Das Reich der 9 Geisterwesen - Jana Stehr - E-Book

Das Reich der 9 Geisterwesen E-Book

Jana Stehr

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Beschreibung

»Thyri.« Bitte, bitte, hör auf, meinen Namen zu sagen. Denn dann fühle ich mich wieder wie jemand, der reden darf. Und ich darf nicht reden. Du, ich, wir dürfen nicht reden. Wir dürfen niemals reden. Thyri ist eine Blutfüchsin und muss als Ausgestoßene für die Sünden ihres Krafttieres büßen. Machthungrige Reinblüter regieren die Zwischenwelt, unterdrücken und versklaven die Schwachen und laben sich am Leid des Volkes. Thyris Herrin Mara ist anders. Sie ist ihre Hoffnung, eine schützende Hand im Unrecht der Welt, eine Freundin. Als sie gemeinsam zur Brautschau des Prinzen nach Sonnenberg reisen, verliebt sich Thyri – entgegen aller Vernunft. Ein Blutfuchs darf nicht lieben, doch die Hoffnung ist größer. Tintenklecks. Er ist wie sie. Hofft sie. Denkt sie. Wünscht sie sich. Während Maras Ziele erreichbar scheinen, schwebt über Thyri der Tod, denn Tintenklecks ist nicht der, für den sie ihn hält …

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Jana Stehr

DAS REICH DER 9GEISTERWESEN

Fuchs und Krähe

Jana Stehr

Roman

© 2022 Jana Stehr

Cover, Illustrationen: Jana Stehr

Lektorat, Korrektorat: WortTraum Lektorat

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH,An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg,

Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin,

zu erreichen unter:

tredition GmbH,

Abteilung„Impressumservice“,

An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg,

Deutschland.

ISBN Softcover 978-3-347-80133-2

ISBN Hardcover 978-3-347-80134-9

ISBN E-Book 978-3-347-80141-7

Für meinen Helden,

mein Buch.

Die Geisterwesen

DAS REICH DER 9 GEISTERWESEN

DIE 13 GEBOTE

DER BLUTFÜCHSE

GEBOT 1:

Du bist nichts und sollst für deine und die Sünden des Fuchses büßen.

GEBOT 2:

Du darfst nicht begehren, nicht lieben. Es sei denn, ein Reinblüter befiehlt es dir.

GEBOT 3:

Du darfst nicht aufbegehren.

GEBOT 4:

Du darfst keine Besitztümer haben.

GEBOT 5:

Die Reinblüter sind deine Herren und du ordnest dich unter.

GEBOT 6:

Du gehorchst den Reinblütern.

GEBOT 7:

Du sollst die Reinblüter ehren.

Gebot 8:

Du weißt die Gnade der Reinblüter zu schätzen.

Gebot 9:

Du sollst nicht töten.

Gebot 10:

Du sollst nicht ehebrechen.

Gebot 11:

Du sollst nicht stehlen.

Gebot 12:

Du sollst nicht betrügen.

Gebot 13:

Du sollst nicht falsch Zeugnis reden.

Tintenklecks,

Ich wünschte, ich hätte dich nie getroffen. Denn dann bestünde mein Buch noch aus Tinte und Papier und nicht aus stummen Mündern und tauben Ohren. Dann hätte ich meine Zeilen behalten und weiterschreiben können.Mich heimlich nach dir verzehren können.Wann ich will. Jetzt muss ich angestaute Gefühle beschwichtigen, verhindern, dass sie über meine Lippen fliehen. Warten, bis du Zeit hast, aber du hast nie Zeit. Du warst kein einziges Mal bei mir. Bist taub, hörst mich nicht, reagierst nicht auf meine Blicke, die dich einladen. Willst du wirklich mein Buch sein?Oder bist du jetzt darauf aus, Maras Schmuckstück zu werden?Ich glaube, dass du es dir anders überlegt hast, und jetzt ist mein Buch weg und ich schreibe in Dreck.Ist es das, was du wolltest? Ich dachte, ich wäre dir wichtig. Unsinn. Ich bin nie jemandem wichtig. War es nie. Werde es nie.Dein Verhalten beruhte auf der Tatsache, dass ich dein Leben gerettet habe und ich war dumm und glaubte deine Worte. Du – mein Buch. Letztendlich warst du nicht mal ein Blatt Papier und ich bin ein bitter weinendes Tintenfass, das einen verlorenen Klecks beweint, und knack, knack, bin voll mit Rissen und Sprüngen und ertrage es nicht mehr. Wenn du mit mir spielst, werde ich in eine Million Teile zerbrechen und das Nichts ist ein splitterfressendes Monster.Mein Herz tut weh. Mein Herz tut weh. Mein Herz tut weh.Hinkfuß sieht mich jetzt anders an. Sein Blick klebt an mir, als wäre ich einer der süßen Gipfel Sonnenbergs.Ich habe Angst vor ihm. Habe so viel Angst. Ständig nur Angst. Angst vor der Ungerechtigkeit, vor dem Leben. Angst vor dem Nichts.Tintenklecks, ich habe das Nichts immer gefürchtet, aber jetzt … jetzt fürchte ich mich mehr davor, dich zu verlieren.

1 THYRI

Die Sonne ist ein schikanierendes Biest, das meine Haut zum Weinen bringt. Ihre Tränen rollen, sammeln sich in meinen Kniekehlen und Armbeugen. Ich hasse es. Jetzt schon. Ich will etwas zerstören.Ich will wieder nach Hause.

Der Händler verschränkt die Arme vor der Brust und plustert sich auf. Seine Lippen sind gekräuselt, berühren sein Septum, groß wie ein Türring. Optisch ist er eine Kreuzung aus Truthahn und Bulle.

Ich wäre beinah an ihm vorbeigelaufen, hätte ich nicht zufällig die schwarzen Rosen und die Parfumphiolen in seinem Karren entdeckt.

»Zu teuer«, sage ich.

Er hebt die Brauen. Seine Dämonenaugen tasten mich von Kopf bis Fuß ab und bleiben an meinem Mal hängen. »Nicht im Geringsten.«

Ich atme tief ein. »Zu. Teuer.«

Sein Mundwinkel zuckt und seine Augen glänzen. Er beugt sich über den Tisch und das Holz ächzt unter seinem Gewicht. Drahtige Härchen sprießen aus seiner Nase. Fast wäre mir sein Fingerzeig auf die anderen Verkaufsstände entgangen.

»Sag, Blutfüchsin, bist du blind?«, fragt er.

Füchse. Überall. An Schildern, Brettern, Fahnen. Zwei gekreuzte Linien – blutende Farbe.

Truthahnbulle grinst Zähne wie Maiskörner. »Mein Preis ist berechtigt.« Er schnuppert, zieht den Rotz seiner Nase hoch und spuckt mir vor die Füße. »Meine schwarzen Rosen sind für ihren lieblichen Duft bekannt, aber nach Tod riechendes Schmutzblut wird es nicht übertünchen können.«

Von meinem Nacken regnet es wilde Perlen, die in der Sonne verdampfen. Es ist ein unendlicher Kreislauf: sieden, verdunsten. Erzürnen, beruhigen. Töten, genießen. Ich will seine Zähne mit seinem Nasenring zerschlagen.

Meine Hände finden den Weg in meine Jutetasche – eine Unordnung zahlreicher Schriftrollen.

Wo bist du nur?

Truthahnbulle klopft mit dem Fuß.

Eins, zwei, drei.

Eins, zwei, drei.

Meine Finger streifen das vertraute Blatt, das ich sofort hochhalte. Das Papier rollt auf, offenbart die Schlüssel meiner Ketten die Genehmigung, dass es mir gestattet ist, überall einzukaufen.

