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Dies ist die illustrierte Version dieses Klassikers. Eines der letzten Werke von Jules Verne und nach seinem Tode von seinem Sohn Michel veröffentlicht.
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Seitenzahl: 693
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Das Reisebüro Thompson und Comp.
Michel Verne
Inhalt:
Jules Verne – Biografie und Bibliografie
Das Reisebüro Thompson und Comp.
Erster Band.
Erstes Kapitel. Im Platzregen.
Zweites Kapitel. Ein öffentlicher Wettbewerb.
Drittes Kapitel. Im Nebel.
Viertes Kapitel. Das erste Zusammentreffen.
Fünftes Kapitel. Aufs hohe Meer.
Sechstes Kapitel. Flitterwochen.
Siebentes Kapitel. Der Himmel bedeckt sich.
Achtes Kapitel. Das Pfingstfest.
Neuntes Kapitel. Eine Rechtsfrage.
Zehntes Kapitel. Worin sich's zeigt, daß Johnson klug und weise war.
Elftes Kapitel. Eine Hochzeit auf San Miguel.
Zwölftes Kapitel. Eigentümliche Wirkungen der Seekrankheit.
Dreizehntes Kapitel. Die Lösung eines Anagramms.
Vierzehntes Kapitel. Der Curral das Freias.
Fünfzehntes Kapitel. Aug' in Auge.
Zweiter Band.
Erstes Kapitel. Die schlimmen Wochen beginnen.
Zweites Kapitel. Das zweite Geheimnis Robert Morgans.
Drittes Kapitel. Worin die »Seamew« gänzlich stehen bleibt.
Viertes Kapitel. Der zweite Zahn im Getriebe.
Fünftes Kapitel. Auf dem Gipfel des Teyde.
Sechstes Kapitel. Ein Unfall zur rechten Zeit!
Siebentes Kapitel. Im Treiben.
Achtes Kapitel. Wie eine verlöschende Lampe.
Neuntes Kapitel. Wo Thompson sich zum Admiral verwandelt.
Zehntes Kapitel. In Quarantäne.
Elftes Kapitel. Wo nun Thompson für sein Geld nichts hat.
Zwölftes Kapitel. Worin nur der Kerker gewechselt wird.
Dreizehntes Kapitel. Worin der Reiseausflug der Agentur Thompson ganz ungeahnte Verhältnisse anzunehmen droht.
Vierzehntes Kapitel. Befreit!
Fünfzehntes Kapitel. Schluß.
Das Reisebüro Thompson & Comp, Jules Verne
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849613846
www.jazzybee-verlag.de
Cover Design: © Can Stock Photo Inc. / Angelique
Franz. Schriftsteller, geb. 8. Febr. 1828 in Nantes, gest. 24. März 1905 in Amiens, studierte in Paris die Rechte, muß sich aber schon früh auch den Naturwissenschaften zugewandt haben, denn gleich sein erster Roman, der die Reihe jener originellen, eine völlig neue Gattung begründenden Produkte Vernes eröffnete: »Cinq semainesen ballon« (1863), zeugt von jenem Studium. Der Erfolg, dessen sich diese Schöpfung erfreute, bestimmte ihn, die dramatische Laufbahn, mit der er sich bereits durch mehrere »Comédies« und Operntexte vertraut gemacht hatte, zu verlassen und sich ausschließlich dem phantastisch-naturwissenschaftlichen Roman zu widmen. V. führt seine Leser auf den abenteuerlichsten, stets aber physikalisch motivierten Fahrten nach dem Monde, um den Mond, nach dem Mittelpunkte der Erde, »20,000 Meilen« unter das Meer, auf das Eis des Nordens, auf den Schnee des Montblanc, durch die Sonnenwelt etc., und man kann nicht leugnen, daß er es verstand, die ernste Lehre, wenigstens die große Fülle seiner realen Kenntnisse, mit dem Faden der poetischen Fiktion geschickt zu verweben und dem unkundigen Leser eine gewisse Anschauung von naturwissenschaftlichen Dingen und Fragen spielend beizubringen. Wir nennen hier seine »Aventures du capitaine Hatteras« (1867), »Les enfants du capitaine Grant«, »La découverte de la terre« (1870), »Voyage autour du monde en 80 jours« (1872), »Le docteur Ox« (1874), »Un hivernage dans le glâces«, »Michel Strogoff (Moscou, Ireoutsk)«, »Un capitaine de 15 aus«, »Les Indes noires« (1875), »La maison à vapeur«, »Mathias Sandorf« (1887), »Claudius Bombarnai«, »Le Château des Carpathes« (1892), alle bereits in vielen Ausgaben erschienen und von der Lesewelt verschlungen, auch meist ins Deutsche übersetzt und in Form von Ausstattungsstücken mit nicht geringem Erfolg auf die Bühne gebracht (vgl. »Les voyages an théâtre« von V. und A.Dennery). Die »Œuvres complètes« Vernes erschienen 1878 in 34 Bänden (illustrierte Ausg. 15 Bde.).
Romane:
Fünf Wochen im Ballon. 1875
Reise zum Mittelpunkt der Erde. 1873
Von der Erde zum Mond. 1873
Abenteuer des Kapitän Hatteras. 1875
Die Kinder des Kapitän Grant. 1875
Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer. 1874
Reise um den Mond. 1873
Eine schwimmende Stadt. 1875
Abenteuer von drei Russen und drei Engländern in Südafrika. 1875
Das Land der Pelze. 1875
Reise um die Erde in 80 Tagen. 1873
Die geheimnisvolle Insel. 1875 und 1876
Der Chancellor. 1875
Der Kurier des Zaren. 1876
Reise durch die Sonnenwelt. 1878
Die Stadt unter der Erde. 1878
Ein Kapitän von 15 Jahren. 1879
Die 500 Millionen der Begum. 1880
Die Leiden eines Chinesen in China. 1880
Das Dampfhaus. 1881
Die „Jangada“. 1882
Die Schule der Robinsons. 1885
Der grüne Strahl. 1885
Keraban der Starrkopf. 1885
Der Südstern oder Das Land der Diamanten. 1886
Der Archipel in Flammen. 1886
Mathias Sandorf. 1887
Ein Lotterie-Los. 1887
Robur der Sieger. 1887
Nord gegen Süd. 1888
Zwei Jahre Ferien. 1889
Die Familie ohne Namen. 1891
Kein Durcheinander. 1891
Cäsar Cascabel. 1891
Mistress Branican. 1891
Das Karpatenschloss. 1893
Claudius Bombarnac. 1893
Der Findling. 1894
Meister Antifers wunderbare Abenteuer. 1894
Die Propellerinsel. 1895
Vor der Flagge des Vaterlandes. 1896
Clovis Dardentor. 1896
Die Eissphinx. 1897
Der stolze Orinoco. 1898
Das Testament eines Exzentrischen. 1899
Das zweite Vaterland. 1901
Das Dorf in den Lüften.1901
Die Historien von Jean-Marie Cabidoulin.1901
Die Gebrüder Kip 1903
Reisestipendien. 1903
Ein Drama in Livland. 1904
Der Herr der Welt. 1904
Der Einbruch des Meeres. 1905
Mit gespreizten Beinen und traumverlornem Blicke stand Robert Morgan unbeweglich schon fünf Minuten vor der langen, düstern, über und über mit Plakaten bedeckten Mauer, die eine der traurigsten Straßen Londons begrenzte.
Der Regen fiel in Strömen hernieder. Einem hurtigen Bache gleich floß das die Trottoirkante überspülende Wasser dahin und benetzte heimtückisch die Füße des Träumers, dessen Kopf übrigens ebensowenig gegen das himmlische Naß geschützt war.
Wie in Gedanken an irgendeine weite Reise versunken, hatte seine Hand den Regenschirm langsam herabgleiten lassen, und das Wasser rieselte hier und da von dem Hute des jungen Mannes auf die zu einem Schwamme verwandelte Kleidung hinunter und floß endlich in den gurgelnden Straßenbach ab.
Robert Morgan beachtete diese Tücke der Umstände nicht im mindesten; er fühlte nichts von der eisigen Dusche, die seine Schultern traf. Vergeblich blickte er nur zuweilen auf seine Halbstiefel nieder, sah dabei aber – so stark war er von seinen Gedanken eingenommen – nicht, daß sie schon fast zu zwei Klippen wurden, gegen die der zornige Bach mit feuchten Schlägen anstürmte.
Seine ganze Aufmerksamkeit war nur auf eine geheimnisvolle Arbeit gerichtet, die seine linke Hand ausführte. In der Hosentasche verborgen, bewegte und schüttelte diese Hand einige kleinere Münzen hin und her, ließ sie jetzt klimpernd fallen und nahm sie dann wieder auf. Dreiunddreißig Francs und fünfundvierzig Centimes betrug dieses gesamte Vermögen, wovon sich dessen Besitzer früher bei wiederholtem Durchzählen überzeugt hatte.
