mit modischen Managementhemen aufgehübschte Schauseite der Organisation zum Ausgangspunkt meiner Analyse und zeige, dass Organisationen in keinster Weise nach den auf der Schauseite propagierten Prinzipien funktionieren. Am Beispiel einer ganzen Reihe von Vorreiterorganisationen zeige ich, wie die Abläufe im Schatten der Schauseite funktionieren und wie sehr diese Funktionsweise den Präsentationen auf der Schauseite widerspricht. Das soll aber die Funktionalität der Schauseite nicht infrage stellen. Im Gegenteil – eine Organisation, die sich nach außen darstellen würde, wie sie »in Wirklichkeit« funktioniert, würde vermutlich schnell an ihrer Authentizität zerbrechen.

Während ich mich in meinen beiden anderen Büchern über neue Organisationsformen – »Wenn die Affen den Zoo regieren. Die Tücken der flachen Hierarchien« (Kühl 2015a) und »Das Regenmacher-Phänomen. Widersprüche im Konzept der lernenden Organisation« (Kühl 2015b) – darauf konzentriert habe, zu zeigen, was passieren würde, wenn die auf der Schauseite propagierten Prinzipien eins zu eins umgesetzt werden würden, blicke ich in diesem Buch auf der Basis einer Tiefenanalyse von Vorreiterorganisationen systematisch hinter deren Schauseite und zeige, welche Effekte die auf der formalen Seite umgesetzten Dezentralisierungs- und Enthierarchisierungsmaßnahmen auf der informalen Seite der Organisation haben.

Die Widersprüche, Dilemmata und Paradoxien, die beim Blick hinter die Schauseite der Organisation zu beobachten sind, stellen aus der organisationswissenschaftlichen Perspektive keineswegs eine Pathologie dar. Aus der Perspektive der systemtheoretischen Organisationsforschungmüssen sich Organisationen zwangsläufig mit widersprüchlichen Erwartungen auseinandersetzen, weil sie von außen an die Organisation herangetragen werden. Diese widersprüchlichen Erwartungen können durch die Delegation an verschiedene Abteilungen oder Hierarchieebenen abgefedert werden, resultieren aber zwangsläufig in Differenzen zwischen diesen Abteilungen und Hierarchieebenen.

Wider den Drang zum »Allerneusten«

In der Managementliteratur gibt es einen bedauerlichen Drang zum »Aktuellsten«, zum »Allerneusten«. Dieser Neuigkeitsdrang mag auf den ersten Blick nachvollziehbar sein. Es herrscht unter Organisationsberatern ein erbitterter Wettstreit darum, wer in der Lage ist, das nächste neue »Best-Practice-Modell« vorlegen zu können. Auf dem Markt für Managementbücher kann man als Autor nur noch Bestseller positionieren, wenn man mindestens eine Revolution verkündet.

In der Regel wird mit diesen neuartigen Konzepten aber nur alter Wein in neuen Schläuchen verkauft. Die früher als »flexible Firma«, »modulare Organisation« oder »Adhocratie« bezeichneten postbürokratischen Organisationsformen werden jetzt als »fluide Gebilde«, »agile Systeme« oder »fraktale Organisationen« angepriesen. Die vor einigen Jahren noch unter dem Begriff der »virtuellen Organisation« oder »Netzwerkorganisationen« propagierten Überlegungen zu populären Vernetzungskonzepten werden jetzt unter Labels wie »communities of practice« oder »crowds of wisdom« neu vermarktet.

Mit diesem Hang zum »Aktuellsten«, zum »Neusten«, zum »Heißesten« – darauf haben Henry Mintzberg, Bruce Ahlstrand und Joseph Lampel (1999: 21) hingewiesen – wird nicht nur jenen Klassikern der Organisationsforschung unrecht getan, die schon vor Jahrzehnten viele heute als Neuigkeit verkaufte Entwicklungen beschrieben haben. Das Problem besteht besonders darin, dass Leserinnen und Lesern häufig das »banale Neue« anstelle des »signifikanten Alten« vorgesetzt wird.

Die Erfindung immer neuer Organisationskonzepte darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Probleme weitgehend die gleichen bleiben. Ich nutze deswegen die verbale Aufgeregtheit in der Managementliteratur lediglich, um in Auseinandersetzung mit den vermeintlich neuen Organisationsprinzipien grundlegende wissenschaftliche Einsichten in die Funktionsweise von postbürokratischen Organisationen so aufzubereiten, dass sie an die Diskussionen von Praktikern anschlussfähig sind.

