Das Rosefield-Haus - Brina Hope - E-Book

Das Rosefield-Haus E-Book

Brina Hope

0,0

Beschreibung

Vier Schwestern, ein gemeinsames Schicksal ... Das Rosefield-Haus. Um ihr Guesthouse zu eröffnen, kehrt Eve Rosefield nach Tasmanien zurück. Als ihre Mutter, zu der sie seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte, ihrem Leben unverhofft ein Ende setzt, stellt sich Eve ihrer Vergangenheit. Während Mabel immerzu an die falschen Männer gerät und Bridget bloß Augen für ihren reichen Verlobten hat, kehrt die menschenscheue Tony in das verlassene, heruntergekommene Elternhaus zurück. Doch nicht jedem gefällt, dass sie sich dort aufhält. Was ist mit ihrem Vater geschehen? Hat er am Ende die Insel doch nicht verlassen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 387

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Für Jan

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Kapitel 1

Er hielt direkt vor dem rustikalen Guesthouse, um das sich seit gut einem Jahr ihr gesamtes Leben drehte. Er schaltete den Motor ab und musterte seine Frau von der Seite. Die Arme verschränkt starrte sie durch die Frontscheibe. Sie war noch immer wütend. Was hatte er auch anderes erwartet?

Eve Rosefields Brust hob sich. Sie bemerkte seinen Blick. Im Geiste schüttelte sie den Kopf. Auch jetzt war sie nicht zum Diskutieren bereit. Sie stieß die Beifahrertür auf und stieg aus dem Wagen.

Eve hatte den Haupteingang im Visier, holte tief Luft, straffte die Schultern und ging die Verandastufen hoch.

Paul stieg ebenfalls aus. »Eve, ich bitte dich. Ich wollte dir doch nicht in den Rücken fallen«, versicherte er abermals. Er lockerte seine Krawatte.

Für seine Erklärungsversuche hatte sie jedoch kein Gehör. Er hätte es sich vorher überlegen und sich auf ihre Seite stellen sollen, anstatt auf die Seite der Gegner. Auch wenn diese in der Überzahl waren.

Warum musste er sich überhaupt einmischen?

Nur weil sie nach dem Begräbnis ihrer Mutter nicht in ihr Elternhaus zurückkehren wollte, in dem sie schon seit Jahren nicht mehr gewesen war, hatten ihre Schwestern noch lange nicht das Recht, sie deswegen aufzuziehen und zu demütigen.

Sie entsann sich seiner Worte. »Vielleicht würde es dir ja guttun, etwas Zeit mit deinen Schwestern zu verbringen.« Bestimmt, dachte sie zähneknirschend. Paul wusste ja nicht, wie schrecklich ihre Kindheit für sie gewesen war. Wie sollte er auch? Ihre Vergangenheit hütete sie wie ein Staatsgeheimnis. Sie haderte im Verborgenen.

Eve passierte die beschauliche Rezeption. Lautes Gelächter zog ihre Aufmerksamkeit auf sich und brachte sie zum Stehen. Ein paar Gäste hatten sich in der Lounge eingefunden und saßen auf den braunen Ledercouchsesseln beisammen. Ihre Bemühungen, die Lounge ebenso gemütlich zu gestalten wie den Rest der Unterkunft, die sorgfältig in die raue Landschaft am Rande des Cradle Mountain eingebettet worden war, hatten sich gelohnt.

Ein Magnet für Gäste, dachte Eve, die Lippen gedehnt. Ein Ort, an dem schon so oft über die vermeintlich besten Wanderrouten debattiert wurde. Solche Debatten hatten sie nicht selten zum Schmunzeln gebracht. Die Tatsache, dass Eve’s Mountain Guesthouse zurzeit komplett ausgebucht war und in diesem Moment Touristen aus aller Welt – einschließlich vieler Einheimischer – die Sitzgelegenheiten der Lounge nutzten, ließ sie ihren Zorn beinahe vergessen. Bis sie Paul hineinkommen sah.

Er hielt inne, als er sie erblickte. Vergiss es, sagte ihr Gesichtsausdruck. Er beabsichtigte auch nicht, seine Privatangelegenheiten vor den Augen der Gäste auszutragen. Er brauchte keine Zuschauer.

Eve wandte sich ab, Paul blickte ihr hinterher.

Zitternd vor Zorn betrat sie ihr Büro. Sie schloss hinter sich die Tür und atmete erst einmal tief durch, was sie jedoch nicht zur Ruhe brachte.

Sie ging zu ihrem Schreibtisch, zog den Stuhl hervor. Sie machte ihrer angestauten Wut Luft, indem sie alles vom Tisch fegte, was sie in die Hände bekam. Ein Stapel Rechnungen flatterte zu Boden, ein Behälter mit Kugelschreiber krachte ebenfalls auf. Erschrocken schüttelte sie den Kopf und sank auf den gepolsterten Sessel. Mein Gott, war sie jetzt völlig übergeschnappt? Wie tief wollte sie eigentlich noch fallen?

Ihre Gedanken überschlugen sich. Himmel, sie war erwachsen. Vierunddreißig, dachte sie stöhnend. Sie hatte Verantwortung, ein Guesthouse zu führen, und nicht die Zeit, sich mit Selbstvorwürfen zu quälen. Ach, wäre sie doch in Melbourne geblieben und nicht nach Tasmanien zurückgekehrt. Sie seufzte. Insgeheim kannte sie den Grund, der sie zurück auf die Insel getrieben hatte. Das verletzte Kind in ihr, das sich selbst und ihrer kaltherzigen Mutter Elisabeth etwas beweisen wollte.

Sie öffnete die oberste Schreibtischschublade, holte ein gerahmtes Foto hervor und betrachtete es. Es zeigte sie und ihre Schwestern. Mabel, die zweitjüngste, hielt Bridget, das Nesthäkchen der Familie, an ihren Schultern fest, damit sie nicht herumzappelte. Daneben Tony … So gewöhnlich und dennoch Mutters Liebling. Sie schluckte den Groll, den sie Tony gegenüber empfand, hinunter. »Hör auf, so dümmlich zu grinsen«, sagte sie zu ihrem jüngeren Ich. Das macht dich keineswegs beliebter.

Sie knallte das Foto auf den Tisch, langte erneut in die Schublade und griff nach ihrem Schminkspiegel. Sie sah so verbissen aus, dachte sie mit Blick auf die Fältchen um ihren Mund. Sie verzog ihre Lippen zu einem Lächeln, klimperte mit den Wimpern. »Erbärmlich, einfach nur erbärmlich.« Sie zupfte ihr braunes Haar zurecht und klappte den Spiegel zu. Kein Wunder, dass sie dich nicht geliebt hat. Sie blinzelte und wischte sich über die Augen. »Nicht«, murmelte sie. »Nicht weinen.« Ihre Lippen zuckten, ehe sie sie zusammenkniff. »Du bist doch keine Heulsuse.«

Schließlich erhob sie sich und trat ans Fenster. Sie öffnete die Glasschiebetür und betrat die Veranda. Die Hände am Geländer spähte sie gedankenverloren in die Abgeschiedenheit Tasmaniens. Es dämmerte bereits. Bäume und Büsche wiegten sich sanft im Wind. Tiere schlüpften aus ihren Verstecken und trauten sich näher heran. Eve grübelte.

Ist es nicht das, wovon du immer geträumt hast? Ein Guesthouse in einer atemberaubenden Umgebung zu führen, Gäste zu beherbergen? Sie seufzte. Im Moment war sie sich nicht mehr so sicher.

