Das richtige Bild - Michael Bertl - E-Book

Das richtige Bild E-Book

Michael Bertl

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Beschreibung

Alle machen Bilder und keiner sieht sie sich an. Diese Bilderflut und die damit veränderte Art des Sehens stellt einen vorläufigen Endpunkt in der Evolution der Bilder dar. Die analoge Kleinbild-, Schmalfilm- und Videowelt war in der Regel privat und in begrenztem Kreis zu sehen und unterschied sich klar von professioneller Bildberichterstattung oder fotografischer bzw. filmischer Bildererzählung. Durch die Digitalisierung mit ihrer rapiden, unverändert weiter steigenden technischen Qualität in Aufnahme, Bearbeitung und Verbreitung verwischt diese Trennung immer mehr. Die Kamerafunktion eines besseren Smartphones erfüllt neben der eigentlichen Aufgabe, der Bildkommunikation und der Alltags- oder Amateurfotografie auch mehr oder weniger die Anforderungen des Bildjournalismus, der professionellen künstlerischen Fotografie und der professionellen Kinematografie. Dazu ist hochwertige digitale Technik als Hard- und Software für den semi- und vollprofessionellen Bereich in verschiedenen Preisklassen breiten Schichten zugänglich. Die Bilder dieser Kameras sind, wie es so schön heißt, sendefähig. Die unbestrittenen Vorteile der "Demokratisierung" des Bildes, die Bilder vom Maidan, dem Taksim Platz oder vom arabischen Frühling als Beispiel stehen offensichtliche Nachteile gegenüber, wie das gerade aktuelle Thema der Gesichtserkennung und der Datenspeicherung. Dies sind andere Themen und nicht Gegenstand der folgenden Betrachtungen. In der aktuellen digitalen Bilderwelt sind die notwendigen Vorarbeiten der Bildgestaltung - Überlegung, Skizze, Entwurf – zumeist verschwunden und ersetzt durch den unmittelbaren Knopfdruck der Aufnahme, dem sofortigen Versenden und dem dazugehörigen unvermeidlichen Kurzkommentar. Dazu sind alle digitale Bilder immer gleich verfügbar und vorhanden und dazu häufig gleichwertig; das bedeutet letztendlich meist überflüssig und in der unüberschaubaren Menge ohne echten Wert. Sie dienen zu oft der Ablenkung und werden zerstreut, mit einem Fingerwischen, weggeblättert. Es spielt keinen Unterschied mehr, ob ein Bild gemacht wird oder nicht, weil es inzwischen schon gemacht worden ist. Alle Bilder werden gemacht und genau so sehen sie aus und wir sehen sie uns nicht mehr an, denn sie sagen sie uns nichts mehr. Alle machen Bilder und keiner sieht sie sich an. Diese Bilderflut und die damit veränderte Art des Sehens stellt einen vorläufigen Endpunkt in der Evolution der Bilder dar. Aus der Grammatik der Zeichnungen und Bilder aus dem Ende der Altsteinzeit bis zum Kubismus ist aus der ebenso jungen Kunst der Fotografie innerhalb weniger Jahrzehnte im Kino eine Bilderzählung entstanden, die, so kann man sagen, die Kunstform des 20. Jahrhunderts darstellt. Der Blick und der Ausschnitt, die Farbe, das Licht, die Bewegung und die Dauer - in diesem Text werden die grundlegenden Elemente der Sprache der bewegten Bilder betrachtet. Gedanken zum Bilderverstehen in einer Zeit in der dem Bildermachen viel Gedankenlosigkeit innewohnt. Eine Anregung zum Nachdenken für alle die Bilder lesen wollen, für alle die Bilder machen wollen, für alle die nicht gleich auf record drücken. Gedanken darüber was die bewegten Bilder ausmacht, die wir ansehen wollen; die wir ansehen damit und weil sie erzählen. Eine Anregung ohne Kameratypen, ohne Objektiv- Empfehlungen, ohne Gebrauchsanweisungen, ohne look up table, ohne tutorial und - ohne Bilder.

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Der Autor

Michael Bertl ist ein deutscher Kameramann und Architekt. Er studierte Architektur in München und Berlin, anschließend absolvierte er von 1986 bis 1992 ein Studium als Kameramann an der Deutschen Film- und Fernsehakademie (dffb) in Berlin. Seit Anfang der 1990er-Jahre arbeitet er als bildgestaltender Kameramann (Director of photography) für Kino und Fernsehen. Ab 1997 hatte Bertl Lehraufträge an mehreren Filmhochschulen, seit 2011 ist er Leiter der Abteilung Bildgestaltung/Kamera an der dffb.