Zum Spannungsverhältnis von Organisationstheorie und Organisationspraxis

Man könnte es sich leicht machen und davon ausgehen, dass die in der Wissenschaft produzierten Erkenntnisse über Widersprüche, Dilemmata und Paradoxien schon irgendwie in die Denkweise des Managements einsickern werden. Diese Hoffnung verbirgt sich hinter dem von wissenschaftlich orientierten Beratern gern zitierten Spruch des Psychologen Kurt Lewin, dass es nichts Praktischeres als eine gute Theorie gebe.

Auf den ersten Blick klingt das plausibel. Publikationen von Managern und Beratern schmücken sich häufig mit Insignien der Wissenschaft. Für Marketingzwecke konzipierte Studien von Beratungsfirmen werden mit einer wissenschaftlich wirkenden Methodik aufgewertet. Berater oder Manager schmücken ihre Artikel in Fachzeitschriften für Praktiker mit Verweisen auf wissenschaftliche Literatur. Und nicht nur unter Politikern, sondern auch unter Unternehmensmanagern gehört es in einigen Ländern inzwischen dazu, sich auch einen Doktortitel zuzulegen, um zusätzlich noch mit wissenschaftlichen Kompetenzinsignien glänzen zu können, und erst wenn dieser Doktortitel wegen eines Plagiats entzogen wird, erklären Vorgesetzte oder Politiker, dass man den betreffenden Ex-Doktor als Minister oder Geschäftsführer und nicht als wissenschaftlichen Mitarbeiter eingestellt habe.

Diesem auf der Schauseite von Organisationen gepflegten Nexus von wissenschaftlicher Theorie und außerwissenschaftlicher Praxis zum Trotz darf man jedoch nicht verkennen, dass Wissenschaft, Beratung und Management nach ganz unterschiedlichen Logiken funktionieren und sich deswegen quasi zwangsläufig »Kommunikationssperren« ausbilden. Wissenschaftler orientieren sich an der Produktion von »wahrem Wissen«, ohne sich Gedanken über die Verwendung dieses Wissens machen zu müssen. Berater profitieren zwar davon, wenn sie ihre Konzepte als wissenschaftlich ausflaggen können, aber letztlich geht es darum, dass ihre Konzepte zu den Problemen ihrer Kunden passen. Für das Management ist es im Grunde irrelevant, ob die eingeschlagene Vorgehensweise auch in den Augen von Organisationswissenschaftlern überzeugend erscheint. Die Hauptsache ist, dass sie in der Praxis die gewünschten Wirkungen erzielt.

Dieses Buch ist insofern ungewöhnlich, als es bewusst den Brückenschlag zwischen Organisationswissenschaft und Organisationspraxis versucht, ohne die Spannung zwischen diesen beiden Bereichen grundsätzlich aufheben zu wollen. Damit mute ich sowohl Organisationswissenschaftlern als auch Organisationspraktikern etwas zu: Organisationswissenschaftler werden mit einer eher ungewöhnlichen Präsentationsform konfrontiert. Dieses Buch basiert auf Artikeln, die allesamt zuerst in wissenschaftlichen Zeitschriften erschienen sind und mit ausführlichen Theoriediskussionen, Methodenexplikationen und Falldarstellungen an wissenschaftlichen Publikationsstandards orientiert waren. Für eine bessere Lesbarkeit dieses Buches wurden die wissenschaftlichen Aspekte hier stark verschlankt. Stark reduzierte Literaturlisten, das Weglassen beeindruckender Statistiken und der Verzicht auf die ausführliche Wiedergabe mündlicher Zitate allein führen in der Wissenschaft schon zu einem Rezeptionshemmnis. Aber ich kann garantieren, dass – wenn sie sich auf die ungewöhnliche Darstellungsform einlassen – für Organisationswissenschaftler die eine oder andere interessante Überlegung dabei sein wird. Organisationspraktikern wird zugemutet, mit einem eher ungewohnten Bild von Organisationen konfrontiert zu werden. Die Betonung von Paradoxien, Dilemmata und ungewohnten Nebenfolgen passt nicht zu dem Bild, das Praktiker normalerweise von Organisationen gezeichnet bekommen. Meine Hoffnung ist aber, dass die hier vorgestellten Beschreibungen letztlich näher an der Realitätswahrnehmung von Praktikern sind als die auf Eingängigkeit und Stromlinienförmigkeit getrimmten üblichen Managementbücher.

