Solange sich die Wellen brechen - Brina Hope - E-Book

Solange sich die Wellen brechen E-Book

Brina Hope

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Beschreibung

Manche Begegnungen verändern dein Leben. Powerfrau Justine aus Melbourne hat endlich den heißersehnten Verlobungsring am Finger. Das Leben der jungen Architektin könnte nicht perfekter sein, doch dann bricht beruflich sowie privat das Chaos über sie herein. Kurzerhand schmeißt Justine alles hin und nimmt sich eine Auszeit. In Margaret River, einem kleinen Küstenort, trifft sie auf den kanadischen Surfer Chris und den unergründlichen Sportfotografen Luke. Es dauert nicht lange und Justine erfährt selbst, wie ungestüm das Meer sein kann. »Der neue Roman von Brina Hope ist eine Liebeserklärung an die australische Küste!« Markus Kleinknecht

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Für Jan

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1.

Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

2.

Teil

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

3.

Teil

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

4.

Teil

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Prolog

Südwestküste, Australien, Mai 1992

Der Motor ihres klapprigen Vans lief noch, als Skye die Beifahrertür öffnete und aus dem Fahrzeug sprang. In ihre warme Strickjacke gehüllt, die Arme fest vor ihrer Brust verschränkt und die Schultern hochgezogen, ging sie an den Rand der mit rauen Büschen bewachsenen Anhöhe.

Er drehte den Zündschlüssel um und beobachtete sie durch die Frontscheibe.

Der Wind zerrte an ihren Haaren. Die hellen Haarspitzen peitschten um ihre Schultern. Hochkonzentriert studierte sie den vom Wetterdienst angekündigten Swell, der angetrieben von einem Sturm aus Südafrika in ihre Richtung wanderte. Die Brandungswellen an den Kalksteinriffen waren gigantisch.

Die Hand an der Fahrertür, stieg er aus dem Van und zuckte zusammen, als einer der Brecher donnernd am Riff aufschlug. Da draußen war es ziemlich heftig. So heftig, dass er sich wünschte, dass dieser verfluchte Sturm nie entstanden wäre.

Seit Monaten waren sie nun entlang der Küste unterwegs.

Auf der Suche nach etwas, das es offensichtlich nur in den Wellen zu finden gab. Inzwischen hatten sie aber ein gemeinsames Kind, das nach einem stabileren Leben verlangte. Vielleicht war es aber auch nur das, was er sich einzureden versuchte, weil er im Grunde nichts anderes kannte. Ein sorgenfreies Elternhaus und Geld, das auf den Bäumen wuchs. So hatte sich damals seine Kindheit angefühlt.

Während der letzten Wochen hatten sie deswegen oft gestritten. Weil sie es nicht so sah. Weil sie das Leben aus einer anderen Perspektive betrachtete. Weil sie alles zu sehr auf die leichte Schulter nahm. Immer wenn er von seinem Uniabschluss und von sich öffnenden Türen redete, winkte sie lächelnd ab. »Studieren ist etwas für diejenigen, die nach Erfolg streben und den Hals dann doch nicht vollkriegen. Wellen gibt es immer irgendwo und sind für alle gleich zugänglich. Man muss nur etwas Geduld haben. Solange sie sich brechen, hast du eine wahre Chance, daran zu wachsen.«

Sie hatte recht. Eigentlich immer, wenn sie ihn dabei anstrahlte. Zudem hatte er es selbst erfahren, wie es in den Wellen sein konnte. Berauschend und niederschmetternd zugleich. Eine Intensität, die er zuvor noch nie empfunden hatte. Unwissend, dass das alles überhaupt existierte.

Trotz allem erkannte sie die Zusammenhänge nicht, die eine Suchende und eine erfolgsorientierte Persönlichkeit verband.

Am Ende nährten vorhandene Möglichkeiten doch immer den Drang, mehr zu wollen.

Als hätte sie seine Gedanken gespürt, warf sie einen Blick über ihre Schulter. »Schläft sie noch?«

»Wie ein Murmeltier.«

Zufrieden wandte sie sich wieder dem Meer zu. Er sah, wie sie ihre Augen schloss und alles um sich herum ausblendete. Wie sich ihr Brustkorb hob, während sie in Gedanken da rauspaddelte: Hinter die Berge aus Wasser, die sich wie ein Dreieck zu beiden Seiten brachen. Wie sie auf ihrem Brett, hinter der Brechungszone wartend, auf und ab schaukelte. Entschlossen riss sie ihre Gun herum und paddelte los. Hochkonzentriert schoss sie die steile Wasserwand hinunter, während sie eine weiße Narbe in die dunkle Flut schnitt.

Er würde sie nicht aufhalten. Er konnte sie nicht aufhalten. Er verstand, wieso sie rauspaddeln, diese gigantische Energie erleben musste. »Es sind unsere eigenen Ängste, die uns limitieren«, sagte sie immer, um seine Einwände zu zerschlagen. Und manchmal, wenn sie gemeinsam hinter der Brechungszone saßen: »Du musst heute keine nehmen.« Oft hatte er seine Komfortzone dann doch verlassen. Seinetwegen. Ihretwegen. An ihrer Seite lebte er auf.

Bis jetzt hatte ihn noch nichts aufgehalten.

Doch heute waren die Bedingungen zu heftig. Die Detonationen am Riff lähmten ihn und hielten ihn zurück. Dieser Swell war schonungslos, heimtückisch. Die heutigen Bedingungen erlaubten keine Fehler.

Im Hintergrund weinte ihre Kleine. Rasch öffnete er die Seitentür, kletterte in den Van und nahm das Baby aus seinem improvisierten Bettchen. Er hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. Dann einen zweiten. »Der ist von Mummy.«

Weil sich die Kleine nicht beruhigen wollte, stöhnte er innerlich auf. Sie waren beide noch zu jung, um eine solche Verantwortung zu tragen. Ihr momentaner Lebenswandel war zu unsicher, zu unstet, um ein Kind behütet großzuziehen.