Ein geborner Franzose und vor sechs Monaten in London gestrandet – er war von grausamem Mißgeschick hartnäckig verfolgt gewesen – hatte Robert Morgan an diesem Morgen auch seine hiesige Stellung, die eines Sprachlehrers, mit der er sein Leben fristete, plötzlich verloren. Da war er nach schneller... ach, gar zu schnell beendeter Revision seiner Kasse ausgegangen, ohne klares Ziel dahingewandert durch die Straßen, nur immer auf der Suche nach einem rettenden Gedanken, bis er unwillkürlich an der Stelle stehen geblieben war, wo wir ihn gefunden haben.
Was sollte er allein, ohne Freunde oder Gönner, mit wenig über dreiunddreißig Francs im Vermögen in der Riesenstadt London anfangen?
Eine brennende und recht schwierige Frage, so schwierig, daß der junge Mann sie noch immer nicht gelöst hatte und schon überhaupt an ihrer Lösung zu verzweifeln anfing.
Seiner äußern Erscheinung nach war Robert Morgan freilich nicht der Mann, sogleich den Mut sinken zu lassen.
Mit seinem tadellosen Teint, der glatten, klaren Stirn, die von üppigen, kastanienbraunen und militärisch zugeschnittenen Haaren begrenzt war, mit dem langen gallischen Schnurrbarte, der einen feingeschnittenen Mund von einer musterhaft gebogenen Nase trennte, bildete er in jeder Hinsicht eine wirklich hübsche Erscheinung. Noch mehr: er war auch ein guter, ehrlicher Charakter; man sah es schon an seinen tiefblauen Augen, deren Blick höchstens etwas zu sanft erschien, daß er nur einen Weg, nur den kürzesten, kannte.
Im übrigen strafte er nicht Lügen, was sein Gesicht versprach. Breite, wohlgeformte Schultern, eine mächtige Brust, muskulöse Glieder, abgerundete Bewegungen, feine und gut gepflegte Füße... alles verriet einen aristokratischen Athleten, dessen durch Sportsübungen gestählter Körper Geschmeidigkeit und Kraft in gleichem Maße vereinigt.
Wer ihn sah, der dachte gewiß: »Ein hübscher Bursche, ein hübscher und auch guter Bursche!«
Daß Morgan nicht zu denen gehörte, die sich durch einen plumpen Schicksalsschlag verblüffen lassen, das hatte er schon bewiesen und würde es, immer zur Abwehr bereit und des Sieges würdig, jedenfalls auch ferner beweisen. Immerhin sind solche Zusammenstöße mit dem Schicksal, wie er eben einen erfahren hatte, ja stets etwas brutal, und auch dem besten Reiter ist es zu verzeihen, wenn er dabei einen Augenblick die Steigbügel verliert. Morgan hatte also – um in diesem der Reitkunst entlehnten Bilde zu bleiben – jetzt den Sitz ein wenig verloren, er bemühte sich jedoch schon, ihn wiederzufinden, wenn er auch nicht gleich wußte, was er tun sollte.
Als sich ihm diese Frage zum hundertsten Male erfolglos aufdrängte, erhob er die Augen zum Himmel, als hoffte er dort eine Antwort darauf lesen zu können. Er sah aber weiter nichts als Regen und entdeckte, daß er mit den ihn ganz gefangen haltenden Gedanken vor einer langen, düstern, mit vielfarbigen Plakaten bedeckten Mauer in... in einer Wasserlache stehen geblieben war.
Eines dieser Plakate, das, in Imperialformat mit diskreten Farben gedruckt, ihm gerade gegenüberlag, schien seine Aufmerksamkeit besonders zu erregen. Mehr maschinenmäßig – man entreißt sich ja nicht so schnell den Fesseln seiner Träume – durchflog Morgan den Inhalt des Plakats; als er aber mit dem Lesen fertig war, begann er damit zum zweiten, darauf zum dritten Male, ohne dessen Inhalt wirklich aufgefaßt zu haben. Beim dritten Male ging es durch ihn jedoch wie ein leises Erzittern. Eine am untern Ende des Blattes mit kleinen Lettern gedruckte Linie veranlaßte ihn, genauer hinzusehen, so durchlas er das Plakat zum vierten Male.Es hatte folgenden Inhalt:
Reisebureau Baker and Co., Limited.
69, Newghate Street, 69
London.
––––
Große Vergnügungsreise
nach
den drei Archipelen
der Azoren, Madeiras und der Canarischen Inseln
mit dem ausgezeichneten
Dampfer »The Traveller«
(2500 Tonnen, 3000 Pferdekr.)
Kapitän Mathews
Abfahrt von London am 10. Mai, 7 Uhr abends
Rückkehr nach London am 14. Juni gegen Mittag.
Die geehrten Reisenden haben außer dem Fahrpreise keinerlei Unkosten.
Träger und Wagen für Ausflüge.
Unterkunft nur in Hotels erster Klasse.
–––––
Fahrpreis, alle Unkosten eingeschlossen, 78 Pfd. Sterl.1
Weitere Auskunft in den Bureaus der Gesellschaft:
69, Newghate Street, 69. – London.
–––––
Gesucht: ein sprachkundiger Führer.
–––––
Morgan trat näher an das Plakat heran und überzeugte sich dabei, daß er richtig gelesen hatte. Ja, da wurde ein sprachkundiger Führer verlangt.
Er entschloß sich sofort, dieser Führer zu werden... vorausgesetzt freilich, daß Baker und Compagnie ihn als solchen annahmen.
Es war ja möglich, daß er den betreffenden Herren nicht gefiel, möglich auch, daß die Stelle schon besetzt war.
Nun, das erste mußte er ja bald erfahren, über das zweite tröstete ihn schon das Aussehen des verheißungsvollen Anschlags. Der war offenbar neu und noch ganz frisch, er konnte erst an demselben Morgen, höchstens am Abend vorher angeheftet worden sein.
Immerhin galt es jetzt, keine Zeit zu verlieren. Ein Monat sorgenloser Ruhe, die es ihm ermöglichte, wieder in die Steigbügel zu kommen, die Aussicht, bei der Heimkehr ein hübsches Sümmchen gespart zu haben – denn an Bord genoß er doch voraussichtlich freie Verpflegung – und eine angenehme, gewiß interessante Reise obendrein... das war doch für einen Kapitalisten wie Robert Morgan nicht zu verachten.
Er eilte also, was er konnte, nach der Newghate Street. Genau um elf Uhr öffnete er die Tür von Nummer 69.
Der Vorraum und die Korridore, die er, von einem jungen Manne geleitet, durchschritt, machten auf ihn einen günstigen Eindruck. Etwas abgenutzte Läufer von schönen, wenn auch zum Teil verblichenen Farben, verrieten offenbar eine gut beschäftigte Agentur und gewiß keine erst von gestern.
Morgan wurde endlich, während sein Führer ihm immer vorausging, in ein gut und ansprechend ausgestattetes Bureau gewiesen, worin hinter einem mächtigen Tische ein Herr saß, der sich zu seinem Empfange erhob.
»Habe ich die Ehre, Herrn Baker zu sprechen? fragte Morgan höflich.
– Herr Baker selbst ist augenblicklich abwesend, doch ich vertrete ihn in jeder Beziehung, antwortete der Herr, der Robert durch eine Handbewegung zum Sitzen einlud.
– Ich habe, begann dieser, die Plakate gesehen, durch die Ihre Agentur zu einer von ihr organisierten Reise einladet, und habe da gelesen, daß Sie noch einen Dolmetscher suchen. Ich komme nun mit der Bitte, mir diese Stelle anzuvertrauen.«
Der Subdirektor sah seinen Gast etwas aufmerksam an.
»Welcher Sprachen sind Sie mächtig? fragte er nach kurzem Schweigen.
– Der französischen, englischen, spanischen und portugiesischen Sprache.
– Auch gründlich?
– Nun, ich bin geborner Franzose. Ob ich genügend englisch spreche, können Sie ja selbst beurteilen. Das Spanische und Portugiesische ist mir ebenso geläufig.
– Also ganz vorzüglich. Doch das ist noch nicht alles. Unser Dolmetscher muß auch eingehende Kenntnis von den Ländern haben, die während der Fahrt berührt werden, er muß also gleichzeitig als unterrichteter Führer dienen können.«
Morgan zögerte eine Sekunde mit der Antwort.
»Ja ja, so verstehe ich seine Verpflichtungen auch.«
Der Subdirektor nahm wieder das Wort.
»Kommen wir auf die Engagementsbedingungen. Wir bieten als Akkord für die ganze Reise dreihundert Francs und außerdem natürlich Unterkunft und unentgeltliche Verpflegung. Erscheint Ihnen das passend?
– Jawohl, vollkommen, erklärte Morgan.
– Nun gut; wenn Sie mir nun noch einige Referenzen angeben könnten...