Bei aller Betonung von ungewollten Nebenfolgen, Paradoxien und Widersprüchen – dieses Buch zeigt auch, warum der Traum von der optimalen Organisationsstruktur fortbestehen wird und dass dies sogar eine Funktionalität hat. Nur weil der Felsbrocken immer wieder erst kurz vor dem Gipfel den Berg hinunterrollt, setzt Sisyphos seine Bemühungen fort. Albert Camus hat in seinem Mythos des Sisyphos festgestellt, dass der Mensch zwar von Gott verlassen sein mag und hoffnungs- und hilflos auf sich selbst zurückgeworfen ist, jedoch trotz der Widersprüchlichkeiten der menschlichen Existenz glücklich sei. Gleiches gilt auch für den Manager: Er kann die ungewollten Nebenfolgen, Paradoxien und Widersprüche auf dem Weg zur optimalen Organisationsstruktur nicht zum Anlass nehmen, die Suche danach aufzugeben. Vielmehr zeigt sich ihm erst in der Fortsetzung der vergeblichen Suche nach der optimalen Organisationsstruktur der Sinn all dieser Widrigkeiten.

Kapitel 1Zum Umgang mit Paradoxien und Dilemmata neuer Organisationsformen – Einleitung

»Organisieren ist wenn einer aufschreibt, was andere arbeiten.«

Kurt Tucholsky

Die Diskussion über neue Organisationsstrukturen von Unternehmen, Verwaltungen, Universitäten, Krankenhäusern, Kirchen, Hochschulen, Verbänden oder Vereinen ist nur vor dem Hintergrund der maßgeblich durch die Arbeiten von Max Weber, Frederick Taylor und Henri Fayol geprägten Auffassung von bürokratisch organisierten und stark hierarchisch strukturierten Organisationen zu verstehen. Auch wenn es Weber in seinen Überlegungen zum bürokratischen Idealtypus nicht wie Taylor und Fayol um die Beschreibung eines »besten Weges« ging, in der eine Organisation sich strukturieren sollte, sondern um eine Analysemethode zur Überprüfung empirischer Phänomene, entstanden doch in allen drei Fällen sehr schlüssige Beschreibungen von Organisationen. Der methodisch gedachte Idealtypus Webers und die normativ konzipierten Idealmodelle von Taylor und Fayol ähneln sich durch einen unübersehbaren Respekt für die Prägnanz und Schlüssigkeit von Organisationen.

Bei Weber ebenso wie bei Taylor und Fayol ist die Idee zu erkennen, dass Organisationen aus einer rationalen Anordnung von Zwecken und Mitteln bestehen. Es handle, so Max Weber (1976: 13), derjenige zweckrational, der in seinem Handeln verschiedene Zwecke gegeneinander abwägt, die günstigsten Mittel zur Erreichung der definierten Zwecke wählt und in diesem Auswahlprozess von Zwecken und Mitteln mögliche unerwünschte Nebenfolgen mit in Betracht zieht. Um zweckrationale Entscheidungen im Sinne Webers treffen zu können, ist es notwendig, dass der Entscheider sich über seine Interessen, Wünsche und Werte klar ist, möglichst vollständige Informationen über alle Handlungsalternativen sammelt und die Konsequenzen der verschiedenen Alternativen sorgfältig abwägt.

Zweckrationalität bezieht sich dabei nicht auf die Tatsache, dass das Handeln von Akteuren an Zwecken orientiert ist, sondern bezeichnet die Durchdeklinierung der Organisation von einem Oberzweck aus. Mit diesem Konzept der Zweckrationalität ist es möglich, die ganze Organisation in Form von Zweck-Mittel-Ketten durchzukonstruieren: Die Führung der Organisation definiert ein allgemeines Ziel, das erreicht werden soll (z.B. »Wir wollen im CD-Musikgeschäft weltweit Nummer eins sein«). Dann werden Mittel bestimmt, mit dem dieses Oberziel am besten erreicht werden kann (z.B. »Wir wollen Madonna unter Vertrag nehmen«). Die definierten Mittel zur Erreichung des Oberziels werden dann wiederum als Unterziele definiert, und es werden Mittel zur Erreichung der Unterziele bestimmt (z.B. »Wir nehmen erst Madonnas Ehemann unter Vertrag. So kommen wir auch an sie heran«). So entsteht eine hierarchische Kette aus Ober- und Unterzielen, mit der jede Handlung in der Organisation durchstrukturiert werden kann (vgl. March/Simon 1958: 191).