Gelegentlich verdienten sie etwas Geld, doch das reichte meistens hinten und vorne nicht. Das Konto, das sein Vater in weiser Voraussicht für seine Söhne angelegt hatte, in der Annahme, sie würden es später sinnvoll investieren, war beinah leer.

Im Grunde wussten sie, dass sich etwas ändern musste. Auch wenn er sich nicht wirklich dazu bereit fühlte, war es unausweichlich, an die Ostküste zurückzukehren und sich seiner Verantwortung im Familienunternehmen zu stellen. Doch es würde nicht einfach werden, jemanden, der ein von Freiheit bestimmtes Leben anstrebte, davon zu überzeugen, dass es richtig war.

Skye öffnete die Hecktür und nahm ihren noch feuchten Wetsuit aus dem Wäschekorb. Ihre Aufmerksamkeit auf den Point gerichtet, schlüpfte sie hinein. Heute war sie ungewohnt still, sodass ihn ihr Vorhaben beunruhigte. Trotzdem unterstützte er sie dabei. Aus dem einfachen Grund, weil er es immer tat. Sie wusste, worauf sie sich einließ. Im Gegensatz zu ihm wusste sie es immer.

Er legte ihr schlafendes Baby wieder in sein Bettchen zurück und half ihr dabei, das lange, spitz zulaufende Brett vom Dach des Vans zu holen.

Sie vermied es, ihm in die Augen zu schauen. Denn sie würde ihm ansehen, dass er insgeheim darauf hoffte, sie würde es heute dabei belassen.

Aber sie konnte es nicht. Nicht heute, nicht jetzt, wo dieser mächtige Swell da draußen war.

Neben ihrem Van hielten zwei weitere Fahrzeuge. Zwei ihm bestens bekannte Gesichter saßen darin. Beide äußerst erfahrene Surfer und doppelt so alt wie er.

Er grüßte Noah mit einem Nicken, dieser grüßte zurück. Bereits im Wetsuit stieg der große Mann aus seiner Klapperkiste.

»Draußen ist es ziemlich heftig.« Als Noah ihm mit seinem Blick beipflichtete, bekam er es deutlich mit der Angst zu tun. Als spürte sie seine Sorge um Skye, machte sich ihre Kleine wieder wimmernd bemerkbar.

Er nahm sie in seine Arme.

Während er mit der Kleinen an der Brust am Rand der Anhöhe auf- und abging, um sie zu beruhigen, war Skye bereits im Wasser und bahnte sich einen Weg durch die Wellen in Ufernähe, um hinter die Brechungszone zu gelangen.

Noah stellte sich neben ihn.

»Wird sie es durchziehen?«

»Das hoffe ich nicht«, antwortete Noah, während er seine Aufmerksamkeit auf den Ozean und die junge Frau richtete, die er einst fürs Surfen hatte begeistern können. Der er alles gelehrt hatte, was er über das Meer und das Surfen wusste.

Seine Anspannung übertrug sich auf den Engel, den er in seinen Armen hielt. Die Kleine weinte, er konnte sie nicht beruhigen. Er konnte nicht einmal mehr sich selbst beruhigen.

Der Ozean erschien so dunkel, wie er es noch nie gesehen hatte. Skyes gelbes Brett schaukelte wie ein Leuchtmarker auf der Wasseroberfläche, während sie unermüdlich gegen die Strömung ankämpfte. Kurz setzte sie sich auf ihrem Brett auf und warf einen Blick über ihre Schulter. Für den Bruchteil einer Sekunde sah es aus, als würde sie abwägen, ob sie nicht doch umkehren sollte.

Während er verzweifelt hinaus auf das Meer starrte, holte Noah sein Brett vom Autodach. Sein Schützling lehnte sich dieses Mal definitiv zu weit aus dem Fenster.

Skye hatte ihren Weg unbeirrt Richtung tosende Brandung fortgesetzt und gelangte hinter den fauchenden Drachen, der hier an der Küste eine Party feierte, zu der sie im Grunde nicht eingeladen war.

Ein neues Set rollte an und verwandelte den Point in ein von Gott gefürchtetes Terrain. Erhebungen schwollen zu Bergen an und entluden sich mit einem markerschütternden Grollen am Riff.

Inzwischen konnte man Skye draußen nicht mehr ausmachen. Jetzt war sie ganz auf sich allein gestellt, den Launen der Natur schutzlos ausgeliefert.

Das kleine Bündel in seinen Armen schrie ohrenbetäubend schrill. Die Szene vor seinen Augen war nervenzerreißend.

»Schschsch …«

Bald würde etwas Normalität einkehren. Ein geregeltes Leben, das etwas mehr Ruhe versprach. Der Ritt auf einer Monsterwelle würde ihr geben, wonach sie immer gesucht hatte. Davon war er überzeugt.

Neben Noahs Auto startete ein Motor. Ein weiterer Surfer brach sein Vorhaben ab. Das Risiko schien zu hoch, die Bedingungen zu riskant.

Während Noah wie ein getriebener hinauspaddelte, tauchte Skye auf einem gigantischen Wasserhügel auf. Er betete innerlich und hoffte, dass ihr der Ritt an der steilen Wasserwand glückte. Die Brandung war gnadenlos. Er durfte nicht daran denken, was passieren würde, wenn die brachiale Wucht sie erfasste und aufs Riff schmetterte.

Wie in einem Albtraum holperte ihr Brett über Unebenheiten, während sie die Wasserwand hinabschoss. Sie balancierte sich aus, verlor den Halt auf ihrem Brett und fiel ausgeliefert in den Schlund der Hölle.

Eine Lawine aus weißem Wasser überrollte sie, schmetterte sie hinunter auf das Riff.

Unter der Wasseroberfläche wütete eine Energie, die Kalkbrocken vom Riff löste und Skyes Körper herumwirbelte.

Er rannte die Treppe zum Strand hinunter.

