Das Reich der sieben Höfe – Silbernes Feuer - Sarah J. Maas - E-Book

Das Reich der sieben Höfe – Silbernes Feuer E-Book

Sarah J. Maas

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Beschreibung

Alte Gefährten, neue Freunde und noch gefährlichere Feinde Der fünfte Band der Bestsellerreihe – mitreißender, leidenschaftlicher und magischer denn je! Feyres Schwester Nesta war schon immer stolz, wütend und nachtragend – und seit sie gegen ihren Willen eine High Fae wurde, fällt es ihr schwer, ihren Platz am Hof der Nacht zu finden. Ausgerechnet Cassian soll Nesta nun dabei helfen, ihr Schicksal zu akzeptieren. Doch die plötzliche Nähe zu ihm stellt Nesta vor eine beinahe unerträgliche Herausforderung, denn noch immer kann und will sie ihren Gefühlen für Cassian nicht nachgeben. Als dem Reich der Fae erneut ein Krieg droht, liegt es an Nesta, drei magische Artefakte zu finden – um das Schlimmste zu verhindern. Doch die Suche bringt nicht nur dunkle Machenschaften ans Licht, sondern auch Nestas magische Fähigkeiten, die eine ungeahnte Gefahr darstellen … Knisterndes Enemies-to-Lovers-Epos mit viel Spice! Alle Bücher der ›Das Reich der sieben Höfe‹-Reihe: Band 1: Dornen und Rosen Band 2: Flammen und Finsternis Band 3: Sterne und Schwerter Band 4: Frost und Mondlicht Band 5: Silbernes Feuer Die Bände sind nicht unabhängig voneinander lesbar. Weitere Reihen von Sarah J. Maas bei dtv: ›Throne of Glass‹ ›Crescent City‹

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Seitenzahl: 1157

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Über das Buch

Alte Gefährten, neue Freunde und noch gefährlichere Feinde

 

Feyres Schwester Nesta war schon immer stolz, wütend und nachtragend – und seit sie gegen ihren Willen eine High Fae wurde, fällt es ihr schwer, ihren Platz am Hof der Nacht zu finden. Ausgerechnet Cassian soll Nesta nun dabei helfen, ihr Schicksal zu akzeptieren. Doch nicht nur die plötzliche Nähe zu ihm stellt Nesta vor eine ungeahnte Herausforderung. Denn als dem Reich der Fae erneut ein Krieg droht, ist es an ihr, drei magische Artefakte zu finden, um das Schlimmste zu verhindern. Die Suche bringt nicht nur dunkle Machenschaften ans Licht, sondern auch Nestas magische Fähigkeiten, die eine ungeahnte Gefahr darstellen …

 

Der fünfte Band der Bestsellerreihe.

Mit bislang unveröffentlichtem Bonusmaterial

 

 

Von Sarah J. Maas sind außerdem bei dtv lieferbar:

Throne of Glass 1 – Die Erwählte

Throne of Glass 2 – Kriegerin im Schatten

Throne of Glass 3 – Erbin des Feuers

Throne of Glass 4 – Königin der Finsternis

Throne of Glass 5 – Die Sturmbezwingerin

Throne of Glass 6 – Der verwundete Krieger

Throne of Glass 7 – Herrscherin über Asche und Zorn

Throne of Glass – Celaenas Geschichte

Das große Throne of Glass-Fanbuch

Das Reich der sieben Höfe 1 – Dornen und Rosen

Das Reich der sieben Höfe 2 – Flammen und Finsternis

Das Reich der sieben Höfe 3 – Sterne und Schwerter

Das Reich der sieben Höfe 4 – Frost und Mondlicht

Das große Reich der sieben Höfe-Fanbuch

Catwoman – Diebin von Gotham City

Crescent City 1 – Wenn das Dunkel erwacht

Crescent City 2 – Wenn ein Stern erstrahlt

Crescent City 3 – Wenn die Schatten sich erheben

Sarah J. Maas

Das Reich der sieben Höfe

Silbernes Feuer

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Franca Fritz und Heinrich Koop

Für alle Nestas da draußen:

Besteigt den Berg.

 

Und für Josh, Taran und Annie:

Ihr seid der Grund, warum ich meinen Berg besteige.

Prolog

Das schwarze Wasser an ihren um sich tretenden Füßen war eiskalt.

Nicht wie beißende Winterkälte und auch nicht wie das Brennen von Eis auf nackter Haut. Es war kälter. Intensiver.

Die Art von Kälte, die zwischen den Sternen klaffte, die Kälte einer Welt vor dem Licht.

Die Kälte der Hölle – der wahren Hölle, wie sie erkannte, als sie sich gegen den Griff der starken Hände aufbäumte, die versuchten, sie in diesen Kessel zu stoßen.

Die wahre Hölle, denn dort auf dem Steinboden lag Elain, und es beugte sich ein rothaariger, einäugiger Fae über sie. Über ihre Schwester, aus deren triefnassen, goldbraunen Haaren spitze Ohren hervorragten und deren helle Haut in einem unsterblichen Leuchten schimmerte.

Die wahre Hölle – schlimmer als der tintenschwarze Abgrund, nur wenige Zentimeter von ihren Zehenspitzen entfernt.

Taucht sie unter, befahl der Fae-König mit dem unerbittlichen Gesichtsausdruck.

Und der Klang dieser Stimme – die Stimme des Mannes, der Elain das angetan hatte …

Sie wusste, dass man sie in den Kessel stoßen würde. Dass sie diesen Kampf verlieren würde.

Dass niemand kommen würde, um sie zu retten: weder die schluchzende Feyre oder deren geknebelter ehemaliger Liebhaber noch ihr am Boden zerstörter neuer Seelengefährte.

Auch Cassian nicht, der gebrochen und blutend auf dem Boden lag. Auch wenn er noch immer versuchte, sich mit zitternden Armen aufzurichten und zu ihr zu kriechen.

Der König von Hybern – er war es, der Elain und Cassian das angetan hatte.

Und ihr.

Das eisige Wasser fraß sich in ihre Haut.

Ein giftiger Todeskuss, so endgültig, dass sie sich mit jeder Faser ihres Körpers dagegen aufbäumte.

Sie würde untergetaucht werden – aber sie würde es nicht widerstandslos hinnehmen.

Das Wasser schien ihre Fußknöchel wie mit Krallen zu packen und sie hinabzuziehen. Sie wand sich und befreite ihren Arm aus dem Griff der Wache.

Und dann streckte Nesta Archeron einen Finger aus und zeigte auf den König von Hybern.

Sie verhieß ihm den Tod, markierte ihn als Ziel.

Hände stießen sie in die Tiefen des Wassers.

Nesta lachte, als sie die Angst sah, die sich in die Augen des Königs schlich, kurz bevor das Wasser sie verschlang.

Am Anfang

Und am Ende

War Dunkelheit

Und sonst nichts

Sie spürte die Kälte nicht, als sie in einem Ozean versank, der keinen Grund hatte, keinen Horizont und keine Oberfläche. Aber sie spürte das Brennen.

Unsterblichkeit war keine heitere Jugend.

Sie glich einem Feuer.

Wie geschmolzenes Erz, das in ihre Adern gegossen wurde und ihr menschliches Blut zum Kochen brachte, bis es nur noch Dampf war – Dampf, der ihre brüchigen Knochen zu heißem Stahl schmiedete.

Und als sie den Mund öffnete, um zu schreien, weil der Schmerz ihr Innerstes zerriss, blieb alles still. An diesem Ort herrschte nichts außer Dunkelheit und Leid und Macht …

Sie würden bezahlen. Sie alle.

Angefangen mit diesem Kessel.

Jetzt sofort.

Mit Klauen und Zähnen stürzte sie sich in die Dunkelheit, zerfleischte, zerriss und zerfetzte.

Und die dunkle Ewigkeit um sie herum erschauderte. Bäumte sich auf. Schlug um sich.

Sie lachte, als die Dunkelheit zurückwich. Lachte mit einem Mund voll roher Kraft, die sie aus der Dunkelheit herausgerissen und verschlungen hatte. Lachte, als sie eine Handvoll Ewigkeit nach der anderen in ihr Herz und ihre Adern stopfte.

Der Kessel zappelte wie ein Vogel in den Pfoten einer Katze. Doch sie weigerte sich loszulassen.

Alles, was er ihr und Elain genommen hatte, würde sie sich zurückholen.

Eingehüllt in schwarze Ewigkeit schlangen sich Nesta und der Kessel umeinander und stürzten brennend durch die Dunkelheit wie ein neugeborener Stern.

Teil 1Novizin

1

Cassian hob die Faust an die grün lackierte Tür im dämmrigen Hausflur … und zögerte.

Er hatte mehr Feinde niedergemetzelt, als er zählen konnte, hatte auf zahllosen Schlachtfeldern knietief im Blut gestanden und doch weiter sein Schwert geschwungen, hatte Entscheidungen getroffen, die ihn das Leben fähiger Krieger gekostet hatten, war General, Infanterist und Attentäter gewesen. Und dennoch … Hier stand er nun und ließ die Hand sinken.

Zögerte erneut.

Das Haus am Nordufer des Flusses brauchte dringend einen neuen Anstrich. Und neue Böden – wenn man davon ausging, wie die Treppenstufen unter seinen Stiefeln geknarzt hatten. Aber wenigstens war es sauber. Für velarianische Verhältnisse zwar noch immer schäbig, aber da es in der Stadt keine Armenviertel gab, wollte das nichts heißen. Er hatte schon in viel schlimmeren Behausungen übernachtet.