Sie dachte an Elisabeth. »Mutter«, knurrte sie verächtlich und blickte zum Himmel. »Das hast du mit Absicht getan, nicht wahr?« Sie senkte den Blick. Sie konnte wohl kaum eine Antwort erwarten. Heute Nachmittag hatten sie ihre Mutter beigesetzt. Eve war mehr wütend als traurig. Sie hatte sich insgeheim gewünscht, ihre Mutter würde eines Tages hier aufkreuzen und sie mit Anerkennung überschütten. Stattdessen hatte sie sich mit einer Überdosis Tabletten umgebracht.

Jemand betrat ihr Büro.

»Ich hätte mich nicht einmischen sollen«, sagte Paul mit ruhiger Stimme, als er auf die Veranda trat. Obwohl er fürchtete, dass er bloß seine Zeit verschwendete, hoffte er doch, dass er sich mit Eve versöhnen konnte. Er wollte nicht, dass sie sich noch weiter von ihm distanzierte. Allmählich ging auch ihm die Puste aus. Als hätte sie mit dem Umzug nach Tasmanien für sich entschieden, ihn aus ihrem gemeinsamen Leben zu verbannen. Wenn er nicht aufpasste, würde es bestimmt nicht bloß bei dieser Befürchtung bleiben.

»Hast du aber«, zischte sie erbost. Die Bitterkeit, die in ihrer Stimme lag, ließ sie ebenfalls schlucken. Dass er darauf nicht reagierte, machte es nur noch schlimmer. Sie wollte, dass er etwas sagte. Etwas, das sie … das sie wütend machte. Sie wollte wütend sein und sich nicht vom schlechten Gewissen übermannen lassen. Sein Schweigen war unerträglich. Sie bekam kaum noch Luft. »Bitte geh«, presste sie hervor.

Paul schnaufte. »Manchmal denke ich, du legst es richtiggehend darauf an, dass unsere Ehe nicht funktioniert.« Sie starrte ihn ausdruckslos an. Paul war gekränkt und verärgert zugleich. Antworte gefälligst, wenn ich mit dir rede, lag es ihm auf der Zunge. Er verkniff es sich und räumte das Feld – so wie er es in letzter Zeit oft getan hatte. Er musste sich umziehen, die Gäste warteten.

Kaum hatte Paul die Tür zugeschlagen, brach Eve in Tränen aus. Schluchzend drehte sie sich um und hielt sich die Hand vors Gesicht. Sie schämte sich für ihren Gefühlsausbruch.

Wie konnte er bloß …? Wie konnte er bloß so etwas sagen? Keineswegs war sie glücklich darüber, in welche Richtung sich ihre Ehe, ihr gesamtes Leben entwickelte. Als wäre sie allein dafür verantwortlich! Würde er doch einmal um sie kämpfen und nicht immer gleich davonlaufen, dann … Sie wusste es selbst nicht so genau.

Wieso konnte er sie nicht einfach nur in den Arm nehmen? Sie trösten, ihr sagen, dass alles gut wird. Sie stöhnte. Das klang allzu sehr nach einem Märchen.

Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und wischte die Hand an ihrer Kleidung ab. Ihre Gedanken überschlugen sich. Gerade stellte sie alles infrage: die überstürzte Hochzeit mit Paul, die Rückkehr nach Tasmanien, den Bau der Unterkunft …

Gleichzeitig erinnerte sie sich an bessere Zeiten; an die Zeit in Melbourne, als die Welt noch in Ordnung war. Ihr wurde wieder bewusst, dass sie die Verwirklichung ihrer Träume im Grunde genommen Paul zu verdanken hatte – zumindest, was die finanziellen Aspekte anbelangte. Genauer gesagt seinem Vater. Der hatte sich dazu bereit erklärt, Paul einen Erbvorschuss zu geben, damit sie ihre Pläne verwirklichen konnten.

Als sie damals nach Melbourne übersiedelte, um in einem renommierten Hotel an der Rezeption zu arbeiten, das zufällig Pauls Vater gehörte, hatte sie nicht damit gerechnet, dass sie sich in den Sohn des Hoteliers verlieben würde. Das schlechte Gewissen plagte sie. Er hatte es nicht verdient, von ihr so schlecht behandelt zu werden, auch wenn sie sich ihrer Gefühle ihm gegenüber im Moment nicht mehr sicher war.

Da es inzwischen kühl geworden war und es ihr Pflichtgefühl gegenüber den Gästen verlangte, schob sie ihr Gefühlswirrwarr beiseite und ging hinein. Mit Entsetzen stellte sie fest, dass sie das Familienfoto auf dem Schreibtisch hatte liegen lassen. Beschämt legte sie es in die Schublade zurück. Niemand durfte wissen, dass sie mit ihrer Vergangenheit haderte. Sie schob die Schublade zu und beseitigte das Chaos auf dem Boden.

Im Schlafzimmer wechselte sie rasch ihre Kleidung. Sie zog ihre geliebten Jeans an, nahm eine dunkelblaue Bluse vom Kleiderbügel und schlüpfte in ihre braunen Stiefel.

Die Hand am Türknauf spähte Eve zum Bett. Insgeheim wusste sie, dass sie mit Paul reden, sich mit ihm versöhnen musste, bevor sie zu Bett gingen. Bestimmt würde sie sonst kein Auge zumachen, die ganze Nacht grübelnd neben ihm liegen.

Sie stieß einen Seufzer aus. Sie würde lieber hierbleiben, statt das Gespräch mit Paul zu suchen und sich um ihre Gäste zu kümmern. »Das wird schon«, ermutigte sie sich. Sie holte noch einmal tief Luft, öffnete die Tür und folgte dem Stimmenwirrwarr.

Eve traute ihren Augen kaum, als sie die Lounge erreichte und Mabel und Bridget erblickte. Sie unterhielten sich mit Paul und nippten an ihren Weingläsern. Wieso sind sie hier? Ihr Blutdruck schnellte nach oben und ihr Magen verkrampfte sich. Tief durchatmen, nicht aufregen! Leichter gesagt als getan.

Um ihnen auszuweichen, stieß sie zur Bar vor. Sie griff nach der Weinflasche, schnappte sich ein paar Gläser und füllte sie mit Wein. Gekonnt balancierte sie das Serviertablett zu der Gruppe, die gerade erst dazugestoßen war. »Auch ein Glas?« Mit leerem Tablett kehrte sie zur Theke zurück und gönnte sich selbst einen Schluck, den sie achtlos hinunterkippte.

»Spaßbremse! Aber das bist du ja schon immer gewesen«, schossen ihr Mabels Worte durch den Kopf. »Spaßbremse«, hatte Bridget sie belustigt nachgeäfft. Und statt ihre Würde zu verteidigen, hatte Paul noch eins draufgesetzt. »Vielleicht würde es dir ja guttun, etwas Zeit mit deinen Schwestern zu verbringen.«

Und sie hatte geglaubt, dass sich mit den Jahren, in denen sie kaum Kontakt hatten, alles verändern würde. Heute Nachmittag jedoch war ihr schmerzlich bewusst geworden, dass dem nicht so war.