1.1. Das Junktim zwischen zweckrationaler Entscheidungsfindung und dem bürokratischen Organisationsmodell

Auffällig ist: Bei Webers Organisationsverständnis, aber auch bei Taylors wissenschaftlicher Betriebsführung und bei Fayols Verwaltungslehre gibt es ein enges Junktim zwischen einer zweckrationalen Entscheidungsfindung in der Organisation und einem bürokratischen bzw. tayloristischen Idealtypus. Es herrschte die Überzeugung, dass es keine Organisationsform gibt, die es mit den hierarchisch strukturierten und bürokratisch organisierten Unternehmen oder Verwaltungen in Sachen Rationalität (und letztlich Leistungsfähigkeit) aufnehmen kann. Weber (1976: 128ff.) ging ähnlich wie Taylor und Fayol davon aus, dass sich die Spitze der Hierarchie mit den Zwecken der Organisation identifiziert und diese in viele kleine Arbeitsaufgaben zerlegt. Über eine tief gestaffelte Hierarchie wird die Aufteilung in genau definierte Arbeitsaufgaben organisiert. Die Aufgaben werden mit den Personen besetzt, die am ehesten für ihre Erledigung qualifiziert sind. Da die obere Ebene der Hierarchie damit überfordert wäre, in jedem Einzelfall Anweisungen an die niedrigeren Ebenen zu geben, etabliert sie Programme, die den Weisungsempfängern Aufschluss darüber geben, wie sie sich in Normalsituationen zu verhalten haben. Die Programme werden über formalisierte Arbeitsanweisungen im Gedächtnis der Organisation verankert. Die durchgeführten Arbeitsabläufe werden schriftlich in Akten (oder später in Computerdateien) dokumentiert. Die Leitungsebene der Hierarchie kann sich auf die Kontrolle der Regeleinhaltung und die Behandlung von Sonderfällen konzentrieren.

Es ist in der Organisationsforschung immer wieder hervorgehoben worden, dass der bürokratische Idealtypus eine große Ähnlichkeit mit der Funktionsweise einer Maschine zeigt. Wie die Maschine besteht eine Bürokratie aus genau definierten Einzelteilen, die in einem präzise bestimmten Verhältnis zueinander stehen. Dabei sind alle Einzelteile auf den Zweck der Maschine ausgerichtet und werden erst im Zusammenwirken mit den anderen Teilen sinnvoll. Ein Keilriemen ohne eine Verbindung zu anderen Teilen der Maschine ist wertlos, genauso wie eine Personalabteilung nur durch die Kombination mit anderen Abteilungen ihren Sinn beispielsweise für eine Gemeindeverwaltung hat. Die Bürokratie mag wie die Maschine aus sehr vielen Einzelteilen und Verknüpfungen bestehen, aber letztlich ist ihre Komplexität durch präzise Beschreibungen der Abläufe handhabbar. Die Bedienungsanleitung – oder das Organisationshandbuch – wird nur entsprechend dicker. Durch externe Eingriffe können Einzelteile und deren Beziehungen zueinander verändert und so die Bürokratie oder Maschine auf neue Anforderungen ausgerichtet werden (vgl. z. B. Luhmann 1966: 36f.; Bardmann 1994: 260ff.).

1.2. Eine neue Vorstellung, wie die optimale Organisationsstruktur aussieht

Die in den 1920er, 1930er Jahren einsetzende kritische Auseinandersetzung mit dem bürokratisch-tayloristischen Organisationstyp hat dazu geführt, dass schrittweise ein dezentraler Typ als optimale Organisationsstruktur am Möglichkeitshorizont erschien (siehe dazu Udy 1959). Es schien für Organisationen Erfolg versprechender, zentrale Zuständigkeiten aufzugeben und Entscheidungen auf möglichst niedrige Ebenen der Organisation zu verlagern. In strategischen Fragen wurden Entscheidungskompetenzen von der Organisationsspitze in Profitcenter, Segmente oder Geschäftsbereiche verlagert, die durch eine hohe Integration aller Funktionen als »Organisation in der Organisation« funktionierten. In der operativen Ausrichtung wurden die Rationalisierungsmaßnahmen nicht mehr allein durch spezialisierte Stäbe vorgenommen, sondern das Expertenwissen der Mitarbeiter sollte durch Maßnahmen wie kontinuierliche Verbesserungsprozesse und Qualitätszirkel gehoben und genutzt werden. Die Hierarchie wurde abgeflacht, indem Einzelarbeitsplätze aufgelöst und die Mitarbeiter in Gruppen und Teams zusammengezogen wurden.