Allerdings hatte er nie verstanden, warum Nesta unbedingt hier wohnen wollte. Es leuchtete ihm natürlich ein, dass sie nicht in das Haus der Winde ziehen wollte – es lag zu weit von der Stadt entfernt, und sie konnte weder fliegen noch den Wind teilen. Was bedeutete, dass sie die zehntausend Stufen hinauf- und hinunterlaufen musste. Aber warum dieses Loch, wenn das Stadthaus leer stand? Seit Feyre und Rhys ihr ausladendes Anwesen am Fluss errichtet hatten, stand ihr Stadthaus all ihren Freunden als Bleibe zur Verfügung. Er wusste, dass Feyre ihrer Schwester dort ein Zimmer angeboten hatte, aber Nesta hatte abgelehnt.

Stirnrunzelnd betrachtete er die abblätternde Farbe der Wohnungstür. Durch den ansehnlichen Spalt zwischen Türblatt und Fußboden, durch den sich selbst die fetteste Ratte quetschen konnte, drang kein Laut. Und in dem engen Hausflur hing nicht gerade ein frischer Geruch in der Luft.

Vielleicht hatte er ja Glück und sie war nicht da – schlief möglicherweise unter der Theke irgendeiner zwielichtigen Schenke, in der sie letzte Nacht gelandet war. Aber das wäre vermutlich schlimmer, weil er sie dann erst ausfindig machen musste.

Als Cassian erneut die Faust hob, funkelte sein roter Trichterstein im Schein der alten Feenlichtkugeln, die in die Decke eingelassen waren.

Feigling. Reiß dich endlich zusammen.

Cassian klopfte an die Tür. Dann noch einmal.

Stille.

Fast hätte er vor Erleichterung laut aufgeatmet. Der Großen Mutter sei Dank …

Schnelle, zielstrebige Schritte ertönten auf der anderen Seite der Tür. Jeder einzelne genervter als der vorherige.

Er legte die Schwingen an, richtete sich auf und platzierte die Füße schulterbreit auseinander. Diese traditionelle Kampfhaltung hatte man ihm in seinen Lehrjahren eingeprügelt, aber inzwischen handelte es sich um einen reinen Muskelreflex. Er wollte lieber nicht darüber nachdenken, warum die Schritte seinen Körper zu dieser Haltung veranlassten.

Die schnappenden Geräusche, mit denen nacheinander vier Schlösser an der Tür entriegelt wurden, hätten ebenso gut von einer Kriegstrommel stammen können.

In Gedanken ging Cassian die Liste der Dinge durch, die er sagen sollte – und vor allem, wie er sie laut Feyre sagen sollte.

Die Tür wurde aufgerissen und der Knauf so heftig umgedreht, dass Cassian sich fragte, ob sie sich dabei wohl vorstellte, es sei sein Genick.

Nesta Archeron zog eine finstere Miene. Wenigstens hatte sie die Tür geöffnet.

Sie sah erbärmlich aus.

»Was willst du?«, fragte sie durch den handbreiten Türspalt.

Wann hatte er sie eigentlich das letzte Mal gesehen? Bei der Bootsparty auf dem Sidra am Ende des Sommers? Da hatte sie noch nicht so mitgenommen ausgesehen. Aber vermutlich sah niemand besonders gut aus, wenn er in der Nacht versucht hatte, seinen Verstand mit Wein und Schnaps zu ertränken. Schon gar nicht um …

»Es ist sieben Uhr morgens«, stellte sie fest und musterte ihn mit diesem graublauen Blick, der ihm jedes Mal aufs Neue auf die Nerven ging.

Sie trug ein Männerhemd. Und sonst nichts.

Cassian stützte sich mit einer Hand an den Türpfosten und schenkte ihr ein ironisches Grinsen, mit dem er sie unfehlbar dazu brachte, die Krallen auszufahren. »Harte Nacht?«

Hartes Jahr – das hätte es wohl eher getroffen. Ihr schönes Gesicht war blass, wesentlich schmaler als im Jahr vor dem Krieg gegen Hybern, ihre Lippen blutleer, und diese Augen … Kalt und stechend, wie ein Wintermorgen in den Bergen.

Keine Freude, kein Lachen zeichnete sich in ihrem Gesicht ab.

Sie machte Anstalten, die Tür sofort wieder zu schließen, trotz seiner Hand am Pfosten.

Rasch schob er einen Stiefel in den Türspalt, bevor sie ihm die Finger brechen konnte. Ihre Nasenflügel bebten.

»Feyre möchte, dass du zum Haus kommst.«

»Zu welchem?«, fragte sie und schaute missbilligend auf seinen eingekeilten Fuß. »Sie hat fünf.«

Er verkniff sich eine scharfe Erwiderung. Das hier war kein Schlachtfeld – und er war nicht ihr Gegner. Er sollte sie lediglich zum angegebenen Ort bringen. Und konnte dann nur beten, dass sie das schöne Anwesen, das Feyre und Rhys gerade erst bezogen hatten, nicht in Schutt und Asche legte.

»Zum neuen.«

»Warum holt meine Schwester mich nicht selbst ab?«

Er kannte diesen argwöhnischen Glanz in ihren Augen, sah, wie sich ihr Rücken leicht versteifte. Nur zu gern wäre er seinem Instinkt gefolgt und hätte sie so lange gereizt, bis sie eine Reaktion zeigte.

Seit der Wintersonnenwende hatten sie nur ein paar Worte gewechselt, die meisten auf der Bootsparty letzten Monat:

Aus dem Weg.

Hallo, Nes.

Aus dem Weg.

Gern.

Das war alles – nachdem er sie monatelang kaum gesehen hatte.

Warum war sie überhaupt zu der Party gekommen, wo sie doch wusste, dass sie über Stunden mit ihnen auf dem Wasser festsitzen würde? Wahrscheinlich lag es an Amren, dass sich Nesta überhaupt hatte blicken lassen: Die High Fae hatte offenbar noch immer irgendeine Macht über sie. Aber am Ende des Abends hatte Nesta mit verschränkten Armen ganz vorn in der Schlange gewartet, um möglichst schnell von Bord zu kommen, während Amren am Heck gestanden und vor Wut und Abscheu fast gezittert hatte.

Niemand hatte gefragt, was zwischen den beiden vorgefallen war, nicht einmal Feyre. Kaum hatte das Boot angelegt, war Nesta förmlich davongestürmt, und seitdem hatte niemand mehr mit ihr geredet. Bis heute. Bis zu diesem Gespräch, das ihm vorkam wie das längste, das sie seit der Schlacht gegen Hybern geführt hatten.

»Als High Lady des Hofs der Nacht hat sie alle Hände voll zu tun«, sagte Cassian schließlich.

Nesta legte den Kopf auf die Seite, sodass ihr das goldbraune Haar über die magere Schulter fiel. Bei jedem anderen hätte diese Bewegung nachdenklich gewirkt, aber bei ihr erinnerte sie eher an die Warnung eines Raubtiers, das seine Beute taxierte.

»Und meine Schwester hält es für notwendig, dass ich sofort erscheine?«, entgegnete sie mit dieser tonlosen Stimme, die nicht die geringste Gefühlsregung verriet.

»Feyre wusste, dass du dich wahrscheinlich erst frisch machen musst, und wollte dir etwas Zeit lassen. Du wirst um neun erwartet.«

Er wartete auf die Explosion, während Nesta nachrechnete.

Ihre Augen blitzten auf. »Seh ich aus, als würde ich zwei Stunden brauchen, um mich zurechtzumachen?«

Er nahm es als Einladung, sie genauer zu betrachten: lange nackte Beine, eleganter Hüftschwung, schmale Taille – ebenfalls viel zu mager – und volle, einladende Brüste, die so gar nicht zu den neuen, scharfen Kanten ihres Körpers passten.

Bei jeder anderen Frau wären diese großen Brüste für ihn wahrscheinlich Anlass genug, ihr sofort den Hof zu machen. Aber schon bei seiner ersten Begegnung mit Nesta war das kalte Feuer in ihren Augen eine andere Art von Versuchung gewesen.

Und jetzt, da sie eine High Fae war, mit aller dazugehörenden Dominanz und Aggression – und ihrem beschissenen, arroganten Verhalten –, ging er ihr möglichst aus dem Weg. Besonders wenn er an das dachte, was während und nach dem Krieg gegen Hybern passiert war. Sie hatte an ihren Gefühlen ihm gegenüber keinen Zweifel gelassen.

»Du siehst aus, als könntest du ein paar ordentliche Mahlzeiten, ein Bad und was Anständiges zum Anziehen gebrauchen«, antwortete er nach einer Weile.

Nesta verdrehte die Augen, nestelte aber am Saum ihres Hemdes.

»Schmeiß diesen erbärmlichen Typ raus und nimm ein Bad, während ich dir einen Tee mache«, sagte Cassian.

Sie musterte ihn mit leicht hochgezogenen Augenbrauen.

Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln. »Meinst du, ich könnte den Kerl in deinem Schlafzimmer nicht hören, der gerade versucht, sich leise anzuziehen und durchs Fenster zu fliehen?«

Wie zur Bestätigung drang ein dumpfes Geräusch aus dem Schlafzimmer. Nesta fauchte.