Am Horizont schwoll eine weitere Welle zu einem Berg an. Panisch suchte er den tobenden Ozean ab. Er hielt den Atem an und verfiel in Panik, in eine lähmende Angst, die ihn hinderte, klar zu denken.

Ihr gelbes Brett tauchte auf.

Die pure Verzweiflung ließ ihn ins Wasser rennen. Eine auslaufende Woge umspülte seine Beine und zog kräftig an seinen Waden, als sie sich zurückzog.

»Dort drüben!«, brüllte er zu Noah. Das gelbe Brett trieb an der schäumenden Wasseroberfläche. »Dort drüben!«, schrie er erneut, das kleine Baby fest an seine Brust gedrückt.

1. Teil

Umbruch

Kapitel 1

Südostküste, Australien, Oktober 2016

Justine setzte den Blinker, gab Gas und überholte mit ihrer Ducati einen Radrennfahrer Richtung Brighton. Wie immer war sie in Eile.

Es war Freitagnachmittag. Auf dem Meer waren wie immer Segler unterwegs. Auf dem Strandweg liefen Jogger den mit Büschen und Norfolk-Tannen bewachsenen Küstenabschnitt entlang.

»Ich weiß, dass ich mich verspäte«, knurrte Justine, als in der Innentasche ihrer Motorradjacke ihr Mobiltelefon erneut vibrierte. Schließlich hielt sie an einem der Strandparkplätze entlang der Port Phillip Bay. Sie schaltete den Motor aus, hängte ihren Helm an den Lenker und prüfte ihr Smartphone.

Wie erwartet, versuchte Logan unermüdlich, sie zu erreichen. Justine schüttelte den Kopf. Auch wenn er bereits seit einer Viertelstunde auf sie wartete, brauchte er sie nicht zigmal anzurufen. Wäre sie nicht bis Mornington hinuntergefahren, hätte sie es rechtzeitig zur Wohnungsbesichtigung geschafft. Einschließlich duschen und umziehen.

Justine wählte Logans Nummer und biss auf ihre Unterlippe, während sie entnervt darauf wartete, dass er abhob.

Dieser Freitag war zum Davonlaufen.

Bereits heute Morgen hatte sie sich mit der Arbeit am Ocean-Bay-Projekt wieder derart selbst gestresst, dass sie davon heftige Kopfschmerzen bekommen hatte.

Sie hatte nach Ablenkung gesucht, was nicht wirklich funktioniert hatte. Ihre Gedanken rotierten ständig. Vor allem nachts, wenn sie eigentlich schlafen sollte. Da war diese innere Unruhe, die sie nicht in den Griff bekam, weil sie immer damit rechnete, dass bei der Umsetzung des Hotel-Projekts etwas schiefging und sie sich am Ende eingestehen musste, dass sie doch nicht alles im Griff hatte. Dass sie zu sehr träumte und ihre Ziele niemals erreichen würde, da dieses Projekt zu groß für sie war.

Inzwischen war die Vorprojektierung abgeschlossen. Ein Schritt auf den sie eigentlich hätte stolz sein können. Wochenlang hatte sie mit Ethan, einem weiteren Architekten in der Bauunternehmung ihrer Familie, über den CAD-Visualisierungen gebrütet, ihre Ideen und Pläne mit Bauingenieuren erarbeitet, Machbarkeitsanalysen durchgeführt und bei diversen Ämtern erforderliche Baubewilligungen eingeholt.

Nächsten Dienstag würde noch einmal die Bauherrschaft vorbeikommen. Danach konnten sie bereits mit dem Aushub für die Tiefgarage starten. Der Beginn der Realitätsprüfung bereitete ihr jedoch mehr als nur ein bisschen Kopfzerbrechen.

Bisher hatte sie eher kleinere Neu- und Umbauten geleitet. Projekte überschaubarer Größe. Einfamilienhäuser oder eine Sanierung eines kleinen Cafés. Selbst solche Projekte garantierten keinen reibungslosen Ablauf. Doch bis jetzt hatte sie alle Herausforderungen gemeistert.

Inzwischen hatte sie große Zweifel, weil sie mit diesem umfangreichen Projekt eine Verantwortung auf sich genommen hatte, die sie sich im Grunde nicht zutraute.

Doch sie musste sich selbst ja so unbedingt beweisen, dass sie genügend Biss hatte und dazu imstande war, früher oder später in die Fußstapfen ihres Onkels zu treten. Und deshalb machte sie sich jetzt halb verrückt.

»Komm schon, geh ran, Logan!«

»Hey, wo bist du? Ich warte.«

»Kurz vor Brighton. Kannst du mir noch einmal die genaue Adresse durchgeben? Ich habe deine E-Mail irgendwie gelöscht.« Sie ignorierte, dass er genervt war, und konzentrierte sich auf seine ausführliche Wegbeschreibung.

Schließlich machte sich Justine wieder auf den Weg. Inzwischen war sie nicht weniger entnervt, weil der Autofahrer drei Fahrzeuge vor ihr es offensichtlich nicht eilig hatte.

Endlich zweigte er ab.

Der Verkehr floss, so wie ihre Gedanken.

Im Moment war ihr alles zu viel. Die große Verantwortung bei der Arbeit. Die Tatsache, dass Logan sie dazu drängte, endlich mit ihm zusammenzuziehen.

Der Zeitpunkt konnte nicht ungünstiger sein. Doch wie sollte sie es Logan erklären, wenn sie es nicht einmal selbst verstand? Sie hatte das Gefühl, als müsste sie sich zunächst beweisen, dass sie etwas Großes auf die Beine stellen konnte, bevor sie sich auf alles andere einließ.

Im Grunde fühlte sie sich wohl in ihrem kleinen Haus, in das sie vor zwei Jahren allein eingezogen war und zur Miete lebte. Die beiden modernen Bauten, die sie rechts und links einpferchten, störten sie nicht. Auch nicht, wenn sie ihre Veranda nutzte.