Truthahnbulle runzelt die Stirn, ich recke mein Kinn. »Ich will den Rosenduft für zehn Fährmannstaler und die Seife …«

Ein Stoß gegen meine Schulter und ich fahre herum. Die Fratze eines Hochgewachsenen verschlingt mich und labt sich an meinem Schreck. Seine Nase ist einschüchternd. Sucht er seine Nahrung in Ameisenhaufen?

Schweiß überdeckt das Aroma des Basars und lähmt meinen Geruchssinn. Wie lange ist sein letztes Bad her?

»Pass auf, wo du rumstehst, Blutfüchsin.« Er leckt sich über die Porzellanlippen.

Laut, hart, roh – Rachegeist.

Meine Hände sind verkrampfte Klötze, die meine Selbstständigkeit zerknittern. Ich öffne den Mund und verschlucke die Worte.

Ertrage es. Für Mara.

Ein Stich schießt durch meinen Finger und die Nagelhaut hängt in Fetzen. Ich drehe mich um – ein Fehler. Rachegeist reißt mir so fest an den Haaren, dass Wurzeln platzen. »Habe ich dir erlaubt, dich einfach umzudrehen?« Er ruckt mit der Hand, mein Hals spannt und ich bin mir sicher, dass er den Knäuel roter Wellen gleich nebenan beim Wollhändler verkaufen kann.

Ertrage es. Für Mara.

»Ich bin nur eine dumme Blutfüchsin aus dem Haus der schwachen Seelen, mein Herr. Entschuldigen Sie mein Benehmen. Mara Herbstfels wird Sie entschädigen.« Kaum spreche ich ihren Namen aus, befreit er mich aus seiner Gewalt.

Eine Brise zieht durch die Rosen, trägt kastanienrote Fäden fort, die sich im Gewusel zwischen Händler und Käufer verirren. Hoffentlich bleiben sie am Essen eines Reinblüters haften und ersticken ihn.

Ich greife ein weiteres Mal in meine Tasche und lasse das nächste Schriftstück aufrollen. »Ich bin Eigentum von Mara Herbstfels.«

Die Lider des Rachegeistes krampfen, seine Pupillen jagen über den Markt und suchen das zierliche Wesen, das mit einem einzigen Lächeln die Aufmerksamkeit der ganzen Zwischenwelt auf sich ziehen kann.

»Sie ist nicht hier.« Ich rolle das Papier zusammen und die Nebelaugen des Rachegeistes bleiben an mir haften, als hätte ich mich mit Honig eingerieben. »Darf ich meinen Einkauf fortführen, mein Herr?«

Er nickt und ich wende mich wieder Truthahnbulle zu, der in der Anwesenheit des Rachegeistes den Kopf einzieht. Mein Nacken kribbelt.

Wer ist das da hinter mir?

Ich kenne dieses Land nicht. Ich kenne diese Stadt nicht. Ich kenne mich selbst nicht. Ich hasse es.

»Ich möchte den Duft für acht und die Seife für vier Fährmannstaler.«

Truthahnbulle schaut nicht schlecht. »Hältst du mich etwa zum Narren, Gör? Eben wolltest du noch zehn für die schwarze Rose geben.«

»Jede Minute meiner Herrin ist kostbar, mein Herr. Da ich mich verspäten werde, muss ich die Kutsche nehmen. Die kostet mich zwei Fährmannstaler.«

Nebelauge hinkt an mir vorbei, lehnt sich an den Karren und schmunzelt.

»Acht und vier macht elf«. Ich reiche ihm zehn Fährmannstaler und Truthahnbulle lässt die Arme neben sich fallen, als hätte man Marionettenfäden durchtrennt.

»Das liegt weit unter dem Wert!«

Ich genieße seine Dummheit, lasse die Taler auf den Tisch fallen, ahme klopfend das Ticken unseres Lebens nach und stecke eine von ihnen zurück in meinen Geldbeutel. Da waren es nur noch neun.

»Was der Prinz wohl sagen wird, wenn er herausfindet, dass ein Händler eine der angesehensten Heiratskandidatinnen vergrault hat, weil er ihr Parfum verwehrte?«

Es verletzt meinen Stolz, Maras Namen zu benutzen. Sogar nach acht Jahren bilde ich mir ein, ohne sie atmen zu dürfen.

Ich richte mein Halstuch im Begriff, es zu knoten, obwohl die Hitze in mir eine Bestie zeugt, aber bevor ich eine Schlaufe binde, verlassen meine Finger den Chiffon. Nicht gestattet: In der Öffentlichkeit sind wir gezwungen, unser Brandmal zu präsentieren.

Nebelauge schiebt mein Geld beiseite. »Ich zahle für sie.«

Ich schnaube. »Kommt nicht in …«

Sein Beutel ist ein Sack schwerer Fährmannstaler.

So viel besitzt nur ein Reinblut.

Ich stolpere zurück und hasse mich dafür.

Meine Augen kratzen das Unkraut aus den Fugen der Pflastersteine.

Gebot zwölf: Du sollst nicht betrügen.

Gebot dreizehn: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden.

Truthahnbulle ist dumm.

Der Reinblüter ist es nicht.

Zwei Gebote, zwei gebrochen. Meine Seele ist zerbrechlich wie die mundgeblasenen Glasfiguren auf Maras Kommode. Sie wird in den Händen des Reinblüters zerspringen und seine Kleidung mit meinem Ungehorsam beflecken.

Warum halte ich mich nicht an die Regeln?

Ich reiße mich zusammen, bin entschlossen, auf den Boden zu sinken, verharre aber, weil das Reinblut seine Fährmannstaler schon über den Tisch rollen lässt.

»Das ist weitaus mehr, als die Ware wert ist«, sagt er, sammelt mein Geld zusammen und deutet auf den Beutel, der in meinen Händen nur noch eine Knitterfalte ist. »Deine Herrin mag also die schwarze Rose?«

Ich glätte das Leder, zu perplex, um sofort zu reagieren. Er bestraft mich nicht – natürlich nicht. Ich bin Maras Eigentum.

Er wartet auf eine Antwort und ich brauche zu lange. Ich nicke gehetzt und konzentriere mich auf die neun Taler, die ihren Weg zurück in meinen Beutel finden.

Mara mag die Rose nur, weil der Prinz sie mag, aber das sage ich ihm nicht. Nebelauge will sie sicherlich umwerben, was bedeutet, dass er diese Information als Beleidigung auffassen wird.

Er legt den Kopf schief und seine Wimpern werfen Schatten, die im Dunkel seiner Augenringe verschwinden. »Ich hoffe, du weißt meine Gnade zu schätzen und legst ein gutes Wort für mich ein.«

Gebot acht: Du weißt die Gnade der Reinblüter zu schätzen.

Ich nicke unverzüglich und seine Mundwinkel ziehen sich gnadenlos langsam nach oben. »Ich war natürlich nie gewalttätig dir gegenüber.«

Senke den Blick. Senke den Blick. Senke den Blick.

Meine Augen jagen eine Fliege, die sich über den Kadaver einer Kellerassel hermacht. »Natürlich nicht, mein Herr. Welchen Namen darf ich meiner Herrin nennen?«

»Tjark Küstenstein.« Er fegt sich Blütenstaub vom Gewand, der im Wind weht, meine Nase kitzelt und meine Zunge belegt. Bitterer Geschmack füllt meine Mundhöhle. Ich schließe die Lippen und schmecke Eisen – die Innenseite meiner Wange blutet.

Verdammter.

Mist.

Hinkfuß ist der Cousin des Prinzen.

Er fährt sich durch seine blonden Locken, als wäre er ein Schönling, aber hinter seiner Fassade steckt eine Pestzecke.

Ich lächle und ziehe die Zehen zusammen, die gegen meine Bundschuhe drücken. Meine Augen werden wässrig;

es liegt nicht an ihm. Es liegt am Schmerz meiner engen Schuhe.