Als hätte sie es gespürt, dass sie von der Truppe beobachtet wurde, drehte sich Eve um. Na wunderbar, jetzt war sie auch noch die Attraktion des Abends. Sie stellte ihr Glas ab und ging auf sie zu. Ihr Blick wanderte von Mabel zu Bridget, dann zu Paul. »Was ist das hier, eine Art Verschwörung?«

Paul hob beschwichtigend die Hände. »Damit habe ich nichts zu tun. Sie sind plötzlich hier aufgetaucht.«

Mabel, die ein elegantes, schwarzes Kleid trug, ihr rotes Haar zu einem Dutt gebunden hatte, verdrehte die Augen und Bridget wickelte eine Haarsträhne um ihren Finger.

Hörst du wohl damit auf, dachte Eve in Bezug auf Bridget. Himmel, jetzt kämmte sie auch noch ihre blond wallende Mähne zur Seite. Und erst diese knappen Jeansshorts … Mit einem Hauch von Neid musterte Eve Bridgets unverschämt langen Beine, ihre schmale Taille, ihre makellose Haut.

In Gedanken schor sie Bridget den Schädel. Als sie sich Mabel zuwandte, verebbte ihr Lächeln. »Wieso seid ihr hier und nicht im Rosefield-Haus? Und wo ist Tony?«

»Sie wollte nicht mitkommen«, rückte Bridget mit der Sprache heraus.

Ach, dachte Eve und glaubte, vor Zorn gleich explodieren zu müssen. »Wieso seid ihr denn nicht bei ihr geblieben? Ihr wolltet doch unbedingt …«

»Mal ehrlich, in dieses Haus bringen mich keine zehn Pferde mehr. Dort ist es ganz schön gruselig«, meinte Bridget, während sie ihre Haarspitzen nach Spliss durchsuchte.

Das war zu viel des Guten. »Und ihr habt mich als Spaßbremse bezeichnet?« Ihre Stimme klang schrill.

»Eve, die Gäste«, ermahnte sie Paul.

»Schon gut, ich hatte sowieso vor, zu gehen. Ohne Spaßbremse ist es bestimmt lustiger.«

Mabel schaute ihr nach. »Dass sie aus allem immer gleich ein Drama machen muss«, sagte sie mehr zu sich selbst.

Obwohl Paul die Anspielung nicht entgangen war, hielt er den Mund. Schließlich wollte er Eve nicht noch einmal in den Rücken fallen.

»Sie ist noch immer genauso verbohrt wie damals«, stellte Mabel fest.

Paul hielt sich weiter zurück.

Und Bridget? Bridget blickte etwas hilflos drein.

Wenn sie gewusst hätte, dass es erneut zum Streit kommen würde, wäre sie erst gar nicht hierher, sondern gleich nach Hause gefahren, dachte Mabel. Schließlich gab sie sich einen Ruck. »Ich werde mal nach ihr sehen.«

»Das ist wohl keine so gute Idee«, brummte Paul in sich hinein, während er Mabel hinterherschaute. Er spähte auf seine Armbanduhr. Allmählich war es an der Zeit, die Gäste zu Tisch zu bitten. Was, wie er feststellte, keine Überredungskünste erforderte. Inzwischen waren die Gäste hungrig genug.

»Eve, warte.«

Überrascht, dass Mabel ihr folgte, hielt Eve inne. Sie drehte sich um.

»Das heute war doch nicht ernst gemeint«, sagte Mabel mit vergnügtem Lächeln.

Eve verschränkte die Arme. »Ach.« Ihre Augen verengten sich. »Du warst schon immer gut darin, wenn es darum ging, andere an den Pranger zu stellen, Mabel. Offenbar hast du nichts dazugelernt.«

Mabel?, schnappte Ruby auf und verharrte im Türrahmen ihres Zimmers. Mabel Rosefield? Sie riskierte einen Blick. Tatsächlich. Rubys Kiefer verkrampfte sich. Ihr Puls schlug schneller.

Mabels Lächeln verebbte. »Und offenbar war es reine Zeitverschwendung zu glauben, dass sich nach dem Tod unserer Mutter zwischen uns etwas ändern würde.«

Wieder diese Taktik, dachte Eve. »Jetzt bin ich wieder die Böse.«

»Wenn du meinst.«

Einen Moment lang schauten sie sich schweigend an.

»Auf Wiedersehen, Eve.«

»Oh, das sieht dir mal wieder ähnlich«, rief ihr Eve hinterher, was sie jedoch keineswegs befriedigte.

»Gemeine Ziege«, meinte Ruby in aufmunterndem Tonfall, als sie sich zu Eve gesellte.

Eve fuhr zusammen. »Meine Güte, Ruby, ich habe dich gar nicht kommen sehen.« Sie schauten den Flur entlang. Mabel verschwand um die Ecke. »Biest trifft es wohl eher.«

Selbst das war noch untertrieben, dachte Ruby erbost. In Anbetracht dessen, was Mabel ihr angetan hatte. Aber das würde sie Eve nicht auf die Nase binden. Ruby hakte sich bei der überrumpelten Eve unter. Das hatte sie noch nie getan. »Und jetzt machen wir uns besser nützlich. Die Gäste warten.«

Sie betraten den Essbereich. Die Gäste saßen bereits an ihren Tischen und unterhielten sich gut gelaunt. Zu ihrer Entrüstung saßen auch Mabel und Bridget an einem der Tische. »Das ist ja wohl nicht ihr Ernst«, zischte Eve.

Auch Ruby war fassungslos aufgrund der Dreistigkeit, die Mabel an den Tag legte. »Reg dich nicht auf.«

»Nicht aufregen?« Eve schüttelte den Kopf. »Am Ende kommt sie noch auf die glorreiche Idee, die Nacht über hierzubleiben. Das kann sie sich jedoch gleich aus dem Kopf schlagen. Alle Zimmer sind belegt.«

»Und die ausziehbare Couch in eurem Schlafzimmer?«, spaßte Ruby.

Die Anspielung brüskierte Eve. »Auf welcher Seite stehst du eigentlich?«

Auf meiner. Ich steh auf meiner Seite. Ruby lächelte gezwungen. Eve war etwas irritiert. Dachte Ruby etwa, dass sie sich albern verhielt? Nein, sie verhielt sich ganz und gar nicht albern. Ihre Schwestern hatten ihre Gastfreundschaft überhaupt nicht verdient. Eve stöhnte und ging in die Küche. Ruby folgte ihr. Eve drehte sich um: »Ich könnte die Couch auch in dein Zimmer stellen.«

Rubys Lippen zuckten. Wenn du wüsstest …

Nathan, der junge, attraktive Chefkoch, zog unbewusst die Aufmerksamkeit auf sich, als er den Stabmixer einschaltete. Er war so sehr damit beschäftigt, auf die richtige Konsistenz seiner Spargelsuppe zu achten, dass er die beiden Frauen, die ihn schmachtend beobachteten, gar nicht bemerkte.

»Deine Schwestern können mein Zimmer haben. Ich bin sicher, dass sich da was machen lässt«, meinte Ruby. Die Vorstellung gefiel ihr. Sie lächelte verschmitzt.

Eve fiel die Kinnlade runter. Sie hatte sich wohl verhört. Ruby wollte doch nicht etwa mit ihrem Küchenchef anbändeln. Sie musterte Ruby von der Seite. Spontan packte sie Ruby am Arm und zerrte sie in die hinterste Ecke der Küche. »Das ist wohl kaum dein Ernst?«

Eves Reaktion kränkte und ärgerte Ruby zugleich. Nur weil sie ein paar Jahre älter und bereits verheiratet war … Sie seufzte, die Scheidung stand ihr noch bevor. »Wieso denn nicht?«

»Ach komm, du und Nathan?«, erwiderte Eve belustigt.