»Ich komm in einer Stunde wieder, um nachzusehen, wie weit du bist.« Cassian legte so viel Schärfe in seine Worte, dass seine Soldaten sich gehütet hätten, ihn zu reizen: Sie wussten, dass er aus gutem Grund sieben Trichtersteine benötigte, um seine Magie unter Kontrolle zu halten. Aber Nesta flog nicht in seinen Legionen, kämpfte nicht unter seinem Kommando und schien sich auch nicht daran zu erinnern, dass er über fünfhundert Jahre alt war und …

»Spar dir die Mühe. Ich werde rechtzeitig da sein.«

Er stieß sich vom Türpfosten ab und spreizte leicht die Schwingen, während er ein paar Schritte zurücktrat. »Mein Auftrag lautet, dich von Tür zu Tür zu geleiten.«

Ihre Miene verfinsterte sich. »Dann hock dich auf irgendeinen Schornstein und warte gefälligst.«

Er deutete eine Verbeugung an, wagte aber nicht, sie aus den Augen zu lassen. Sie war aus dem Kessel aufgetaucht mit … Gaben. Beträchtlichen, dunklen Gaben. Aber niemand hatte seit dieser letzten Schlacht gegen Hybern irgendeinen Hinweis darauf gespürt oder gesehen – nicht seit Amren den Kessel zerschlagen hatte und es Feyre und Rhys gelungen war, ihn wieder zusammenzufügen. Auch Elain hatte seitdem keine Anzeichen ihrer früheren Fähigkeiten als Seherin erkennen lassen.

Aber wenn Nesta ihre Kraft behalten hatte und noch immer in der Lage war, ganze Schlachtfelder dem Erdboden gleichzumachen … Cassian hütete sich davor, sich einem Raubtier als Opfer anzubieten. »Trinkst du deinen Tee mit Milch oder mit Zitrone?«

Sie schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

Und verriegelte dann alle vier Schlösser.

Pfeifend schlenderte Cassian durch den dämmrigen Flur und fragte sich, ob der arme Kerl in der Wohnung tatsächlich durch das Fenster fliehen würde – hauptsächlich vor ihr. Dann machte er sich auf die Suche nach etwas Essbarem.

Er würde die Stärkung heute brauchen. Erst recht, wenn Nesta erfuhr, aus welchem Grund ihre Schwester sie sehen wollte.

 

Nesta Archeron kannte den Namen des Mannes in ihrer Wohnung nicht.

Auf dem Weg ins Schlafzimmer durchforstete sie ihr noch immer vom Wein benebeltes Hirn. Sie schlängelte sich zwischen Bücherstapeln und Klamottenbergen hindurch, während sie sich an glühende Blicke in der Schenke erinnerte, an heiße Küsse, an den Schweiß auf ihrer Haut, als sie ihn ritt und Lust und Alkohol sie alles vergessen ließen, auch seinen Namen.

Als Nesta jetzt in das schummrige Chaos ihres Schlafzimmers trat, hing der Typ bereits halb aus dem Fenster. Und unten auf der Straße wartete Cassian bestimmt schon darauf, sich seinen jämmerlichen Abgang anzusehen. Ein paar ihrer Bettlaken lagen auf den knarzenden, unebenen Holzdielen, und das nur lose in den Angeln hängende Fenster knallte gegen die Wand. Als der Typ sie hörte, wirbelte er zu ihr herum.

Er war attraktiv, wie die meisten High Fae. Aber für ihren Geschmack ein wenig zu dünn – praktisch noch ein Junge, verglichen mit den Muskelbergen, die sich vorhin an der Tür vor ihr aufgetürmt hatten. Er zuckte zusammen und sein Gesichtsausdruck bekam etwas Gequältes, als er sah, was sie trug.

»Ich … Das ist …«

Nesta zog sein Hemd aus, unter dem nichts als nackte Haut zum Vorschein kam. Seine Augen wurden größer, aber der Geruch von Angst blieb – nicht vor ihr, sondern vor dem Fae, den er an der Wohnungstür gehört hatte … während ihm langsam wieder klar wurde, wer ihre Schwester war. Wer der Seelengefährte ihrer Schwester war. Wer deren Freunde waren. Als ob das irgendeine Rolle spielen würde.

Wie sehr würde seine Angst erst riechen, wenn er erfuhr, dass sie ihn nur benutzt und mit ihm geschlafen hatte, um sich selbst unter Kontrolle zu behalten? Um diese sich windende, schwelende Dunkelheit zu unterdrücken, die sie in sich spürte, seit sie aus dem Kessel aufgetaucht war? Sex, Musik und Alkohol halfen – bis zu einem gewissen Punkt zumindest, wie sie im Laufe des letzten Jahres herausgefunden hatte. Wenigstens konnte sie damit verhindern, dass diese Kraft überkochte, auch wenn sie noch immer spürte, wie sie durch ihr Blut strömte und sich um ihre Knochen schlang.

Sie warf ihm das weiße Hemd zu. »Du kannst jetzt durch die Vordertür raus.«

»Ich … Ist er weg?«, stammelte er, während er das Hemd überstreifte. Sein Blick wanderte über ihre Brüste, die sich in der kühlen Morgenluft aufgerichtet hatten, und über ihre nackte Haut bis zu der empfindlichen Stelle am Ansatz ihrer Oberschenkel.

»Auf Wiedersehen«, sagte Nesta nur und trottete ins angrenzende Bad mit den verrosteten, tropfenden Hähnen, aus denen aber wenigstens fließend heißes Wasser kam.

Manchmal.

Feyre und Elain hatten sie immer wieder überreden wollen, hier auszuziehen, aber sie hatte ihre Ratschläge ignoriert. Und sie würde auch nichts auf das geben, was man ihr heute mitteilen mochte. Sie wusste, dass Feyre ihr eine Standpauke halten wollte. Vielleicht hing es ja damit zusammen, dass Nesta die horrende Rechnung in der Schenke letzte Nacht auf den Namen ihrer Schwester hatte gehen lassen.

Nesta schnaubte, als sie den eiskalten Wasserhahn aufdrehte. Er ächzte und quietschte, bevor das Wasser in die rissige, fleckige Wanne spritzte.

Das hier war ihre Bleibe. Keine Bediensteten, keine Augen, die jeden ihrer Schritte überwachten und verurteilten. Keinerlei Gesellschaft – es sei denn, sie lud jemanden ein. Und keine neugierigen, angeberischen Krieger, die meinten, sie müssten bei ihr aufkreuzen.

Es dauerte fünf Minuten, bis das Wasser warm genug war, um es einlaufen zu lassen. An manchen Tagen im letzten Jahr hatte sie erst gar nicht so lange gewartet, sondern war einfach in das eiskalte Wasser gestiegen und hatte nichts gespürt – nur die beißende, dunkle Tiefe des Kessels, als er sie ganz und gar verschlang, ihre Menschlichkeit und ihre Sterblichkeit fortriss und sie zu dem hier machte.

Sie hatte monatelang gegen die Panik angekämpft, erneut untergetaucht zu werden. Panik, die ihren ganzen Körper erfasst und bis ins Mark erschüttert hatte. Aber sie hatte ihr die Stirn geboten und sich gezwungen, im schmerzhaft kalten Wasser zu sitzen, zitternd und mit klappernden Zähnen. Hatte sich nicht gerührt, bis ihr Körper begriff, dass sie sich in einer Badewanne und nicht im Kessel befand, in ihrer Wohnung und nicht in der Burg jenseits des Meeres, dass sie lebendig war und unsterblich. Auch wenn das für ihren Vater nicht länger galt.

Nein, ihr Vater war Asche im Wind, und an seine Existenz erinnerte nur noch ein Grabstein auf einem Hügel vor der Stadt. Das zumindest hatten ihre Schwestern ihr erzählt.

Ich habe dich vom ersten Augenblick an geliebt, als ich dich in den Armen gehalten habe, hatte ihr Vater in jenen letzten gemeinsamen Momenten zu ihr gesagt.

Lass deine schmierigen Pfoten von meiner Tochter. Das waren seine letzten Worte gewesen, die er dem König von Hybern entgegengeschleudert hatte. Ihr Vater hatte seine letzten Worte an diesen Wurm von einem König verschwendet.

Ihr Vater. Der Mann, der nie für seine Kinder gekämpft hatte. Bis ganz zum Schluss. Als er zu Hilfe gekommen war – um die Menschen und die Fae zu retten, natürlich, aber vor allem seine Töchter. Sie, Nesta.

Was für eine grandiose, lächerliche Verschwendung.

Eine schreckliche, dunkle Kraft floss durch ihre Adern, aber sie hatte nicht gereicht, um den König von Hybern davon abzuhalten, ihm das Genick zu brechen.

Sie hatte ihren Vater zutiefst gehasst, und doch hatte er sie geliebt, aus irgendeinem unerklärlichen Grund. Nicht genug, um sie vor Armut und Hunger zu bewahren. Aber irgendwie hatte seine Liebe gereicht, um auf dem Kontinent eine Armee aufzustellen und mit einem nach ihr benannten Schiff in die Schlacht zu ziehen.

Sie hatte ihren Vater auch in diesen letzten Sekunden noch gehasst. Und dann war sein Genick gebrochen. Doch im Moment seines Todes hatte in seinen Augen keine Angst gestanden, sondern nur diese törichte Liebe zu ihr.

Diese Erinnerung war ihr geblieben – der Ausdruck in seinen Augen. Die Verbitterung in ihrem Herzen, als er für sie gestorben war. Sie hatte in ihr geschwelt und an ihr genagt wie die Macht, die sie tief in sich verborgen hielt, war in ihrem Kopf gewuchert, bis keine eiskalten Bäder sie mehr betäuben konnten.

Sie hätte ihn retten können.

Der König von Hybern trug die Schuld am Tod ihres Vaters. Das wusste sie. Aber sie ebenfalls. Genau wie es ihre Schuld war, dass der Kessel Elain verschleppte, nachdem Nesta ihn ausspioniert hatte. Ihre Schuld, dass Hybern all diese schrecklichen Dinge getan hatte, um sie und ihre Schwester wie Wild zur Strecke zu bringen.

An manchen Tagen hatten schiere Angst und Panik Nestas Körper so fest im Griff, dass sie kaum atmen konnte. Nichts konnte verhindern, dass die schreckliche Macht in ihr immer höher aufstieg. Nichts außer der Musik in diesen Schenken, außer dem Kartenspiel mit Fremden, den unzähligen Flaschen Wein und dem Sex, bei dem sie zwar nichts empfand, der ihr aber einen Moment der Befreiung von all dem Tosen in ihrem Inneren bot.