Es liegt nicht an ihm. Es liegt am Schmerz meiner engen Schuhe.

Ich blinzle, zähle meine Finger.

Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun.

Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun.

Sein Blick brennt heißer als Sonnenstrahlen durch ein Vergrößerungsglas. Etwas länger und meine Baumwolle geht in Flammen auf.

Schweiß rinnt von meinem Haaransatz, den ich zitternd wegwische.

Eins,zwei, drei,vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun.

Truthahnbulle beäugt uns nacheinander und reicht mir widerwillig das Päckchen, das ich rasch in meine Tasche stopfe.

»Ich möchte dich ein Stück begleiten«, sagt Tjark Hinkfuß, bevor ich das Weite suchen kann.

Scher dich weg!

Er weiß, dass ich gelogen habe. Weglaufen? Sinnlos.

Gebot acht: Du weißt die Gnade der Reinblüter zu schätzen.

Ich nicke. Der Marktplatz ist ein wütender Ameisenhaufen. Geisterwesen aller Länder drängen sich an Handelskarren, stehen Schlange an Verkaufshäusern, kaufen Essen an Ständen. Sie stopfen Süßigkeiten in sich hinein, die ich noch nie gesehen habe. Die ich nie probieren werde, weil sie zu teuer sind weil ich sie nicht mag.

Reinblüter sprenkeln die Menge, das Mischblut quillt über, Blutfüchse beschmutzen die Pflastersteine. Sonnenberg ist ein Mosaik aus bunten Lichtern, Bäumen und Türmen.

Wasseradern durchziehen die Stadt, blitzen in der vollen Sonne wie eine Truhe Gold. Fenster in allen Farben schmücken die Gemäuer. Blätter und Blüten sind grün, rosa, violett. Meine Existenz ist der schwarze Klecks auf einer Farbexplosion.

Tjark Hinkfuß sieht mich von der Seite an und ich klebe den Blick auf meine fettigen Bundschuhe.

Tunnelblick.

Reinblüter lieben den Tunnelblick bei Blutfüchsen. Dann schlagen sie zu, ohne dass wir es kommen sehen.

Zwischen meinen Zehen sammelt sich das Wasser.

»Du bist schlau«, sagt er. »Also sparen wir uns doch den Weg zur Kutsche.« Seine Stimme schneidet Sonnenstrahlen und ich widerstehe dem Drang, vor Furcht stehen zu bleiben. Er lächelt ein Lächeln, das vielen Geisterwesen das Herz stehlen würde. Mir raubt es den Atem – im negativen Sinne.

Ich muss antworten, darf nicht lügen, muss gehorsam sein. »Der Truthahnbulle war dumm. Wäre er schlau, hätte er gewusst, dass Blutfüchse im Land der Rachegeister nicht mit Kutschen fahren dürfen. Ich habe es zu meinem Vorteil genutzt, weil ich gierig bin. Ich wollte mir Süßigkeiten von meiner Dreistigkeit kaufen.« Ich wollte bettelnden Blutfüchsen Geld geben.

Stille.

Tjark Hinkfuß gluckst so energisch, dass seine Locken hüpfen.

Er hinkt. Ein Korkenzieher springt.

Er hinkt. Ein Korkenzieher springt.

Hinkfuß zeigt auf seine Augen. »Gewiss. Er ist vom Land der Unglücksseeligen. Ich finde, man erkennt sie immer an ihrem dümmlichen Blick.«

Rachegeister erkennt man an ihrem vernichtenden Blick. Blutfüchse an ihrem duckmäuserischem.

Wie irrsinnig nachsichtig der Geistersee ist. Dabei sind wir die Mörder und sie die Opfer.

Tjark bleibt stehen und ich wage es nicht weiterzugehen. »Sag, Blutfüchsin, möchtest du von den Gipfeln Sonnenbergs kosten?«

Ich runzle die Stirn. Er sieht mir meine Unwissenheit an, blinzelt, öffnet den Mund, um etwas zu sagen, schließt ihn dann aber wieder und schnaubt lachend. »Du kannst es ja nicht kennen.« Er zeigt auf einen dampfenden Essensstand. »Eine Süßspeise.«

Ich hasse Süßes.

»Möchtest du es probieren?«

Gebot acht: Du weißt die Gnade der Reinblüter zu schätzen.

Ich nicke, sehe ihm hinterher. Er steuert einen Stand an und ich zähle achtundachtzig durchgestrichene Füchse an Ständen und Geschäften. Mit vier aufgespießten Gebäckkugeln kommt er zurück. Eine Bö schlägt sein Gewand, offenbart edle Kleidung einer Blutlache auf schmächtigen Muskeln: die Farben der Rachegeister.

Er drückt mir das nach Zimt stinkende duftende Zeug in die Hand. Frittierfett tropft vom Stiel, braune Kristalle verhüllen die Hefeklöße.

Ich starre es an.

Tjark starrt mich an.

»Du wolltest doch Süßes. Iss.«

Ist das ein Befehl?

Gebot sechs: Du gehorchst den Reinblütern.

Ich beiße hinein. Fett rinnt mir vom Kinn, Zucker knirscht zwischen meinen Zähnen. Das Gebäck ist zermalmt und unbekannte Gewürze verbrennen mir die Zunge.

Weiter hinten beim Kaskadenbrunnen, der groß wie ein Haus ist und funkelnd wie ein Regenbogen, wird ein Blutfuchs zu Hackfleisch verprügelt. Hinter mir ein Knall, dann ein Schrei. Rechts eine Ohrfeige, links ein Peitschenhieb. Junge Blutfüchse weinen bettelnd am Straßenrand.

»Schmeckt es?«

Ich schlucke.

Widerlich. Widerlich. Widerlich. Ich will ihm den Spieß in seine Glubschaugen stechen.

Ich senke den Kopf und Tjark ist zufrieden mit mir. Sein Blick brennt nicht mehr. »Nicht alle Blutfüchse sind wie du.«

Nicht alle Rachegeister sind wie er.

»Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht bloßstellen.«

Eine Entschuldigung eines Rachegeists: Er wird mich ausnutzen.

Tjark Hinkfuß entschuldigt sich nicht, er vergeltet. Tjark Hinkfuß vergibt nicht, er bestraft dich für seine Fehler, sagten die Blutfüchse aus Lavendelaue.

Er will Mara.

»Ich habe schlechte Erfahrungen mit Blutfüchsen gemacht.«

Ach. Was.

Sie sagten, Blutfüchse zertrümmerten sein Knie und danach wurden ihre Seelen zertrümmert.

Mir wäre ein zertrümmertes Knie lieber.

»Selbstverständlich ist mir bekannt, dass sich die Blutfüchse von Familie Herbstfels benehmen.« Tjark Hinkfuß zerschneidet mir die Haut mit bloßen Augen, gräbt sich durch mein Fleisch bis zu meiner schwarzen Porzellanseele. Sie hat Risse: dicke, dünne, lange, kleine.

In seiner Klaue knackt ein Spalt.

Seine Hand berührt meinen Kopf.

Beherzt. Behutsam. Bedrohlich.

Ich atme nicht mehr.

Klopf, klopf. Er drückt mich tiefer in den Erdboden.

»So viele Blutfüchse, so viel Mischblut. Die Brautschau des Prinzen vereint Gewitterfäden aller Geisterwesen. Man weiß nie, wo die Spannung überlädt, und es knallt. Wir kommen nicht oft zusammen. Sonnenberg ist es nicht gewohnt, die Ausdünstung so viel niederen Blutes zu ertragen.«

Er verirrt sich in seiner hochgeborenen Sprache, sodass es mir schwerfällt zuzuhören, bis seine trüben Rinderaugen ein Loch in meine Stirn bohren.

Verdammter Mist.

Hat er mich angesprochen?

