Der Tag, an dem du verschwindest - Brina Hope - E-Book

Der Tag, an dem du verschwindest E-Book

Brina Hope

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Beschreibung

Zwei junge Frauen. Unterschiedliche Absichten. Und ein lang gehütetes Geheimnis. Die Aussicht auf Sonne, Meer und einen entspannten Lebensstil lockt Molly ins verträumte australische Byron Bay. Alles ist genau so, wie sie es sich vorgestellt hat, und es könnte zunächst nicht besser laufen: ein Job, herrliche Strände, coole Läden und charmante Cafés. Bis sie sich mit der schüchternen Emily anfreundet. Zusammen lernen sie eine Surfer-Clique kennen und Molly verliebt sich in den unnahbaren Alec. Als Emily plötzlich verschwindet, taucht auch Alec nicht mehr auf. Zehn Jahre später und eher durch Zufall entdeckt sie ihn in den Nachrichten. Davon überzeugt, dass es sich bei dem französischen Künstler Christophe Durand und Alec um ein und dieselbe Person handelt, fliegt Molly überstürzt und auf der Suche nach der Wahrheit nach Biarritz. Die noble Küstenstadt empfängt sie rauer als erwartet. Aber so leicht lässt sich Molly nicht einschüchtern.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Epilog

Prolog

Er ist irgendwie süß und scheint aufrichtig an mir interessiert zu sein. Das ist bestimmt der Grund, dass ich ihm die kalte Schulter zeige. Im Umgang mit Pferden fühle ich mich einfach wohler als in Gesellschaft von Menschen.

Ich frage mich, wie lange er wohl durchhalten wird. Die Arbeit mit den Pferden kann körperlich manchmal sehr anstrengend sein. Und er wäre nicht der Einzige, dem die Einöde hier draußen aufs Gemüt schlägt.

Ich schließe die Augen und versuche, ein wenig zu schlafen. Aber ich bin zu aufgedreht und spüre im ganzen Körper ein flatterndes Kribbeln, das ich im Grunde gar nicht fühlen will.

Habe ich ihn gekränkt, weil ich seinen Kuss nicht erwidert habe? Liegt er deswegen nur drei Zimmertüren weiter, ebenfalls wach?

Wir kennen uns doch kaum. Zudem ist es mir peinlich gewesen, weil ich in meinem Alter noch nie jemanden geküsst habe. Tief in mir drin ahne ich, warum das so ist. Doch bisher wollte ich mich damit nicht auseinandersetzen, weil es schmerzhaft sein würde. Aber ich weiß, dass die Vergangenheit nur darauf wartet, an die Oberfläche zu kommen.

Ich blinzle und stelle mir vor, er würde jetzt neben mir liegen und ich müsste mich nur umdrehen, um meinen Fehler wiedergutzumachen und ihn doch noch zu küssen, als ich plötzlich die Pferde Alarm schlagen höre.

Panisch springe ich aus dem Bett, schlüpfe in meine Kleider, haste die Treppe hinunter und renne zu den Stallungen rüber. Sofort erkenne ich den Grund für das unruhige Wiehern der Tiere: züngelnde Flammen, die sich im Dunkeln durch das Gebüsch und das Unterholz fressen und dem Pferdestall schon gefährlich nahe kommen.

Ich vergeude keine Sekunde, haste zurück und schreie: »Feuer!« Keiner zögert, niemand wartet, eine Tür nach der anderen fliegt auf. Verschlafene Männer, die Hemden nicht einmal ganz zugeknöpft, kommen die Treppe hinuntergehastet. Auch die Frauen schließen sich der getriebenen Hektik an.

Wir sind ein eingespieltes Team und handeln schnell. Zuerst bringen wir die Tiere in Sicherheit, dann kümmern wir uns ums Löschen. Das Wasser schießt aus drei Schläuchen. Wiederum andere kippen Wassereimer über kleinen Brandnestern aus oder schlagen mit alten Wolldecken auf die Flammen, damit diese nicht vollends außer Kontrolle geraten. Nur ich bin plötzlich wie gelähmt. Ich entferne mich ein paar Schritte von den anderen und beobachte, wie wir allmählich die Oberhand gewinnen. Wie die Flammen sich abkühlen, wie sie schrumpfen. Doch in meinem Kopf spielt sich eine völlig andere Situation ab, die mich zutiefst erschreckt erstarren lässt.