Nesta wusch sich den Schweiß und die anderen Überreste der letzten Nacht ab. Der Sex war gar nicht schlecht gewesen – sie hatte schon besseren gehabt, aber auch viel schlechteren. Selbst die Unsterblichkeit reichte für manche Männer nicht aus, um die Künste des Schlafzimmers zu erlernen.

Also hatte sie sich diese selbst beigebracht. Hatte sich einen empfängnisverhütenden Tee aus der Apotheke besorgt und war mit dem erstbesten Mann hierhergekommen. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass sie noch Jungfrau war, bis er das Blut auf dem Laken entdeckte. Sein Gesicht hatte sich angewidert verzogen, aber dann war ein Anflug von Angst in seine Augen getreten – die Angst, sie könnte ihrer Schwester von einer unbefriedigenden ersten Nacht berichten. Oder deren unausstehlichem Seelengefährten. Nesta hatte sich nicht die Mühe gemacht, dem Typ zu erzählen, dass sie den beiden tunlichst aus dem Weg ging. Besonders Rhysand, der sie in letzter Zeit ebenfalls zu meiden schien.

Nach dem Krieg gegen Hybern hatte Rhysand ihr verschiedene Jobs angeboten. Stellungen an seinem Hof.

Sie hatte alle abgelehnt. Es waren Mitleidsangebote, klägliche Versuche, sie dazu zu bringen, Teil von Feyres Leben zu werden und einer bezahlten Tätigkeit nachzugehen. Aber der High Lord hatte sie nie leiden können, und ihre Unterhaltungen waren bestenfalls unterkühlt verlaufen.

Sie hatte ihm nie gesagt, dass sie aus den gleichen Gründen hier wohnte, aus denen er sie hasste. Warum sie an manchen Tagen kalte Bäder nahm, an anderen zu essen vergaß und das Knacken und Knistern eines Feuers im Kamin nicht ertragen konnte. Und warum sie sich jede Nacht mit Wein, Musik und Vergnügen betäubte. Alles, was Rhysand von ihr dachte, entsprach der Wahrheit – und sie hatte es gewusst, lange bevor er je vor ihrer Tür gestanden hatte.

All diese Angebote machte er ihr nur aus Liebe zu Feyre. Aber Nesta verbrachte ihre Zeit lieber so, wie sie es wollte. Immerhin zahlten die beiden noch.

Plötzlich klopfte jemand so heftig an ihre Tür, dass die ganze Wohnung bebte.

Sie warf einen Blick in Richtung des vorderen Zimmers und überlegte, ob sie so tun sollte, als wäre sie nicht da. Aber Cassian konnte sie hören und riechen. Und wenn er die Tür aufbrach, was sehr wahrscheinlich war, hatte sie nur den Ärger am Hals, das Ganze ihrem knauserigen Vermieter erklären zu müssen.

Also streifte sie das Gewand über, das sie letzte Nacht auf den Boden geworfen hatte, und entriegelte erneut alle vier Schlösser. Sie hatte sie gleich am Tag ihres Einzugs anbringen lassen, und es war praktisch zu einem Ritual geworden, sie jeden Abend zu verriegeln. Selbst, als sie den namenlosen Mann mitgebracht hatte und vollkommen betrunken gewesen war, hatte sie es nicht vergessen.

Als ob sie damit die Dämonen dieser Welt fernhalten könnte.

Nesta machte die Tür weit genug auf, um Cassians überhebliches Grinsen zu registrieren, und ließ sie angelehnt, als sie in die Wohnung zurückmarschierte, um ihre Schuhe zu suchen.

Er schlenderte hinter ihr herein, in der Hand einen Becher mit Tee. Den Becher hatte er wahrscheinlich im Laden an der Ecke geliehen. Oder gleich geschenkt bekommen. Denn die meisten Leute beteten den Boden an, über den er mit seinen schlammigen Stiefeln schritt. Schon vor dem Krieg gegen Hybern war er in dieser Stadt verehrt worden, aber sein Heldentum und seine Opferbereitschaft – Eigenschaften, denen er seinen Ruf auf dem Schlachtfeld verdankte – hatten ihm danach nur noch mehr Ansehen eingebracht.

Nesta machte seinen Bewunderern keinen Vorwurf, denn sie hatte selbst das Vergnügen und das schiere Grauen erlebt, ihn auf dem Schlachtfeld zu sehen. Noch immer wachte sie nachts schweißgebadet auf, wenn die Erinnerungen zurückkehrten: daran, dass sie nicht hatte atmen können, als er von Feinden bestürmt wurde. Daran, wie es sich angefühlt hatte, als die Macht des Kessels aufwallte. Nesta hatte gewusst, dass der Kessel dort zuschlagen würde, wo ihre Armee am stärksten war, dass er Cassian treffen würde.

Sie hatte es nicht geschafft, die eintausend Illyrianer zu retten, die in dem Augenblick gefallen waren, als sie ihn in Sicherheit gebracht hatten. Auch diese Erinnerung verdrängte sie, so gut sie konnte.

Cassian schaute sich in der Wohnung um und pfiff leise. »Schon mal daran gedacht, eine Putzfrau anzuheuern?«

Nesta betrachtete den kleinen Wohnbereich: eine durchgesessene, dunkelrote Couch, ein rußgeschwärzter, gemauerter Kamin, ein mottenzerfressener, geblümter Sessel, und dann die alte Kochnische, wo sich das schmutzige Geschirr türmte. Wohin hatte sie bloß ihre Schuhe gekickt? Sie verlegte ihre Suche ins Schlafzimmer.

»Etwas frische Luft wäre schon mal ein guter Anfang«, fügte Cassian aus dem anderen Zimmer hinzu. Das Fenster knarzte, als er es aufriss.

Sie fand ihre braunen Schuhe in entgegengesetzten Ecken des Schlafzimmers. Einer davon stank nach verschüttetem Wein.

Nesta hockte sich auf die Bettkante, um sie anzuziehen, und zerrte an den Schnürsenkeln. Sie machte sich nicht die Mühe, den Kopf zu heben, als sich Cassians feste Schritte näherten und er an der Tür stehen blieb.

Er schnüffelte einmal vernehmlich.

»Ich hatte gehofft, du würdest nach jedem Bettgenossen zumindest die Laken wechseln. Aber das macht dir offenbar nichts.«

Nesta band die Schnürsenkel des ersten Schuhs zu. »Was geht dich das an?«

Er zuckte die Schultern, aber seine angespannte Miene strafte die lässige Geste Lügen. »Wenn ich mehrere Männer hier drin riechen kann, dann können deine Begleiter es sicher auch.«

»Das hat bis jetzt aber keinen abgehalten.« Sie band den anderen Schuh zu, während Cassians haselnussbraune Augen sie beobachteten.

»Dein Tee wird kalt.« Seine Zähne blitzten auf.

Nesta ignorierte ihn und suchte weiter das Zimmer ab. Ihr Mantel …

»Dein Mantel liegt vorn an der Wohnungstür auf dem Boden«, sagte er. »Und es ist ziemlich frisch draußen, also nimm einen Schal mit.«

Auch das ignorierte sie. Entschlossen schob sie sich an ihm vorbei – darauf bedacht, ihn nicht zu berühren – und fand ihren dunkelblauen Mantel genau da, wo er gesagt hatte. Dann öffnete sie die Wohnungstür und bedeutete ihm, als Erster hinauszugehen.

Cassian schaute ihr fest in die Augen, während er auf sie zustolzierte, den Arm ausstreckte … und den hellblau-beige gemusterten Schal, den Elain ihr in diesem Frühjahr zum Geburtstag geschenkt hatte, von einem Wandhaken nahm. Als er in den Hausflur trat, wirkte der Schal in seiner Faust wie eine erwürgte Schlange.

Irgendetwas machte ihm zu schaffen. Meistens hielt Cassian ein wenig länger durch, bevor sein Temperament die Oberhand gewann. Vielleicht hing es mit dem zusammen, was Feyre ihr gleich eröffnen würde.

Nestas Magen krampfte sich zusammen, während sie die einzelnen Schlösser verriegelte. Sie war nicht dumm und wusste, dass es seit Kriegsende Unruhen gegeben hatte – sowohl hier in diesen Regionen als auch auf dem Kontinent. Ohne die Barriere der Mauer versuchten einige Fae-Territorien, ihre Gebietsansprüche möglichst weit auszudehnen und herauszufinden, was sie sich im Umgang mit den Menschen herausnehmen konnten. Und Nesta wusste auch, dass diese vier sterblichen Königinnen noch immer in ihrem gemeinsamen Palast hockten und über große, intakte Armeen verfügten.

Die Königinnen waren Monster, ausnahmslos. Sie hatten die goldhaarige Königin, die sie verraten hatte, getötet und eine andere Königin – Vassa – an einen Zauberer-Lord verkauft. Es war nur gerecht, dass der Kessel die jüngste der vier verbliebenen Königinnen in ein altes Weib verwandelt hatte. Zwar in eine unsterbliche Fae, aber in einem verwelkten Körper – als Strafe dafür, dass Nesta dem Kessel die Macht genommen hatte. Dafür, dass sie ihn zerfetzt hatte, als er ihre sterblichen Knochen gebrochen und in etwas Neues verwandelt hatte.

Diese runzlige Königin gab ihr die Schuld und wollte sie töten. Das zumindest hatten die Raben von Hybern behauptet – bevor sie von Bryaxis und Rhysand getötet wurden, weil sie in die Bibliothek im Haus der Winde eingedrungen waren.