»Ich freue mich, deine Herrin und dich morgen beim Bankett begrüßen zu dürfen.«

2 THYRI

Drei hungernde Welpen. Zwei Striemen auf dem Rücken einer Alten. Ein fehlender Finger eines Stehlenden.

Ich gebe den drei Kindern meine restlichen Gebäckkugeln. Benutze Maras Namen; kaufe Heilsalbe. Benutze Maras Namen; kaufe Druckverband.

Eine Sonnenphase später und mein Geldbeutel ist eine platte Falte.

Der Himmel in Sonnenberg ist röter als in Lavendelaue. Wolken schwellen; eine wilde Wut aus Violett, Rosa und Türkis. Funken glühen und sprenkeln das Rot.

Ich kneife ein Auge zusammen, hebe einen Daumen und zerteile die Sonne.

Eins, zwei, drei, vier.

Gut, ich habe noch Zeit, bis ich zu Mara zurückmuss – etwa ein Achtel Sonne.

Ich laufe durch schmale Gassen. Türme, die wie mit Kristallen besetzte Damastmesser aussehen, teilen meinen Weg. Adern aus Baumrinde zerdrücken die eng stehenden Häuser. Es regnet Kirschblüten auf Straßen, die keiner geht. Die, in denen die Blutfüchse sich wie Ratten zusammenkauern und auf die Zerstörung ihrer Seele warten.

Meine Füße schwitzen, meine Schuhe und Blasen schmatzen und ihr Echo haucht einen Kuss zurück. Ich grinse, obwohl ich Schmerzen habe. Ich hinke wie Tjark Hinkfuß und erfreue mich daran, weil ich jetzt weiß, wie dumm er sich dabei vorkommen muss.

Metall trifft auf Metall. Mein Grinsen erstirbt.

Schmutzblutkämpfe.

Ich drücke auf meine Fingerkuppen, zähle sie.

Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun.

Berühre meinen Fingerstumpf und ein Schrei ertönt. Er gleicht meinem vor zehn Jahren.

Mein Gang setzt sich fort und ich schiele in die Winkel, bis meine Augen sich an dieses eine Fenster nageln, unfähig, sich loszureißen. Blutkämpfe sind im Land der schwachen Seelen seit acht Jahren verboten. Das Land der Rachegeister sieht sich hingegen nicht daran satt.

Wenn Mara den Prinzen heiratet, wird er unser Land mit seiner Gewalt verpesten?

Zwei Blutfüchse, die nicht älter als zehn sind, zerfetzen sich für die Belustigung des Mischblutes. Applaus, Applaus. Hier ein Grölen, da ein Jauchzen.

Was unterscheidet die anderen von uns?

Ich schließe die Augen, schlage sie auf. Meine Finger berühren die Scheibe. Erst dann realisiere ich, dass ich dem Blutkampf zusehe. Mein Stumpf zwickt. Mein silbern gestreifter Rücken zuckt.

Ich war zehn. Sie war vierzehn. Ich zerkratzte ihr die Augen; sie zerhackte meinen Finger; ich nahm ihr die Hand. Beifall gebende Klänge – Begeisterung der Menge.

Mich zu weigern, sie zu töten, ließ mich Dreck, Staub und Blut fressen. Peitschenhiebe hagelten auf mich hinab. Ihre Wucht trieb mich in die Schmelze des Nichts.

Ich schließe die Augen, schlage sie auf. Blut spritzt mit ungeahnter Gewalt an das Fenster, sodass ich zurückweiche und über meine Füße stolpere.

Die Sonne flammt mir den Nacken.

Es kitzelt, krabbelt, juckt. Ich wende mich ab, bevor der erste Fuchs in seinem Blut ertrinkt. Bevor die Seele des Mordenden zerschellt.

Ein Tor ist mein Weg in die Freiheit, die mir die Natur verspricht.

Ich blende die Kämpfe aus, lasse die Türme hinter mir und steige in das Unterholz des Waldes. Der Fluss ist mein Wegweiser, die kühle Brise meine Schubkraft.

Tiefer, tiefer, tiefer.

Ich flüchte in die Gebärmutter des Waldes, wünschte mir, sie würde mir neues Leben schenken – nicht als Blutfuchs, nicht als Mensch. Ein Tier wäre schön: als singender Vogel.

Der vertraute Geruch von Moos, Pilzen und Rinde füllt meine Nase. Baumstämme, die breiter sind, als dass man sie umarmen könnte, ragen aus der Erde. Ihre Wurzeln sind spindeldürre Schattenwesen. Nebellichter – durchscheinende Bälle, die die Sonne in sich tragen, schenken ihnen Augen, lassen sie zu schaurigen Kreaturen werden.

Ich pendle auf meinen Blasen durch ein Netz aus Sträuchern. Äste, Zweige, Blätter streicheln mich und fordern mich zum Tanz auf. Ich nehme an, drehe mich, werfe den Kopf in den Nacken und stelle mir das Leben als Vogel vor.

Ein Nebellicht lacht mich an und ich schubse es in die Richtung einer Böschung, sodass es mir eine Höhle offenbart. Das Licht wird verschluckt und der kalte Sog der Dunkelheit zieht mich in seinen Bann. Ich erreiche den Eingang, Sand scheuert in meinen Schuhen. Es löst ein Verlangen in mir aus.

Sand, herrlicher, pulvriger Sand.

Ich beuge mich herunter, schaufele eine Handvoll Erde und drücke sie. Kein herrlicher, pulvriger Sand – nicht ideal, aber möglich.

Ich mache es mir auf dem Boden bequem, grabe im feuchten Land und glätte die Oberfläche. Fege Unkraut fort, wische Kreise, puste über Wurzelreste und skizziere das Bild eines Fuchses nur mit meinen Fingern. Die Umgebung ist meine Inspiration: Ich male Pusteblumen, skizziere Lauchblüten und setze meinen Fuchs inmitten von Holundersträucher. Ich schaue auf und zerreibe den Nährstoff des Waldes zwischen meinen Fingern. Die Lichtung ist lebendig – ein Traum. Vögel singen Lieder, Blätter flüstern Geheimnisse, Wasser gluckst, der Fluss erzählt Witze.

Es knackt, ächzt und ein Mann tritt in die Sonne.

Fünf, zehn, zwanzig, dreißig Fuß – zu nah.

Instinktiv springe ich vor einen Strauch. Es raschelt und sein Blick schnellt in meine Richtung. Dunkle Augen, silbernes Haar, das im Licht glänzt wie das Gefieder einer Dohle. Die Geisterwelt hat ihn noch nicht gebrochen; er steht aufrecht wie die Türme der Stadt in der Ferne: groß, muskulös, umwerfend tödlich.

Zweige und Blätter versperren die Sicht. Ich beiße mir auf die Lippe und meine Fingernägel raspeln Rinde. Splitter bohren sich in meine Fingerkuppen, aber es schmerzt nicht.

Ich hebe einen Ast an.

Hautmalerei – überall. Die schwarze Tinte erzählt eine Geschichte, an seinen Fingern beginnend, hoch über das Geflecht aus Muskeln und Adern bis hin zu den Schultern. Dort verschwinden sie unter dem ärmellosen Gewand und tauchen am Hals wieder auf, wo das Kunstwerk mit dem Schatten seines Kinns verschmilzt.

So prächtig gefährlich. Ich ringe nach Atem und gebe ihm heimlich einen Namen: Tintenklecks.

Er seufzt, ich seufze. Stille.

»Ist da jemand?«

Oh.

Verdammter.

Mist.

Diese Stimme.

Sie streichelt meinen Gehörsinn, berührt meine Gedanken, küsst mein Verlangen.

Sie ist mein Tod.