Zudem war es schwierig, ein Objekt in einer Wohngegend zu finden, das für beide passte.

Sie mochte ihr Haus. Die Nähe zum Pier und zu der Straßenbahn, mit der sie leicht das Stadtzentrum erreichte. Neben all den Vorzügen, die St Kilda sonst noch zu bieten hatte.

Logan teilte sich mit zwei Mitbewohnern eine schicke Stadtwohnung, die zugegeben einen traumhaften Blick auf die Skyline und den Yarra River bot. Sowie die Anwaltskanzlei, die sie sich teilten.

Logan wartete mit verkniffener Miene vor dem Eingang einer hochmodernen, kürzlich erbauten Appartementanlage.

Irgendwie hatte es Justine geahnt, dass sie mit der heutigen Wohnungsbesichtigung nicht glücklich werden würde. Melbourne hatte eine abwechslungsreiche Architektur vorzuweisen. Eine Balance aus viktorianischem und modernem Baustil. Das betraf sowohl die auffällig bunten Strandhäuschen in Mornington als auch die am Brighton Beach. Man musste den gemischten Baustil einfach lieben und sich mit den vielfältigen Bauten als auch mit der multikulturellen Bevölkerung identifizieren können, wenn man in Melbourne oder einem der Vororte lebte.

Die videoüberwachte Appartementanlage in Brighton war so gar nicht ihr Geschmack.

Justine stellte ihr Motorrad hinter Logans Porsche ab, nahm den Helm vom Kopf und schüttelte ihr Haar auf. Sie konnte Logan ansehen, dass ihm ihre heutige Aufmachung nicht passte. Normalerweise trug er in seiner Freizeit keinen Anzug.

»Bist du direkt von der Arbeit gekommen?«, fragte Justine, während sie ihre Motorradjacke öffnete und auf Logan zuging.

»Ich hatte viel zu tun.«

»Du bist sauer«, stellte sie fest.

»Jetzt bist du ja hier.«

»Stimmt.«

Logan legte seine Hand auf Justines Rücken und geleitete sie zum Eingangstor.

»Was? Kein Makler?«, fragte Justine erstaunt, weil Logan den Zugangscode kannte und ganz selbstverständlich die Tür zum Sicherheitstrakt öffnete.

Logan grinste, obwohl er angespannt war. Immerhin hatte er Justine bei einer wichtigen Entscheidung übergangen. Er fragte sich, wie heftig sie darauf reagieren würde. Doch wenn er nicht spätestens jetzt ein Zeichen setzte, würden sie ewig so weitermachen wie bisher.

Er streichelte zärtlich über ihre Wange, um die misstrauischen Züge in ihrem Gesicht zu glätten. »Wir brauchen keinen Makler«, sagte er, während er Justine musterte und hoffte, dass sie ihm wenigstens in dieser einen Sache vertraute.

Sie begaben sich zum Aufzug. »Bitte sehr, nach Ihnen.« Logan gab erneut den Code ein, woraufhin sich die Türen schlossen und der Aufzug sie in die vierte Etage, direkt in die Attikawohnung, beförderte.

Der erste Eindruck war genauso, wie sie es erwartet hatte. Großzügige, barrierefreie Räumlichkeiten. Offene Küche. Glatte Schränke. Modernste Technik. Eine minimalistische Möblierung. Die perfekte Wohnung für Vollzeitbeschäftigte, die auch ihre Freizeit außerhalb ihrer eigenen vier Wände verbringen, dachte Justine zynisch.

Aber sie wollte nicht voreilig urteilen und testete die Sofalounge, auch wenn sie sich mit einem Lederbezug nicht wirklich anfreunden konnte.

Logan musterte sie erwartungsvoll. »Und?«

»Ich weiß nicht, Logan. Die Wohnung würde bestimmt ein Vermögen verschlingen. Zudem fangen wir gemeinsam doch gerade erst an. Und Brighton … ist mir irgendwie zu nobel.«

»Brighton und St Kilda fließen beinah ineinander.«

»Trotzdem ist es ein Unterschied.«

Logan half Justine beim Aufstehen. Konnten sie sich nicht einfach mal einig sein? »Komm, ich will dir noch die Terrasse zeigen. Die ist der Wahnsinn.«

Sie betraten den großzügigen, bepflanzten Außenbereich.

»Die Terrasse ist zu übertrieben, in Anbetracht dessen, dass wir sie nur ein paar Monate im Jahr wirklich nutzen würden. Wenn überhaupt. Außerdem haben wir beide keine Zeit für Gartenarbeit. Und ohne das Grünzeug würde das Ganze ziemlich kahl rüberkommen.«

»Hast du noch mehr Einwände?«

»Nein.« Genervt wandte Justine den Blick zu einer schlicht gehaltenen Bar. Auf der Theke stand ein gekühlter Kübel mit einer Flasche Prosecco darin. Daneben zwei Gläser zum Anstoßen.

Auf einmal hatte sie ein ziemlich ungutes Gefühl. Eine leise Vorahnung beschlich sie. »Du hast die Wohnung doch nicht etwa bereits gekauft?!«

Zu ihrem Entsetzen widersprach ihr Logan nicht.

»Ich fass es nicht!«, blaffte Justine und ging an das verglaste Geländer.

Logan trat neben sie. »Ich habe gehofft, dass dir die Wohnung gefällt.«

»Darum geht es nicht, Logan, sondern ums Prinzip. Du kannst doch nicht einfach rausgehen und allein gemeinsame Entscheidungen treffen.«

»Moment! Nur eine Entscheidung, wenn auch eine wichtige. Aber allein kommst du ja nicht in die Gänge.«

»Das ist nicht fair, Logan.« Nachdenklich berührte sie ihren Verlobungsring.

»Es ist doch bloß ein Anfang, Justine. Im Grunde ist die Wohnung nicht so wichtig. Wenn sie uns in einem Jahr nicht mehr gefällt, verkaufen wir sie einfach wieder«, beschwichtigte Logan sie.