In Rubys Innerem begann es zu brodeln. Das konnte sie nicht einfach so hinnehmen. Die Wunde, die ihr untreuer Mann ihr zugefügt hatte, war noch nicht verheilt. »Nathan sieht das ein wenig anders«, sprang es ihr über die Lippen.

»Was? Seit wann?«

Mist, in was hatte sie sich da bloß hineingeritten? Da sie verhindern wollte, dass Nathan etwas von ihrer Unterhaltung mitbekam, packte sie Eve am Arm und zerrte sie aus der Küche in ihr Büro, was Eve nur ungern mitmachte. Dieser Raum war ihr persönlicher Rückzugsort, ihre Quelle der Ruhe.

Ruby fuhr mit der Hand über die Tischkante, als sie zum Fenster ging. »Er war perfekt. Ein richtiger Gentleman.« Sie drehte sich um und log Eve mitten ins Gesicht. »Ich konnte doch nicht zulassen, dass mein Selbstwertgefühl weiter verkümmert.«

Dass Ruby nie etwas davon erwähnt hatte, kränkte Eve. Und die Tatsache, dass Ruby ihren Spaß hatte, während sie und Paul sich nur noch stritten, deprimierte sie. »Dann hast du das alte Kapitel abgeschlossen?«

»Schätze, ja.« Was jedoch nicht stimmte. Sie haderte noch immer damit, dass ihr Mann sie betrogen hatte.

Eve verspürte leichte Panik. Insgeheim graute ihr vor dem Tag, an dem Ruby beschließen sollte, ihre Sachen zu packen und nach Launceston zurückzufahren, um ihre Privatangelegenheiten zu klären.

Sie erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem Ruby unangekündigt hereingeplatzt war und um ein Zimmer gebeten hatte. Seitdem war ein Jahr vergangen. Ruby zählte nun zum Inventar. Eve stöhnte innerlich. Sie wollte nicht, dass Ruby abreiste. Inzwischen war sie ihr eine Freundin geworden. Sie musste unbedingt dafür sorgen, dass Nathan ihr am Ende nicht auch noch das Herz brach. »Vielleicht sollte ich Nathan bei Gelegenheit beiläufig auf die Sache ansprechen.«

»Wozu denn?«, schoss es aus Ruby heraus.

»Um ihn wissen zu lassen, dass ich hier keine Spielchen dulde.« Ruby war ganz und gar nicht begeistert. Eve merkte es. »Er ist jung und … Am Ende wird er dich nur verletzen.«

Ruby holte tief Luft. »Lass es gut sein, Eve. Ich kann gut auf mich selbst aufpassen.«

Eve seufzte. Die rosarote Brille verschleierte ihr offenbar den Blick auf die Realität. »Das weiß ich doch, aber …«

Die gute Eve ließ einfach nicht locker. Sie musste wohl deutlicher werden. Sie wollte nicht auffliegen und schon gar nicht, dass Nathan sich am Ende noch darüber amüsierte. »Ich will nicht, dass du Nathan darauf ansprichst. Wenn du das tust, wirst du es bereuen.«

Im Raum wurde es still. So still, dass Eve ihren Herzschlag hörte.

»Entschuldige, ich …« Ruby verließ überstürzt das Büro.

Kapitel 2

Sie wälzte sich im Bett hin und her. »Aufhören. Bitte.« Der markerschütternde Klang einer Mundharmonika wurde noch lauter. Tony schlug die Augen auf. Sie atmete hektisch, als wäre sie um ihr Leben gerannt. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie glaubte, es würde jeden Moment aus dem Brustkorb springen. Obwohl es stockdunkel war, schaute sie sich ängstlich um. Hatte sie bloß geträumt?

Sie drehte sich auf die Seite und schaltete das Licht ein. Die Glühbirne flackerte. Tony setzte sich im Bett auf, umfasste ihre Beine und zog sie an ihren Körper. »Nur ein Traum«, flüsterte sie, während sie vor und zurück wippte. »Nur ein Traum.« Sie hielt inne. War es wirklich nur ein Traum gewesen? Unbewusst begann sie wieder zu wippen. Sie hätte nicht herkommen sollen. Was hatte ihr dieses Haus denn schon zu bieten? Vom Rest der Welt abgeschottet, dem Schicksal überlassen, moderte es vor sich hin. Schon damals hatte sich niemand darum gekümmert.

Sie dachte an die Beerdigung, an der lediglich ihre Schwestern, Eves Mann und der Pfarrer teilgenommen hatten. Und sie dachte an ihre verstorbene Mutter und fragte sich, wie sie inzwischen wohl ausgesehen haben mochte. Seit Jahren hatte sie Elisabeth nicht mehr gesehen. Tony erinnerte sich vage an ihr braunes, kräftiges Haar, ihren üppigen Busen, den aufrechten Gang.

Kaum hatte Tony die Möglichkeit gesehen, dass sie es schon irgendwie schaffen würde, war sie von Zuhause fortgegangen. Ihre Schwestern hatten wenigstens einander gehabt. Immerhin durften sie sich ein Zimmer teilen, während sie, auf der anderen Seite des Flurs, regelrecht verkümmerte.

»Du bekommst dein eigenes Zimmer, direkt neben meinem. Damit du immer schön in meiner Nähe bist.« Am Anfang war sie auch sehr stolz darauf gewesen. Bis sie erkannt hatte, dass die Größe ihres Zimmers der einzige Vorteil war.

Tony seufzte. Diese besondere Behandlung hatte sie nicht gewollt. Sie hatte sehr darunter gelitten. Ihre Kindheit hatte sie mehr oder weniger in ihrem Zimmer abgesessen, während ihre Schwestern draußen spielen durften. »Du bist etwas Besonderes. Anders als deine Schwestern.« Tony hörte auf zu wippen. »Warum? Erklär es mir endlich«, flüsterte sie in die Stille, zur Tür blickend, als fände sie dort eine Antwort.

Gleich nachdem Mabel und Bridget gegangen waren, hatte sich Tony in ihrem Zimmer verschanzt, die Tür verriegelt und war zu Bett gegangen.

Sie wurde neugierig, ging zur Tür, öffnete sie und lugte um die Ecke. Im Flur war es dunkel, unheimlich dunkel. Sie drehte den Kopf und rechnete jeden Augenblick damit, dass Elisabeth gleich die Tür aufreißen und Licht aus ihrem Zimmer fallen würde. Was jedoch nicht geschah und auch nicht geschehen würde. Und doch hämmerte ihr Herz gegen ihre Brust. »Sie ist nicht hier«, flüsterte sie. »Niemand ist hier.«

Sie nahm all ihren Mut zusammen und begab sich ans andere Ende des Flurs. Sie betätigte den Lichtschalter und betrat das Zimmer ihrer Schwestern. Sie atmete auf. Zumindest fühlte sie sich hier etwas wohler als im seelenlosen Flur.

Auf der linken Seite standen Mabels und Bridgets Betten, die noch immer zu einem Doppelbett zusammengeschoben waren. Selbst jetzt, Jahre später, konnte sie ihr fröhliches Gelächter hören und die Vertrautheit der beiden spüren. Was sie tief in ihrem Herzen etwas schmerzte. Sie wandte den Blick ab.