Ich sehe eine Hütte, daneben ein brennender Schuppen. Emporlodernde Flammen, auf der Suche nach mehr Brenn- und Sauerstoff, die sich ungehindert durch das knackende Holz fressen. Ich spüre die sengende Hitze, die sich anfühlt, als würde meine Haut verbrennen. Ich höre einen Hund bellen. Markerschütternde Schreie. Es ist die Stimme eines Mannes. Der giftige Qualm setzt sich in meiner Nase fest. Auf einmal erinnere ich mich wieder an alle Einzelheiten jener Nacht, die ich für immer aus meinem Gedächtnis gelöscht zu haben glaubte.

»Alles in Ordnung? Geht es dir gut?«

Orientierungslos blicke ich in die Runde, in das besorgte Gesicht meiner Tante. Alle starren mich an und ich würde am liebsten im Boden versinken. Weil ich nicht mitangepackt habe, obwohl meine Hilfe gebraucht wurde.

»Ja«, versichere ich eilig, obwohl nichts mehr in Ordnung ist. Der Albtraum ist zurück.

Kapitel 1

Sydney, Australien

Heute

Heute würde es spät werden, bis sie ins Bett fallen konnte. Doch sie war bereits jetzt müde. Aber da war noch etwas anderes, das sie beschäftigte. Ein Gefühl, das sich endlos und farblos anfühlte. Ein Gefühl, das sie nicht wirklich benennen konnte, sie aber auch jetzt begleitete, während sie hastig die Straße überquerte, um noch die nächste Fähre zu erwischen. Auch als sie die Anlegestation am Circular Quay erreichte und die ersten Tagespendler bereits an Bord gingen.

Molly schnappte innerlich nach Luft, schloss sich der sich vorwärtsbewegenden Kolonne an und suchte oben an Deck ein sonniges Plätzchen. Nachdem sie den ganzen Tag drinnen verbracht hatte, stellten die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht eine willkommene Abwechslung dar. Und so schloss sie einen Moment lang die Augen.

»Ce ne serait pas mieux d’être assis à l’intérieur?«

Molly verstand zwar nicht, was die Frau sagte, und doch war es laut genug, dass sie die Augen öffnete und das Paar beobachtete, das sich nicht einig zu sein schien, wo es sich hinsetzen sollte. Bestimmt Touristen. Die beiden hatten Rucksäcke bei sich und der Mann in den Fünfzigern trug eine Fotokamera um den Hals. Zudem sprachen sie eine fremde Sprache.

Offensichtlich hatte sie zu lange hingeschaut, denn auf einmal deutete der Mann auf die beiden freien Plätze neben ihr und versuchte seine Frau davon zu überzeugen, sich dorthin zu setzen, was ihm auch gelang. Sie erwiderte das freundliche Lächeln des Mannes, als sich die beiden neben ihr einrichteten. Aus reiner Neugier erkundigte sie sich nach ihrer Herkunft.

»Wir sind aus Frankreich.«

»Dort ist es jetzt Winter, oder?«, mutmaßte Molly.

»Ende Herbst«, präzisierte die Frau.

Unter ihnen startete der Motor, das doppelstöckige moderne Schnellboot setzte sich in Gang und das Wasser unter ihnen begann zu schäumen. Das Boot nahm Fahrt auf und die auffallend hohen Gebäude, insbesondere das schimmernd blaue Glasgebäude direkt an der Anlegestelle, rückten langsam in den Hintergrund, während ein Kreuzfahrtschiff, das unweit des Hafenbeckens seinen Anker geworfen hatte, die Blicke der Passagiere auf sich zog, als sie daran vorbeifuhren.