Er dreht sich um seine eigene Achse und sieht dabei so elegant aus, dass seine Bewegung ein Tanz ist, obwohl seine massiven Stiefel alles andere als tanzwütig aussehen. Seine Kleidung besteht aus löchrigem Leinen und abgenutztem Leder. Perlen blitzen auf seiner sonnenliebkosten Haut und erstrahlen seine Malerei. Ich will sie berühren, platzen lassen, auf der Zunge schmecken.

Gebot zwei: Du darfst nicht begehren …

Eine Brise trägt Blütenstaub zu ihm herüber, den er sich blinzelnd aus den Augen wischt. Sein Gesicht formt Züge wie aus Stein gemeißelt: zornige Brauen, genervter Blick. Er trägt die Maske eines arroganten Rachegeistes, aber steckt in Blutfuchskleidung.

Wer bist du?

Er schließt die Augen, legt den Kopf in den Nacken und schiebt den Kiefer hin und her. Die Sonne empfängt sein Gesicht und er breitet die Arme aus, als wolle er sie umarmen.

Ich will die Sonne sein.

Flammen lecken meine Wangen und eine Spinne springt in mein Gesicht. Ich gebe keinen Mucks und halte die Luft an. Ihre Härchen streicheln meine Sommersprossen und ihre Beine bewegen sich so träge, dass die Zeit rückwärtsgeht.

Mit Vorsicht löse ich meine Hand vom Ast, strecke meine Finger, zerquetsche die Spinne und schiebe sie mir in den Mund. Salzige Pilzaromen belegen meine Zunge, während ich das Geäst wieder auseinander drücke. Es folgt trommelnde Enttäuschung in meiner Brust.

Er ist weg.

Ich schlucke den Spinnenmatsch herunter.

Verdammter Mist, wieso bist du weg?

»Suchst du etwas?«

Ich schrecke zusammen, verliere das Gleichgewicht und stürze in den Holunderstrauch. Beim Versuch, mich aufzuraffen, scheitere ich zweimal. Meine Haare weben die Zweige mit roten Fäden ein und die Äste verheddern sich in meinem Gewand. Eine Blattkrone schmückt meinen Kopf.

Ich bin Gespött, er ist ein Gott. Himmlisch. Verführerisch. Tintenklecks hat kräftige Wimpern und eine kaum sichtbare Narbe über der Braue, aber …

Oh.

Seine Augen.

Schwarzer Ring;

kastanienbraune Goldschätze.

»Ich rede mit dir.« Seine Worte sind die zarten Schläge auf den Saiten einer Zither.

Ein Sturm züngelt an meinem Verstand und ich vergesse, wie man spricht, vergesse, wie man sich bewegt, wie man lebt.

Durch meine Seele fährt ein Riss.

Tintenklecks hockt sich zu mir herunter. Ein Blick in die Dunstwolke hinter ihm und ich bin wieder Herrin meines Bewusstseins. »Dünnblut.« Der Klang meiner Stimme schleicht über den Waldboden, raschelt durch Laub und bricht an seinen Stiefeln.

Tintenklecks blinzelt hundertmal, bevor er die Stirn runzelt und das Gesicht zu einer angewiderten Fratze verzieht. »Ich bin kein …«

Er bemerkt, dass ich an ihm vorbei stiere, erstarrt und ich bin enttäuscht, wie lausig seine Sinne sind. Der Komageist steht direkt hinter ihm – grau, fadenscheinig, zitternd.

Wer bitte ist nicht in der Lage, das Zerren der Unterkühlung an seinem Körper zu spüren?

Meine Zähne schlagen aufeinander, meine Lippen beben und ich rücke tiefer ins Gebüsch.

Wie lange frisst er schon von ihm? Wie lange wird es dauern, bis das Porzellan seiner Seele platzt?

Ich wäre fähig, ihm zu helfen, aber damit würde ich mich selbst gefährden.

Kein Gebot besagt, dass es meine Pflicht ist, Leben zu retten.

Wenn sich der Komageist an seiner Seele satt gefressen hat, wird er mich in Ruhe lassen, bestenfalls löst er sich sogar auf.

Tintenklecks schlägt um sich und ich bin beinah stolz auf seinen Willen zu leben, aber er ist dumm. Wer kommt auf die irrsinnige Idee, sie abzuschütteln?

»Hau ab, Seelenfresser! Verdammte, geschmolzene Wachsfresse!«

Tintenklecks flucht also, dann ist er zumindest kein Reinblüter. Ist er ein Blutfuchs?

Kein Gebot besagt, dass es meine Pflicht ist, Leben zu retten.

Aber vielleicht ist er wie ich.

Ich reiße mich aus den Krallen des Strauches, packe Tintenklecks Saum und ziehe ihn samt Dünnblut hinter mir her. Meine Knochen gefrieren, meine Muskeln lahmen und meine Haut berstet. Der Komageist ist gierig und schwappt zu mir über. Er tastet meine Seele ab, drückt in ihre Risse, zerrt an meinem Leben und manipuliert meinen Verstand: Die Kälte ist erfrischend, der Sog eine Liebkosung meines Schmerzes.

Tintenklecks wehrt sich, ist aber zu schwach, um sich loszureißen, sowohl von mir als auch vom Dünnblut – die Wachsfresse hat gute Arbeit geleistet.

Zehn Schritte durch Gestrüpp, fünf Atemzüge, zwei Komma fünfmal blinzeln und ein Sprung. Wildes Wasser umarmt uns, Fluten schubsen und die Stromschnellen saugen mir die Luft aus den Lungen.

Warum ist dieser Fluss so verdammt tief?

Warum ist das Land der Rachegeister Feuer und ihr Wasser Eis?

Eine Lunte brennt meinen Rücken hinab, jeder Wirbel explodiert für sich, entfacht ein Feuerwerk aus Qualen. Ich krümme mich und verliere Tintenklecks. Meine Füße streifen den Grund, den ich nutze, um mich abzustoßen. Wie ein Fliegenfisch schieße ich aus der Oberfläche und klammere mich von einem Felsen zum anderen, um das Kehrwasser zu erreichen.

Ich keuche, huste, schlucke, ringe nach Atem und blinzle das Flusswasser aus meinen Augen. Das Rauschen schüchtert meine Sinne ein, sie verstecken sich und meine Orientierung winkt zum Abschied.

Ein Blick zurück. Das Dünnblut wird uns wenigstens nicht mehr belästigen.

Was für ein dummer Geist.

Ich küsse zwei Finger und halte sie an mein Mal.

Mein Beileid. Jetzt bist du einer von uns, aber hoffentlich kein Blutfuchs.

Felsen, Büsche, Wasser, Wasser, Wasser.

Tintenklecks taucht nicht auf.

Verdammter Mist.

Mein Blut wird zum Fluss, der vom Knacken meiner Seele begleitet wird.

Felsen, Büsche, Wasser, Wasser, Wasser.

Die Fluten lachen mich aus; die Böschung lacht mich an. Es wäre ein Leichtes, mich jetzt zu retten.

Kein Gebot besagt, dass es meine Pflicht ist, Leben zu retten.

Ich verlasse das Kehrwasser, schwimme mit dem Strom und lasse meine Augen jede Bewegung auffangen. Zehn Wellenschläge später und ich greife im letzten Moment nach einer Stoffblase, die sich an einem ertrinkenden Ast festgesetzt hat.

Meine übrig gebliebenen Kräfte sind erbärmlich, aber stark genug, um mich an Tintenklecks festzuhalten und zur Rinde zu wechseln, die sich nicht anfassen lässt. Beim zweiten Abrutschen stoße ich einen Wutlaut aus und bohre meine Nägel in das Fleisch des Holzes.

Ich packe den Schopf von Tintenklecks, halte seinen Kopf über Wasser und bin drauf und dran, ihm eine Kopfnuss zu geben, damit er aufwacht, aber als ich die blauen Lippen sehe, die schwarzen Augenringe und die lila Adern auf seiner makellosen Haut, wuchte ich ihn stattdessen von einem Stein zum anderen.