»Darum geht es nicht.«

»Worum dann?«

Er hatte es einfach satt, weiterhin zu warten. Seine Kumpels zogen ihn bereits damit auf, dass mit seiner Beziehung etwas nicht stimmte. »Okay, ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte dich miteinbeziehen sollen.«

Justine sah Logan direkt in die Augen.

Sie ähnelten sich mehr, als sie sich offen eingestehen würden. Beide hatten ehrgeizige Ziele. Bei Logan kamen noch die schwer zu erfüllenden Erwartungen seiner Eltern dazu. Sein Vater war ein angesehener Kardiologe. Seine Mutter eine überengagierte Politikerin. Seine Berufswahl akzeptierten sie gerade mal so, und das wusste er. Trotzdem würde es sich Logan nie eingestehen, dass er gerade deshalb die schwierigsten Rechtsfälle an sich nahm. Solche, über die in den Zeitungen geschrieben wurde. Oder gar welche, die es ins Fernsehen schafften.

»Hast du aber nicht.« Sie wandte sich von ihm ab und ging hinein.

»Wo gehst du hin?«, fragte Logan.

»Zur Toilette.«

Danach fuhren sie bei Justine zu Hause vorbei, damit sie sich kurz umziehen konnte. Während sie duschte, beschäftigte sich Logan auf der Veranda mit seinem Smartphone. Justine beeilte sich, damit Logan nicht allzu lange warten musste.

Fünf Minuten später starrte Justine in ihren Kleiderschrank. Sie konnte sich nicht entscheiden, was sie für heute Abend anziehen sollte. Irgendetwas, das zu Logans schickem Anzug passte und die Wogen zwischen ihnen etwas glätten würde.

Alles in allem dauerte der Zwischenstopp dann doch länger, als sie gedacht hatte. Logan schien es heute nicht zu stören. Inzwischen hatte er es sich mit seinem Laptop, den er aus dem Auto geholt hatte, auf ihrem Sofa gemütlich gemacht. Er schien sich wohlzufühlen, während er auf sie wartete. Im Grunde verhielt er sich genauso, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Nur passte es ihr ausgerechnet heute nicht in den Kram.

Würde er es ihr überhaupt jemals recht machen können?

Sie aßen in einem der Restaurants mit Blick auf den Yarra River. Die Gebäude der Northbank spiegelten sich wie einige vorüberziehende Wolken in den Fensterfronten der gegenüberliegenden Hochhäuser wider.

Justine spürte, wie Logan sie musterte, während er an seinem Weinglas nippte. Als wartete er auf den passenden Moment, die Wohnungssache nochmals anzusprechen.

»Du kannst die Einrichtung ändern, wenn sie dir nicht gefällt.«

»Und wenn die Einrichtung nicht das Problem ist?« O Gott, warum konnte sie nicht einfach mit Logan zusammenziehen, wenn sie doch schon die Möglichkeit dazu hatten?

Logan wich ihrem Blick aus. »Wie findest du den Fisch?«

»Nicht schlecht«, antwortete sie, während sie mit der Gabel appetitlos im Essen herumstocherte.

Logan musterte Justine und musste erkennen, dass er es ihr wohl nie würde recht machen können. Dass seine Freunde recht behielten und sie seine guten Absichten nicht zu schätzen wusste.

»Ich werde die Wohnung nicht verkaufen«, sagte Logan kämpferisch.

»Das erwarte ich auch nicht.« Justine Griff nach ihrem Weinglas und trank einen Schluck. Im Moment wurde ihr alles zu viel. Doch das konnte sie Logan nicht sagen. Die Blöße wollte sie sich nicht geben.

Nach außen verkörperten sie meistens ein harmonisches Paar, das hübsche Babys haben könnte.

Im Moment strebten sie aber unterschiedliche Ziele an. Die Umsetzung des Ocean-Bay-Hotels hatte bei ihr absolute Priorität. Eine Mammutaufgabe, die ihr alles abverlangte. Es war eine Prüfung, die sie bestehen musste, weil sie sich selbst und allen anderen etwas zu beweisen hatte. Sie wollte es schaffen. Erst recht wollte sie sich von niemandem etwas reinreden oder gar bemuttern lassen. Aus diesem Grund fasste sie jetzt einen Entschluss. »Wir können nicht zusammenziehen, solange ich meine gesamte Zeit in mein Hotel-Projekt investieren muss.« Er wirkte ehrlich getroffen. »Logan, es liegt nicht an dir, es liegt an mir.«

Es war dunkel geworden, und die Stadt hatte sich in tausende Lichter verwandelt, die in den verschiedensten Farben auf der Wasseroberfläche des Yarra Rivers schillerten.

»Ich weiß, dass du mich nicht verstehst. Aber ich kann mich irgendwie nicht auf andere Dinge konzentrieren, solange ich mein Ziel nicht erreicht habe. Das Ocean-Bay-Projekt ist genau diese Chance, auf die ich mein ganzes Leben lang gewartet habe.«

Er wartete, bis sie nichts mehr sagte. »Man kann sein Leben leben und trotzdem erfolgreich sein. Die gesteckten Ziele erreichen.«

»Musst du immer zu allem, was ich sage, eine andere Meinung haben?«

Er lachte zynisch. »Als wäre es bei dir anders.«

Justine fühlte sich nicht ernst genommen und war enttäuscht. Sie stand vom Tisch auf und bezahlte das Essen und ihre Getränke an der Theke.

Logan erhob sich ebenfalls und wartete draußen vor dem Restaurant.

Schweigend gingen sie nebeneinanderher.

»Vielleicht sollte ich mit der Straßenbahn nach Hause fahren.«

Logan blieb stehen und sah sie an, als wäre sie nicht klar bei Verstand. »Sprechen wir jetzt über eine Trennung?«

»Nein.« Justine war den Tränen nah, hielt sie jedoch zurück. Tränen brachten sie nicht weiter, weder in ihrer Beziehung noch in ihrem Beruf. Also stieg sie zu Logan ins Auto.