In den vierzehn Monaten seit Kriegsende hatte man nicht das Geringste von dieser Königin gehört.

Aber wenn nun eine neue Bedrohung entstanden war …

Die vier Schlösser schienen Nesta auszulachen, als sie Cassian aus dem Haus und in die geschäftige Stadt folgte.

 

Das »Flusshaus« war eigentlich ein weitläufiges Anwesen und so neu, sauber und schön, dass Nesta sofort an ihre mit Weinflecken übersäten Schuhe denken musste, als sie durch den hoch aufragenden Marmorbogen in die glänzende, in geschmackvollen Elfenbein- und Sandtönen gehaltene Eingangshalle trat.

Eine imposante Treppe teilte den riesigen Raum. Von der gewölbten Decke hing ein Kronleuchter aus mundgeblasenem Glas, gefertigt von velarianischen Kunsthandwerkern. Das Licht der kugelförmigen Feenlichter spiegelte sich auf dem hellen Parkettboden, nur durchbrochen von großen Kübeln mit Farnen, Holzmöbeln aus Velaris und einer überwältigenden Anzahl von Kunstwerken. Nesta registrierte das alles ohne ein einziges Wort. Kostbare, blaue Teppiche lockerten den makellosen Boden auf, und lange Läufer markierten die Wege in die höhlenartigen Gänge zu beiden Seiten. Ein Läufer erstreckte sich unter dem Treppenbogen hindurch direkt zur Fensterfront auf der anderen Seite, die einen Blick über den Rasen zum Fluss hinunter bot.

Cassian ging nach links – zu den Geschäftsräumen, wie Feyre ihr bei der ersten und einzigen Führung vor zwei Monaten erklärt hatte. Nesta war damals ziemlich angetrunken gewesen und hatte jede Sekunde, jedes einzelne perfekte Zimmer gehasst.

Die meisten Fae kauften ihren Frauen und Seelengefährtinnen teuren Schmuck zur Wintersonnenwende.

Rhys hatte Feyre einen Palast gekauft.

Nein – er hatte das vom Krieg dezimierte Land gekauft und Feyre freie Hand bei der Gestaltung des traumhaften Anwesens gelassen.

Und irgendwie war es Feyre und Rhys tatsächlich gelungen, diesem Haus etwas Gemütliches und Gastfreundliches zu verleihen, dachte Nesta, während sie einem ungewöhnlich stillen Cassian schweigend zu einem der Arbeitszimmer folgte, deren Türen alle einen Spalt offen standen. Das Gebäude war zwar ein regelrechter Koloss, aber trotzdem auch ein Heim. Selbst die Büroeinrichtung wirkte bequem, als könnte man hier bei gutem Essen entspannte, lange Gespräche führen. Jedes einzelne Gemälde hatte Feyre selbst ausgesucht oder gemalt, viele davon Porträts von ihnen – ihren Freunden, ihrer … neuen Familie.

Von Nesta natürlich keine.

Selbst ihr gottverdammter Vater war mit einem Bildnis verewigt, das über der großen Treppe an der Wand hing. Es zeigte ihn und Elain, lächelnd und glücklich, wie in der Zeit, bevor die Welt zu Bruch gegangen war. Sie saßen auf einer Steinbank zwischen leuchtend rosafarbenen und blauen Hortensienbüschen. Im Park ihres ersten Zuhauses, hinter dem wunderschönen Herrenhaus am Meer. Von Nesta und ihrer Mutter fehlte jede Spur.

Und so war es ja auch gewesen: Elain und Feyre, abgöttisch geliebt von ihrem Vater, und Nesta, geschätzt und ausgebildet von ihrer Mutter.

Bereits bei ihrer ersten Besichtigungstour hatte Nesta bemerkt, dass weder sie noch ihre Mutter hier repräsentiert waren. Sie hatte natürlich nichts gesagt, aber das Fehlen ihrer Porträts sprach Bände.

Selbst jetzt noch machte die Erinnerung daran sie wütend, und sie musste fest an der unsichtbaren inneren Leine ziehen, um die schreckliche Kraft, die sie in sich trug, im Zaum zu halten, als Cassian durch die Tür des Arbeitszimmers schlüpfte und wem auch immer dort verkündete: »Sie ist hier.«

Nesta wappnete sich, als sie den holzvertäfelten Raum betrat, aber Feyre lachte nur leise. »Fünf Minuten zu früh. Ich bin beeindruckt.«

»Scheint ein gutes Omen zum Zocken zu sein. Wir sollten zu Rita fahren«, sagte Cassian.

Das Arbeitszimmer ging auf einen üppig bepflanzten Innenhof hinaus. Es war warm und ansprechend, und Nesta hätte möglicherweise sogar zugegeben, dass ihr die deckenhohen Bücherregale und die mit saphirblauem Samt bezogenen Polstermöbel vor dem schwarzen Marmorkamin gefielen … wenn sie nicht gesehen hätte, wer dort auf sie wartete.

Feyre saß auf der geschwungenen Lehne der Couch. Sie trug einen dicken weißen Pullover und dunkle Leggings.

Rhys – wie üblich in Schwarz, aber heute ohne Schwingen – lehnte mit verschränkten Armen am Kaminsims.

Und Amren, wie immer ganz in Grau, saß mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem Ledersessel neben dem prasselnden Feuer und musterte Nesta verächtlich mit ihren rätselhaften, grauen Augen.

Zwischen der Fae und ihr hatte sich vieles verändert.

Für dieses zerrüttete Verhältnis hatte Nesta gesorgt. Bewusst unterdrückte sie jetzt die Erinnerung an den Streit bei der Bootsparty im Spätsommer oder an die Funkstille, die seitdem zwischen ihr und Amren herrschte. Seit damals hatte es keine Besuche in Amrens Wohnung mehr gegeben, keinen Plausch beim gemeinsamen Puzzle und natürlich auch keine Lektionen in Magie. Auch dafür hatte sie gesorgt.

Wenigstens schenkte Feyre ihr ein Lächeln. » Du hattest eine harte Nacht, wie ich gehört habe.«

Nesta schaute von Cassian, der inzwischen in dem Sessel gegenüber von Amren saß, zu dem leeren Platz neben Feyre auf der Couch und schließlich zu Rhys am Kamin. Sie hielt sich kerzengerade, das Kinn vorgereckt, und hasste es, ihren Blicken ausgesetzt zu sein, als sie neben ihrer Schwester auf der Couch Platz nahm. Sie hasste es, dass Rhys und Amren ihre dreckigen Schuhe bemerkten und vermutlich auch den Typ an ihr riechen konnten, obwohl sie ein Bad genommen hatte.

»Du siehst grauenhaft aus«, meinte Amren.

Nesta war nicht so dumm, Amren anzusehen, die jetzt zwar eine High Fae war, aber einst auch etwas ganz anderes. Nicht von dieser Welt. Ihre scharfe Zunge konnte noch immer verletzen.

Wie Nesta besaß auch Amren keine dem Hof entsprechende Magie der High Fae, was ihren Einfluss dort jedoch keineswegs schmälerte. Nestas eigene Kraft als High Fae hatte sich nie gezeigt. Sie besaß nur die Kräfte, die sie dem Kessel geraubt hatte – statt die Fähigkeiten anzunehmen, mit denen der Kessel sie beschenkt hätte, so wie in Elains Fall. Sie wusste nicht, was sie dem Kessel entrissen hatte, während dieser sie ihrer Menschlichkeit beraubte, und sie wollte diese Dinge auch lieber nicht verstehen oder beherrschen. Allein bei dem Gedanken daran krampfte sich ihr der Magen zusammen.

»Aber man kann ja auch schwerlich gut aussehen«, fuhr Amren fort, »wenn man bis zum Morgengrauen unterwegs ist, sich dumm und dämlich säuft und es mit jedem treibt, der einem über den Weg läuft.«

Ruckartig drehte Feyre den Kopf zum Ersten Offizier des High Lords, der mit Amren einer Meinung zu sein schien. Cassian schwieg.

»Ich wusste nicht, dass meine Aktivitäten in euren Zuständigkeitsbereich fallen«, erwiderte Nesta.

Cassian murmelte irgendetwas, das wie eine Warnung klang. Allerdings wusste sie nicht, an wen sie gerichtet war, und es war ihr auch egal.

Amrens Augen leuchteten: ein Überbleibsel der Kraft, die einst in ihr gebrannt hatte. Nesta wusste, dass auch ihre eigene Kraft so strahlen konnte. Aber während sich Amrens Kraft als Licht und Hitze gezeigt hatte, stammte Nestas silbernes Feuer von einem dunkleren, kälteren Ort. Ein alter und doch vollkommen neuer Ort.

»Sie fallen in dem Moment in unseren Zuständigkeitsbereich, in dem du so viel von unserem Gold für Wein vergeudest«, stellte Amren klar.

Vielleicht war sie in der vergangenen Nacht mit der Rechnung doch zu weit gegangen.

Nesta schaute zu Feyre, die leicht zusammenzuckte. »Du hast mich tatsächlich hierherkommen lassen, um mir eine Standpauke zu halten?«

Feyres Augen – ihren eigenen so ähnlich – nahmen einen weicheren Zug an. »Nein, das hier ist keine Standpauke.« Sie warf Rhys einen scharfen Blick zu, der noch immer eisig schweigend am Kamin stand, und schaute dann zu Amren, der die Wut ins Gesicht geschrieben stand. »Ich würde es eher eine Debatte nennen.«

Nesta sprang auf. »Mein Leben geht euch nichts an und es steht auch nicht zur Debatte.«

»Setz dich«, knurrte Rhys.