MICHAEL BERTL

DAS RICHTIGE BILD

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Schüren Verlag GmbH

Universitätsstr. 55 | D-35037 Marburg

www.schueren-verlag.de

© Schüren Verlag 2021

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltung: Erik Schüßler

Gestaltung Umschlag: Wolfgang Diemer, Frechen

Druck: Majuskel Medienproduktion, Wetzlar

Printed in Germany

ISBN 978-3-7410-0398-1 (Print)

ISBN 978-3-7410-0156-7 (eBook)

INHALT

Gedanken zur Gestaltung von bewegten Bildern

Sprechen über bewegte Bilder

Blick und Bild – Betrachtung, Beschreibung und Empfindung

Bewegung und Dauer

Licht und Erinnerung

Farbe und Berührung

Bild und Vertrauen

Dank

Zitatnachweis

GEDANKEN ZUR GESTALTUNG VON BEWEGTEN BILDERN

Die «richtigen Worte» findet man mit Überlegung, Einsicht und Einfühlungsvermögen. Gefunden, werden sie mit Bedacht gewählt und vorgetragen.

Analog dazu die richtigen Bilder, also für eine filmische Erzählung im Sinne von Ansprache, Verständigung und Teilhabe, in einer Weise, die dem Betrachteten und den Betrachtenden mit Respekt begegnet, die sich auf sie einlässt und sie mitnimmt, und nicht in einem Gegensatz zu «falschen» Bildern, die es durchaus gibt, wie es ganz sicher unangemessene und in jedem Fall viel zu viele bedeutungslose Bilder gibt.

«Die Kraft eines Portraits liegt in dem Bruchteil einer Sekunde,in dem man etwas vom Leben derfotografierten Person versteht.»

«Ich nahm mir acht Jahre Zeit, um zu schauen.Die wichtigste Erkenntnis war, dass ich Teil der Natur bingenau wie eine Schildkröte,ein Baum oder ein Kieselstein.»Sebastião Ribeiro Salgado, «Das Salz der Erde»

SPRECHEN ÜBER BEWEGTE BILDER

Die analoge Kleinbild-, Schmalfilm- und Videowelt war in der Regel privat und in begrenztem Kreis zu sehen und unterschied sich klar von professioneller Bildberichterstattung oder fotografischer bzw. filmischer Bildererzählung. Durch die Digitalisierung mit ihrer rapiden, unverändert weiter steigenden technischen Qualität in Aufnahme, Bearbeitung und Verbreitung verwischt diese Trennung immer mehr.

Die Kamerafunktion eines besseren Smartphones erfüllt neben der eigentlichen Aufgabe der Bildkommunikation und der Alltags- oder Amateurfotografie auch mehr oder weniger die Anforderungen des Bildjournalismus, der professionellen künstlerischen Fotografie und der professionellen Kinematografie. Dazu ist hochwertige digitale Technik als Hard- und Software für den semi- und vollprofessionellen Bereich in verschiedenen Preisklassen breiten Schichten zugänglich.

Die Bilder dieser Kameras sind, wie es so schön heißt, sendefähig.1

Den unbestritten positiven Aspekten der Bildomnipräsenz, die Aufnahmen vom Maidan, dem Taksim Platz oder vom arabischen Frühling als Beispiel, stehen offensichtliche, höchst bedenkenswerte Nachteile gegenüber wie die elektronische Gesichtserkennung, lückenlose Videoüberwachung des öffentlichen Raumes und Datenspeicherung. Diese wichtigen Themen der digitalen Bilderwelt sind nicht Gegenstand der folgenden Betrachtung.

In der aktuellen digitalen Bilderwelt sind die notwendigen Vorarbeiten der Bildgestaltung – Überlegung, Skizze, Entwurf – zumeist verschwunden und ersetzt durch den unmittelbaren Knopfdruck der Aufnahme, dem sofortigen Versenden und dem dazugehörigen unvermeidlichen Kurzkommentar.

Dazu sind alle digitalen Bilder immer gleich verfügbar und vorhanden und dazu häufig gleichwertig; das bedeutet: letztendlich meist überflüssig und in der unüberschaubaren Menge ohne echten Wert. Sie dienen zu oft der Ablenkung und werden zerstreut mit einem Fingerwischen weggeblättert.