Der Mann neben ihr sprang auf und trat an die Reling, um das beeindruckend große Kreuzfahrtschiff sowie die berühmte Hafenbrücke und das Opernhaus auf der rechten Seite zu fotografieren.

Molly stöpselte sich ihre Kopfhörer in die Ohren und scrollte durch die Playlist auf ihrem Smartphone. Nachdenklich sah sie zu den hübschen kleinen Segelbooten auf dem Wasser. Zu den schicken Villen in den grünen Hügeln.

Nick hatte ihr vor gut einer Stunde eine Nachricht geschrieben und sie um einen Gefallen gebeten. Ihren gestrigen Streit hatte er mit keiner einzigen Silbe erwähnt.

Der Mann kam wieder an seinen Platz zurück und wollte die Begeisterung für seine Fotos mit seiner Frau teilen, aber sie schien sich wenig dafür zu interessieren. Stattdessen kämpfte sie mit ihren Haaren, die ihr immer wieder ins Gesicht flatterten. Im Gegensatz zu Molly, die ihre Haare wie gewohnt zusammengebunden hatte.

Schielt er deshalb gelegentlich zu mir herüber? Hält er mich für unbekümmerter? Vielleicht würde er mich in ein Gespräch verwickeln, wenn ich keine Musik hören würde.

Während der Fahrt hörte Molly nur sehr selten Musik. Doch jetzt war sie froh darüber. Auch wenn sie heute kaum ein Wort gesprochen hatte, da keine Menschenseele in die Galerie gekommen war, um die Holzskulpturen-Ausstellung ihres Arbeitgebers zu besichtigen, war ihr jetzt nicht unbedingt nach Smalltalk zumute.

Um die Aufmerksamkeit ihres Mannes zurückzugewinnen, legte die Frau ihre Hand auf sein Bein. Mit Erfolg, denn er wandte sich ihr sogleich zu.

Kurz darauf legte die Fähre in Manly an und Molly stand rasch auf, damit sie niemandem hinterhertrotten musste und schneller an Land und an der Fußgängerampel war. Eigentlich hätte sie dem französischen Pärchen eine Visitenkarte ihres Restaurants in die Hand drücken sollen, dachte sie, als sie mit drei anderen Fußgängern die Straße überquerte. Aber der gestrige Streit mit Nick lag ihr noch immer im Magen und sie wäre lieber direkt nach Hause gegangen. Stattdessen blieb sie vor der Treppe, die ins Untergeschoss zu ihrem kleinen und kürzlich eröffneten Restaurant führte, stehen.

Über ihr in den hohen Norfolk-Tannen entlang des Strandweges kreischten ein paar Kakadus und weiter draußen im Meer wartete eine Gruppe Surfer auf die nächstbeste Welle.

Molly betrachtete das schwarze Schild mit der weißen Schrift: Little Harbor. Der Name passte. Das Restaurant hatte eine überschaubare Größe und strahlte eine gemütlich-familiäre Atmosphäre aus, was bei ihren Gästen auf Anhieb viel Anklang gefunden hatte. Dennoch waren sie und Nick glücklicher gewesen, als er noch nicht selbstständig war und als angestellter Koch gearbeitet hatte.

Es war deine Idee und dein Traum, ein Restaurant zu eröffnen. Nicht meiner. Nick steuerte mit einem vollen Serviertablett und einem gehetzten Gesichtsausdruck auf sie zu.

»Danke, dass du heute Abend einspringst.«

»Du kannst ja nichts dafür, dass schon wieder jemand ausgefallen ist.«

Molly beobachtete, wie Nick das Essen an den Tisch brachte. Eine Gemüselasagne für die Dunkelhaarige und das hübsch angerichtete Currygericht für das Surfer-Girl mit den blonden Haaren. Auf einmal hatte Nick kein Problem mehr damit, zu lächeln. Im Gegenteil, für die beiden Mädels hatte er sogar noch ein paar lockere Sprüche übrig.

Wie kannst du nur!