– Leider bin ich, geehrter Herr, nur erst seit kurzem in London; doch hier ist ein Brief von Lord Murphy, der Sie über mich unterrichten und Ihnen gleichzeitig erklären wird, warum ich augenblicklich ohne Beschäftigung bin,« antwortete Morgan, indem er seinem Gegenüber das für ihn verhängnisvolle Schreiben überreichte, das übrigens in sehr schmeichelhaften Ausdrücken abgefaßt und ihm erst heute Morgen zugegangen war.
Die Durchlesung erforderte eine geraume Zeit. Der Subdirektor, ein peinlich genauer und gewissenhafter Mann, erwog ein Wort nach dem andern, als wollte er die Bedeutung eines jeden aussaugen. Dafür fiel aber auch die Antwort recht klar und deutlich aus.
»Wo wohnen Sie, mein Herr? fragte er.
– Cannon Street fünfundzwanzig.
Morgans erste Sorge am folgenden Morgen, am 26. April, war es, das Plakat wieder aufzusuchen, das ihm am Tage vorher gleichsam als Dolmetscher der Vorsehung in die Augen gefallen war. Ja, diesen Weg mußte er unbedingt machen.
Die Straße fand er leicht wieder, ebenso die Strecke der düstern Mauer und die Stelle, wo er vom Platzregen so tüchtig eingeweicht worden war, das Plakat selbst war aber schwerer wieder zu erkennen. Obwohl sein Format noch dasselbe war, hatte es doch ein ganz verändertes Aussehen. Der vorher graue Grund sah jetzt schreiend blau aus und die früher schwarzen Buchstaben leuchteten in blendendem Scharlachrot. Das Bakersche Reisebureau hatte es jedenfalls erneuert, da die Anstellung Morgans die letzte Zeile mit dem Gesuch eines sprachkundigen Führers überflüssig gemacht hatte.
Er suchte danach nahe dem untern Rande des großen Blattes. Plötzlich schnellte er erstaunt in die Höhe.
Eine angefügte Zeile fand sich da nämlich auch heute, sie lautete jedoch wesentlich anders, denn sie meldete, daß ein Begleiter, der »aller Sprachen mächtig« sei, für die Lustreise gewonnen wäre.
»Aller Sprachen! rief Morgan; davon habe ich doch kein Sterbenswörtchen gesagt!«
Da wurde er schon in der Kundgebung seiner Unzufriedenheit durch eine weitere Entdeckung unterbrochen: als er die Blicke über den obern Teil des Plakates schweifen ließ, bemerkte er da die Firma eines Kompagniegeschäftes, auf der der Name Bakers nicht vorkam.
»Agentur Thompson and Co.«, las der junge Mann voller Erstaunen, und erkannte nun, daß die Mitteilung wegen des Dolmetschers sich nicht auf ihn beziehen konnte.
Das vorliegende Rätsel sollte er bald lösen. Wenn ihm die Sache überhaupt einen Augenblick rätselhaft erschienen war, lag das daran, daß die Farben, die dieser Thompson gewählt hatte, auf Kosten der Umgebung unwiderstehlich die Augen auf sich zogen. Zur Seite dieser neuen Ankündigung befand sich, Rand an Rand, noch immer das Plakat Bakers.
»Schön, sagte Morgan für sich, als er die Blicke wieder dem andern weitleuchtenden Maueranschlag zuwendete. Warum habe ich den aber gestern nicht bemerkt? Na, wenn zwei Plakate vorhanden sind, werden wohl auch zwei Lustfahrten geplant sein.«
Durch eine flüchtige Vergleichung kam er darüber bald ins Reine. Außer der Firmenangabe, dem Namen des Schiffes und dem des Kapitäns waren die beiden Plakate einander völlig gleich: der vorzügliche Dampfer The Seamew trat hier an Stelle des ausgezeichneten Dampfers The Traveller, und der tüchtige Kapitän Pip folgte hier, d. h. auf dem neuen Plakate, dem erprobten Kapitän Mathews, das war der ganze Unterschied. Im übrigen war das zweite Plakat nur ein Nachdruck des ersten.
Es handelte sich also um zwei, von verschiedenen Unternehmern in Aussicht genommene Fahrten.
»Etwas auffällig und merkwürdig,« dachte Morgan, ohne recht zu wissen warum.
Seine Unruhe wuchs aber noch, als er auch noch einen vierten und letzten Unterschied der beiden Ankündigungen entdeckte.
Während Baker and Co. von ihren Passagieren 78 Pfund Sterling verlangten, begnügten sich Thompson and Co. mit 76.1 Der geringe Preisunterschied von zwei Pfund Sterling (40 M. oder 49 K 40 h österr. W.) konnte aber doch in den Augen vieler Leute die Wagschale zugunsten dieser Seite senken. Man sieht, Morgan vertrat schon die Interessen seiner »Chefs«.
Die Sache beschäftigte ihn dermaßen, daß er schon am Nachmittage die Zwillingsplakate wieder aufsuchte. Was er da sah, beruhigte ihn jedoch: Baker nahm den Kampf auf.
Morgan legte sich daraufhin sorglos zum Schlummer nieder. Nichtsdestoweniger war der Wettstreit noch nicht zu Ende. Thompson and Co. konnte ja auf die letzte Ankündigung mit einer weitern Herabsetzung des Fahrpreises antworten.
Am nächsten Morgen erkannte er auch wirklich, daß seine Befürchtungen begründet waren. Schon früh um acht war quer über das Plakat Thompsons ein weißer Papierstreifen geklebt, der nur die Worte enthielt:
»Preis der Fahrt, alle Unkosten inbegriffen, 74 Pfd. Sterl.«2
Die neue Herabsetzung erschien jedoch weniger beunruhigend. Da Baker den Fehdehandschuh einmal aufgenommen hatte, würde er sich ja auch weiter verteidigen. Und richtig, während Morgan im Laufe des Tages die Plakate sorgsam im Auge behielt, sah er, wie immer wieder nur weiße Streifen aufgeklebt wurden, deren letzter stets die frühern bedeckte.
Allmählich singen alle Vorübergehenden an, sich, belustigt durch die Schlag auf Schlag erfolgenden Unterbietungen, für den Wettkampf zu interessieren. Sie blieben ein paar Augenblicke stehen, warfen einen Blick auf die großen Anschlagzettel, lächelten und gingen dann weiter.
Nun bemächtigten sich die Tageszeitungen der Angelegenheit, die sie übrigens ziemlich verschieden beurteilten. Die Times z. B. tadelten das Reisebureau Thompson and Co., diesen wilden Krieg veranlaßt zu haben. Die Pall Mall Gazette und mit ihr das Daily Chronicle billigten dessen Vorgehen. Zuletzt hätte ja doch das Publikum den Nutzen von dieser scharfen Konkurrenz.
Doch, wie dem auch sein mochte: ungemein vorteilhaft mußte die seltsame Reklame für die der beiden Firmen ausfallen, die den endlichen Sieg davontragen würde. Das wurde schon vom Morgen des 28. an offenbar. Die Plakate waren an diesem Tage ununterbrochen von einer dichten Menschenmenge belagert, unter der schlechte Witze hin- und herflogen.
Der Kampf ging inzwischen nur noch hitziger, man könnte sagen, zum Handgemenge ausgeartet weiter. Jetzt verlief nicht mehr als eine Stunde zwischen Angriff und Gegenangriff, und die weißen Streifen häuften sich allmählich zu ansehnlicher Dicke übereinander.
Als dieses Angebot öffentlich bekannt gegeben wurde, war es kaum Nachmittag fünf Uhr. Baker hätte also noch Zeit gehabt, dagegen in die Bresche zu springen. Es erfolgte aber nichts dergleichen. Ermüdet von dem eintönigen Wettstreit, ruhte er jedenfalls einmal aus, ehe er zu einem letzten Schlage ausholte.
Das vermutete wenigstens Robert Morgan, der sich für diesen neumodischen Wettlauf leidenschaftlich interessierte.
Der Tag verging auch wirklich, ohne daß sie ein Lebenszeichen von sich gaben. Robert Morgan hielt die Schlacht für gewonnen.
Da überraschte ihn aber am 30. eine schlimme Enttäuschung. In der Nacht war das Plakat Thompsons entfernt und durch ein neues, so grellfarbiges ersetzt worden, daß es einem fast in die Augen stach. Auf dem Blatte in Groß-Elefantformat las man aber in übergroßen Lettern die Worte:
Wenn Baker gehofft hatte, Thompson niederzuschmettern, so hatte dieser seinen Gegner jetzt zerquetschen wollen... und das war ihm auch bestens gelungen.
Morgan hoffte noch immer. Er erwartete für morgen einen entscheidenden, mörderischen Überfall. Ein Brief aber, den er noch denselben Abend erhielt, raubte ihm auch diese Illusion.