Der raue Kommandoton seiner Stimme, diese absolute Dominanz und Macht …

Nesta erstarrte und kämpfte gegen diesen verhassten Teil ihres Fae-Wesens an, der sich einem solchen Herrschaftsanspruch fügen wollte. Cassian beugte sich in seinem Sessel vor, als wollte er sich einschalten. Sie hätte schwören können, in seinem Gesicht so etwas wie Schmerz zu erkennen. Aber Nesta hielt Rhysands Blick trotzig stand, auch wenn ihre Knie seinem Befehl gehorchen und sich beugen wollten.

»Du bleibst hier und hörst zu«, sagte er.

Sie lachte leise. »Du bist nicht mein High Lord. Du hast mir nichts zu befehlen.« Aber sie wusste, wie mächtig er war, hatte es gesehen und gespürt. Noch immer zitterte sie in seiner Nähe.

Rhys witterte diese Angst und verzog den Mund zu einem grausamen Lächeln. »Willst du dich mit mir anlegen, Nesta Archeron?«, fragte er provozierend. Der High Lord des Hofs der Nacht deutete auf den Rasen vor den Fenstern. »Da draußen haben wir jede Menge Platz für eine Prügelei.«

Nesta bleckte die Zähne und brüllte ihren Körper stumm an, ihren Befehlen zu gehorchen. Sie würde lieber sterben, als sich ihm zu fügen. Oder irgendeinem von ihnen.

Rhys’ Lächeln wurde breiter – er wusste genau, was in ihr vorging.

»Das reicht«, fauchte Feyre Rhys an. »Ich habe dir gesagt, dass du dich raushalten sollst.«

Als er seine mit kleinen Sternen gesprenkelten Augen auf seine Seelengefährtin richtete, wäre Nesta fast auf dem Sofa zusammengebrochen, weil ihre Knie schließlich doch nachgaben. Feyre neigte den Kopf und teilte Rhysand mit bebenden Nasenflügeln mit: »Entweder du gehst oder du bleibst und hältst den Mund.«

Erneut verschränkte Rhys die Arme vor der Brust, schwieg aber.

»Das Gleiche gilt für dich«, knurrte Feyre Amren an. Die Fae brummte beleidigt und schmiegte sich in ihren Sessel.

Nesta setzte sich aufrecht hin und zog keine besonders freundliche Miene, als Feyre sich ihr zuwandte. Ihre Schwester schluckte, bevor sie mit heiserer Stimme sagte: »Wir müssen ein paar Dinge ändern, Nesta. Du – und wir.«

Wo zum Teufel steckte Elain?

»Ich übernehme die Verantwortung dafür, dass es so weit gekommen ist und wir uns in dieser Lage befinden. Nach dem Krieg gegen Hybern und allem, was passiert ist, war es … Du … Ich hätte da sein und dir helfen müssen, aber leider … Ich gebe zu, dass es zum Teil meine Schuld ist.«

»Was ist deine Schuld?«, zischte Nesta.

»Du«, sagte Cassian. »Du und dein beschissenes Verhalten.«

Das Gleiche hatte er bei der Wintersonnenwende gesagt. Und genau wie damals versteifte sich ihre Wirbelsäule angesichts dieser Unverschämtheit, dieser Arroganz …

»Hör zu«, fuhr Cassian fort und hob beschwichtigend die Hände, »es geht nicht um ein moralisches Versagen, sondern …«

»Ich verstehe, wie du dich fühlst«, unterbrach Feyre.

»Du hast nicht die geringste Ahnung, wie ich mich fühle.«

Feyre ignorierte ihren Protest. »Es wird Zeit, etwas zu ändern. Und zwar sofort.«

»Erspar mir dein selbstgerechtes Getue und halt dich aus meinem Leben raus.«

»Du hast kein Leben«, erwiderte Feyre. »Und ich werde nicht einfach dasitzen und zusehen, wie du dich selbst zerstörst.« Sie legte eine tätowierte Hand auf ihr Herz, als würde sie es wirklich ernst meinen. »Nach dem Krieg beschloss ich, dir Zeit zu geben. Aber das war offenbar die falsche Entscheidung.«

»Ach ja?« Die Worte landeten wie ein Dolch zwischen ihnen.

Bei dieser höhnischen Bemerkung straffte Rhys die Schultern, schwieg aber weiter.

»Es reicht«, sagte Feyre leise und mit zitternder Stimme. »Dein Benehmen, deine Wohnung, all das … es reicht, Nesta.«

»Und wo soll ich hin?«, fragte Nesta in noch immer trotzigem, eisigem Ton.

Feyre schaute zu Cassian.

Ausnahmsweise grinste er nicht. »Du kommst mit mir«, sagte er. »Zum Training.«

2

Cassian hatte das Gefühl, als hätte er einen Pfeil auf einen schlafenden Feuerdrachen abgeschossen.

Nesta, eingehüllt in den abgetragenen blauen Mantel, mit ihren fleckigen Schuhen und dem verknitterten grauen Gewand, musterte ihn abschätzig. »Was?«, fragte sie wütend.

»Nach diesem Treffen ziehst du ins Haus der Winde«, erklärte Feyre und deutete mit dem Kinn nach Osten, in Richtung des in den Fels gehauenen Palasts am anderen Ende der Stadt. »Rhys und ich haben beschlossen, dass du jeden Vormittag mit Cassian in Windhaven, in den illyrianischen Bergen trainieren wirst. Nach dem Mittagessen wirst du in der Bibliothek unterhalb des Hauses arbeiten. Die Wohnung, die Spelunken – damit ist jetzt Schluss, Nesta.«

Nesta ballte die Fäuste, schwieg aber.

Er hätte sich neben sie stellen sollen, statt seiner High Lady zu gestatten, auf Armeslänge mit ihr auf der Couch zu sitzen. Auch wenn Feyre dank Rhys bereits von einem Schutzschild umgeben war – den Cassian bereits beim Frühstück wahrgenommen hatte. Teil meines Trainingsprogramms, murmelte Feyre, als Cassian sie nach diesem Schutz gefragt hatte, der so stark war, dass er sogar ihren Duft überdeckte. Rhys lässt sich von Helion zeigen, wie man wirklich undurchdringliche Schutzschilde erschafft. Und ich habe natürlich das Vergnügen, als Versuchskaninchen zu dienen. Ich soll versuchen, diesen Schild zu durchbrechen, um zu überprüfen, ob Rhys die Anweisungen von Helion richtig befolgt. Der neueste Irrsinn. Aber ein Irrsinn, der sich als vorteilhaft erweisen konnte – auch wenn sie nicht wussten, was genau Nestas Kräfte gegen gewöhnliche Magie ausrichten würden.

Rhys schien das Gleiche zu denken, und Cassian hielt sich bereit, zwischen die beiden Schwestern zu gehen. Seine Trichtersteine leuchteten warnend auf, und auch Rhysands Kräfte regten sich.

Cassian zweifelte nicht daran, dass Feyre sich gegen die meisten Gegner selbst verteidigen konnte, aber in Nestas Fall … Er war sich nicht vollkommen sicher, ob Feyre zurückschlagen würde, sollte Nesta diese furchtbare Kraft wirklich gegen sie richten. Und er hasste den Gedanken, dass er nicht wusste, ob Nesta so tief sinken und es tatsächlich tun würde. Dass er diese Möglichkeit überhaupt in Erwägung ziehen musste, weil die Situation eine so schlimme Wendung genommen hatte.

»Ich werde nicht ins Haus der Winde ziehen«, verkündete Nesta. »Und ich werde auch nicht in diesem erbärmlichen Dorf trainieren. Schon gar nicht mit ihm.« Sie warf Cassian einen giftigen Blick zu.

»Das steht nicht zur Debatte«, sagte Amren, die bereits zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten ihr Versprechen brach, sich aus der Diskussion herauszuhalten. Die älteste der Archeron-Schwestern besaß zwar ein Talent dafür, alle auf die Palme zu bringen. Aber zwischen Nesta und Amren hatte immer eine Verbindung und ein gegenseitiges Einvernehmen bestanden.

Bis zu ihrem Streit auf dem Boot.

»Das wüsste ich aber«, antwortete Nesta herausfordernd, versuchte allerdings nicht aufzustehen, als Rhys ihr einen kalten, warnenden Blick zuwarf.

»Deine Wohnung wird in diesem Moment ausgeräumt«, teilte Amren ihr mit und zupfte sich eine Fluse von der Seidenbluse. »Deine Kleidung ist bereits zum Haus unterwegs, obwohl ich bezweifle, dass sie sich für das Training in Windhaven eignet.« Bei diesen Worten wanderte ihr Blick über Nestas graues Gewand, das wie ein Sack um ihren mageren Körper hing. Bemerkte Nesta die Sorge in Amrens Blick – und wusste sie, wie selten sich dieser Ausdruck in ihre Augen schlich?

Mehr noch: Begriff Nesta überhaupt, dass dieses Treffen nicht dazu diente, sie zu verurteilen, sondern nur aus Sorge um sie einberufen worden war? Ihre grimmige Miene verriet Cassian, dass sie das Ganze ausschließlich als Angriff auffasste.

»Das könnt ihr nicht machen«, protestierte Nesta. »Ich bin kein Mitglied dieses Hofs.«

»Aber du scheinst keine Skrupel zu haben, das Geld dieses Hofs auszugeben«, konterte Amren. »Im Krieg gegen Hybern hast du als unsere sterbliche Unterhändlerin fungiert. Und da du diese Position nie aufgegeben hast, bist du nach dem Gesetz noch immer ein offizielles Mitglied dieses Hofs.« Auf eine Bewegung ihrer kleinen Hand hin schwebte ein Buch zu Nesta hinüber und sank dann auf die Kissen neben ihr. Das war in etwa das gesamte Ausmaß an Magie, über das Amren inzwischen noch verfügte – herkömmliche, nicht weiter bemerkenswerte Magie der High Fae. »Seite 236, wenn du es überprüfen willst.«

Dafür hatte Amren Gesetzestexte durchforstet? Cassian wusste nicht einmal von der Existenz einer solchen Regelung – er hatte den Posten, den Rhys ihm angeboten hatte, angenommen und nicht weiter nachgefragt, was er da akzeptierte. Wichtig war nur, dass Rhys, Azriel und er zusammen sein und ein Heim haben würden, das ihnen niemand mehr nehmen konnte. Niemand außer Amarantha.