Spätestens in den 1990er Jahren hat sich ein dezentrales Organisationsmodell herausgebildet, das von verschiedenen Gruppen in der Organisation breit unterstützt wurde. Manager und Betriebsräte, Verbandsfunktionäre der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerschaft, Experten aus so unterschiedlichen Disziplinen wie der Betriebswirtschaftslehre, den Ingenieurswissenschaften und der Arbeitswissenschaft und nicht zuletzt die Wirtschaftsmedien erklärten ein auf flacher Hierarchie, Gruppenarbeit und Projektarbeit basierendes dezentralisiertes Organisationsmodell als dem bürokratischen Idealmodell überlegen. Wohl nie zuvor hatten sich so verschiedene Gruppen so einmütig zu einem Organisationstyp bekannt.

Die Rede war vom Übergang von einem traditionellen zu einem neuen Ordnungsrahmen. Die Kostenvorteile dezentraler Organisationsstrukturen, die gewachsene Vorbildung der arbeitenden Bevölkerung, die Entwicklung neuer Technologien und die Emanzipationsansprüche hätten, so die Überzeugung, zu einem neuen Ordnungsrahmen geführt, dem sich das Management nur noch schwer entziehen könne. Die Vorstellungen von »gutem Handeln« im Management seien so in einem neuen Ordnungsrahmen verdichtet, dass in Unternehmen, Verwaltungen, Krankenhäusern oder Schulen ganz selbstverständlich davon ausgegangen werde, dass Neuerungen wie Mitarbeiter-Empowerment, Gruppenarbeit, Outsourcing, Zielvereinbarung, kontinuierlicher Verbesserungsprozess oder Profitcenter-Strukturierung im Sinne des Unternehmens seien.

Aber die Vorstellungen von einer neuen optimalen Organisationsstruktur führten nicht dazu, dass die zweckrationale Einengung im Organisationsverständnis aufgegeben wurde. Auch die Promotoren einer dezentralen Organisationsstruktur hielten in der Regel an einem zweckrationalen Verständnis fest – nur wurde das, was als zweckrational angesehen wurde, je nach Umfeldbedingungen variiert. In einem turbulenten Umfeld sei es eben rationaler, mit einer dezentralen, abgeflachten, adhocratischen, agilen Organisationsform zu agieren, während es in einem stabilen Umfeld sehr wohl Sinn ergeben könne, auf eine Organisationsform zurückzugreifen, die dem bürokratischen Idealtyp Webers, Taylors oder Fayols ähnelte.

Das Verdienst dieser zweckrationalen Lesart von Organisationsprozessen darf nicht übersehen werden: Die Forschungen aus Industriesoziologie, Arbeitswissenschaft, Organisationspsychologie und Betriebswirtschaftslehre haben bewirkt, dass die Rationalisierungsprozesse in Organisationen unter einer genauen Beobachtung stehen und in der Wissenschaft eine intensive Debatte über die Bewertung der beobachteten Rationalisierungsstrategien stattfindet.

Das Problem dieses zweckrationalen Ansatzes besteht jedoch in einer Engführung der Diskussion über neue Organisationsformen. Letztlich lässt sich die Debatte darüber in großen Teilen der Betriebswirtschaftslehre, der Industriesoziologie, der Arbeitswissenschaft und der Organisationspsychologie in ein Vier-Felder-Schema pressen (vgl. Kühl 2004: 71ff.). In der einen Hinsicht dreht sich die Debatte um die Frage, welche Strategie – eine zentralistisch orientierte oder eine dezentral ausgelegte – am ehesten zur Erreichung des Organisationszwecks beiträgt. In der anderen Hinsicht geht es um die Frage, wie sich die für die Organisation als rational erweisenden zentralen oder dezentralen Organisationsstrategien für die Mitarbeiter darstellen: Tragen die bürokratischen bzw. die postbürokratischen Strategien zur Zufriedenheit, Selbstverwirklichung, Befreiung von Entfremdung bei oder nicht? Wie eng hängen Zufriedenheit der Arbeitnehmer und wirtschaftlicher Erfolg der Arbeitgeber zusammen?