Ohne weitere Erklärung ersuchte man um sein Erscheinen am nächsten Morgen, am 1. Mai, früh neun Uhr, und nach den ihm bekannten Vorgängen konnte er von dieser Aufforderung gerade nichts Gutes erwarten.
Natürlich fand er sich in der Agentur zur bestimmten Stunde ein.
»Mir ist dieser Brief hier zugegangen,« begann er, sich an den Subdirektor wendend, der ihn zum zweiten Male empfing.
Der unterbrach ihn aber; er war ein Feind unnützer Worte.
»Ja ja.... schon richtig. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß wir auf die Reise nach den drei Inselgruppen verzichtet haben.
– Was Sie sagen! rief Morgan, erschreckt über die Ruhe, womit ihm diese Neuigkeit verkündigt wurde.
– Ja, so ist es; und wenn Sie einige der betreffenden Plakate gesehen haben....
– Gewiß hab' ich die gesehen, fiel Morgan ein.
– Nun, so werden Sie auch begreifen, daß wir auf diesem Wege nicht weiter mitgehen konnten. Für den Preis von vierzig Pfund zu einer.... na, wie soll ich sagen.... zu einer Prellerei entweder für das Bureau oder für die Reisenden, wahrscheinlich jedoch für beide. Wer unter diesen Verhältnissen ein solches Anerbieten zu machen wagt, der ist entweder ein Schwindler oder ein Dummkopf. Etwas dazwischen gibt es nicht!
– Nun aber das Thompsonsche Bureau? warf Morgan ein.
– Das Thompsonsche Reisebureau, erklärte der Subdirektor mit scharfer Betonung, steht entweder unter der Leitung eines Possenreißers, der Dummheiten macht, oder unter der eines Dummkopfs, der sich einen Possenstreich erlaubt. Dazwischen kann man ja wählen.«
Robert Morgan mußte unwillkürlich lachen.
»Doch Ihre Reisenden? fragte er noch.
– Die haben ihre Anzahlung, und um sie zu entschädigen, sogar doppelt, schon durch die Post wiedererhalten, und was Sie betrifft, wollte ich eben jetzt die Sache in Ordnung bringen«
Robert Morgan verzichtete jedoch auf eine Entschädigung. Für eine geleistete Arbeit Bezahlung anzunehmen, das war ja selbstverständlich, irgendwie aber die Schwierigkeiten der Agentur, die ihn engagiert hatte, spekulativ auszubeuten, das verbot ihm sein Feingefühl denn doch.
»Sehr hübsch von Ihnen, erwiderte der Subdirektor, ohne auf diese Sache weiter einzugehen. Übrigens kann ich Ihnen dafür wenigstens einen guten Rat geben.
– Und der wäre?
– Nun, ganz einfach der, stellen Sie sich in dem Reisebureau von Thompson und Kompagnie vor, und übernehmen Sie da die Rolle, die Ihnen bei uns zugedacht war. Ich ermächtige Sie auch, sich dort auf unsre Agentur zu berufen.
– Das ist leider zu spät, antwortete Morgan, die Stelle ist schon besetzt.
– Bah!... Schon?... Woher wissen Sie das?
– Von den Plakaten. Das Thompsonsche Bureau erwähnt darauf schon einen Dolmetscher, mit dem ich mich voraussichtlich nicht messen könnte.
– Das haben Sie also nur durch die Plakate erfahren?
– Nur durch diese.
– O, in diesem Falle, schloß der Subdirektor sich erhebend, versuchen Sie nur getrost Ihr Glück; es wird noch nicht zu spät sein.«
Robert Morgan befand sich – sehr niedergeschlagen – wieder auf der Straße. Die Stelle, die er kaum erhalten hatte, war ihm ja entgangen. So schlenderte er aufs neue ziellos dahin, denn wozu sollte es dienen, dem Rate der Agentur Baker zu folgen. Der Platz würde ja doch nicht mehr frei sein. Und doch, war er nicht fast gezwungen, jeder Aussicht, die ihm zu winken schien, nachzugehen?
In dieser Unentschlossenheit ließ er sich einfach vom Zufall führen. Der Himmel hatte ihn aber entschieden unter seinen besondern Schutz genommen, denn plötzlich, auf einem benachbarten Turme schlug es eben zehn, sah er sich vor den Bureaux von Thompson and Co. stehen.
Ohne große Hoffnung öffnete er die Tür und gelangte dann sofort in eine geräumige, luxuriös ausgestattete Vorhalle, die durch eine halbkreisförmige Wand mit vielen Schalterfenstern – gewiß wenigstens fünfzehn – abgeschlossen war. Durch eines davon – übrigens das einzige, das offen stand – konnte man einen jungen Mann sehen, der ganz in seine Arbeit vertieft zu sein schien.
In der Mitte des für das Publikum bestimmten Raumes ging ein Mann, der einen Prospekt las und dazu Anmerkungen niederschrieb, mit großen Schritten auf und ab. An der Hand, die den Bleistift hielt, schimmerten drei Ringe, einer am kleinen und zwei am Ringfinger, an der, die das Papier hielt, glänzte noch ein vierter. Von Mittelgröße und untersetzter Gestalt, wandelte der Mann lebhaft hin und her, so daß seine schwere goldene Kette mit vielen Anhängseln über seinem etwas hervortretenden Bauche klimperte. Bald senkte sich sein Kopf tiefer auf das Papier, bald wandte er sich der Decke der Halle zu, als wollte er dort Erleuchtung suchen. Alle seine Bewegungen waren heftig. Offenbar gehörte er zu den stets erregten, unruhigen Persönlichkeiten, die sich nur wohl fühlen, sobald ihnen etwas Ungewöhnliches zustößt oder sie größere Schwierigkeiten zu überwinden haben.
Am auffallendsten erschien an ihm, daß er Engländer war. Nach seiner Wohlbeleibtheit, der dunkeln Färbung seiner Haut, dem pechschwarzen Schnurrbart und dem allgemeinen Eindruck von seiner, scheinbar immer unter Dampfdruck stehenden Persönlichkeit hätte man ihn weit eher für einen Italiener gehalten. Das einzelne würde den Eindruck von der ganzen Erscheinung nur bestätigt haben, die lächelnden Augen und die etwas aufgestülpte Nase ebenso, wie die unter dichten, krausen Haaren abfallende Stirn, alles verriet so etwas wie eine ein wenig vulgäre Feinheit.
Als der Mann Robert Morgan bemerkte, machte er, seine Lektüre unterbrechend, Halt, ging dann auf ihn zu, grüßte mit überschwenglicher Freundlichkeit und begann sofort:
»Wird uns vielleicht die Ehre zuteil, mein Herr, Ihnen in irgendwelcher Weise nützlich sein zu können?«
Morgan fand nicht gleich eine passende Antwort. Der andre fuhr darauf fort:
»Sie kommen doch wohl wegen unsrer Vergnügungsreise nach den drei Archipelen?«
– Ganz recht, sagte Morgan, doch...«
Da wurde er schon unterbrochen.
»Eine herrliche Reise, sage ich Ihnen, eine prächtige Reise! rief der redselige Mann. Und wir veranstalten sie für so wenig Geld wie möglich. Hier, mein Herr, betrachten Sie gefälligst diese Karte – er wies dabei nach einem großen Blatt an der Wand – da sehen Sie gleich, wohin die Fahrt überall gehen wird. Nun, und das alles bieten wir für wieviel? Für zweihundert Pfund? Für hundertfünfzig? Für hundert Pfund? Nein, lieber Herr, für die lächerliche Summe von vierzig Pfund Sterling, alles inbegriffen: Verpflegung ersten Ranges, einen prächtigen Dampfer mit den bequemsten Kojen, mein Herr; dazu Führer und Träger für alle Ausflüge und Unterkommen nur in Hotels erster Klasse!«
Er deklamierte seinen ganzen Prospekt.
Morgan versuchte vergeblich, diesen Redestrom zu hemmen. Halte nur einer einen Schnellzug auf, der unter Volldampf dahinsaust!
»Ja... ja wohl... Sie kennen diese Einzelheiten jedenfalls schon aus den Plakaten; dann werden Sie auch wissen, welch harten Kampf wir auszufechten gehabt haben. Aber einen für uns glorreichen Kampf, das kann niemand leugnen!«
Das wäre nun wohl noch stundenlang so weitergegangen, wenn Morgan, der allmählich die Geduld verloren hatte, dem nicht endlich Einhalt getan hätte.
»Habe ich die Ehre, Herrn Thompson zu sprechen? fragte er trockenen Tones.
– Er steht vor Ihnen und ist mit Vergnügen zu Ihren Diensten, antwortete der schwatzhafte Agent.
– Wollen Sie mir dann gefälligst sagen, ob es richtig ist, daß Sie, wie man mir versichert hat, für die Fahrt schon einen sprachkundigen Führer haben?