Er würde der High Lady, die nur wenige Schritte von ihm entfernt saß, auf ewig dankbar sein: Sie hatte sie alle von Amaranthas Joch befreit, ihm seinen Bruder zurückgegeben und dann Rhys aus der ewigen Dunkelheit geholt.

»Dann will ich dir mal deine Optionen erläutern, Süße«, sagte Amren und reckte das zarte Kinn.

Cassian bemerkte den Blick, den Feyre und Rhys tauschten: der gequälte Gesichtsausdruck seiner High Lady, weil sie Nesta ein Ultimatum stellten, und der kaum gezügelte Zorn in Rhys’ Gesicht, weil seine Seelengefährtin deswegen so litt. Diesen Blick hatte er heute schon einmal gesehen – und gehofft, dass es dabei bleiben würde –, und zwar beim Frühstück, als Rhys die Rechnung für Nestas nächtliches Gelage erhalten und laut vorgelesen hatte: mehrere Flaschen teurer Wein, exotische Speisen, Spielschulden … Feyre hatte stumm auf ihren Teller gestarrt, bis die Tränen lautlos auf ihr Rührei getropft waren.

Cassian wusste, dass es schon häufiger Diskussionen und Streit wegen Nesta gegeben hatte. Darüber, ob man ihr Zeit geben sollte, sich selbst zu heilen – worauf zunächst alle gehofft hatten –, oder ob es besser sei einzugreifen. Doch als Feyre am Frühstückstisch zu weinen begann, wusste er, dass es sich um eine Art Kapitulation handelte. Dass sie den letzten Funken Hoffnung aufgegeben hatte. Cassian hatte all sein Training und sämtliche Schrecken wachrufen müssen, die er auf dem Schlachtfeld und jenseits davon erduldet hatte, um zu verhindern, dass sich dieser erdrückende Kummer auch in seinem Gesicht abzeichnete.

Rhys hatte tröstend Feyres Hand gedrückt, bevor er zuerst Azriel und dann Cassian ansah und ihnen seinen Plan erläuterte. Als hätte er ihn schon vor sehr langer Zeit gefasst.

Unterdessen war Elain hereingekommen, die seit Sonnenaufgang in den Gartenanlagen gearbeitet hatte. Mit ernster Miene ließ sie sich von Rhys die Lage erklären, während Feyre kein Wort herausbrachte. Anschließend hatte Rhys Amren aus ihrer Dachwohnung zur anderen Seite des Flusses kommen lassen. Feyre hatte darauf bestanden, dass Amren und nicht Rhys Nesta den Befehl erteilen sollte, um die familiäre Verbindung zwischen Rhys und ihrer Schwester nicht noch weiter zu gefährden.

Cassian glaubte zwar nicht, dass überhaupt eine solche Verbindung existierte, aber Rhys hatte zugestimmt, sich neben Feyre gekniet, ihr die Tränen abgewischt und ihre Schläfe geküsst. Daraufhin waren alle vom Tisch aufgestanden und hatten sich zurückgezogen, um ihrem High Lord und ihrer High Lady etwas Privatsphäre zu gönnen.

Kurz darauf hob Cassian ab, ließ alle Gedanken in seinem Kopf vom Tosen des Windes übertönen, bis sich sein hämmerndes Herz in der kühlen Luft allmählich beruhigte. Das bevorstehende Treffen und das, was danach kommen würde – nichts davon würde einfach werden. Sie waren sich einig gewesen, dass Amren eine der wenigen Personen war, die zu Nesta durchdringen konnten. Die Nesta zu fürchten schien, wenn auch nur ein wenig. Die irgendwie verstand, was Nesta tief in ihrem Inneren bewegte. Sie war die Einzige gewesen, mit der Nesta nach dem Krieg wirklich geredet hatte. Und es konnte kein Zufall sein, dass sich Nestas Verhalten seit ihrem Streit auf dem Boot vor einem Monat weiter verschlimmert hatte und sie mittlerweile so fürchterlich aussah.

»Option Nummer eins«, setzte Amren jetzt an und hob einen Finger. »Du kannst ins Haus der Winde ziehen, vormittags mit Cassian trainieren und nachmittags in der Bibliothek arbeiten. Du bist keine Gefangene, aber es wird dich niemand in die Stadt fliegen oder den Wind für dich teilen. Wenn du dich unbedingt in der Stadt amüsieren willst, nur zu. Vorausgesetzt, du überwindest die zehntausend Stufen bis nach unten. Und kratzt irgendwo zwei Kupfermünzen zusammen, um dir was zu trinken zu kaufen.« Amrens Augen funkelten herausfordernd. »Wenn du diese Anweisungen befolgst, werden wir in ein paar Monaten noch einmal über deinen zukünftigen Wohnort nachdenken.«

»Und die andere Option?«, knurrte Nesta.

Gütige Mutter, diese Frau – diese Fae. Sie war ja nicht mehr sterblich. Cassian fielen nur sehr wenige Personen ein, die es wagen würden, sich Amren und Rhys zu widersetzen. Jedenfalls nicht, solange sie sich im selben Raum befanden. Und schon gar nicht derart trotzig.

»Du kehrst in die Welt der Menschen zurück.«

Amren hatte ein paar Tage in einem Verlies in der Höhlenstadt vorgeschlagen, aber Feyre war der Meinung gewesen, die Welt der Menschen sei bereits Gefängnis genug für jemanden wie Nesta.

Oder wie Feyre und Elain.

Alle drei Schwestern waren jetzt High Fae und verfügten über beachtliche Kräfte, obwohl nur Feyres Fähigkeiten vollständig freigesetzt waren. Selbst Amren wusste nicht, ob Elains und Nestas Kräfte noch vorhanden waren. Der Kessel hatte ihnen einzigartige Gaben verliehen, die sich von denen anderer High Fae unterschieden: Elain verfügte über seherische Fähigkeiten und Nesta … Cassian wusste nicht, wie er ihre Gabe bezeichnen sollte. War es überhaupt eine Gabe oder nicht vielmehr etwas, das sie sich genommen hatte? Das silberne Feuer, dieses Gefühl des lauernden Todes, die brutale Kraft, die den König von Hybern vernichtet hatte. Worum auch immer es sich dabei handeln mochte, es existierte jenseits der üblichen Gaben der High Fae.

Ins Land der Menschen konnten sie nicht mehr zurück. Die Sterblichen kümmerte es nicht, dass alle drei Kriegsheldinnen waren, jede auf ihre Art: Sie würden sich entweder nach Kräften von ihnen fernhalten oder sich zu Gewalttaten hinreißen lassen. Nesta konnte zwar theoretisch in diese Welt zurückkehren, aber sie würde dort keine Gemeinschaft finden, die sie aufnahm, keine Stadt, in der man sie akzeptierte. Wo auch immer sie einen Ort zum Leben finden würde: Sie wäre an ihre Behausung gefesselt, aus Angst vor dem Misstrauen der Menschen.

Nesta wandte sich Feyre zu. »Und das sind meine einzigen Optionen?«

»Es …« Feyre fing sich, bevor sie den Satz mit … tut mir leid beenden konnte, und richtete sich auf. Wurde zur High Lady des Hofs der Nacht, auch ohne ihre schwarze Krone, selbst in Rhys’ altem Pullover. »Ganz genau.«

»Du hast nicht das geringste Recht dazu.«

»Ich …«

Nesta explodierte. »Du hast mich in diesen Schlamassel hineingezogen und an diesen schrecklichen Ort geschleppt. Du bist der Grund, warum ich so bin, warum ich hier festsitze …«

Feyre zuckte zusammen. Rhys’ Wut war förmlich greifbar – eine pulsierende, nachtschwarze Kraft, die Cassian den Magen umdrehte und sämtliche Kriegerinstinkte wachrief, die man ihm eingebläut hatte.

»Es reicht«, sagte Feyre leise.

Nesta blinzelte.

Feyre schluckte, ließ sich aber nicht beirren. »Es reicht. Du ziehst hinauf ins Haus der Winde. Du wirst trainieren und du wirst arbeiten, und wenn du noch so viel Gift verspritzt. Du tust, was ich dir sage.«

»Elain muss in der Lage sein, mich jederzeit zu sehen …«

»Elain hat dem Ganzen bereits vor Stunden zugestimmt. Sie ist gerade dabei, deine Sachen zu packen, damit sie bei deiner Ankunft oben im Haus bereitstehen.«

Nesta fuhr zusammen.

Doch Feyre ließ sich nicht erweichen. »Elain weiß, wie sie sich mit dir in Verbindung setzen kann. Wenn sie dich im Haus der Winde besuchen möchte, kann sie das jederzeit tun. Einer von uns wird sie gern hinaufbringen.«

Die Worte hingen so schwer und endgültig zwischen ihnen, dass Cassian einwarf: »Ich verspreche, dass ich nicht beißen werde.«

Nesta verzog wütend die Oberlippe, als sie ihn ansah. »Ich wette, das war deine Idee …«

»Stimmt«, log er grinsend. »Wir werden uns prächtig amüsieren.«

Wahrscheinlich würden sie sich gegenseitig an die Gurgel gehen.

»Ich will mit meiner Schwester sprechen. Allein«, forderte Nesta.