Innerhalb dieses Vier-Felder-Schemas finden sich vielfältige Differenzierungsmöglichkeiten. Man debattiert, ob Qualitätszirkel eher zum bürokratisch-tayloristischen oder zum postbürokratischen Organisationsmodell zu zählen sind. Man streitet, ob die Diskrepanz zwischen groß angekündigten Veränderungen der Organisationskultur und der wirklichen Organisationspraxis einen starken Desillusionierungseffekt mit sich bringt. Man kann die aus dezentralen Organisationsstrukturen entstehenden paradoxen Arbeitsanforderungen an die Mitarbeiter darstellen und auf die Problematik dieser neuen Arbeitsformen verweisen. Man kann debattieren, wie in Amerika oder Europa ein »bester Weg« der Reorganisation aussieht, der sich jenseits der asiatischen Rationalisierungsstrategien bewegt. Man kann diskutieren, ob eine weitgehend teilautonome oder eine eher restriktive Form der Gruppenarbeit die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter mehr erhöht.

Diese Debatte war – wie der zweckrationale Zugang zu Organisationen allgemein – anschlussfähig an die konkreten Auseinandersetzungen in Organisationen, in denen Manager, Mitarbeiter, Personalräte und Berater darum ringen, wie die Organisation konkret aussehen soll. Da diese Debatte in Organisationen häufig im Hinblick auf einen als gesetzt betrachteten Zweck (Gewinn, effiziente Verwaltung, gute Arbeitsbedingungen, Umweltschutz) geführt wird, können zweckrational formulierte Überlegungen aus der Wissenschaft gut an die Probleme, Gedanken und Ideen von Praktikern angeschlossen werden.

1.3. Paradoxien und Dilemmata – ein neuer Fokus

Die Herausforderung für Management und Beratung – aber auch für die Forschung – besteht darin, die vielfältigen paradoxen Effekte und Dilemmata zu erklären, die in den Reorganisationsprozessen auftreten. Nachdem besonders im späten zwanzigsten Jahrhundert der dezentrale, enthierarchisierte Ordnungsrahmen jedenfalls auf der Schauseite der Organisationen so dominant war, dass selbst in der wissenschaftlichen Forschung nur vereinzelt kritische und zweifelnde Stimmen wahrzunehmen waren, bildet sich jetzt zunehmend in den Organisationen selbst – besonders aber auch in der Beratung und der Forschung – ein tiefer gehendes Verständnis von Paradoxien und Dilemmata dezentralisierter, enthierarchisierter Organisationen.

Die Begriffe Paradox und Dilemma markieren jeweils unterschiedliche Problembereiche. Mit dem Begriff des Paradoxes wird auf eine Situation verwiesen, in der widersprüchliche Elemente in einer Aussage vorhanden sind und diese aus widersprüchlichen Elementen bestehende Aussage für sich den Anspruch auf Richtigkeit erhält. Mit paradoxen Formulierungen wie »sei spontan« wird auf eine besondere Form von Wahrheit hingelenkt, die ihre Wurzeln in der offensichtlichen Widersprüchlichkeit der zwei Elemente einer Aussage hat.

Auch mit dem Begriff des Dilemmas wird auf die Schwierigkeiten angesichts zweier gegensätzlicher Alternativen verwiesen, wenn für beide gleich gute Gründe sprechen. Im Gegensatz zum prinzipiell nicht aufzulösenden Paradox wird mit dem Begriff des Dilemmas stärker der Druck auf die Organisation betont, sich für eine der Alternativen zu entscheiden, obwohl eine genau entgegengesetzte Handlungsempfehlung ähnlich attraktiv erscheint. Aufgrund von Konsistenzanforderungen und Handlungsdruck kann die Widersprüchlichkeit in der Wahrnehmung von Entscheidern nicht einfach beibehalten werden, sondern muss in die eine oder die andere Richtung aufgelöst werden. Man meint sich für eine Seite des Dilemmas entscheiden zu müssen.