Atmen, Keuchen. Atmen, Keuchen. Meine Muskeln schreien, meine Glieder krampfen, meine Sinne schauen erschrocken aus ihrem Versteck.

Ich treibe mit Tintenklecks ins Kehrwasser und erlaube mir, einmal laut zu seufzen. Dann drücke ich ihn in die Arme des Ufers, zerre ihn die Böschung hoch und lasse mich zitternd, japsend, aber lächelnd neben ihn fallen.

Seine Brust hebt und senkt sich – ich habe ein Leben gerettet.

Nachdem ich Tintenklecks auf die Seite gedreht habe, krümmt er sich und würgt Wasser. Ich bin überrascht, wie viel Fluss aus ihm herauskommt. Er entleert sich, bis er platt, wie ein Silberfisch, ist. Dann wirft er sich auf den Rücken, schaut in den Himmel und atmet. Ich reiße meinen Kopf Richtung Sonne.

Vier, acht, sechzehn.

Es ist Zeit, zu verschwinden.

Tintenklecks wirft mir einen Blick zu; seine Augen küssen mein Gesicht, meinen Hals, jeden meiner Sommersprossen.

Es wäre Zeit, zu verschwinden.

»Du hast uns beinah umgebracht«, sagt er.

Ich runzle die Stirn, richte mich auf. »Ich habe dich gerettet.«

Er kneift die Augen zusammen. »Ich habe deine Hilfe nicht gebraucht.« Ein zierliches Geflecht blauer Adern fließt aus dem Schatten seiner Augenringe und formt ein Netz. Er unterdrückt das Beben seines Körpers, aber mir entgeht nicht, dass er sich an die Grasbüschel krallt, als müsse er all seine Kraft aufwenden, um das Gefäß seiner Seele zusammenzuhalten.

Ich schnalze. »Man kann Dünnblut nicht abschütteln. Du wärst gestorben.«

»Man kann sie abschütteln.«

»Nein.«

»Doch.«

Stille.

Dann ein Quaken eines Frosches – sogar der lacht sich über ihn kaputt.

»Man kann sie abschütteln und ich hätte es geschafft.« Und damit sieht er weg.

Der Stolz ist der Wahrheit Tod.

Ich zucke mit den Schultern und richte mich übertrieben mühelos auf. Er hingegen bleibt am Boden liegen, wie eine Flunder. Wir wissen beide, dass seine Seele zu abgekaut ist, um der Schwerkraft zu trotzen.

»Hör auf, mich anzuglotzen und verschwinde!«, wütet er und meine Augenbrauen leisten den Sternen am Himmel Gesellschaft. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte; was passiert, wenn man jemanden rettet. Mir war klar, dass kein Goldregen auf mich hinabfällt, dass keine Lobeshymne für mich gesungen, Blumensträuße geschenkt oder Feuerwerk entfacht wird, aber ein Danke wäre nett gewesen.

Es hat sich nie jemand bei mir bedankt.

Es wird mir nie jemand danken. Man wird mir danken, wenn meine Seele zertrümmert ist. Schade, dass der schöne Mann von innen so hässlich ist.

Ich richte mein geknotetes Halstuch, streiche meine Kleider glatt und lasse Tintenklecks mit seiner Undankbarkeit allein.

Soll das nächste Dünnblut doch seine Seele fressen.

3 THYRI

Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin Ich bin eine Mörderin Ich bin …Meine Seele ist es wert, wiedergeboren zu werden.Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich …

Ein Japsen. Dann Stille.

Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin Ich bin …Ich bin keine Mörderin. Meine Seele ist es wert, wiedergeboren zu werden.Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin eine Mörderin. Ich bin …

Ein Augenaufschlag. Dann ein Atemzug.

Ich bin keine Mörderin.

4 VARIN

Es kratzt und schabt.

Der Gestank von Erde, Wurzeln und Pilzen dringt in meine Nase. Schwere Luft drückt meine Lungen. Kühlende Perlen benetzen meine Haut.

Ich huste.

Eine Stimme füllt meinen Kopf und singt… mein Lied.

»… Ich bin das leise Knistern des Schaumes,

wenn das Meer tobt und brüllt.

Ich bin die ruhige Hülle,

in der ein Sturm wütet.

Ich bin all das – viel und doch zu wenig.

Ich habe mich gefunden.

Habe dich gefunden.

Du bist ein Traum, ein Ziel,

eine Erfüllung.

Der Grund, laut sein zu wollen.

Das erste, das letzte Mal.

Ich, du,

bin, wir sind…«

Ich schlucke.

All das und gut – gut genug, wie wir sind.

Gut genug, um ein, nein, kein Traum zu sein;

um einen Traum zu leben.

Ich schlage die Augen auf und die Stimme hält ein. Vor mir, gut fünfzehn Fuß entfernt, sitzt Rotschopf.

Hat sie gesungen?

Woher kennt sie dieses Lied?

Mein Kopf rutscht zur Seite, meine Augen entknoten Zeichen im Sand.

Großer. Gott.

Der Höhlenboden ist zum Tagebuch von Rotschopf geworden. Ich bin eine Mörderin, durchgestrichen, etwa tausendmal in den Boden geritzt. Gehört sie zu den psychisch Gestörten?

Diese Brautschau macht mich fertig. Das Unkraut pflanzt sich in unser Land und beschmutzt es mit seiner hartnäckigen Dummheit, Unvollkommenheit und seinem Wahnsinn.

Was macht die überhaupt hier? Ist sie nicht abgehauen, nachdem sie mich fast ertränkt hatte?

Ich drücke meinen Oberkörper vom Boden hoch, um mich gegen die Felswand zu lehnen, und augenblicklich schwinden meine Muskeln unter der Erschöpfung meiner Seele. Ich zische und Rotschopf reißt die Augen auf. »Du hast Schmerzen, bleib liegen.«

Schmerzen.

Ich habe keine Schmerzen.

Meine Seele klebt am Boden fest, als hätte ich mich in Harz gewälzt!

Rotschopf schnalzt. »Das Dünnblut war gierig, hat deine Seele aufgesaugt, wie Kinder heiße Honigmilch. Ich glaube, du kannst erst morgen wieder gehen.«

Beeindruckend, wie scharf der Verstand der Gestörten ist. »Du schon wieder«, entgegne ich bitterer als beabsichtigt.

Sie lässt ihren Stift – einen Zweig – aus der Hand fallen. »Du schon wieder«, murmelt sie. Ihre Unterlippe schiebt sich vor und glänzt im Feuerschein wie eine Kirsche.

Keiner wagt es, mich auf diese Art nachzuäffen.

Sie weiß nicht, wer ich bin.

Wer bitte weiß nicht, wer ich bin?

Ihre Augen fassen alles von mir an. Sie sind grün und spiegeln die Dunkelheit der Höhle wider, sehen gierig aus–hungrig.

Wie lange will sie mich noch anstarren?

Ich hörte, manche von ihnen sind Kannibalen. Will sie mich essen? Machen die schwachen Seelen das so? Sich vom Leben anderer ernähren, so wie die Nebelsauger? Kein Wunder, dass die nie wiedergeboren werden.

Ich will aufstehen, aber durch meine Seele zuckt ein Ruck, der mich zurück gegen den Felsen katapultiert – zu schwach.

Verflucht. Nochmal.

In meinen ganzen vierundzwanzig Jahren hat nie eine Wachsfresse von meiner Seele gesaugt. Es ist die Schuld von Rotschopf. Sie hat mich abgelenkt.

»Bist du fertig mit Glotzen?« Ich weiche ihrem Blick aus, hefte ihn an die ockerfarbenen Wände, die aus einer Reihe Tropfsteine bestehen. Die Höhle stößt die Schwerter des Gesteins von unten nach oben und von oben nach unten. Sie zittern, schwinden im Schatten, glänzen im wabernden Licht und rücken von links nach rechts.