Eves Bett stand auf der anderen Seite. Tony trat näher. Sie fühlte sich von der rotgrünkarierten, abgenutzten Matratze, die auf dem alten, dunklen Bettgestell aus Holz lag, regelrecht angezogen. Sie setzte sich an den Rand und fuhr mit ihrer Hand über die staubige Oberfläche. Beinahe glaubte sie, Eves Körperwärme zu spüren, als wäre sie nie entschwunden.

Sie legte sich hin, drehte sich auf die Seite und zog ihre Beine an, schloss ihre Augen und versank in einen unruhigen Schlaf.

Kapitel 3

Um ein Uhr morgens saß Eve noch immer an ihrem Schreibtisch und arbeitete am Computer. Gähnend lehnte sie sich zurück. Sie starrte auf den Stapel Rechnungen und schüttelte den Kopf. »Das ist doch verrückt!« Die Ware wurde erst gestern angeliefert. Sie musste die Rechnungen nicht sofort bezahlen. Jedenfalls nicht um ein Uhr morgens. Und Paul, der eigentliche Grund, weshalb sie überhaupt noch auf war, lag inzwischen längst schlafend im Bett.

Sie fuhr gerade die Programme herunter, als jemand seinen Wagen startete. Wer ist so spät noch unterwegs?, fragte sich Eve und klappte den Laptop zu. Der nächste Pub lag nicht gleich um die Ecke.

Sie erhob sich, lauschte gebannt und schob ihren Stuhl zum Tisch. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Unter den Reifen knirschte der Kies. Von der Neugier gepackt, eilte Eve zum Haupteingang. Sie riss die Tür auf, erhaschte jedoch nur einen Blick auf die Rücklichter. »Mist!« Sie ging die Verandatreppe hinunter, verschränkte die Arme. Die roten Lichter verschwanden in der Ferne. Zu gerne hätte sie gewusst, wer um diese Uhrzeit noch hier herumgeisterte. Jemand, der noch Unterschlupf suchte? War sie so sehr in ihre Arbeit vertieft gewesen, dass sie die Ankunft des Wagens gar nicht registriert hatte? Vielleicht hatte sich aber auch das frisch verheiratete Paar aus Schweden zerstritten? Die Stimmung beim Abendessen war jedenfalls angespannt gewesen.

Gähnend sah sie sich um. Die Geräusche der Umgebung, die Dunkelheit, die Außenlampe am Eingang … Plötzlich hatte sie das unerklärliche Gefühl, als stünde sie auf dem Präsentierteller. Sie drehte sich um, ging die Stufen hoch. Mit der Hand am Knauf spähte sie über ihre Schultern, als wollte sie sich vergewissern, dass auch wirklich alles in Ordnung war. »Sei nicht albern!« Sie ging hinein und schloss die Tür hinter sich ab.

Wie die Nächte zuvor schlich sich Eve ins Schlafzimmer. Zu ihrer Verwunderung brannte das Licht, und anstelle von Paul lag sein Laptop auf seiner Seite des Bettes. Paul putzte sich im angrenzenden Badezimmer die Zähne, drehte den Wasserhahn auf und spuckte den Schaum aus.

Morgen … sie würde morgen das Gespräch mit ihm suchen, dachte Eve. Als sie zur Tür hinausgehen wollte, kam Paul aus dem Bad. »Eve.«

Drei Tage waren seit der Beerdigung vergangen, seither hatten sie kaum miteinander geredet und sich nur auf geschäftlicher Ebene ausgetauscht, falls es die Situation erfordert hatte. »Ich wusste nicht …«

»Dass ich noch wach bin?«, schlussfolgerte Paul. Er schüttelte den Kopf. »So kann es nicht weitergehen, Eve. Ich habe auch Bedürfnisse.«

Eve schluckte und musterte seinen nackten Oberkörper, das Handtuch, das er um seine Hüfte trug. Die Gleichgültigkeit, die sie dabei empfand, erschreckte sie. Wie hatte es nur so weit kommen können? Wann – sie blinzelte die Tränen zurück – hatte sie aufgehört ihn zu begehren? Sie konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal miteinander geschlafen hatten. Beschämt wandte sie den Blick ab. Und weil sie nicht vor seinen Augen in Tränen ausbrechen wollte, sagte sie: »Können wir morgen reden, es ist schon spät.«

Kapitulierend warf Paul die Hände in die Luft. Es hatte keinen Sinn, noch weiter das Gespräch zu suchen. Sie hatte nicht begriffen, worum es ihm ging. Er vermisste ihre Nähe, ihr Lachen und die Gespräche, die sie immerzu geführt hatten. Ohne zu antworten, ging er an ihr vorbei, schnappte sich sein Kissen, seine Kleidung und ging hinaus.

Geh nicht, flehte ihre innere Stimme. Doch statt ihn aufzuhalten, machte sie hinter ihm die Tür zu und stürmte ins Badezimmer. Die Hände am Waschbecken, blickte sie in den Spiegel und weinte sich den Schmerz von der Seele.

Auf einmal glaubte Eve, hinter sich Elisabeth verschwommen wahrzunehmen. Lächelnd sagte sie: »Ich habe schon immer gewusst, dass du scheitern wirst.«

Unwillkürlich griff Eve nach der Seife und warf sie gegen den Spiegel. »Ich bin nicht gescheitert! Und ich werde nicht scheitern.« Sie zitterte am ganzen Körper. Insgeheim wusste Eve, dass die Worte aus ihrem Inneren gekommen waren und nicht aus Elisabeths Mund.

Noch während sich Eve ein Schaumbad einließ, fasste sie den Entschluss, für ein paar Tage nach Launceston zu fahren.

*

»Wenn du meinst, dass es dadurch besser wird«, hatte Paul gesagt und sie damit einfach stehen gelassen. Auch Ruby war alles andere als begeistert gewesen, als Eve sie darum gebeten hatte, sie während ihrer Abwesenheit zu vertreten. »Ich weiß nicht, ob ich das kann.«

Was habe ich mir bloß dabei gedacht?, fragte sich Eve, als sie bereits eine Stunde hinter dem Steuer saß. Sie konnte ihr Team doch nicht einfach im Stich lassen. Mitten in der Hauptsaison, wo sich die Arbeit nur so türmte. Und dann noch ausgerechnet Launceston. Sie schüttelte den Kopf. Mabel musste ja nicht unbedingt erfahren, dass sie sich in ihrer Nähe aufhielt.

Sie drehte das Radio auf, trommelte zum Takt der Musik aufs Lenkrad. »Herrlich, einfach nur herrlich«, schwärmte sie mit Blick auf die grüne Weidelandschaft und die friedlich grasenden Schafe.

Die Euphorie verflog, als sie Launceston erreichte. Sie hielt an der Ampel und beobachtete, wie die Autos über die Kreuzung brausten. Sie hatte die Qual der Wahl. Links abbiegen oder geradeaus fahren? Schließlich setzte sie den Blinker, entschied sich in letzter Sekunde noch um und fuhr weiter – vorbei an einer Autowaschanlage, an Supermärkten, Möbelgeschäften, Restaurants, Cafés, historischen Gebäuden.

Der Fahrer hinter ihr betätigte die Hupe. Eve fuhr zusammen. Sie blickte aufs Tachometer und drückte aufs Gas. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie gemächlich vor sich hinrollte. Sie hatte ganz vergessen, wie hektisch es bei den Städtern zugehen konnte. Dabei hatte sie vor gut einem Jahr noch in Melbourne gelebt.