Molly ließ sich ihre Eifersucht nicht anmerken und machte sich stattdessen hinter der Theke nützlich, indem sie saubere Kaffeetassen und Gläser in die Schubladen räumte. Gelegentlich sah sie zum Fernseher hoch, da dort gerade die Nachrichten liefen. Offenbar hatte jemand einen Anschlag auf eine Bar verübt. Beunruhigt griff Molly nach der Fernbedienung und stellte den Ton ein wenig lauter. Zu ihrer Erleichterung hatte sich der Anschlag nicht in Sydney ereignet. Eine Auslandskorrespondentin berichtete darüber.

»Heute Morgen konnte die französische Polizei den fünf- undvierzigjährigen Mann verhaften, der gestern Abend einen Molotowcocktail durchs Fenster einer Bar geworfen hatte. Inzwischen konnten acht der zehn Verletzten das Krankenhaus wieder verlassen. Die beiden Schwerverletzten werden noch immer auf der Intensivstation behandelt. Die Beweggründe für den Anschlag bleiben weiterhin unklar. Inzwischen wissen wir, dass sich der Täter nach dem Angriff im Keller eines Bekannten versteckt hielt.«

Während in Australien allmählich die Sonne am Horizont verschwand und die Leute hier in Manly die letzten wärmenden Sonnenstrahlen genossen, war in Frankreich ein mit Wolken überzogener Tag hereingebrochen.

Erneut richtete die Nachrichtensprecherin das Wort an ihre Auslandskollegin, die ebenfalls für den australischen Nachrichtensender arbeitete und direkt vor Ort ein paar Leute zu dem Vorfall befragen wollte. Doch nicht jeder schien gewillt, ihre Fragen zu beantworten. Das bekamen die Reporterin und ihr Kameramann unmissverständlich zu spüren, als sie sich auf einen dunkelhaarigen Mann in einem eleganten Wintermantel stürzten, der gerade dabei war, eine Kunstgalerie aufzuschließen.

»Dazu kann ich nichts sagen. Und jetzt lassen Sie mich bitte in Ruhe.«

Mein Gott! Molly taumelte einen Schritt zurück und stieß sich den Ellbogen an der Theke. Kann das wirklich möglich sein? Ihre Wangen glühten und die Hitze schoss in jede Faser ihres Körpers.

»Kannst du den Fernseher bitte ein wenig leiser stellen?«, rief Nick im Vorbeigehen, während er zwei Dessertschalen mit Papaya-Mousse und frischen Passionsfrüchten an einen der Tische brachte. Sie war gedanklich so weit weg, dass sie seine Bitte nur wie das Surren einer lästigen Fliege wahrnahm, als die Reporterin doch noch auf eine Anwohnerin traf, die die Kamera nicht scheute und die Gelegenheit ergriff, um ihrer angestauten Wut Luft zu machen.

»Dieser Anschlag wäre nie passiert und zwei unschuldige Menschen müssten jetzt nicht um ihr Leben kämpfen, wenn die Polizei bereits früher härter durchgegriffen hätte. Wie oft musste ich nachts schon die Polizei rufen, damit hier unten wieder etwas Ruhe einkehrt und wir endlich schlafen konnten. Diese Saufbuden sollten am besten alle um einundzwanzig Uhr schließen, dann gäbe es hier auch weniger Betrunkene, die nachts Radau machen.«

Unten am Bildschirm liefen die Schlagzeilen in Endlosschleife. Molly griff nach einem Stift und einem Notizblock und notierte sich rasch »Biarritz« auf einen Zettel, während Nick nach der Fernbedienung langte und den Fernseher leiser stellte.

»Unglaublich, was heutzutage so alles auf der Welt passiert«, kommentierte Nick. »Molly?«

Molly zuckte zusammen und legte schnell die Hand auf ihr Gekritzel. »Unfassbar, oder?«, erwiderte sie und konnte Nick ansehen, dass ihm noch etwas anderes auf der Zunge lag. Er nahm bereits Anlauf, aber da machte einer der Gäste auf sich aufmerksam und Nick erinnerte sich daran, dass er am Tisch nebenan bereits eine Bestellung aufgenommen hatte.