»Du bist wütend«, stellte Justine fest, als Logan unnötig viel Gas gab und das Getriebe misshandelte. »Fahr langsamer!«, schrie sie, damit er zur Vernunft kam und die Geschwindigkeit den Straßenverhältnissen anpasste.

Er hörte auf sie, und sie entspannte sich.

Sie erreichten Justines Haus. Logan hielt mit quietschenden Reifen am Bordstein, und sie stieg wortlos aus. Als sie etwas sagen wollte, hatte er bereits den ersten Gang eingelegt und raste davon, als würde er auf einer Rennpiste starten.

Justine fühlte nach ihrem Verlobungsring.

Hatte sie gerade ihre Beziehung aufs Spiel gesetzt?

Kapitel 2

Während sich Justine im Badezimmer die Wimpern tuschte, fragte sie sich, ob sie Logan nicht doch eine Nachricht hätte schreiben sollen.

In diesem Moment hörte sie ein Auto vorfahren.

Nach dem Streit gestern war sie sich nicht sicher gewesen, ob Logan sie heute Abend überhaupt zu Jades Geburtstagsparty begleiten würde.

Sie trug noch ein wenig Lipgloss auf, bevor sie das Haus verließ.

Logan wartete im Auto.

Es roch nach seinem Duschmittel und einem Hauch Parfum, das sich mit dem Geruch der Innenausstattung des neuen Wagens mischte.

»Schön, dass du trotz allem gekommen bist.«

»War ja auch so abgemacht.«

Sie fuhren aus St Kilda hinaus und bogen auf die Schnellstraße ab. Auf der rechten Seite zog die Skyline an ihnen vorbei. Stolz ragten die Hochhäuser in den wolkenlosen Himmel. Im Kontrast zu ihrer Beziehung, in der im Augenblick nichts perfekt war.

»Wegen gestern Abend …«

»Ich will jetzt nicht darüber reden.«

Nach gut zwanzig Minuten erreichten sie die gegenüberliegende Seite der Bucht. Williamstown und St Kilda lagen sich quasi gegenüber. Im Grunde ähnelten sich die beiden Vororte. Beide boten einen beeindruckenden Blick auf die Metropole Melbourne. Alte sowie neue Architektur, Seite an Seite. Cafés und Restaurants entlang der Straße oder mit Blick auf die Bucht. Nur dass ihr Vater und Jade in Williamstown lebten und Onkel Vince in Brighton. Das Familienunternehmen war das einzige Band, das die beiden Brüder miteinander verband.

Logan folgte der Straße zum Hafen und hielt auf beiden Seiten der Fahrbahn nach einer freien Parklücke Ausschau. Er entdeckte Vinces Wagen. Dabei konnte sie ihm ansehen, wie er sich entspannte. Onkel Vince zählte zu den wenigen Leuten aus ihrer Familie, mit denen Logan tatsächlich etwas anfangen konnte.

Direkt neben dem Range Rover ihres Vaters wurde eine Parklücke frei. Es war bloß ein Parkplatz, trotzdem hatte sie den Eindruck, dass es Logan etwas ausmachte, neben dem Wagen ihres Vaters zu parken, was sie ein wenig traurig stimmte. Andererseits kam sie im Moment selbst nicht wirklich mit ihrem Vater klar. So wie er sich in letzter Zeit verhielt.

Hoffentlich würde er sich bald wieder fangen.

Justine stieg aus dem Wagen, und Logan zauberte einen prachtvollen Blumenstrauß aus dem Kofferraum. Dazu noch eine gute Flasche Wein.

Für diesen üppigen Blumenstrauß hat er bestimmt ein Vermögen ausgegeben, dachte Justine und würde sogar darauf wetten, dass er heute Morgen noch einmal beim Blumenladen angerufen hat, um noch ein paar Blumen extra draufzupacken und sie so zu beeindrucken.

Sie überquerten die Straße und gingen zum Restaurant. Ein Mitarbeiter des Servicepersonals führte sie nach oben in einen abgetrennten Raum, von dem man einen wundervollen Blick auf den Hafen und die Skyline hatte. Die geladenen Gäste saßen ausgelassen an einem langen Tisch direkt an der Fensterfront.

Jade war in Hochform und bei bester Feierlaune. Bodenständig und elegant zugleich wie immer. Die Zwei hinter der Fünf war bloß eine Zahl und nichts, was wirklich etwas über ihr Alter aussagte. Mit ihrem weißen, tief ausgeschnittenen Jumpsuit war sie unumstritten der Blickfang des heutigen Abends.

Ihr Vater hingegen, der Jade gegenüber saß, wirkte müde und auch ein wenig deplatziert, da er sich nicht an den Gesprächen der vom Segeln begeisterten Tischrunde beteiligen wollte. Ganz anders als Onkel Vince, der immer und überall auf seine Kosten kam. Ungeachtet dessen, was er zu sagen hatte, wirkte es irgendwie immer wie ein gelungener Auftritt.

Mit seinem lässigen, weißen Hemd und der hellen Hose harmonierte er gut mit Jades Aufmachung. Als hätten sie sich für den heutigen Abend abgesprochen.

Jade drehte sich nach ihnen um. Logans üppiger Blumenstrauß entfaltete sogleich seine Wirkung. Er hatte einen Volltreffer gelandet.

»Oh, wie schön«, sagte Jade mit glänzenden Augen und hielt sich staunend die Hand vor den Mund.

Während Jade vom Tisch aufstand, um die Blumen dankend in Empfang zu nehmen, zeigte sich Onkel Vince zuvorkommend und verlangte beim Personal des Restaurants ein Gefäß mit Wasser, damit sie ihren Blumenstrauß reinstellen konnte.