– Aber ich bitte Sie! rief Thompson. Zweifeln Sie vielleicht daran? Wie wäre eine solche Reise ohne einen gewandten Dolmetscher möglich? Natürlich haben wir einen, und zwar einen ganz vorzüglichen Dolmetscher, der alle Sprachen ohne Ausnahme beherrscht.
– Dann, sagte Morgan, habe ich Sie nur wegen der Ihnen verursachten Störung um Entschuldigung zu bitten.
– Wieso? fragte Thompson etwas verdutzt.
– Ich wollte mich gerade um diese Stelle bewerben... doch da sie schon besetzt ist...«
Bei diesen Worten grüßte Morgan höflich und wendete sich schon der Türe zu.
Er erreichte sie jedoch nicht. Thompson war ihm nachgeeilt und sagte:
»Ah... deshalb kamen Sie also!... Man spricht sich aber doch aus, sapperment!... Was für ein kurz angebundener Mann! Doch gemach; wollen Sie mir gefälligst folgen.
– Wozu könnte das dienen?« entgegnete Morgan.
Thompson wiederholte seine Aufforderung.
»O, das weiß man nicht im voraus. Kommen Sie, kommen Sie nur mit mir.«
Morgan ließ sich nach der ersten Etage führen und hier in ein recht bescheiden ausgestattetes Zimmer, das sich von dem Luxus im Erdgeschosse auffallend unterschied. Darin befanden sich nur ein alter Mahagonitisch mit abgenutzter Politur und zwei Stühle mit Strohsitzen... nichts weiter.
Thompson setzte sich und bedeutete Morgan, sich ebenfalls zu setzen.
»Jetzt, wo wir unter vier Augen sind, begann er, gestehe ich Ihnen frank und frei, daß wir noch keinen Dolmetscher haben.
– Sie erklärten aber doch, warf Morgan ein, kaum vor fünf Minuten...
– O, fiel ihm Thompson ins Wort, das kann ja vor fünf Minuten gewesen sein, doch nur, weil ich Sie für einen Kunden ansah.«
Er lachte dazu so herzlich, daß Morgan, er mochte wollen oder nicht, seine Heiterkeit teilen mußte.
Thompson nahm gleich wieder das Wort.
»Der Platz ist also noch frei. Doch vor allen Dingen, haben Sie Empfehlungen?
– Ich glaube, die werden Sie nicht brauchen, wenn ich Ihnen sage, daß ich dieselbe Stellung erst vor einer Stunde bei der Agentur Baker und Kompagnie aufgegeben habe.
– Ah, Sie kommen von unserm Gegner, dem Baker?«
Robert Morgan mußte nun Punkt für Punkt berichten, was dort vorgegangen war.
Thompson frohlockte. Die rivalisierende Agentur bis auf deren Dolmetscher zu schneiden, das war der Gipfel des Triumphs. Er lachte, klopfte sich auf die Schenkel, stand auf und setzte sich wieder, hielt aber niemals auf demselben Platze aus. Und dazu seine Ausrufe: »Herrlich! Prächtig! Verteufelt drollig!«
»Nun, wenn es so steht, fuhr er fort, nachdem er sich etwas beruhigt hatte, dann ist die Sache abgemacht. Doch sagen Sie mir, werter Herr, was war Ihre Tätigkeit, bevor Sie sich bei dem armen Baker meldeten?
– Ich war Lehrer... Professor nannte man mich, antwortete Morgan. Ich gab Unterricht in meiner Muttersprache.
– Und die war...? fragte Thompson weiter.
– Die französische.
– Schön, recht schön, bemerkte Thompson. Kennen Sie denn auch andere Sprachen?
– Das versteht sich, antwortete Morgan lachend, ich kenne sie zwar nicht »alle« wie ihr »vorzüglicher Dolmetscher«, doch wenigstens noch die englische Sprache, wie Sie ja hören, und außerdem die spanische und portugiesische Sprache. Das ist alles.
– Das ist ja wunderhübsch, rief Thompson, der sich nur auf englisch und das noch nicht einmal fehlerfrei ausdrücken konnte.
– Wenn Ihnen meine Kenntnisse genügen, so wäre der eine Punkt ja erledigt, sagte Morgan.
– Ja, so lassen Sie uns, fuhr Thompson fort, also ein wenig von Ihrem Honorare sprechen. Erscheint es indiskret, wenn ich frage, wieviel Sie bei Baker erhalten sollten?
– Keineswegs, antwortete Morgan. Mir war ein Gehalt von dreihundert Francs, alles frei, zugesagt.«
Thompson setzte eine nachdenkliche Miene auf.
»Ja ja, murmelte er, dreihundert Francs, das war ja nicht allzuviel.«
Damit erhob er sich vom Stuhle.
»Nein, wahrhaftig, gewiß nicht zu viel,« wiederholte er bestimmter.
Mit dieser Bemerkung setzte er sich wieder und vertiefte sich in die Betrachtung eines seiner Ringe.
»Da wir jedoch den Fahrpreis bis zur letztmöglichen Grenze – verstehen Sie recht, bis zur letztmöglichen – herabgesetzt haben, erscheint mir das Honorar doch ein bißchen hoch.
– Da würde ich mir also eine Verminderung gefallen lassen sollen? fragte Morgan.
– Ja... vielleicht? flüsterte Thompson. Eine Verminderung... nur eine unwesentliche Verminderung.«
Thompson erhob sich und schritt im Zimmer umher.
»Mein Gott, ich stelle Ihnen das ganz anheim, lieber Herr. Sie hatten ja dem schweren Kampf beigewohnt, den wir mit diesen verdammten Bakers bestanden haben.
– Kurz, so daß also... unterbrach ihn Morgan.
– Nun ja, so daß wir schließlich auf fünfzig Prozent von dem ursprünglichen Preise verzichten mußten. Ist das nicht richtig, Verehrtester? Nicht ebenso richtig, wie daß zweimal zwei vier ist? Um uns aber dieses Opfer zu ermöglichen, müssen uns freilich auch unsere Mitarbeiter beistehen, müssen unserm Beispiele folgen, uns nachahmen...
– Das heißt, ihre Forderungen ebenfalls um fünfzig Prozent herabsetzen,« beendigte Morgan diesen Wink mit dem Zaunpfahle, während der Agent eine zustimmende Bewegung machte.
Morgan verzog etwas das Gesicht. Da pflanzte sich Thompson dicht vor ihm auf und öffnete wieder die Schleusen seines Redestromes.
Man müsse doch – so sagte er etwa – immer das allgemeine Interesse im Auge behalten, und läge hier nicht ein solches von großer Bedeutung vor? Eine früher so kostspielige Reise fast für nichts unternehmen zu können, so viele, sonst nur wenigen Bevorzugten zugängliche Vergnügungen der großen Masse zu ermöglichen, wäre das nicht ein Opfer wert?
Hier handelte es sich ja um eine Frage hoher Philanthropie, der gegenüber ein angebornes gutes Herz doch nicht kalt und gleichgültig bleiben könne.
Morgan ließ sich durch diese schönen Reden nicht gleich rühren. Er überlegte sich die Sache erst reiflich, und wenn er darauf beschloß, die Flagge zu streichen, so geschah das mit zielbewußter Absicht.
Nach kurzer Verhandlung willigte er in das Honorar von hundertfünfzig Francs ein, und Thompson besiegelte den Vertrag durch einen warmen Händedruck.
Morgan begab sich, immerhin ziemlich befriedigt, auf den Heimweg. Obgleich seine erhoffte Einnahme sich stark vermindert hatte, blieb die Annehmlichkeit der Reise ja doch dieselbe, und alles in allem war sie von Vorteil für einen jungen Mann in so unsichrer Lage wie er. Nur eins war noch zu befürchten: daß vielleicht noch eine dritte konkurrierende Firma auf den Plan träte und nach dieser etwa gar eine vierte usw. Kein Mensch könnte ja behaupten, daß der Wettkampf jetzt wirklich zu Ende sei.
Zu welch lächerlicher Summe schrumpfte dann aber das Honorar eines »sprachkundigen Führers« zusammen?
Fußnoten
Doch nein, dazu sollte es nicht kommen. Der 10. Mai brach pünktlich an, ohne daß sich ein weiterer Zwischenfall ereignet hatte.
Als Morgan an diesem Tage an Bord ging, war man eben beschäftigt, den Dampfer mit dem Bug seewärts an der Landungsbrücke festzulegen, von der aus er am Abend ins Meer hinaussteuern sollte. Morgan hatte frühzeitig auf seinem Posten sein wollen, er bemerkte jedoch beim ersten Schritt auf das Deck, daß dieser Übereiser völlig nutzlos war, denn vorläufig hatte sich noch kein Passagier eingefunden.
Morgan kannte die Nummer seiner Kabine, es war die Nummer 17. Dahin wurde auch sein wenig umfängliches Gepäck gebracht. Da er jetzt Muße hatte, benutzte er sie, sich überall umzusehen.