»Machst du bitte zwei Cappuccino und bringst sie an Tisch drei?«

»Sofort.«

Molly beobachtete die Unterhaltung, die Nick mit dem Gast führte. Wahrscheinlich war er das erste Mal hier. Trotzdem verhielt Nick sich so, als würden sie sich bereits eine Ewigkeit kennen. Davon genervt nahm Molly zwei Cappuccino-Tassen aus der Schublade, stellte sie unter den Kaffeeauslauf und drückte den Startknopf. Dabei schielte sie immer wieder auf ihren Notizblock und überlegte, ob sie den Zettel nicht besser zerreißen sollte. Als der Kaffee fertig war, verwarf sie den Gedanken und brachte die beiden Tassen zu den Gästen an den Tisch.

Wieder hinter der Theke, nahm sie ihr Smartphone aus der Handtasche und gab Biarritz in Google Maps ein. Ihre Hände zitterten immer stärker, während sie die Karte mit Daumen und Zeigefinger vergrößerte.

Biarritz lag direkt an der französischen Atlantikküste und nicht weit von der spanischen Grenze entfernt. Neugierig geworden, wischte sie gebannt über das Display und überflog die Fülle an Informationen.

Berühmtes Seebad an der baskischen Küste. Französische Gemeinde im Département Pyrénées-Atlantique. Elegantes Küstenstädtchen. Langgezogene Strände. Bei Surfern äußerst beliebt.

Molly spürte ihr Herz schlagen und wallende Hitze durch ihren Körper strömen, als stecke sie plötzlich mitten in den Wechseljahren.

Warum bist du damals einfach untergetaucht, Alec?

Kapitel 2

Sydney, Australien

Heute

Kurz vor Mitternacht, Nick hatte im Restaurant noch ein paar Dinge zu erledigen, zog sich Molly zu Hause bequemere Sachen an und setzte sich mit ihrem Laptop aufs Sofa.

Der Mann, der die Reporterin abgewimmelt hatte, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. »Ich weiß, dass er es war«, murmelte sie fast beschwörend vor sich hin, während sie fieberhaft nach dem Beitrag suchte, den sie am Abend in den Nachrichten gesehen hatte. Nach einer Weile sah sie frustriert vom Bildschirm auf. »Irgendwo muss doch was zu finden sein.« Auf YouTube stieß sie auf ein paar kurze Videos, die sie sich genauer ansehen wollte. Gebannt starrte sie auf die ersten drei Beiträge, doch nirgends zeigten sie den adretten dunkelhaarigen Mann, den sie für Alec gehalten hatte, was sie zunehmend verunsicherte. Habe ich mir das alles doch nur eingebildet?

Molly wollte nicht so schnell das Handtuch werfen, googelte weiter nach »Molotowcocktail-Angriff Biarritz« und klickte sich durch die Fotos von französischen Online-Zeitungen. Die Bar war schlimm verwüstet. Jemand hatte ein paar der verkohlten Stühle nach draußen gestellt und die bodenlangen Fensterscheiben lagen wie Mosaiksteine auf der Straße. Fotos zeigten verstörte Gesichter, Wut und Fassungslosigkeit, aber auch Hilfsbereitschaft und den Zusammenhalt der Menschen, was Molly rührte.

Als sie sich weiter auf ihre Suche konzentrierte, vergrößerte sie eines der Fotos, welches das Gebäude von außen zeigte. Sie stieß auf das Logo der Bar und notierte gerade den Namen auf einem Zettel, als sie plötzlich den Schlüssel im Schloss hörte. Eilends klappte sie den Laptop zu.

»Du bist noch auf?« Nick kam herein. »Was machen deine Kopfschmerzen?«

»Schon besser«, flunkerte sie und fragte sich im gleichen Atemzug, weshalb sie nicht die Wahrheit sagte. Eigentlich hatte sie etwas gegen ihre Kopfschmerzen nehmen wollen, aber die Onlinerecherchen hatten sie davon abgehalten.