Mittlerweile ist es völlig egal, ob ein Bild gemacht wird oder nicht, weil es inzwischen schon gemacht worden ist. Alle Bilder werden gemacht und genau so sehen sie aus, und wir sehen sie uns nicht mehr an, denn sie sagen uns nichts mehr.

Alle machen Bilder und keiner sieht sie sich an. Diese Bilderflut und die damit veränderte Art des Sehens stellen einen vorläufigen Endpunkt in der Evolution der Bilder dar.

Aus der Grammatik der Zeichnungen und Bilder seit dem Ende der Altsteinzeit bis zum Kubismus ist aus der ebenso jungen Kunst der Fotografie innerhalb weniger Jahrzehnte im Kino eine Bilderzählung entstanden, die, so kann man sagen, die Kunstform des 20. Jahrhunderts darstellt.

Der Blick und der Ausschnitt, die Farbe, das Licht, die Bewegung und die Dauer – in diesem Text werden die grundlegenden Elemente der Sprache der bewegten Bilder betrachtet.

Gedanken zum Bilderverstehen in einer Zeit, in der dem Bildermachen viel Gedankenlosigkeit innewohnt.

Eine Anregung zum Nachdenken für alle, die Bilder lesen wollen, für alle, die Bilder machen wollen, für alle, die nicht gleich auf «record» drücken. Gedanken darüber, was die bewegten Bilder ausmacht, die wir ansehen wollen, die wir ansehen, damit und weil sie erzählen. Eine Anregung ohne Kameratypen, ohne Objektiv-Empfehlungen, ohne Gebrauchsanweisungen, ohne look up table, ohne tutorial und – ohne Bilder.

1«Bild» wird in diesem Text in unterschiedlichen Begrifflichkeiten verwendet. Was wir mit unseren Augen sehen, ergibt ein Bild in unserer Wahrnehmung, den Seheindruck. Zum Anderen ist es ein gestaltetes Bild, ein geschaffenes Bild, (ein gemaltes, gezeichnetes, gestricktes, gewebtes, fotografiertes., usw. Bild) hier natürlich vor allem das kinematografisch fotografierte Bewegtbild. Und zum Dritten eine Vorstellung, ein Gedanke, eine Absicht, ein Bild im Kopf, das oft zwischen einem gesehenen und einem gemachten Bild liegt. Es ist vor allem ein gedachtes und immer ein erinnertes Bild.

BLICK UND BILD BETRACHTUNG, BESCHREIBUNG UND EMPFINDUNG

«Ich habe geträumt, dass mein Film nach und nachunter dem Blick entstand wie ein ewig neues Gemälde»

Robert Bresson, Notizen zum Kinematographen

WAS WIR SEHEN

Im Landeanflug auf das nächtliche Berlin. Durch die Wolkendecke zuerst ein schmutziger Schimmer, dann die Lichter der Großstadt, Natrium, Rost, Kupfer bis zum Horizont. Von Norden gesehen liegen hinter dem Fernsehturm in nächtlichen Schatten bis zum Horizont Alleen, Ausfallstraßen, Plätze, Höfe braunkohlebraun und aschgrau. Prenzlauer Berg, Mitte, der Wedding, kurz vor der Landung illuminiert, warm und dunkel. Eine Ankunft. Die Stadt ist schön. Der müde Blick auf sie ist schön. Das Bild ist schön.

Ein sehr großes, sehr neues Handy wird am Fensterplatz des Flugzeuges gezückt. Zehn, vielleicht fünfzehn Aufnahmen. Was sie im Einzelnen unterscheidet nicht auszumachen. Aber die nächtlichen Wolken auf dem Bildschirm sind nun klar und abgehoben zu erkennen und zeigen gestochen scharfe Konturen. Die Beleuchtung der Stadt diodenweiß, fast blau, grell und beißend. In den Straßen auf den Hausfassaden jedes Detail auszumachen, taghell, abgestuft von weiß zu schimmelgrün.

Der Blick wandert noch einmal wie verwundert nach draußen. Vor dem Kabinenfenster ein Bildschirm, darauf das Bild der Welt, hinter dem Kabinenfenster die Welt. Welt und Bild liegen direkt übereinander und sehen sich nicht einmal annähernd ähnlich. Das Bild der Stadt zeigt eine andere Stadt, sie ist deutlich kühler und heller. Die Überbelichtung der Nacht ist von gespenstisch grünklarer Fahlheit. Farben und Helligkeiten, die nicht da sind, zumindest für das Auge nicht erkennbar. Welche Welt sieht die Maschine, die mehr sieht als das Auge?