Ein Mann mit dreifachem Goldstreif an der Mütze, offenbar der Kapitän Pip, ging auf der Kommandobrücke zwischen Back- und Steuerbord hin und her und kaute dabei ebensoviel an seinem grauen Schnurrbart wie an seiner Zigarre. Klein von Gestalt, mit etwas eingeknickten Beinen, wie denen eines Dachshundes, und mit etwas groben, doch sympathischen Gesichtszügen, war er das richtige Ebenbild des »Lupus maritimus« oder wenigstens einer der zahlreichen Abarten dieser Familie der menschlichen Fauna.
Auf dem Verdeck besorgten die Matrosen wieder die nötige Ordnung, die durch das Anlegen an den Kai etwas gestört worden war, und machten alles zum baldigen Auslaufen des Schiffes zurecht.
Nachdem diese Arbeit beendigt war, verließ der Kapitän die Kommandobrücke und verschwand in seiner Kabine. Der zweite Offizier folgte seinem Beispiele, während die Mannschaft durch die Luke auf dem Vorderdeck langsam hinunterstieg. Nur ein Schiffsleutnant, derselbe, der Morgan bei dessen Eintreffen empfangen hatte, blieb an der Eintrittslücke der Bordwand des Hauptdecks stehen. Bald herrschte überall auf dem Fahrzeug tiefste Stille.
Unbeschäftigt, wie er war, begann Morgan, um die Zeit totzuschlagen, sich das Schiff in allen Teilen näher anzusehen.
Das Vorderteil enthielt die Mannschaftskammern und eine Küche, und darunter noch einen Raum für Reserveanker, Ketten und verschiedenes Tauwerk. Ja der Mitte befanden sich die Maschinen, und der hintere Teil war den Passagieren vorbehalten.
Hier, im Zwischendeck, lagen, vom Maschinenraume bis zum Heck, in mehreren Reihen siebzig Kabinen, darunter auch die Morgans. Sie war hinlänglich groß und weder besser noch schlechter ausgestattet als die andern. Darunter, zwischen dem eigentlichen Deck und der sogenannten Kuhbrücke oder dem Spardeck, herrschte der Tafelmeister in seinem Reiche, der Kambüse, und darüber befand sich auch der geräumige und recht prunkhaft ausgestattete Speisesaal. Ein langer, vom Besanmaste durchbohrter Tisch nahm fast die ganze Länge des Saales in der Mitte eines Ovals von Polsterbänken ein, die sich längs der Wände hinzogen.
Der mit zahlreichen Fenstern versehene Saal erhielt sein Licht von der Kuchl (einem sich außerhalb darum hinziehenden Gange) her und endete mit einer Art Kreuzgang, auf den die Treppen von den Kabinen mündeten. Durch die Seitenteile dieses Ganges konnte man nach der Kuchl hinaustreten. Sein geradeaus verlaufender Teil trennte, bevor er auf dem Deck mündete, den Rauchsalon und gegenüber das Lesezimmer sowie die geräumige Kabine des Kapitäns an Steuerbord von den etwas beschränkteren Kabinen des zweiten Offiziers und des Leutnants an Backbord, die so lagen, daß die Offiziere das Deck bis zum Buge übersehen konnten.
Nach Beendigung seines Rundganges begab sich Morgan auf das Spardeck, als es auf einem fernen Turme gerade fünf schlug.
Da hatte sich draußen aber alles recht unerwünscht verändert. Ein heraufziehender Nebel, der jetzt nur noch leicht war, verdunkelte die Atmosphäre. Schon waren die Linien der Häuser am Kai ziemlich verschwommen, die Bewegungen der Lastträger sahen unbestimmt aus, und auf dem Schiffe selbst schienen sich die beiden Masten in ungewisser Höhe zu verlieren.
Auf dem Dampfer herrschte noch dieselbe Ruhe wie bisher, nur der schwarze Rauch, der aus dem Schornstein emporwirbelte, verriet, daß hier nicht alles Leben erstorben war.
Robert Morgan setzte sich auf eine Bank auf dem Vorderteile des Spardecks, lehnte sich an eine Relingsstütze und sah erwartungsvoll über den Bordrand hinaus.
Fast gleichzeitig betrat Thompson das Fahrzeug. Er warf Morgan einen Gruß freundschaftlichen Wohlwollens zu und ging dann mit unruhigen, zum Himmel gerichteten Blicken ein Stück hin und her.
Der Nebel nahm noch weiter zu und wurde bald so dicht, daß er die Abfahrt ernstlich in Zweifel stellte. Die Häuser sah man schon gar nicht mehr, und auf den Kais schwebten nur wunderliche Schattengestalten hin. Auf dem Strom bildeten die Masten der nächstliegenden Schiffe im Nebel undeutliche Linien, und verhüllt vom gelblichen Dunste schlich das Wasser der Themse geräuschlos und unbemerkbar dem Meere zu. Alles war von Feuchtigkeit getränkt; man atmete sozusagen Wasser.
Morgan schüttelte sich plötzlich vor Frost, er fühlte sich fast gänzlich durchnäßt und holte sich einen Kautschukmantel, unter dessen Schutze er seinen Beobachtungsposten wieder einnahm.
Gegen sechs Uhr tauchten vier Diener, unklar erkennbar, im Mittelgange auf, machten vor der Kabinentür des ersten Offiziers Halt und setzten sich in Erwartung ihrer zukünftigen Herren auf eine Bank zusammen.
Erst um halb sieben fand sich der erste Reiseteilnehmer ein. Robert Morgan glaubte das wenigstens, weil er Thompson eiligst davongehen und wie vom Nebel verhext verschwinden sah. Gleichzeitig kam Leben in die Stewards, ein Gewirre von Stimmen wurde laut und halberkennbare Gestalten schlüpften unten vor dem Spardeck vorüber.
Als ob der Ankömmlung ein Signal zum Antreten gegeben hätte, wälzte sich von dieser Minute an der Zug der Reisenden ununterbrochen heran, so daß Thompson immer zwischen dem Gange zum Salon und der Öffnung in der Bordwand wie ein Weberschiffchen hin- und herschnellen mußte. Die Touristen folgten ihm auf der Ferse. Ob Männer, Frauen oder Kinder? Das hätte man kaum bestimmt sagen können. Sie tauchten auf und verschwanden wieder wie geisterhafte Wesen, deren Gesicht Morgan nicht erkennen konnte.
Doch hätte er denn nicht auch selbst an Thompsons Seite sein, ihm seine Hilfe anbieten müssen, und hätte er nicht von diesem Augenblicke an seine Rolle als Dolmetscher aufnehmen sollen? Leider fehlte es ihm dazu an Mut. Plötzlich überfiel ihn, wie ein akutes und furchtbares Fieber, eine tiefe Niedergeschlagenheit, unter der ihm das Herz zu Eis erstarrte. Die Ursache dazu hätte er nicht nennen können, und übrigens dachte er auch gar nicht daran, sie sich klar zu machen.
Jedenfalls war es der Nebel, der seine Seele lähmte. Die düstre Wolke erstickte ihn, beengte ihn wie die Mauern eines Kerkers.
Bestürzt durch seine Verlassenheit, blieb er sitzen, während ihm vom Landgange, von den Kais, von ganz London das Geräusch geschäftigen Treibens ans Ohr schlug, das Leben und Treiben unsichtbarer Wesen, mit denen er nichts gemein hatte und nie gemein haben würde.
Inzwischen war der Dampfer »aufgewacht«. Durch das Skylicht des Salons drangen Lichtstrahlen in das Nebelmeer. Auf dem Deck wurde es geräuschvoller. Verschiedene Reisende, die nicht zu sehen waren, fragten laut nach ihrer Kabine. Matrosen eilten wie Schatten nach allen Seiten.
Um sieben verlangte schon ein Reisender im Coffeeroom lachend einen Grog. Als es kurz darauf einige Augenblicke etwas ruhiger war, ertönte vom Deck her eine trockene, befehlerische Stimme.
»Ich glaube Sie doch ersucht zu haben, etwas aufmerksam zu sein!«
Morgan beugte sich nach unten. Da bewegte sich ein langer, dünner Schatten und hinter ihm zwei kaum sichtbare andre, vielleicht ein paar Frauen.
In diesem Augenblick zerteilte sich der Nebel, der eine Sekunde lang durch eine noch zahlreichere Gruppe gleichsam zurückgedrängt wurde. Morgan erkannte mit Gewißheit drei Frauen und einen Mann, die unter Führung Thompsons und vierer mit Gepäck beladner Seeleute eiligst dahinschritten.
Er beugte sich noch weiter hinaus, doch der Nebelvorhang schloß sich wieder... dicht, undurchdringlich. Die Unbekannten verschwanden unerkannt.
Mit dem halben Körper über die Bordwand hinausgelehnt, starrte Morgan mit weit offnen Augen hinunter. Für keinen einzigen dieser Leute tat er heute nur das Geringste.