Molly zog die ausgestreckten Beine zurück, legte den Laptop auf den Couchtisch, worauf sich Nick seufzend auf den freien Platz fallen ließ. Dabei fiel ihr einmal mehr seine gekrümmte Haltung auf. Als läge ihm eine schwere Last auf den Schultern. Warum tust du dir das an? Siehst du denn nicht, was das hier mit uns macht?

»Was dagegen, wenn wir schlafen gehen?«, fragte Nick, als befürchte er eine weitere Konfrontation. »Ich springe nur noch kurz unter die Dusche.« Er stemmte sich von der Couch hoch und verschwand im Badezimmer. Als Molly das Plätschern des Wassers hörte, betrat sie ebenfalls das Bad. Während sie sich vor dem beschlagenen Spiegel die Zähne putzte, überlegte sie, ob sie Nicks Kopfkissen, das sie gestern nach ihm geworfen hatte, provokativ vor die Tür stellen sollte. Es blieb bei dem Gedanken und so wartete Molly mit geöffneten Augen, bis Nick zu ihr ins Bett kroch.

»Ich kann nicht verstehen, dass du nicht darüber reden willst.«

»Worüber denn noch, Mol? Ich dachte, wir hätten alles gestern geklärt.«

Molly verdrehte die Augen. »Weißt du was … Gute Nacht, Nick!« Kaum dass Molly ihre Nachttischlampe ausgeknipst hatte, knipste Nick seine an.

»Du hast dich gestern klar und deutlich ausgedrückt. Aber ich kann nicht von einem Tag auf den anderen alles auf den Kopf stellen.«

»Darum geht es mir nicht.«

»Worum dann?«

»Lass uns ein anderes Mal darüber reden. Kannst du bitte das Licht ausmachen?« Nick löschte wortlos das Licht und wenige Augenblicke später hörte sie seine regelmäßigen Atemzüge. Schlafprobleme hatte er offensichtlich nicht. Allerdings war sein leises Schnarchen nicht der einzige Grund, der sie wachhielt. All die Fragen, die ihr durch den Kopf schwirrten, waren wie lästige Mücken, die erst von ihr ablassen würden, nachdem sie sich mit ihrer Energie vollgesogen hatten.

Molly spürte ihr Herz schlagen. So heftig, dass sie eine Hand auf ihre Brust legen musste, um wieder in einen normalen Rhythmus zu kommen. Aber das wollte ihr nicht gelingen, im Gegenteil: Ihr Körper reagierte noch heftiger und sie bekam Atemnot, was ihr Angst machte.

Unwillkürlich drehte sie sich zu Nick um. Er schien jedoch tief und fest zu schlafen und Molly wollte ihn nicht aufwecken. Wie soll ich mich denn erklären?

Neben ihr bewegte Nick sich und Molly wartete angespannt darauf, dass er sie fragte, weshalb sie nicht schlafen könne. Aber er sagte nichts. Stattdessen drehte er sich auf die andere Seite, um in einer bequemeren Position weiterzuschlafen.

Weil sie es keine Sekunde länger unter der drückenden Bettdecke aushielt, stand sie auf und schlich sich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Im Wohnzimmer musste sie eine Weile auf und ab gehen, bis sie sich eingestehen konnte, dass sie nicht ruhen würde, bis sie mehr über Alec in Erfahrung gebracht hatte. Sie setzte sich mit ihrem Laptop wieder aufs Sofa und machte dort weiter, wo sie aufgehört hatte. Da sie den Namen der Bar inzwischen kannte, fand sie schnell die Adresse. Die Kunstgalerie, vor der sich die Journalistin mit ihrem Team auf Alec gestürzt hatte, war glücklicherweise die einzige in dieser Straße.