Landung in Tegel. Die Fotografin versendet ihr Bild mehrmals, und dann wird abgeschnallt und ausgestiegen.

Ein Bild wird bemerkt, das in seiner Schönheit, Einzigartigkeit oder Neuigkeit berührt und gefällt. Anstatt nun genauer hinzusehen und sich einer Bilderfahrung bewusst zu werden, übernimmt der moderne digitale Reflex – die unmittelbare und unreflektierte Aufnahme nämlich. Es wird ausgelöst, ein Bild wird gemacht. Viele Bilder werden gemacht.

Eine Erinnerung an den Moment gibt es nicht, denn man hat ja gar nicht hingesehen. Das stattdessen gemachte Bild erzählt nicht von dem Gesehenen, es erzählt vor allem nicht von dem eigentlichen Eindruck. Mit dem Versenden wird geteilt, und geteilt wird das Nicht-Hinsehen, das Nichterlebnis.

Der gute Grund, diesen einen Eindruck fotografisch festzuhalten, ist auf dem Bild nicht zu erkennen. Sichtbar ist die Sensation der Oberfläche eines durchaus gelungenen Bildes, das genau genommen Programmierer in einem sehr fernen Land gestaltet haben.

Was haben wir gesehen? Was hat die Maschine gesehen? Und welches dieser Bilder bleibt?

Mit jedem so gemachten Bild rückt die Welt ein Stück weiter weg. Durch diese Art des digitalen Bildermachens findet eine Entfernung von der Welt in der Welt statt. Das widerspricht eigentlich der Natur der Bilder und dem, wofür sie stehen, nämlich uns die Welt näherzubringen.

DAVON ERZÄHLEN

Der unmittelbare Blick ist intuitiv: Alarmzeichen, unerwartete Bewegungen, markante Farben, alles im Zusammenhang Ungewöhnliche, das heißt Ungewohnte, wird registriert. Dieser überlebenswichtige Teil des Sehens wird innerhalb von Sekundenbruchteilen erledigt. Der zweite, ebenso instinktive und sehr kurze Blick gilt der Frage: Muss ich reagieren? Er sucht nach Gesichtern, Händen und Körpern. Im Bild vorhandene Mimik und Gestik werden gefunden und überprüft, abhängig von ihrer Größe, d. h. der Nähe zum Betrachter. Auch hier geht es um wesentliche Impulse, die dem Überleben, aber vor allem dem Zusammenleben dienen. So lesen wir die Welt und auch die bewegten Bilder von ihr.

Erst wenn diese beide Reflexe beruhigt und geklärt worden sind, kann das eigentliche Erkennen des Seheindruckes beginnen. Grundvoraussetzung der bewegten Bilder also: Wesentliche Mimik und Gestik müssen in einem Blick erfassbar sein und dürfen keine ablenkend irritierende Gefahrensignale aussenden.

Verkehrsschilder, Rot im Allgemeinen, blinkende Lichter, Texte, Worte, die sofort gelesen werden wollen ebenso wie bekannte Symbole und Zeichen, alle diese Elemente lenken den Blick des Betrachters. Sie lenken ab. Wer das nicht beachtet beim Bildermachen, schafft Bilder, die man nicht sieht.

Um die Welt darstellbar und so sichtbar zu machen, wie sie ist, müssen aus dem Bild Elemente eliminiert werden. Es muss reduziert, selektiert, gefiltert und dann wieder neu zusammengesetzt werden.

Das klingt paradox, ist aber einleuchtend, wenn man weiß, dass wir nicht sehend durch die moderne Welt laufen, sondern vor allem nichtsehend. Ein einfacher Bild- oder Seheindruck auf einer belebten Straße besteht aus unheimlich vielen Alarmmomenten der oben beschriebenen Kategorie, aus unzähligen signalhaften und Aufmerksamkeit lenkenden Zeichen und Botschaften sowie aus unendlich unterschiedlichster Mimik und Gestik. Der Blick im Alltag ist damit ausgelastet, wenn nicht sogar überfordert, sodass er von dem, was sonst noch da ist und eigentlich zu sehen ist, schlichtweg nichts mitbekommt.

Ein Bild besteht nur aus dem für das Bild Wichtigen, aus nichts anderem.

Der Blick des Bildbetrachters, durch Übungen im Hinsehen geschult, unterscheidet zwischen der Welt und ihren Gegebenheiten und dem Bild dieser Welt, das gemäß diesen anderen Bedingungen aufgebaut ist.