Ich blinzle und massiere mir die Stirn.

Es klopft und klopft und klopft;

tropft, rauscht und pocht.

Großer Gott!

Hat mich das Dünnblut vergiftet, oder was?

Rotschopf bleibt stumm, sieht woanders hin, als hätte sie nichts Besseres zu tun, als in der Höhle Wurzeln zu schlagen und ihr peinliches Gekritzel fortzuführen.

Ich atme einmal tief ein und schließe die Augen. Meine Fingerkuppen sind taub, meine Füße kribbeln. Es passiert schon wieder.

Sei netter, zuvorkommender, erinnere dich an dein Benehmen – zur Hölle.

Ich schiebe den Kiefer vor, presse die Lippen zusammen und atme durch geweitete Nasenflügel aus.

Es knistert und knackt. Ich hasse Feuer. Es ist zu heiß, zu gierig, zu gewalttätig. Höhlen mag ich auch nicht. Sie sind zu feucht, zu schaurig, zu düster und stinken nach Fäulnis. Ich zittere. Unterdrücke es.

Das Licht, das durch den Eingang scheint, kämpft mit dem Schatten der Höhle – es ist noch Tag. Wie lange war ich bewusstlos? Wie lange sitzt sie schon da und glotzt mich an?

Ihre Beine sind dicht an den Körper gezogen, mit den Armen verschlungen. Dreckige, aber zu meinem Erstaunen vornehme Kleidung; nass. Ich habe nicht lange geschlafen.

Die Granitdecke weint funkelnde Perlen. Rotschopf kriegt eine ab. Sie platzt auf ihrem Handrücken und wird kurz darauf von ihren Lippen aufgesaugt.

Ich räuspere mich.

Die Stille ist unerträglich.

Sie hat mir geholfen.

Wenigstens ist sie keine Blutfüchsin.

Sei netter.

Die Flammen fordern ihre Sommersprossen zu einem Spiel heraus, das sie ablehnt, indem sie ihr Gesicht von mir abwendet und dem Schatten zuwendet. Ihre Finger krallen sich in ihre Oberarme, beschmutzen ihr helles Kleid. Sie muss in meinem Alter sein, vermutlich aber eher jünger.

Sei netter.

Sie steht auf, ohne mich noch einmal anzusehen. »Du bist wach und lebst.« In ihrer Stimme vibriert der unterdrückte Zorn. »Ich wollte nur sichergehen, dass du es schaffst. Dünnblüter meiden Höhlen, also bleib besser hier, bis du wieder gehen kannst.«

Und dann dreht sie mir den Rücken zu.

Niemand dreht mir einfach den Rücken zu.

Niemand geht, ohne dass ich es befohlen habe.

»Danke«, entfährt es mir, ohne dass ich länger darüber nachdenken konnte.

Sie erstarrt, fährt herum und ihre Lider klimpern – einmal, zweimal und plötzlich brechen Fluten über ihre Wimpernkränze.

Zur Hölle, warum heult die denn jetzt?

Sei netter.

Ich war nett und jetzt tut sie so, als hätte ich sie geschlagen – was stimmt denn bitte nicht mit ihr?

Ihre Hände schließen sich, öffnen sich. Ihr Daumen zählt ihre Fingerspitzen. Sand regnet hinab. Das Schluchzen, das ihr entfährt, ist die Trauer der toten Nebelfälle, die unser Königreich umarmt. Ihre Pupillen fegen den dreckigen Höhlenboden, huschen von links nach rechts und von einer Zeile zur anderen.

»Du bist keine Mörderin«, sage ich.

Und jetzt hör auf zu heulen und hau ab.

»Ich bin …« Ihre Stimme erstickt.

»Keine Mörderin. Der Tod der Wachsfresse zählt nicht, glaub mir, die warten nur darauf, getötet zu werden, damit sie wieder leben können. Du hast ihn quasi erlöst.«

Sie sieht mich an, als wäre ich bescheuert, tritt von einem Fuß auf den anderen.

Warum rede ich ihr gut zu?

War sie nicht dabei zu verschwinden?

Sie liest erneut in ihrem Höhlentagebuch und wischt mit der Spitze ihrer Bundschuhe über das Gekritzel. Tränen perlen von ihren Wangen und als sie wieder hochblickt und lächelt, ja sogar kichert, löscht sie mein Feuer, verbrennt meinen Schutz, schmilzt mein Eis und vereist meine Gedanken.

Ich sehe weg. Etwas pocht in meiner Brust, schlägt und tritt. Kein Herz. Ich habe kein Herz – Herzen vererbt man und es gab keines, das man mir vererbte. Das, was da klopft, ist ein Monster, das wartet, mit Liebe gefüttert zu werden, um das Herz anderer vor ihren Augen zu zerquetschen.

Ich habe kein Herz.

Ihr Kichern ist der Zucker auf den Gipfeln der Sonnenberge. »Wachsfresse.« Sie hält sich die Hand vor den Mund. »Diese Beschimpfung habe ich noch nie gehört.«

Ich habe noch nie so ein betörendes Lachen gehört.

Meine Hände werden zu Knetbällen. Ich räuspere mich. »Du bist kein Rachegeist.«

»Du schon.«

Ich nicke. »Du, eine schwache Seele?«

Sie nickt. »Du, ein Blutfuchs?«

Ich reiße die Augen auf. »Was zum? Wie kommst du auf diesen Quatsch?«

Ein Schulterzucken, mehr nicht. Wenn ich könnte, würde ich sie aus der Höhle jagen.

Sie zeigt auf meine Kleidung. »Du siehst so aus. Dann Mischblut?«

Ich schnaube.

»Wie ist dein Name? Hast du einen?«, fragt sie. »Kommst du aus der Gegend oder hat dich die Brautschau hierher verschlagen?

»Warum bist du so verdammt neugierig?«

Ein Seufzen entringt sich ihrer Kehle, das noch lange von den Wänden widerhallt.

Sie wühlt in ihrer Tasche. Es knistert. »Verstehe. Hast du Hunger?«

Ist das ihr Ernst?

Sie sieht aus, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen und möchte mir ihr Essen geben?

Sie kommt näher. Der Duft blutender Pfirsiche schwappt zu mir herüber, aber es ist nicht das, was sie aus dem Beutel hervorholt – sie ist es.

Eine Sesamstange vor meiner Nase und ich drehe den Kopf weg. »Ich will das nicht.«

Ein Augenkneifen. Dann lässt sie die Hand sinken. »Rachegeister sind unerträglich, wenn sie hungrig sind. Benehmen sich wie zickige Krähen, sagten sie.«

Ich öffne den Mund und schließe ihn sofort wieder, schüttle den Kopf und stöhne. »Wer sagte das?«

Wieder ein Schulterzucken und ihre Pupillen klettern über die gelben Adern der Höhle. »Freunde.«

»Sicher sind deine Freunde schwache Seelen, die noch nie einen Fuß über unsere Grenzen gesetzt und keine Ahnung von unserem Krafttier haben. Krähen sind nicht zickig.«

Sie verpackt die Gebäckstange und stopft sie zurück in ihre Tasche. »Vielleicht. Aber sie hatten recht.«

Ihre Worte treffen wie Funken auf meinen Zunder.

»Du weißt hoffentlich, wo du hier bist. Du kannst nicht einfach über sie lästern. Das könnte dich die Zunge kosten!«

Stille.

Sie starrt mich an, leckt sich über die Lippen und lacht.

Verdammt, dieses Mädchen ist so rebellisch – wie hat sie die letzten Jahre überlebt?

Ich zeige mit wippendem Finger auf sie. »Ich könnte dich verraten, du …«

Ihr Lachen wird lauter. Sie zeigt zu Boden. »Du klebst da fest«, erinnert sie mich.