Und was sollte er morgen für sie sein? Eine Art Faktotum, fast ein vorübergehend angenommener Diener. Einer, der den Kutscher spielt und den Wagen nicht bezahlt; einer, der das Zimmer behütet, es aber nicht selbst bewohnt, einer, der mit dem Hotelier verhandelt und ungewohnte Gerichte verlangt. Da bedauerte er lebhaft seinen Entschluß und sein Herz erfüllte sich mit Bitterkeit.
Allmählich kam die Nacht heran und vermehrte nur die trübe Nebelstimmung. Die Positionslichter der Schiffe blieben ebenso unsichtbar wie die Laternen Londons. In der wie von nasser Baumwolle beschwerten Luft erstarb sogar der Lärm der Riesenstadt, die nach und nach in Schlaf zu sinken schien.
Plötzlich rief da im Dunkel aus der Nähe der Schanzkleidungslücke her eine Stimme:
»Abel!«
Eine zweite Stimme rief denselben Namen und zwei andre wiederholten nacheinander:
»Abel!... Abel!... Abel!«
Dann folgte ein Gemurmel. Die vier Stimmen vereinigten sich zu Ausrufen der Bestürzung, der größten Angst.
Ein vierschrötiger Mann galoppierte an Morgan so nahe vorbei, daß er ihn fast streifte, und rief immer wieder:
»Abel!... Abel!«
Sein Ton klang so verzweifelt und doch so komisch, er verriet deutlich eine so große Beschränktheit des Mannes, daß sich Morgan des Lächelns nicht enthalten konnte.
Dieser breitschulterige Reisende sollte also auch einer seiner spätern Herren sein.
Übrigens beruhigte sich bald alles. Man vernahm eine Knabenstimme, daneben krampfhaftes Schluchzen, und der dicke Mann rief:
»Da ist er!... Ich habe ihn!«
Nun begann wieder das allgemeine, unverständliche Gesumme von Stimmen, nur etwas schwächer. Der Zudrang von Reisenden nahm allmählich ab und hörte endlich ganz auf. Zuletzt war nur noch Thompson in dem hellerleuchteten Mittelgange sichtbar, doch auch er verschwand bald durch die Tür das Salons. Robert Morgan blieb auf seinem Platze zurück, nach ihm fragte, um ihn kümmerte sich ja niemand.
Halb acht Uhr waren die Matrosen ins Takelwerk gestiegen und hatten ein weißes Licht am vordern Maste, ein grünes an Steuerbord und ein rotes an Backbord angezündet. Das – vorschriftsmäßige – weiße Licht in Fahrt begriffener Dampfer am Stagseile des Mastes war vor Nebel allerdings nicht sichtbar.
So war alles zur Abfahrt bereit, wenn diese eben durch den Nebel nicht vorläufig verhindert wurde.
Doch nein, das sollte nicht der Fall sein.
Zehn Minuten vor acht Uhr sprang ein scharfer Wind in kurzen Stößen auf. Die Nebelwolken verdichteten sich schnell und es rieselte ein feiner, eisiger Regen hernieder. Die Lichter der Schiffe tauchten auf, zwar matt und trübe, aber doch endlich sichtbar.
Sofort erschien ein Mann auf dem Spardeck. Eine Goldborte glänzte. Man hörte feste Schritte. Der Kapitän bestieg die Kommandobrücke.
Durch die Nacht ertönte seine Stimme herunter:
»Alle Mann auf Deck! Zur Abfahrt fertig machen!«
Ein Geräusch von Tritten. Die Seeleute nahmen ihren Posten ein. Zwei nehmen, fast gerade unter Morgan, Platz, bereit, auf das erste Zeichen eine dort befestigte Trosse loszuwerfen.
Jetzt fragt eine Stimme:
»An der Maschine alles in Ordnung?«
Gleich darauf läuft ein leises Zittern durch das Schiff, zischend strömt eine Dampfwolke aus, die Schraube macht einige Schläge, dann ruft eine dumpfe Stimme aus der Tiefe:
»Alles klar!«
Der Kapitän kommandiert von neuem:
»Nach Steuerbord abfallen!
– Nach Steuerbord abfallen!« wiederholt der unsichtbare zweite Offizier, der bei den Kranbalken steht.
Ein Tau peitscht das Wasser mit lautem, gurgelndem Geräusch. Der Kapitän kommandiert:
»Einen Schlag rückwärts!
– Einen Schlag rückwärts! antwortet eine Stimme aus dem Maschinenraume.
– Stopp!«
Alles wird wieder still.
»Ruder zurück!... Halbe Kraft! Vorwärts!«
Das Schiff erbebt wieder. Die Maschine setzt sich in Bewegung.
Noch einmal wird die Fahrt kurze Zeit unterbrochen; ein Boot stößt ans Schiff, nachdem es die am Lande befestigten Sorrtaue losgeworfen hat.
Sofort setzt sich das Fahrzeug wieder in Bewegung.
»Das Boot aufgehißt!« ruft die Stimme des Obersteuermanns.
Ein wirres Geräusch von Blöcken, die auf das Deck aufschlagen. Dann stimmen die Matrosen, um in gleichmäßigem Takte zu ziehen, ein Lied in Moll an:
Er hat zwei Mädels... 'was Schönres gibt's nicht!
Goth boy falloë! Goth boy falloë!
Er hat zwei Mädels... 'was Schönres gibt's nicht!
Hurra, nach Mexiko... o... o!
»Etwas schneller! ruft der Kapitän.
– Etwas schneller!« wiederholt der zweite Offizier (der Obersteuermann).
Schon hat man die letzten, auf dem Strom liegenden Schiffe hinter sich gelassen. Der Weg wird freier.
»Volldampf voraus! kommandiert der Kapitän.
– Volldampf voraus!« tönt es als Echo aus der Tiefe zurück.
Die Schraube dreht sich schneller. Das Wasser wird aufgewühlt.
Das Schiff hat seine Fahrt angetreten. Die Reise hat begonnen.
Morgan sitzt noch still da, den Kopf auf den ausgestreckten Arm gelehnt. Noch immer rieselt der Staubregen herab. Er achtet nicht darauf, in seiner zunehmenden Traurigkeit bemerkt er es überhaupt nicht.
Vor ihm entrollt sich das Bild seiner ganzen Vergangenheit: seine Mutter, die er kaum deutlich erkennt, erscheint ihm, die Hochschule, wo er sich so glücklich gefühlt hat, und dann... ach, sein Vater! Nachher die unglücklichen Ereignisse, die seine ganze Existenz so tief erschüttert haben. Wer hätte ihm wohl jemals prophezeit, daß er sich eines Tags allein, ohne Freunde, ohne alle Mittel, zum Dolmetscher verwandelt auf einer Reise begriffen wiederfinden würde, deren trauriger Anfang im Nebel, im Dunkeln und im Regen vielleicht schon ihren Ausgang andeutete?
Wie lange ihn dieser Schwächeanfall in Fesseln schlagen würde, wußte er nicht, da schnellte er durch einen Tumult in die Höhe. Gebrumm, Aufschreie, Verwünschungen. Schwere Stiefel hämmern auf das Deck. Dann ein entsetzliches Scharren von Eisen gegen Eisen, eine ungeheure Masse schiebt sich an Backbord hin, um sofort wieder in der Finsternis zu verschwinden.
An den Fenstern zeigten sich erbleichte Gesichter; das Deck füllte sich mit zum Tode erschrocknen Passagieren. Doch die Stimme des Kapitäns beruhigte die allgemeine Aufregung.
Der Zwischenfall war ohne Bedeutung.
»Ja, für diesmal!« murmelte Robert für sich, als er das Spardeck wieder bestieg, während das Hauptdeck sich allmählich leerte.
Das Wetter schlug von neuem um. Der Regen, der nach und nach heftiger geworden war, hörte wie mit einem Schlage auf.
Schnell trat eine sichtbare Veränderung ein. Die Wolken jagten förmlich am Himmel hin, glänzend flimmerten daran die Sterne und die niedrigen Ufer des Stromes wurden erkennbar.
Robert Morgan sah nach der Uhr; es war jetzt ein Viertel auf zehn.
Die Lichter von Greenwich waren längst in der Ferne verschwunden. Hinter dem Backbord schimmerten am Horizonte noch die von Woolwich, und weit draußen blitzte das Leuchtfeuer von Stoneneß. Als dieses passiert war, sah man das von Broadneß. Um zehn Uhr kam der Dampfer an den Leuchtfeuern von Tilburyneß vorüber und zwanzig Minuten später wurde die Coalhouse-Spitze umschifft.
Morgan bemerkte jetzt, daß das Spardeck noch einen zweiten Nachtwandler hatte. Zehn Schritte von sich entfernt, sah er eine Zigarette glimmen. Er setzte seine Promenade noch ein Stück weit gleichgültig fort, dann trat er, ohne Willen dahin geführt, an das Oberlichtfenster des großen Salons.