Sie fuhr weiter den Hügel hinauf, schaute sich eine Weile die Gegend, die Wohnhäuser an und fuhr wieder Richtung Zentrum. Dabei stieß sie auf eine B&B-Unterkunft, die ihr auf Anhieb gefiel. Zumindest von außen wirkte sie einladend.

Sie bog ein, parkte den Wagen und warf einen Blick in den Spiegel. »Meine Güte! Wie siehst du denn aus?« Sie zupfte an ihren Haaren und kniff sich die Müdigkeit aus dem Gesicht.

Die Handtasche in der Hand, stieg sie aus und holte ihr Gepäck aus dem Kofferraum. Mit gestrafften Schultern betrat sie die Unterkunft, erledigte rasch die Formalitäten und ging auf ihr Zimmer.

»Nett.« Sie schloss hinter sich die Tür, stellte die Tasche vor dem Kleiderschrank auf den Boden und trat ans Bett. Mit den Händen testete sie den Komfort der Matratze. Du willst hier schließlich keine Wurzeln schlagen, sagte sie sich und inspizierte auch das Badezimmer. Kurzerhand faltete sie die Fußmatte neu und hängte sie ordentlich über den Rand der Badewanne. »Schon besser.« Was tust du da eigentlich?, fragte sie sich, als sie sich auch noch um die Handtücher kümmerte.

Im Schlafzimmer packte sie ihre Tasche aus, hängte die Kleider in den Schrank. »Auch das wäre erledigt«, sagte sie und stemmte die Hände in die Hüfte.

Erschöpft setzte sie sich ans Fußende, schlüpfte aus ihren Schuhen und ließ sich stöhnend aufs Bett fallen. »Das habe ich mir verdient.« Kaum hatte sie die Augen geschlossen, setzte sie sich wieder auf. Sie war einfach nicht der Typ, der mitten am Tag Ruhe finden konnte.

Eve betrachtete die drei Aquarellbilder, die über der Kommode hingen. »Komm erst gar nicht auf die Idee!« Schon sprang sie vom Bett, trat zu den Bildern und änderte deren Reihenfolge. »Na bitte.« Schließlich hängte sie die Aquarelle wieder an ihren Platz zurück. Sie musste hier raus, ansonsten würde sie auch noch die Möbel verrücken. Nicht ausreichend beschäftigt zu sein brachte sie nur auf dumme Ideen.

Wenig später saß sie in einem netten Restaurant, an einem romantisch gedeckten Tisch für zwei, bestellte einen Caesar Salad mit Speck und dazu ein Glas Wein. Sie stocherte mit der Gabel im Essen herum. Am Fenster saß ein Paar. Hatte Paul bereits zu Abend gegessen? Vermisste er sie? Sie holte ihr Handy hervor. Nichts. Kein Anruf, keine Nachricht. Sie verstaute es wieder in ihrer Handtasche, trank ihr Glas leer und verlangte die Rechnung.

Sie ging gleich zu Bett. Dort wälzte sie sich missmutig hin und her. »Bestimmt schläft er wie ein Murmeltier.«

Eve befreite sich von der Bettdecke. »Hier drinnen ist es stickig.« Sie stand auf, öffnete das Fenster. Vielleicht sollte sie draußen kurz ihre Füße vertreten. Bestimmt würde sie dann besser schlafen können. Sie zog sich an und ging hinaus auf den Parkplatz.

Ich könnte in einem Pub etwas trinken gehen, dachte Eve. Sie hielt inne. Schließlich ging sie auf ihr Zimmer zurück, schloss das Fenster, griff nach ihrer Handtasche und setzte sich kurz vor Mitternacht in ihren Wagen.

Sie tuckerte eine Weile durch die Gegend, an diversen Pubs vorbei. Was sollte sie dort, so allein? Sie hätte erst gar nicht losfahren sollen. Was für eine bescheuerte Idee. Seufzend dachte sie an Paul. Warum hatte er nicht angerufen und sich nach ihr erkundigt? Sie hätte ein Unfall bauen und irgendwo verletzt in einem Graben liegen können, was ihn jedoch nicht im Geringsten zu kümmern schien.

Wütend hielt Eve am Straßenrand, kramte ihr Handy hervor, überflog die Kontakte. Sie wollte Paul anrufen und ihn zur Rede stellen. Mabels Telefonnummer erschien. »Mabel«, knurrte sie. Eve blickte auf, spähte durch die Frontscheibe. Wohnte sie in der Nähe? Fünf Minuten später hatte sie ihre Adresse im Internet ausfindig gemacht und sie aus reiner Neugier ins Navigationsgerät eingegeben.

»Jetzt bin ich wohl komplett übergeschnappt«, murmelte Eve, als sie einen Steinwurf von Mabels Haus entfernt den Motor und das Licht ausschaltete. Abgesehen von der dürftigen Beleuchtung entlang der Straße war es stockdunkel. Vereinzelt brannte Licht in den hübschen, teils im viktorianischen Stil erbauten Häusern, mit ihren Vorgärten. In Mabels Haus jedoch war es dunkel. Bestimmt lag sie bereits im Bett.

Was wollte Eve eigentlich hier? Um diese Uhrzeit konnte sie wohl kaum an der Tür klingeln. Wozu auch? Sie hatten einander sowieso nicht viel zu sagen. Sie beugte sich wieder vor. Wie konnte sich Mabel überhaupt ein solch großes Haus leisten? Lebte sie etwa mit jemandem zusammen?

Eve trommelte aufs Lenkrad. Es ging sie nichts an und es spielte auch keine Rolle. Bis jetzt hatten sie sich nicht für das Leben des anderen interessiert und doch …

Neugierig stieg Eve aus dem Wagen. Sie pirschte sich an Mabels Haus heran. Es berauschte sie ein wenig. In einem Busch leuchtete ein Augenpaar. Sie erschrak. Instinktiv setzte sie einen Fuß hinter den anderen und stieß plötzlich auf Widerstand. Ihr Körper versteifte sich, ihr Atem stockte.

Zögernd drehte sie sich um und atmete erleichtert auf. Sie war gegen einen bepflanzten Blumentopf gestoßen. Miau.Eve fuhr herum. Neben ihr tauchte das Augenpaar wieder auf und blickte zu ihr hoch. »Eine Katze«, stellte sie fest. Mit einem Lächeln kniete Eve zu ihr nieder und kraulte ihr Fell. »Bist du hier zu Hause?« Die Katze umschmeichelte Eves Beine, dann trottete sie davon, die Kellertreppe hinunter, und miaute.

Das Betteln dröhnte in ihren Ohren. »Schon gut.« Eve stand auf und tastete sich die Stufen hinunter. »Die ist bestimmt abgeschlossen«, sagte sie mehr zu sich selbst und war überrascht, als sich die Tür knarrend öffnen ließ. Der Vierbeiner quetschte sich durch den Spalt. Eve zögerte kurz, dann schob sie die Tür weiter auf, tastete nach dem Lichtschalter und schaltete das Licht ein. Zögernd spähte sie um die Ecke und entdeckte dabei ein leeres Regal, einen Schrank und ein altes Fahrrad.

Miau. Eve schaute zu der Katze, sie wartete am Fußende der Treppe. »Hat Frauchen dich ausgesperrt?« Eve seufzte. »Tut mir leid, mehr kann ich nicht für dich tun.« Ich bin doch keine Einbrecherin. Hier hatte es lediglich ein Fahrrad und kein Werkzeug. Nichts, das auf einen Mann an Mabels Seite schließen könnte. Kein Wunder, wer will schon mit einem Biest zusammen sein?