Er nahm ihr den Strauß ab, dabei sah er ihr etwas länger in die Augen, als unter Bekannten eigentlich üblich war. Verlegen strich sich Jade eine Haarsträhne hinters Ohr.

»Danke.«

Onkel Vince stellte die Blumen auf den Gabentisch, und Jade wandte sich wieder Justine und Logan zu. »Du siehst heute sehr hübsch aus, Schatz. Das Kleidchen steht dir gut. Mal etwas anderes als Blusen und Hosen.«

»Ich habe mich heute sogar geschminkt.«

»Das sehe ich. Vielleicht sollten wir beide mal wieder zu einer ausgiebigen Shoppingtour aufbrechen«, schlug Jade vor, weil sie vermutete, dass sich in Justines Leben fast alles nur noch um die Arbeit drehte.

Am Tisch wurde es plötzlich lauter. Ihr Vater und Onkel Vince lieferten sich einen Wettstreit.

»Ich gehe mal lieber dazwischen«, sagte Jade, da der Streit zwischen den beiden Hitzköpfen, in dem es mal wieder um die Firma ging, zu eskalieren drohte. Während Onkel Vince seine angeborene Überlegenheit ausspielte, machte sich ihr Vater mit seinen chaotischen Gedankengängen und seiner zornigen Ausdrucksweise zu einem missverstandenen Störenfried.

Was war in letzter Zeit nur los mit ihm? Warum ließ er sich überhaupt auf Onkel Vinces Zündstoff ein?

Zur Erleichterung aller schnappte sich Jade ein Glas Prosecco und schlug unüberhörbar mit einem Teelöffel dagegen. »Ich würde gern auch noch etwas sagen, falls ihr beiden Streithähne mich lasst.« Dabei warf sie Russell einen mahnenden Blick zu. »Ich freue mich, dass ihr alle gekommen seid, um mit mir diesen besonderen Tag zu feiern. Ach, und … fürs Essen habe ich nichts Einheitliches organisiert. Ihr seid also frei, das zu bestellen, was ihr möchtet.«

Justine und Logan setzten sich an den Tisch.

Ein Mitarbeiter des Restaurants verteilte die Speisekarten. Justine trank einen Schluck Prosecco und beobachtete ihren Vater dabei, wie er lustlos die Menükarte überflog. Am liebsten würde sie etwas zu ihm sagen. Irgendetwas, um ihn ein wenig aufzumuntern. Letztendlich sagte sie dann aber doch nichts.

Das hervorragende Essen und der köstliche Wein heizten die gute Stimmung weiter an. Jades Gäste fühlten sich sichtlich gut aufgehoben an diesem schwungvollen Geburtstagsparty-Tisch.

Zu ihrer Überraschung erhob sich Onkel Vince mit einem Glas Wein in der Hand. »Nur ganz kurz«, besänftigte er die ausgelassene Tischrunde und wandte sich an Jade. »Ich möchte einen Toast auf das Geburtstagskind aussprechen. Auf eine wundervolle Frau und ein unverzichtbares Mitglied der Geschäftsleitung. Du meine Güte …« Er ließ den Blick schweifen, als müsste er sich erst einmal sammeln, um das eigentlich Offensichtliche auszusprechen. »Wie sagt man einer Frau, dass sie in ihrer weißen Aufmachung unverschämt attraktiv ist, ohne dabei gleich obszön zu werden?«

Russells Besteck flog klimpernd auf seinen Teller, sodass alle erschrocken ihre Köpfe drehten. Justine konnte Jade ansehen, dass sie sich am liebsten in Luft auflösen wollte, während Onkel Vince offensichtlich auf eine Konfrontation mit ihrem Vater aus war.

»Anscheinend will noch jemand anderes das Wort ergreifen. Dann lass mal hören, Kleiner!«

»Vince!«, ermahnte ihn Jade.

Doch Onkel Vince war nicht zu stoppen. Es schien, als hätte er nur auf eine Gelegenheit gewartet.

Vince hatte es satt, dass sich Russell zu Lebzeiten ihres Vaters aus allem rausgehalten und den Schwanz eingezogen hatte, sobald es um unternehmerisch gewichtige Entscheidungen gegangen war, und nun auf einmal doch bei allem mitmischen wollte, nachdem ihr Vater letztes Jahr verstorben war. Und er hatte es satt, wie er Jade behandelte. Die Frau, die seit Jahren unermüdlich die Finanzen der Firma managte. Die Frau, die an Russells Seite vergeblich um die Zuwendung kämpfte, die sie verdiente. Die Frau, die Justine eine gute Mutter war, obwohl sie nicht ihr Kind war.

»Kaum zu glauben, wie du heute wieder mal herumläufst, Russell! In abgetragenen Jeans und einem verwaschenen T-Shirt.« Vince schüttelte abschätzig den Kopf. »Nicht mal beim Friseur warst du. Vater würde sich im Grab umdrehen, wenn er dich so sehen könnte.«

Russell fühlte sich zu Unrecht angegriffen und vor ihren Freunden bloßgestellt. Mit Sicherheit überraschte es niemanden, als er nach dem persönlichen Angriff beleidigt den Tisch verließ.

Er hatte bereits die Treppe erreicht, da überlegte er es sich doch noch anders, stürmte zurück in den Partyraum und deutete wütend mit seinem Zeigefinger auf Vince. »Du vögelst hinter meinem Rücken meine Frau. Glaubst du, ich weiß das nicht?!«

»Lebenspartnerin. Ich vögele deine Lebenspartnerin«, verbesserte Vince. »In all den Jahren hast du ihr nicht einmal einen Antrag gemacht.«

Ohne darauf zu reagieren, verließ Russell endgültig den Raum.

Jade hob ihr Weinglas. »Kann mir mal jemand nachschenken?«

Justine stand auf und rannte ihrem Vater hinterher. Als sie nach draußen gelangt war, stieg ihr Vater gerade in seinen Wagen. Obwohl er sie gesehen hatte, fuhr er aus der Parklücke und brauste davon.