Mit gespannter Erwartung stieß sie auf die Website der Galerie. Als sie diese öffnete, geriet sie jedoch ins Stocken. Der Name des Inhabers, Christophe Durand, sagte ihr nichts. Warum hieß er nicht Alec …? Mein Gott, ich kenne nicht einmal seinen Nachnamen! Doch das Porträtfoto war eindeutig. Der Mann war zweifelsohne Alec. Sie studierte jede einzelne Faser seines Gesichts. Seine geheimnisvollen braunen Augen. Der undurchschaubare Blick. Die Korrespondentin des australischen Fernsehsenders hatte, ohne es zu wissen, eine Verbindung zwischen ihnen beiden hergestellt, mit der Molly lange abgeschlossen zu haben glaubte. Aber warum nennt er sich jetzt Christophe Durand? Ist das sein Künstlername?

Molly horchte auf, als sie das Bettgestell im Schlafzimmer knarzen hörte, und machte sich bereit, den Laptop schnell zu schließen, falls Nick schlaftrunken ins Wohnzimmer torkeln würde. Erst als es länger still blieb, widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder der Website. Über den Künstler selbst erfuhr sie kaum etwas. Jedenfalls nichts, das ihre Restzweifel beiseiteschob. Selbst seine Arbeiten kamen ihr fremd vor. Früher hatte er lediglich mit Bleistift gezeichnet, finstere Kreaturen, denen man nicht einmal am helllichten Tag hätte begegnen wollen. Jetzt schien er sich einer gesichtslosen Frau zu widmen, die man immer nur von hinten und in der Ferne sah. Offensichtlich lässt sie sich gut verkaufen. Oder gibt es noch andere Gründe für dieses wiederkehrende Sujet?

Ihre Augenlider wurden schwer. Ohne es zu merken, sank sie immer tiefer in die Kissen hinter ihrem Rücken. Die Augen fielen ihr zu.

Erst als das Zwitschern der Vögel durchs geöffnete Küchenfenster zu hören war, erwachte sie und stellte erschrocken fest, dass sie die Nacht auf dem Sofa verbracht hatte und der Akku ihres Laptops leer war. »Mist«, fluchte sie leise, weil ihr jeder Knochen wehtat. Dennoch rappelte sie sich auf und ging Richtung Badezimmer. Als sie am Schlafzimmer vorbeikam, hörte sie Nicks Stimme. »Alles in Ordnung, Mol?«, fragte er vom Bett aus.

Molly lehnte sich an den Türrahmen und beobachtete Nick dabei, wie er sich die Augen rieb. »Ich fühle mich nicht besonders. Ich gehe eine Runde spazieren, okay?« Ihre plötzliche Anwandlung verwunderte ihn, aber es war typisch Nick, dass er ihr einfach nur »Viel Spaß« wünschte und im gleichen Atemzug konkreter wurde. »Bleib nicht zu lange weg.«

In der Morgensonne, die die hohen Norfolk-Tannen und Teile des Strandes beschien, lagen nach dem nächtlichen Regen noch einzelne Pfützen auf dem Gehweg und der Straße. In den mehrstöckigen Gebäuden auf der gegenüberliegenden Straßenseite erwachte langsam das Leben. Kakadus schwärmten auf das Terrassengeländer eines Hotels und krächzten fröhlich vor sich her.

Molly wandte sich dem Meer zu und beobachtete die ersten Surfer im Wasser, wie sie die Wellen anpaddelten und mit schlangenförmigen Linien entlangglitten. Genau wie damals. Auf einmal fühlte sich ihr Leben falsch an. Als hätte sie nicht das Recht, unbekümmert zu leben, während ihre Vergangenheit noch immer große Schatten warf.

Warum bist du damals einfach untergetaucht, Alec? Hatte es etwas mit mir zu tun?

Sie warf einen Blick über die Schulter. Dabei hatte sie das Gefühl, jeder hier könnte ihre Gedanken lesen. Die schwangere Frau mit der Wasserflasche. Der ältere Herr, der im Vorbeigehen grüßte. Die Schwimmer weiter draußen im Wasser. Ihr war klar, dass niemand sich weiter für sie interessierte, dennoch drehte sie um.

Inzwischen war Nick aufgestanden und dabei, sich in der Küche einen Kaffee zuzubereiten. Wie immer trug er eine beige Stoffhose und ein schwarzes T-Shirt mit dem Logo des Restaurants.