Nicht einmal ihre Katze scheint sie gut zu behandeln. »Na komm, Süße, ich werde dich ins Haus lassen.« Das Mindeste, was ich für dich tun kann, dachte Eve, und schlich nach oben. Vergebens. Die Tür war abgeschlossen. Im Grunde war Eve erleichtert. Am Ende hätte sie sich noch ins Haus geschlichen. Grundgütiger, das hatte sie bereits. Du hast hier nichts zu suchen. Mach, dass du schleunigst von hier verschwindest, meldete sich die Vernunft.

Auf einmal hörte sie Schritte im Haus. Oh nein. Überstürzt lief sie die Treppe hinunter und stolperte auf der letzten Stufe. »Verflucht«, jammerte Eve, da ihr rechter Fuß höllisch schmerzte.

Die Tür ging auf, Mabel erschien im Türrahmen. »Eve. Was … Was machst du denn hier?«

Die Katze quetschte sich an Mabel vorbei. »Nicht, Percy.« Sie schnalzte mit der Zunge.

»Nicht einmal deine Katze behandelst du gut«, sagte Eve, während sie ihren Fuß behutsam abtastete.

Empört stemmte Mabel die Hände in die Hüfte. »Das ist nicht meine Katze.«

»Nicht? Sie wollte aber unbedingt ins Haus.«

»Er. Percy ist ein er. Ich schlage vor, du kommst erst einmal ins Haus. Ich hoffe doch, du hast eine gute Erklärung, weshalb du mitten in der Nacht in mein Haus einbrichst.«

»Ich bin doch nicht in dein Haus …«

»Die Tür war nicht abgeschlossen.«

Mabel wandte sich ab.

Eve rappelte sich hoch und ging humpelnd in die Küche, wo Mabel den Kater fütterte. »Von wegen, nicht deine Katze.«

Mabel schnalzte wieder mit der Zunge. »Percy ist die Nachbarskatze. Die Mutter hat sich bereits beschwert, weil Percy sich öfters bei mir als bei ihren streitsüchtigen Kindern herumtreibt. Ist das zu glauben?« Sie schaltete den Wasserkocher ein und nahm zwei Tassen aus dem Schrank. »Setz dich doch.«

Eve setzte sich an den Küchentisch. Sie beobachtete Mabel, wie sie in die beiden Tassen je einen Teebeutel stopfte. »Es tut mir leid, ich wollte dich mit meiner Aktion nicht erschrecken.«

»Hast du auch nicht, ich dachte, es wäre …«

Eve runzelte die Stirn. »Du dachtest?«

»Nichts, vergiss es.« Mabel goss Wasser ein und stellte Eve eine Tasse Tee vor die Nase.

»Danke, aber ich hätte lieber einen starken Kaffee gehabt.«

Mabel klappte den Mund auf. »Du brichst mitten in der Nacht in mein Haus ein, und jetzt bist du auch noch wählerisch?«

»Entschuldige«, erwiderte Eve gereizt und zog vorsichtig ihren Stiefel aus, während Mabel sich der Kaffeemaschine zuwandte.

»Bitte sehr.« Sie reichte Eve die Brühe und schielte zu ihrem Fuß. »Du hast dir wohl den Knöchel verstaucht. Geschieht dir irgendwie auch recht.«

Eve verdrehte die Augen. Die Sache war ihr auch so schon peinlich genug. »Jetzt habt ihr wieder etwas, womit ihr mich aufziehen könnt.«

Mabel überging die Anspielung. »Du solltest morgen zum Arzt fahren und deinen Fuß untersuchen lassen.«

»Ich brauche deinen Rat nicht!«

»Auch gut. Wieso bist du hier, Eve?«

Eve zuckte mit den Schultern. Ja, was wollte sie eigentlich hier?

»Wir sollten uns nicht länger hassen, jetzt, wo Elisabeth nicht mehr da ist«, meinte Mabel nachdenklich.

»Ich hasse dich doch nicht.«

»Ich meinte ja nur.« Mabel seufzte. »Jetzt, wo Mutter nicht mehr da ist, könnten wir vielleicht das Kriegsbeil begraben.«

»Da gibt es nichts, was zu begraben wäre.«

»Wie du meinst.«

Für Mabel ließ sich das alles so leicht dahersagen, schließlich war sie auch nicht der Sündenbock der Familie, dachte Eve verbittert.

»Wieso bist du überhaupt in der Stadt?«, durchbrach Mabel die angespannte Stimmung.

»Ich habe mich mit Paul gestritten. In unserer Ehe läuft es momentan nicht so gut«, rutschte es aus Eve heraus.

Mabel war sichtlich überrascht. Nicht aufgrund dessen, was ihr Eve, sondern vielmehr, dass sie es ihr anvertraute. Sie hatte schon bei der Beerdigung gemerkt, dass die Stimmung zwischen den beiden angespannt war. »Das wird schon wieder«, erwiderte sie, auch wenn es sich mehr wie ein schwacher Trost anhörte. In Liebesdingen war sie nicht gerade die beste Anlaufstelle. »Soll ich dein Gepäck reinholen?«

»Nein, ich … ich habe kein Gepäck. Ich habe mich bereits in einer B&B-Unterkunft einquartiert.«

»Mach, was du willst, Eve. Ich jedenfalls gehe jetzt ins Bett. Ich muss morgen früh raus.« Mabel war gekränkt. »Das Gästezimmer ist oben, das Bettzeug im Schrank.« Mit einem verstauchten Knöchel konnte Eve schließlich schlecht Auto fahren.

Als Mabel die Bettdecke über sich zog, hörte sie Eve die Treppe hinaufkommen.

Lächelnd schlief Mabel ein.

Kapitel 4

Platsch … Tony blinzelte. Platsch … Wieder fiel ein Tropfen vom Wasserhahn ins Badewasser. Sie tauchte ab und wieder auf, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt ein Schaumbad genommen hatte. In ihrer Zweizimmerwohnung in Launceston gab es lediglich eine Dusche.

Trotzdem konnte sich Tony nicht entspannen. Sie fühlte sich hier irgendwie beobachtet.

Sie schaute zur Tür. Im Vergleich zu ihrem überschaubaren Zuhause war das Rosefield-Haus geradezu unübersichtlich groß und verwinkelt. Sie hätte die Tür schließen oder zumindest die defekte Glühbirne im Flur auswechseln sollen. Bestimmt würde sie sich dann etwas wohler fühlen.

Platsch … Sie zuckte zusammen. Dieses verfluchte Ding!

Sie streckte ihren Fuß nach der undichten Stelle aus.

Sie musste ja ausgerechnet länger bleiben als geplant.

Auch wenn sie an das Alleinsein gewöhnt war, war dieses abgelegene Haus, eingebettet in die Lichtung eines bewaldeten Gebiets, dennoch nicht das Richtige für sie.

Ein heranfahrender Wagen ließ sie aufschrecken. Abrupt setzte sich Tony in der Wanne auf, dabei schwappte Wasser gegen den Rand. Wer war das, mitten in der Nacht?

Kehr um, bitte! Sie wollte und erwartete keinen Besuch.

Der Wagen fuhr bis zum Haus. Das Motorengeräusch erstarb und jemand stieg aus. Oh Gott. Was, wenn es jemand war, den sie nicht kannte?