Im Schiffe drin herrschte tiefes Schweigen. Die Passagiere hatten einer nach dem andern ihre Kabine aufgesucht. Der große Salon war leer.
Nur eine Dame, Morgan gegenüber, las noch, halb ausgestreckt auf einem Divan liegend, in einem Buche. Er konnte sie ungestört betrachten, konnte die hell beleuchteten zarten Züge erkennen, die blonden Haare und die dunkeln Augen sehen, ebenso wie den schlanken Wuchs und den kleinen Fuß, der aus einem eleganten Unterkleide hervorlugte. Er bewunderte die Grazie ihrer Haltung und die Schönheit der Hand, die die Blätter des Buches umwendete. Wahrlich, das war eine reizende Reisegenossin, und kurze Zeit verlor er sich völlig in ihre Betrachtung.
Der Raucher machte da aber eine Bewegung, hustete und stieß mit dem Fuße auf. Beschämt über seine Indiskretion, entfernte sich Morgan von dem Oberlichtfenster und setzte seinen Spaziergang wieder fort.
Immer weiter folgte ein Leuchtturm dem andern. Zehn Minuten nach elf Uhr befand sich das Schiff gegenüber der Signalstation. In der Ferne sah man schon die Lichter von Nore und Great-Nore, zwei Wachtposten ähnlich, verloren im Ozeane.
Morgan beschloß nun, sich zur Ruhe zu begeben. Er verließ das Spardeck, ging die nach den Kabinen führende Treppe hinunter und im Gange weiter, doch gleich einem Träumer, ohne Aufmerksamkeit auf alles, was ihn umgab.
Worüber grübelte er wohl? Über das traurige Selbstgespräch von vorhin? Oder dachte er vielleicht an das liebliche Bild, das er eben bewundert hatte? Bei einem Manne von achtundzwanzig Jahren hat ja die Traurigkeit flüchtige Füße.
Zu klarerem Bewußtsein kam er indes erst, als er die Hand auf die Tür seiner Kabine legte; da bemerkte er, daß er nicht allein war.
Gleichzeitig wurden nämlich zwei andre Türen geöffnet. In die der seinigen zunächstgelegne Kabine trat eine Dame ein, und in die nächstfolgende ein Herr. Die beiden Passagiere warfen einander einen vertrauten Gruß zu, dann drehte sich aber die Nachbarin Morgans noch einmal um und streifte diesen mit einem flüchtigen Blicke, der ihm jedoch genügte, die schöne Erscheinung aus dem großen Salon wiederzuerkennen.
Er stieß nun seine Tür auf.
Als er sie hinter sich schloß, stieg das Schiff, in den Fugen knarrend, ein gutes Stück empor und sank dann wieder in einen tosenden Schaumstrudel zurück. Und in dem Augenblicke, wo sich die erste Woge herangewälzt hatte, ging es auch wie ein Pfeifen durch die Takelage vom ersten Atemzuge des offnen Meeres.
Bei Tagesanbruch war kein Land mehr in Sicht. Vom wolkenlosen Himmel glänzte die Sonnenscheibe blendend auf den ungeheuern Kreis der Meeresfläche nieder. Das Wetter war herrlich, und als ob der Dampfer sich ebenfalls der Schönheit der Natur erfreute, glitt er rasch dahin und zerteilte, wie in freundschaftlichem Kampfe, die kecken, kurzen Wellen, die ihm eine frische Brise aus Nordwesten entgegentrieb.
Als der Steuermann das sechste Glas anschlug, verließ der Kapitän Pip die Kommandobrücke, auf der er die ganze Nacht geblieben war, und übergab dem Obersteuermann die Führung des Schiffes.
»Westlichen Kurs halten, sagte er noch.
– Schön, Herr Kapitän«, antwortete der zweite Offizier, der nun die Brücke bestieg.
– Die Backbordwache zum Deckwaschen!« lautete sein erster Befehl.
Statt unmittelbar seine Kammer aufzusuchen, hatte der Kapitän erst noch einen Rundgang angetreten, wobei er alles auf dem Schiffe mit scharfem, prüfendem Auge musterte.
Er ging bis auf das Vorderkastell und beobachtete hier, über den Steven hinausgebeugt, wie sich der Dampfer auf den Wellen hob und senkte. Dann suchte er das Hinterdeck auf und betrachtete längre Zeit das hellere Kielwasser. Von da aus begab er sich nach dem Oberlichte des Maschinenraumes und horchte aufmerksam auf das metallische Dröhnen der Bleuelstangen und der auf- und absteigenden Kolben in den Dampfzylindern.
Schon wollte er sich entfernen, als sich eine galonierte Mütze aus einer engen Öffnung erhob. Der erste Maschinenmeister, Mr. Bishop, betrat das Deck, um sich hier einmal an der frischen Morgenbrise zu erquicken.
Die beiden Offiziere drückten einander die Hände, blieben dann aber Auge in Auge schweigend vor einander stehen, während der Kapitän einen forschenden Blick in die Tiefe warf, wo das eiserne Ungetüm, die Maschine, arbeitete.
Mr. Bishop verstand die stumme Frage.
»Ja, Herr Kommandant, es ist so!« sagte er mit einem leisen Seufzer.
Er erklärte sich nicht weiter. Der Kapitän schien durch die knappe Antwort jedoch hinlänglich unterrichtet zu sein, denn er stellte keine weitere Frage, sondern begnügte sich, sichtbar unzufrieden, mit dem Kopfe zu schütteln. Nachher setzten die beiden Offizier gemeinsam die vom Kapitän begonnene Besichtigung fort.
Noch gingen sie hier- und dorthin, als Thompson sichtbar wurde und das Spardeck bestieg.
Als dieser es auf der einen Seite betrat, kam auch Morgan von der andern herauf.
»Ah sieh, rief Thompson, da ist ja unser Herr Morgan. Na, haben Sie denn gut geschlafen, Herr Professor? Sind Sie zufrieden mit Ihrer schönen Kabine... Herrliches Wetter das, Herr Professor, nicht wahr?«
Morgan hatte instinktiv den Kopf umgedreht; er erwartete einen Passagier hinter sich zu sehen. Der Titel »Professor« konnte doch hier seiner bescheidnen Person nicht gelten.
Er kam aber nicht dazu, etwas auf die Anrede zu erwidern. Thompson hatte seine Rede plötzlich abgebrochen. Ihm schien ein andrer Gedanke durch den Kopf gefahren zu sein, denn er eilte spornstreichs die Treppe hinunter auf das Hauptdeck.
Morgan sah sich um, konnte aber nirgends einen Grund für dieses fluchtähnliche Verschwinden entdecken. Außer zwei Passagieren, die eben heraufgekommen waren, war das Spardeck völlig leer. Man hätte glauben können, das Erblicken der beiden Reisenden hätte Thompson vertrieben. Ihr Aussehen war jedoch keineswegs erschreckend... originell freilich und sonderbar, aber das ist doch etwas ganz andres.
Wenn es den Franzosen im Notfalle möglich ist, eine andre Nationalität als die ihrige anzunehmen, ohne die Zweifelsucht ihrer improvisierten Landsleute zu erwecken, so ist den Söhnen Albions eine solche Verwandlung doch ganz unmöglich. Um andre zu täuschen, haften am Engländer viel zu charakteristische Kennzeichen seiner Rasse, die zu verdecken ihm niemals gelingt.
Einer der beiden Passagiere, die hier herausgekommen waren und jetzt auf Morgan zuschritten. lieferte das schlagendste Beispiel für die Richtigkeit dieser Beobachtung: es war unmöglich, noch mehr Engländer zu sein. Er wäre sogar ein großer Engländer gewesen, wenn die Höhe seiner Gestalt genügt hätte, ihn als solchen zu bezeichnen. Übrigens war er ziemlich hager, jedenfalls um das Gleichgewicht des Körpers zu sichern und um das Gesamtgewicht nicht zu überschreiten, auf das ein normal gebautes Menschenkind ein Recht hat.
Sein langer Rumpf ruhte auf langen Beinen, die wieder in lange Füße ausliefen, mit denen er so fest auftrat, als wollte er von dem Boden um sich gleich Besitz nehmen.
Doch von einem Engländer weiß man's ja: wo er auch hinkommt, ist es stets sein erstes, den Unionjack aufzupflanzen.
Seiner äußern Erscheinung nach hatte dieser Passagier viel Ähnlichkeit mit einem alten Baume. Dessen Knorren vertraten bei ihm runzliche Gelenke, die bei der geringsten Bewegung schabten und knarrten wie die Zahnräder einer schlechtgeölten Maschine. Was seinen Körper anging, fehlte es ihm jedenfalls an der nötigen Gelenkschmiere, und nach der ersten Beobachtung zu urteilen, mochte er wohl geistig ebenso schwer beweglich sein.
Das mußte man wenigstens annehmen, wenn man die Augen über das Gesicht des Mannes vom untern nach dem obern Teile des Kopfes schweifen ließ.