Hinter ihr hörte Justine jemanden aus dem Restaurant kommen. Es war Logan.

»Ich fass es nicht, was da gerade passiert ist«, sagte sie verdattert.

»Der böse Onkel hat sich die attraktive Jade genommen«, murmelte Logan.

»Wie kannst du darüber Witze machen?«, fuhr sie ihn an.

»Ich mache darüber keine Witze. Nur frage ich mich, was mit deiner Familie los ist. Seit dem Tod deines Großvaters spielen alle irgendwie verrückt.«

Kapitel 3

Der Rest des Abends war gelaufen. Selbst die beste Nachspeise konnte nicht rückgängig machen, geschweige denn wiedergutmachen, dass sie Russell in einem Anflug der Verletzlichkeit betrogen hatte.

Jade war erleichtert, als nach und nach alle Gäste zum Gehen aufbrachen und sie so behandelten, als wäre nichts geschehen. Auch wenn das hinter ihrem Rücken bestimmt nicht der Fall war.

Vince fuhr sie nach Hause.

Sie erreichten die Zufahrt zu ihrem Haus. Wie erwartet, stand Russells Range Rover nicht in der Garage.

Jade wollte so schnell wie möglich aussteigen und diesen grauenhaften Abend hinter sich lassen, doch Vince versuchte erneut, mit ihr zu reden. »Jade, es tut mir leid.«

Mit versteinerter Miene sah sie ihn an. »Nein, mir tut es leid. Mir tut es leid, dass ich mich auf dich eingelassen habe. Dass ich dir vertraut habe.«

Vince musste schlucken. Ihre Worte trafen ihn mitten ins Herz. »Du bist viel zu gut für ihn. Du hast was Besseres verdient.«

Eine Träne kullerte über ihr starres Gesicht. »Was denn bitte? Jemanden wie dich, der mich vor unseren Freunden blamiert?« Sie schüttelte über ihre eigene Dummheit den Kopf. »Ich hätte mich dir nie anvertrauen, geschweige denn mit dir über meine Träume und Sehnsüchte reden sollen.«

»Schschsch …«, machte er sanft, um sie zu beruhigen, und streichelte liebevoll ihre Wangen. »Ich liebe dich, Jade.«

Jade drehte den Kopf weg und stieg wortlos aus dem Auto. Mit zügigen Schritten ging sie auf das Haus zu.

Erst hinter der geschlossenen Haustür konnte sie durchatmen. Sie lehnte ihren Kopf an die Wand.

In was hast du dich da bloß verrannt, Jade?

In eine innere Leere?

Es fühlte sich genauso an wie vor zwei Jahren, als sie sich ein neues Haus gekauft hatten. Weder das neue Haus noch die komplett neue Einrichtung hatten die Lücke in ihrem Herzen ausfüllen können.

All die Jahre hatte sie hart um Russells Liebe gekämpft. Nun stand sie trotzdem allein da.

In Gedanken versunken betrat Jade die Küche. Sie öffnete eine Flasche Wein und schenkte sich ein Glas ein. Eigentlich hatte sie für heute genug getrunken. Alles andere grenzte an Körperverletzung. Trotzdem konnte sie nicht anders. Vielleicht gerade, weil sie es nicht anders verdient hatte.

Als sie dachte, sie würde Russells Wagen hören, begab sie sich ins Wohnzimmer und trat ans Fenster. Doch es handelte sich lediglich um einen Nachbar, der nach Hause kam.

Jade stieß einen tiefen Seufzer aus. Irgendwann würden sie darüber reden müssen. Hoffentlich kam er bald nach Hause.

Weil sie das Warten auf seine Rückkehr schier verrückt machte, ging sie zurück in die Küche und schenkte sich Wein nach. Bis beinah nichts mehr übrig blieb.

Die Hand am Treppengeländer, zog sich Jade die Stufen hoch. Oben angekommen, blieb sie einen kurzen Moment stehen. Sie ließ den Blick durch den Flur schweifen. Ihre eigenen vier Wände kamen ihr auf einmal so fremd vor. Das Haus spiegelte die Leere wider, die sie in ihrem Herzen fühlte.

So hatte sie sich ihr Leben nicht vorgestellt.

Das Bett im Gästezimmer war ungemacht. Seit ein paar Wochen hatte sie aufgehört, Russells Bettwäsche zu waschen.

Was einst als nette Geste begonnen hatte, damit er sie nicht aufweckte, wenn er so spät von der Arbeit nach Hause kam, war zur Gewohnheit geworden.

Jade sank auf das Bett und legte ihre Hand auf Russells Kopfkissen.

Warum musste es nur so weit kommen, Russell?

Seufzend sank sie in sein Kissen und starrte zur Decke.

Vielleicht hatte sie zu sehr gewollt, dass es mit ihnen funktionierte.

Sie driftete gedanklich in die Vergangenheit. Zurück zu jenem Abend, als ihre Eltern und ihre früheren Nachbarn gemeinsam ausgingen und Vince, der zwölf Jahre älter war als Russell, auf die Jüngeren aufpassen musste.

Damals kletterte Russell im Garten auf einen Baum, von dem er sich auf einmal nicht mehr herunter traute. Während Vince ihn kleinmachte und einen Befehlston anschlug, der ihn zum Herunterkommen zwingen sollte, spürte sie seine Angst. Sie bewies Mut und gesellte sich zu ihm nach oben. »Warum bist du überhaupt auf den Baum geklettert, Russy?«

»Weil ich wie ein Koala klettern wollte«, erklärte er, während er sich am Baum festklammerte.

»Wenn dir das gelungen ist, wirst du es auch wieder wie ein Koala hinunterschaffen.«

»Und wenn ich dabei falle?«

»Das wirst du nicht. Und wenn doch, brichst du dir im schlimmsten Fall etwas. Einen Arm oder so.«

»Das wäre schlimm. Vince würde noch mehr mit mir schimpfen.«