Niemand unterbricht mich. Ihr Hang zu sterben, muss gewaltig sein.

Ist sie eine Kreuzung einer schwachen und einer todsüchtigen Seele?

»Noch«, sage ich.

»Du wirst mich nicht verraten.«

Ich hebe die Brauen. »So selbstsicher?«

»Es ist unser Geheimnis.« Sie hockt sich zu mir herunter. »Du hast Geheimnisse, ich habe Geheimnisse. Sollte es die Krafttiere wirklich geben – deins liebt Geheimnisse und ist nie satt.« Ihr Jadeaugen huschen über meinen Kehlkopf, dann zu meinem Schlüsselbein und zu meiner Brust. »Dir ist das Federvieh wichtig, was bedeutet, dass du es mit Geheimnissen fütterst. Ein Geheimnis ist kein Geheimnis, wenn du es ausplauderst.«

Schlau.

»Du weißt schon, dass die Krafttiere über deine Wiedergeburt bestimmen?«, frage ich. »Selbst, wenn du zum Reh gehörst, wird die Krähe dich zur Seelenzerstörung verurteilen.«

Ein Schimmer in ihren Augen und sie legt den Kopf in den Nacken. »Du brauchst mir die Welt nicht erklären«, haucht sie. »Die Welt erklärt sich mir tagtäglich.« Und damit steht sie auf und wendet sich ab.

5 THYRI

Maras Haar ist Seide, das zwischen meinen Fingern gleitet wie eine Schwarznatter. Manchmal glaube ich, in ihr versteckt sich die Seele einer Göttin. Das Reh, das über die Schwachen wacht. Manchmal glaube ich, das Reh könnte auch meine Göttin sein, aber mein Gott schwimmt im Blut der anderen Götter.

»Thyri.« Mara beobachtet mich im Spiegel. »Ich rede mit dir.«

»Ich sagte es doch bereits: Ich wollte dir nur Blumen pflücken und bin in den Fluss gefallen.«

Mara schnalzt mit der Zunge. »Ich bin besorgt, Thyri. Du kannst mir sagen, wenn sie gemein zu dir waren.«

»Waren sie nicht, du weißt doch …«

»Ich habe ein schlechtes Gewissen. Ich hätte dich nicht allein auf einen fremden Markt schicken sollen und das gleich am ersten Tag unserer Ankunft.« Sie seufzt, klopft sich auf die Wangen. »Sechs Stunden Kutschfahrt machen müde.«

Ich flechte eine Kordel und verknote sie mit den anderen Schlangen auf ihrem Kopf. »Es hat mir nichts ausgemacht.«

»Die linke Seite höher«, haucht sie.

Sie beugt sich vor, um nach der Phiole der schwarzen Rose zu greifen, die zwischen ihrem ganzen Krimskrams untergegangen wäre, würde sie sich farblich nicht absetzen. Ein Schatten inmitten einer Blumenwiese. Ein Schatten wie ich es bin.

Es ploppt und stinkt duftet nach verbranntem Karamell. Mara jauchzt. Ich unterdrücke ein Würgen.

»Ich kann verstehen, warum der Prinz die Rose liebt. Sie riecht verführerisch zart.«

Sie riecht wie die Füchse, die in Zucker und Zunder gewälzt und angesteckt werden. Kein Wunder, dass er sie liebt.

Mara lässt ein paar Tropfen auf ihr Handgelenk fallen, riecht daran, seufzt, riecht daran, seufzt. Ihre Goldaugen schimmern wie der Puder auf ihrer Nase. Sie presst die vollen Lippen zusammen, die sich zu einem Lächeln krümmen. Begießt sich mit der Phiole. »Man weiß ja nie. Vielleicht sehe ich ihn ja heute Abend!«

»Heute findet das Bankett unter den Heiratskandidaten statt«, erinnere ich sie.

Sie saugt ihre Unterlippe ein und runzelt die Stirn. »Himmel, Thyri. Du bist immer so negativ.«

»Tjark«, sage ich, da dreht Mara sich ruckartig herum. Sie verdreht die Augen und schüttelt den Kopf. »Reden wir nicht über ihn.«

»Aber er sagte, er freue sich auf das Bankett morgen. Du wirst den Prinzen und seine Familie erst morgen sehen.«

»Thyri. Das Haus der Rachegeister ist ein Labyrinth. Wir werden uns verirren.«

»Ins Gemach des Prinzen?«

Maras olivfarbene Haut wird rot. Sie wedelt mit ihrer behandschuhten Hand vor ihrem Gesicht und kichert. »Hast du herausgefunden, in welchem Flügel er wohnt?«

Ich seufze. Mara seufzt.

»Nicht schlimm«, sagt sie. »Wir werden eine Weile herumlaufen.«

»Es ist uns nicht gestattet…«

»Wir verlaufen uns, Thyri.«

Ich möchte die Augen verdrehen, starre stattdessen auf den Schlangenkorb ihrer Haare, schiebe eine letzte Nadel hinein und zupfe zwei Wellen heraus, die ihr schmales Gesicht umrahmen. So, wie sie es mag. »Fertig.«

Sie begutachtet mein Werk, leckt sich Daumen und Zeigefinger, um eine Strähne zu glätten, und nickt zufrieden. »Wunderbar.« Damit springt sie vom Frisierthron und dreht sich im Kreis. »Und?«

Ich küsse zwei Finger. »Wie eine Prinzessin.«

Sie sieht aus, als hätte sie sich die ganzen achtzehn Jahre nur von schönen Seelen ernährt. Ich sehe aus, als hätte ich mich zwanzig Jahre lang nur vom Grauen des Lebens ernährt.

Maras Kleid ist ein Meisterwerk aus Seidenmalerei und luftigem Chiffon. Mit der üppigen Flechtfrisur hat sie sich selbst zur zukünftigen Königin der neun Geisterwesen ernannt.

Der Gedanke ist mir zuwider. Ich wünschte, sie könnte Königin werden, ohne den Prinzen zu heiraten. Er ist ein Monster.

Sie schreitet durch ihr Gemach wie damals im Kindesalter, als sie den aufrechten Gang übte. Heute hat sie die Übung nicht mehr nötig, wiederholt sie trotzdem immer wieder.

Auf und ab, auf und ab. Knicks, auf und ab.

Jeder wird sie heiraten wollen. Diese Brautschau ist eine Farce. Es liegt auf der Hand, dass der Prinz ihr den Antrag machen wird.

Ich werde keinen bekommen. Ich werde nie einen bekommen.

Ihre Farben passen zur Zimmereinrichtung. Die Rachegeister halten sich scheinbar für gastfreundlich, wenn sie die Flügel der verschiedenen Häuser ihren Farben anpassen. Violette Vorhänge schmücken die Fensterfront, mächtig wie die Berge in der Ferne. Goldene Kissen, haufenweise Decken, Bilderrahmen, Verzierungen stopfen das Zimmer, als wäre es eine Schatzkiste. Das Bett ist eine lila Wolke, der Schleier darüber ein glitzernder Nebel. Und es ist groß. Verschwenderisch groß.

Hier hätten zehn Blutfüchse Platz.

»Zieh das da an.« Mara zeigt auf das Kleid, welches ich mit einer Decke in türkis verwechsle. »Ich habe dir neue Kleider gekauft.«

Ich bin ihre Puppe.

Sie zwinkert mir zu. »Die Brautschau des Prinzen ist auch die Zeit der Barmherzigkeit. Oh, Thyri. Ich bin mir sicher, du wirst von einem Reinblüter erwählt. Hoffentlich ist es einer der Rachegeister und gehört zum Prinzen. Dann können wir zusammen in unsere Heimat reisen. Es würde meine Seele brechen, wenn du mir genommen werden würdest!«

Ich will keinen Reinblüter. Ich will den Mann aus der Höhle.