Es wäre ein Fehlschluss, anzunehmen, dass Paradoxien und Dilemmata nur in den neuen dezentralisierten Organisationsformen entstehen. Auch für bürokratisch-tayloristische Organisationen sind vielfach paradoxe Situationen beschrieben worden. In den »klassischen« Organisationsformen scheinen die Paradoxien und Dilemmata durch verschiedene auf der Sach-, Zeit- und Sozialdimension verankerte Strategien jedoch einigermaßen kontrollierbar zu sein.

Eine erste, auf die Sachdimension zielende Strategie bestand darin, die Ausbildung lokaler Rationalitäten zuzulassen, indem klar voneinander abgetrennte Abteilungen geschaffen wurden und die entstehenden Konflikte durch Zurverfügungstellung finanzieller Reserven als zusätzliche Ressourcen abgemildert wurden. Schon Richard Cyert und James March (1963) haben darauf hingewiesen, dass in hierarchischen, stark arbeitsteilig strukturierten Organisationen Zielkonflikte dadurch reduziert werden können, dass die konkurrierenden Ziele jeweils unterschiedlichen organisatorischen Einheiten zugewiesen werden. Die in der Organisation bestehenden Zielkonflikte werden in Konflikte zwischen Abteilungen umgewandelt, die dort aber durch ausreichenden Slack – »organisatorischen Schlupf« – reduziert werden können. So können finanzielle Reserven dazu beitragen, dass konkurrierende Abteilungen nicht zu gemeinsamen Entscheidungen kommen müssen. Zwischenläger reduzieren die Auseinandersetzungen zwischen Produktions- und Vertriebsbereich, weil sich nicht jede Störung gleich in der vor- bzw. nachgelagerten Abteilung auswirkt. Weil große, bürokratisch strukturierte Organisationen Zielkonflikte besonders gut unterschiedlichen Einheiten zuordnen können und sie über Ressourcen verfügen, die die Zielkonflikte zwischen den verschiedenen Bereichen abmildern, hält William H. Starbuck (1988: 67f.) diese bürokratischen Organisationen gar für besonders paradoxietolerant.

Eine zweite, auf die Zeitdimension zielende Strategie zur Dilemmavermeidung besteht in Organisationen darin, jeweils nur eine Seite des Dilemmas zu betonen, sich aber die Option offenzuhalten, zu anderen Zeiten die andere Seite in den Mittelpunkt des Handelns zu stellen. Aus dieser Perspektive erscheint gerade die Geschichte vieler Unternehmen des zwanzigsten Jahrhunderts als eine Geschichte des permanenten wellenartigen Hin-und-her-Treibens zwischen zwei gegensätzlichen Polen. Nach einer Diversifizierungsphase kommt es zu einer Konzentration auf Kernkompetenzen, nach der wieder auf Diversifizierung gesetzt wird, um danach dann wieder auf einige wenige Kernkompetenzen zu setzen. Diese Strategie zur Dilemmavermeidung geht davon aus, dass die Umweltanforderungen so berechenbar und kalkulierbar sind, dass man sich als Organisation jeweils auf eine Seite des Dilemmas konzentrieren kann (vgl. Brunsson/Olsen 1993: 35ff.).

Eine dritte, auf die Sozialdimension zielende Strategie von Organisationen besteht darin, die Paradoxien, Dilemmata und widersprüchlichen Anforderungen als Problem der Organisationsmitglieder zu reformulieren. Gerade durch die Ausbildung von Managerrollen werden grundlegende Widersprüche der Organisation in persönliche Dilemmata übersetzt. Die Leiterin einer Filiale muss die widersprüchlichen Forderungen des übergeordneten Managements nach kurzfristiger Profitabilität ihres Geschäftsbereichs einerseits und nach langfristigen, die kurzfristige Profitabilität reduzierenden Investitionen andererseits unter einen Hut bringen. Der Meister in der Produktion muss die Notwendigkeit eines ungestörten Produktionsflusses und die rapiden Marktveränderungen sowie die Innovationswünsche des strategischen Managements vereinbaren. Bis zu einem gewissen Maße kann die Existenz des Managements damit, dass es Paradoxien, Dilemmata und Widersprüchlichkeiten der Organisation zu seinem eigenen Problem macht, gesichert werden. Wenn die Umfeldbedingungen der Organisation eindeutig wären, dann könnte die Organisation einen Großrechner zum Vorstandsvorsitzenden machen und die mittleren Managementpositionen durch an den Großrechner angeschlossene Personal Computer ersetzen (vgl. Luhmann 1964: 214).