Der erste betrachtende Blick ist der der Erzählung. Er folgt dem Geschehen. Das sehende Auge stellt in den unterschiedlichen Momenten im Bild Zusammenhänge her. Der Blick ist fokussiert, lebendig und aktiv. Da das Auge umherwandert, sich ablenken lässt und nicht gerne anhält, ist genaues Erkennen nicht selbstverständlich. Indem man nicht nur hinsieht, sondern und vor allem immer wieder hinseht, lernt der Blick zu verweilen. Betrachten bedeutet also wieder hinsehen.

Durch das Immer-wieder-Hinsehen tritt der Betrachter in einen Dialog mit der Welt und dem darin Gesehenen.

Aus dieser Wechselwirkung von Gegebenheit und Eindruck erwächst Vorstellung.

In der Dauer der Betrachtung erfolgt Erkennen, sie beinhaltet Kontemplation und widersteht der Flüchtigkeit.

Wenn man weiß, was man gesehen hat, kann man es auch beschreiben. Erkenntnis und Vorstellung existieren in Worten und in Bildern. Und wenn man davon erzählen kann, kann man auch damit erzählen.

Monets zahlreiche Gemälde der Kathedrale von Rouen oder Cézannes Aquarelle vom Mont Sainte Victoire sind in ihrer immensen Reichhaltigkeit an Farb- und Lichterfahrung beeindruckende Belege der genauen Betrachtung, des immer wieder Hinsehens.

Der zweite betrachtende Blick gilt dem Zusammenhang und der Balance der Elemente Farbe, Helligkeit, Form und Bewegung im Bild. Es ist der Blick der Komposition. Er sieht die jeweiligen Verteilungen, Gewichtungen und Verhältnisse. Er ist diffus und verzichtet auf Details und Schärfe. Die Betrachtung erfolgt wie durch die Wimpern hindurch oder durch ein getrübtes Glas. Die Komposition des Bildes wird erkannt, gehalten und verglichen. Der Blick ist fest, abgleichend überprüfend und betrifft immer das Bild als Ganzes. Er kontrolliert und korrigiert die Verteilung von Hell und Dunkel, die Abstufung der Farben, die Lage der Elemente im Bild, die Positionen von Figuren und Charakteren, die Richtung des Spiels und der Aktion.2

Der dritte Blick ist der entlang des Ausschnitts. Ein bewegtes Bild endet nicht an seinem Rahmen, sondern es spricht mit Hilfe des Rahmens. Sowohl die klare, detailreiche Erzählung als auch die diffuse gewichtende Komposition wirken nur innerhalb des Ausschnitts. Dieser muss permanent überprüft werden, freigehalten von Störungen und dazu ständig neu justiert und korrigiert.

Der Rahmen oder Ausschnitt ist daher keine Begrenzung des Bildes, er ist grundlegender Teil in der filmischen Bilderzählung. Er dient der Komposition, der Ordnung, der Formulierung des Bildgedankens. Er ist durch die Bewegung der Kamera beliebig erweiterbar und definiert so die Richtung der Erzählung. Er bestimmt im bewegten Bild, wann was wie gesehen wird.

Bei Gemälden, Zeichnungen und Skizzen und auch bei Fotografien dient der Rahmen einem anderen Zweck. Diese Bilder, selbst als Serien, werden einzeln in ihm betrachtet. Der Rahmen des bewegten Bildes hingegen ist ein immer veränderlich in Bewegung befindlicher Ausschnitt, der das Bild der Welt von der Welt unterscheidet.

Diese Ausschnitte separieren nicht, sondern verbinden, wirkt doch jedes Bild als Sequenz mit dem davor gewesenen und dem nachfolgenden. Erst durch die Abfolge der unterschiedlichen Ausschnitte gelingt der filmische Zusammenhang, in dem die bewegten Bilder erzählen.

Betrachtung des bewegten Bildes erkennt innerhalb eines sich permanent verändernden Rahmens immer sowohl das Detail in der Erzählung als auch die Gesamtheit des Gefüges. Der betrachtend erzählende Blick, der atmosphärisch gestaltende und der mit dem Ausschnitt lenkende Blick erfolgen gleichzeitig.

Bildgestaltung erfordert also simultan auf drei verschiedenen Arten zu sehen: innerhalb des Bildes scharf und verfolgend, dazu firm aber diffus auf die Komposition gerichtet und immer auch am Ausschnitt