Beunruhigt stieg Tony aus der Wanne. Sie griff nach dem Handtuch, wickelte es hastig um ihren Körper und eilte den Flur entlang, zu einem der Zimmer. Von hier aus konnte sie jedoch nicht genug sehen. Wieder im Flur, rannte sie in der Eile an ihrem Zimmer vorbei und öffnete stattdessen die Tür nebenan. Sie zitterte vor Kälte, Wasser tropfte von ihrem schwarzen, schulterlangen Haar auf den Boden. Tony trat zu einem der Fenster und erhaschte nur einen Blick auf die Rücklichter des Wagens, da er sich bereits wieder entfernte. Etwas verwundert atmete sie auf, bis ihr bewusst wurde, dass sie sich im Schlafgemach ihrer Mutter befand. Diese Sperrzone hatte sie auf keinen Fall betreten wollen.

Unwillkürlich durchmaß ihr Blick die Dunkelheit. Wieder hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. »Ist jemand hier?«, flüsterte sie. Nichts, und doch stockte ihr der Atem.

Beim Verlassen des Zimmers nahm Tony den Schlüssel und schloss hinter sich die Tür ab.

Im Erdgeschoss schaltete sie das Licht ein und vergewisserte sich, dass Vor- und Hintertür verriegelt und alle Fenster geschlossen waren. Da hat sich jemand verfahren, mutmaßte sie, weil sie sich bei diesem Gedanken weniger fürchtete.

*

Obwohl die Sonne schien, war es recht kühl, als Tony am nächsten Morgen die Veranda hinter dem Haus betrat und ihre Kleider, die sie gewaschen hatte, an die Wäscheleine hängte. Hoffentlich braucht es zum Trocknen nicht allzu lange, dachte sie, da sie lediglich ein Unterhemd und eine Unterhose trug. Sie hatte nämlich keine Kleider zum Wechseln dabei und eigentlich auch nicht geplant, dass sie länger als eine Nacht bleiben würde. Außerdem besaß sie sowieso nicht so viele Kleider. Drei Hosen, zwei Pullover, ein paar Shirts. Sie hatte nie besonders viel Wert auf ihre Kleidung gelegt, geschweige denn auf diesen ganzen Schnickschnack wie Handtaschen, Schmuck und Kosmetika.

Sie trat zu der Säule rechts neben ihr und blickte gedankenversunken in den überwucherten Garten. Was für ein trauriger Anblick. Die Sträucher müssten mal geschnitten werden. Zumindest würde es dann nicht mehr so trostlos aussehen. Aber was wusste sie schon. Von Gartenarbeit verstand sie nicht gerade viel.

Sie ging zurück ins Haus und aß eine Waffel. Das letzte essbare Zeugs, das die Vorratskammer noch hergab. Wenn sie nicht verhungern wollte, musste sie bald in den nächstgelegenen Ort gehen und einkaufen. Aber sie war nicht besonders erpicht darauf, das Haus zu verlassen und sich unter die Leute zu mischen.

Tony war kein geselliger Mensch. Im Grunde führte sie ein anspruchsloses, unscheinbares Leben und arbeitete gerade so viel, dass es zum Leben reichte. Mittlerweile hatten sich auch die Kollegen im Supermarkt an die unzugängliche, blasse Frau mit den schwarzen Haaren gewöhnt, die gelegentlich im Lager arbeitete. Jedenfalls ließen sie sie in Ruhe.

Sie stieß einen Seufzer aus. Bestimmt musste sie sich bei ihrer Rückkehr nach Launceston nach einer anderen Arbeit umsehen. Sie hatte ihren Arbeitgeber nicht darüber informiert, dass sie in den nächsten Tagen nicht zur Arbeit kommen konnte, und seine Geduld schon so oft auf die Probe gestellt.

Tony füllte ein Glas mit Wasser, trat ans Küchenfenster und schaute wieder in den Garten.

Wieso war sie eigentlich noch hier? Sie könnte längst wieder zu Hause sein und ihr gewohntes Leben führen. Dann brauchte sie auch nicht um ihren Arbeitsplatz zu bangen. Sie müsste nur Mabel anrufen und sie darum bitten, sie abzuholen. Sie selbst besaß nämlich kein Auto. Ohne Mabels Gutmütigkeit saß sie im Grunde hier fest.

Einerseits ängstigte sie dieser Gedanke, andererseits empfand sie dabei auch eine gewisse Erleichterung. Hier draußen musste sie nicht damit rechnen, dass ihr jemand über den Weg lief: der Hauswart, der an der Tür klingelt, um sie darüber zu informieren, dass am Dienstagmorgen keine Autos vor dem Wohnblock geparkt werden dürfen, da Unterhaltsarbeiten an der Straße durchgeführt würden; eine Nachbarin, die wissen will, ob die Waschmaschine auch bei ihr klopfende Geräusche von sich gegeben hätte.

»Ich habe kein Auto, und meine Wäsche wasche ich im Spülbecken«, hörte sich Tony sagen. Sie stellte ihr Glas ab und ging durch die Hintertür auf die Veranda. Obwohl ihre Kleider noch feucht waren, nahm Tony sie von der Leine und zog sich an.

Sie war fest entschlossen, dem Unkraut den Garaus zu machen, und stapfte in den Geräteschuppen neben dem Haus. Die Tür war nicht abgeschlossen und ließ sich knarrend öffnen. »Hallo?«, flüsterte sie in die Dunkelheit. Sie tastete nach dem Lichtschalter und langte versehentlich in ein Spinnennetz. Sie wischte sich die Spinnfäden von der Hand und schaltete das Licht ein. Sie rechnete damit, auf giftige Spinnen oder gar giftige Schlangen zu stoßen. Langsam ging sie hinein und schaute sich um. Alte Autoreifen, aufeinandergestapelte Gartenstühle, Brennholz. »Eine Heckenschere«, murmelte sie und griff nach dem verrosteten Ding. Ihr Blick fiel auf die dreckige Schaufel. Die brauchte sie nicht. Sie wollte die Sträucher ja nicht ausgraben.

Sie war so sehr in die Gartenarbeit vertieft, dass sie die Ankunft eines Besuchers erst bemerkte, als sie eine Autotür zuschlagen hörte. Mabel? Sie ließ die Heckenschere fallen, lief ins Haus zum Haupteingang und spähte durch eines der Fenster. Ein roter Kleinwagen parkte auf der Zufahrt. Eine ältere Frau mit stattlichem Übergewicht stand daneben und musterte die Fassade. »Das hat mir gerade noch gefehlt«, knurrte Tony, als sich die Frau wankend auf das Haus zubewegte.

Die Mühe kannst du dir sparen, dachte Tony mit Blick auf die Treppe. Sie würde die Frau vorher abwimmeln. Sie riss die Tür auf. »Guten Tag.«

Die Frau erschrak und kam abrupt zum Stehen. »Wer … wer sind Sie?«

»T… Tony.«

Die Alte war sichtlich verwirrt.

»Elisabeths Tochter«, fügte Tony hinzu.

»Elisabeths Tochter?« Die Frau sah an ihr vorbei durch die Tür.

»Sie ist nicht hier«, presste Tony hervor.

Die Frau blickte zu den Fenstern in der oberen Etage. »Ich weiß, dass Elisabeth nicht da ist, schließlich habe ich sie gefunden«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Das war kein schöner Anblick, das sage ich Ihnen!«

Gefunden? Wer war diese Frau? Was wollte sie hier? Wieso verbreitete sie Unwahrheiten?