Cassian schaute zu Rhys, der Nesta taxierte. Er war im Laufe der Jahrhunderte selbst oft Ziel dieses Blicks gewesen und beneidete Nesta nicht im Geringsten. Aber der High Lord des Hofs der Nacht nickte. »Wir warten im Flur.«

Der unausgesprochene Vorwurf, dass sie Nesta – trotz des Schutzschilds um Feyre – nicht weit genug trauen konnten, um sich auch nur aus ihrer unmittelbaren Nähe zu entfernen, ließ Cassian die Hände zu Fäusten ballen. Selbst wenn der vernünftige Teil des Kriegers in ihm zustimmte. Als Nestas Augen aufblitzten, wusste er, dass auch sie es begriffen hatte. Feyres Kiefer zuckte, und er vermutete, dass sie über diesen Seitenhieb nicht erfreut war: So etwas würde Nesta nicht davon überzeugen, dass das alles zu ihrem Besten geschah. Rhys würde seine verdiente Standpauke später erhalten.

Cassian wartete, bis Rhys und Amren aufstanden, und folgte ihnen dann aus dem Raum. Rhys hielt Wort und ging drei Schritte in den Flur, weg von der Tür, die mit einem Schutzzauber gegen Lauscher gesichert war.

Cassian wandte sich an Amren: »Ich wusste gar nicht, dass es Gesetze über die Mitgliedschaft am Hof gibt.«

»Gibt es auch nicht.« Amren zupfte an ihren rot lackierten Fingernägeln.

Er fluchte leise.

Rhys grinste hämisch. Aber Cassian warf stirnrunzelnd einen Blick auf die zweiflüglige Tür und betete, dass Nesta nichts Dummes anstellte.

 

Nesta hielt ihren Rücken so stocksteif, dass es schmerzte. Nie zuvor hatte sie jemanden so sehr gehasst wie all diese Leute. Vom König von Hybern mal abgesehen. Sie hatten über sie diskutiert, sie für unfähig und zügellos befunden und …

»Wieso kümmert dich mein Verhalten auf einmal? Bis jetzt war es dir doch egal.«

Feyre spielte mit ihrem silbernen, mit Sternensaphiren besetzten Ehering. »Ich habe dir gesagt, dass es mir nicht egal war. Wir … ich meine, wir alle … haben sehr oft darüber gesprochen. Über dich. Wir … ich habe entschieden, dass es das Beste ist, dir Zeit zu geben.«

»Und was hat Elain dazu gesagt?« Ein Teil von ihr wollte es eigentlich gar nicht wissen.

Feyre presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. »Es geht hier nicht um Elain. Und soweit ich weiß, hast du sie doch kaum besucht.«

Nesta war nicht bewusst gewesen, dass die anderen jeden ihrer Schritte verfolgten. Sie hatte Feyre nicht erklärt – hatte nie die richtigen Worte gefunden –, warum sie sich so weit von ihnen entfernt hatte. Elain war vom Kessel verschleppt und von Azriel und Feyre gerettet worden. Aber das Gefühl des Entsetzens beherrschte Nesta noch immer, egal ob sie wach war oder schlief: die Erinnerung an jenen Moment, als sie den verlockenden Ruf des Kessels gehört und begriffen hatte, dass er Elain galt – und nicht ihr oder Feyre. An den Anblick von Elains leerem Zelt und den blauen Mantel auf dem Boden.

Seitdem war alles nur noch schlimmer geworden.

Ihr habt euer Leben und ich habe meines, hatte sie bei der letzten Wintersonnenwende zu Elain gesagt und gewusst, wie sehr sie ihre Schwester damit verletzen würde. Aber sie konnte diese grausamen, markerschütternden Erinnerungen nicht mehr ertragen. Die Erinnerungen an den am Boden liegenden Mantel, an das eisige Wasser des Kessels, an Cassian, der auf sie zugekrochen kam, an das Knacken des Genicks ihres Vaters …

»Ich hatte gehofft, dass du von selbst den Weg zurückfinden würdest«, sagte Feyre behutsam. »Ich wollte dir Gelegenheit dazu geben, weil du auf jeden loszugehen scheinst, der dir zu nahe kommt. Aber du hast es nicht einmal versucht.«

Vielleicht kannst du dich in diesem Jahr ein bisschen mehr anstrengen. Sie hatte noch immer Cassians Worte im Ohr, die er vor neun Monaten zu ihr gesagt hatte – auf einer eisglatten Straße, nur wenige Häuserblocks von hier entfernt.

Anstrengen? Mehr war ihr dazu nicht eingefallen.

Ich weiß, davon hast du noch nie etwas gehört.

In dem Moment war sie vor Wut explodiert. Wieso sollte ich mich für irgendetwas anstrengen? Man hat mich in eure Welt, an euren Hof verschleppt.

Dann geh doch woandershin.

Sie hatte ihre Antwort hinuntergeschluckt: Ich kann nirgendwo anders hin.

Es war die Wahrheit. Sie wollte nicht in die Welt der Menschen zurückkehren, denn sie hatte sich dort nie wirklich zu Hause gefühlt. Und diese seltsame neue Welt der Fae … Sie hätte ihren neuen, verwandelten Körper vielleicht akzeptieren können und auch die Tatsache, dass sie jetzt für immer anders und unsterblich war. Doch auch in dieser Welt wusste sie nicht, wo ihr Platz war. Diesen Gedanken versuchte sie immer wieder mit Alkohol, Musik und Glücksspiel zu verdrängen – genau wie die brodelnde Kraft tief in ihrem Inneren.

»Du hast dich lediglich an unserem Geld bedient«, fuhr Feyre fort.

»Dem Geld deines Seelengefährten.« Noch ein Seitenhieb – ein Tiefschlag, der Nesta innerlich jubeln ließ. »Vielen Dank, dass du dir trotz deiner Hauseinrichtungsorgie und Einkaufsausflüge Zeit genommen hast, dich an mich zu erinnern.«

»Ich habe in diesem Haus ein Zimmer extra für dich eingeplant und dich sogar gebeten, mir beim Einrichten zu helfen. Aber du hast bloß gesagt, ich soll mich verpissen.«

»Warum sollte ich in diesem Haus wohnen wollen?« Wo sie genau sehen konnte, wie glücklich die anderen waren. Wo keiner offenbar auch nur im Entferntesten so unter dem Krieg gelitten hatte wie sie. Sie hatte so kurz davor gestanden, ein Teil dieses Kreises zu werden. Hatte ihre Hände gehalten, als sie am Morgen der letzten Schlacht zusammengekommen und überzeugt gewesen waren, sie alle könnten es überleben.

Doch dann hatte sie am eigenen Leib erfahren, wie gnadenlos all das weggerissen werden konnte. Wie hoch der Preis für Hoffnung, Freude und Liebe tatsächlich war. Das wollte sie nie wieder erleben. Wollte nie mehr ertragen müssen, was sie auf dieser Waldlichtung empfunden hatte, als der König von Hybern lachte und alles voller Blut war. Ihre Kraft hatte nicht ausgereicht, um sie alle an diesem Tag zu retten. Vermutlich bestrafte sie ihre Kraft seitdem dafür, dass sie sie im Stich gelassen hatte, und hielt sie fest in sich verschlossen.

»Weil du meine Schwester bist«, sagte Feyre.

»Ja, und du bringst immer Opfer für uns, deine traurige kleine Menschenfamilie …«

»Du hast letzte Nacht fünfhundert Goldmark ausgegeben!«, platzte es aus Feyre heraus. Sie sprang auf und lief vor dem Kamin auf und ab. »Weißt du überhaupt, wie viel Geld das ist? Weißt du, wie peinlich es war, als ich heute Morgen die Rechnung bekam und meine Freunde – meine Familie – das alles mitanhören musste?«

Nesta hasste dieses Wort, das Feyre zur Beschreibung ihres Hofs nutzte. Als wäre in der Familie der Archerons alles so armselig gewesen, dass sie sich eine neue hatte suchen müssen. Nesta grub die Fingernägel in die Handflächen, um sich vom Schmerz in ihrer enger werdenden Brust abzulenken.

»Und nicht nur zu erfahren, wie hoch diese Rechnung war, sondern auch, wofür du das Geld ausgegeben hast …«, fuhr Feyre fort.

»Ach, dann geht es also darum, dein Gesicht zu wahren …«

»Es geht darum, welches Licht es auf mich, auf Rhys und auf meinen Hof wirft, wenn meine verdammte Schwester unser Geld für Wein und Glücksspiel ausgibt und rein gar nichts zum Wohl dieser Stadt beiträgt! Wenn wir meine Schwester nicht mal im Griff haben, warum sollten wir dann überhaupt das Recht in Anspruch nehmen dürfen, über irgendwen zu herrschen?«

»Ich bin keine Sache, die du im Griff haben kannst«, erwiderte Nesta eisig. Seit ihrer Geburt war jeder Moment in ihrem Leben von anderen bestimmt worden. Jedes Mal, wenn sie versucht hatte, etwas selbst in die Hand zu nehmen, hatte man ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht – und das verabscheute sie noch mehr als den König von Hybern.

»Deshalb wirst du in Windhaven trainieren. Bis du gelernt hast, dich zu beherrschen.«

»Vergiss es.«

»Und ob du dort oben hinziehen wirst! Selbst wenn wir dich fesseln und dorthin schleifen müssen. Du wirst Cassians Lektionen befolgen und alles tun, was Clotho in der Bibliothek von dir verlangt.«

Nesta verdrängte die Erinnerung an die dunklen Gänge dieser Bibliothek und an das uralte Monster, das in deren Tiefe gehaust hatte. Okay, es hatte sie vor Hyberns Kumpanen gerettet, aber … Sie wollte nicht daran denken.