»Ich habe schon versucht, dich zu erreichen.«

Molly prüfte ihr Telefon. »Habe ich nicht gehört.«

»Ich wollte dir nur kurz Bescheid sagen, dass ich heute früher losmuss. In einer halben Stunde treffe ich mich mit dem Grafiker für die neuen Menükarten.«

»Schon wieder neue Menükarten? Die haben wir doch gerade erst anfertigen lassen«, wandte Molly ein.

»Ja, aber sie sind nicht optimal.«

Die Menükarten hatten ein Loch in ihr ohnehin knappes Budget gerissen und Molly ging es allmählich gegen den Strich, dass sie wegen des Restaurants immer jeden Dollar zweimal umdrehen mussten. »Warum muss immer alles so perfekt sein, Nick?«

»Das haben wir doch bereits besprochen. Die Schrift ist nicht gut lesbar und unser Angebot muss übersichtlicher werden.« Er nahm eine zweite Tasse aus dem Schrank und bereitete auch für Molly einen Kaffee zu. »Können wir später darüber reden?« Er reichte ihr die Tasse. »Kommst du nachher noch vorbei?«

»Mal sehen«, wich Molly aus.

»Ich weiß, dass es im Moment nicht leicht ist. Aber ich verspreche dir …«

»… dass es irgendwann besser wird«, führte sie seinen Satz zu Ende.

»Das wird es auch«, bekräftigte er, bevor er ihr einen flüchtigen Kuss aufdrückte und kurz darauf zu seinem Termin eilte.

Wie oft habe ich das schon gehört? Die Tür fiel ins Schloss.

Die Tasse in der Hand trat sie ans geöffnete Küchenfenster und beobachtete ihre älteren Nachbarn, die gemütlich auf Klappstühlen in der Morgensonne saßen, ihren Kaffee tranken und sich die Zeitung teilten. Die alte Dame stand auf und goss in Seelenruhe ihre Topfblumen, während ihr Mann ein verfrühtes Nickerchen machte. Bestimmt kein aufregendes Leben, aber sie schienen glücklicher miteinander als sie und Nick.

Nachdenklich sah Molly über die Dächer der umliegenden Häuser, driftete gedanklich nach Frankreich und fragte sich, wie spät es in Biarritz wohl gerade war. Sitzt er gerade beim Frühstück? Oder ist er bereits auf der Arbeit?

Auf ihrem Smartphone schaute sie nach der aktuellen Zeit in Biarritz. Offenbar war es dort mitten in der Nacht, was bedeutete, dass er wahrscheinlich noch schlief. In Gedanken malte sich Molly aus, wie ein federleichtes Satinlaken seinen Körper bedeckte, seine rechte Schulter frei lag und die zweite Betthälfte leer war. Oder liegt jemand neben ihm?

Die Ungewissheit ließ ihr keine Ruhe und sie suchte weiter auf Facebook nach ihm.

Der Name Alec allein brachte keine brauchbaren Ergebnisse, daher versuchte sie es mit »Christophe Durand«. Der Name war anscheinend nicht selten und Molly brauchte eine Weile, bis sie endlich mehr durch Zufall auf seine Seite stieß. Sie betrachtete sein Profilfoto, es war dasselbe, das er den Besuchern seiner Website präsentierte. Wieder fiel ihr auf, wie ernst er darauf wirkte. Die Haare waren inzwischen dunkler und kürzer, der Mantel eleganter als alles, was er damals getragen hatte. Und die Satinbettwäsche, in der sie sich ihn vorstellte, hätte früher so gar nicht zu ihm gepasst.

Molly sah sich jeden einzelnen Beitrag genau an, doch Christophe Durand nutzte seine Seite nur sporadisch. Der letzte Post lag bereits drei Monate zurück und handelte von einer Kunstaustellung in Bayonne, die schon beendet war. Die übrigen Beiträge widmeten sich ähnlichen Themen – bis auf ein paar wenige, die einen kleinen Einblick in seine eigene Arbeit gewährten. Jedoch nichts Privates und schon gar nichts von dem, was sie sich erhofft hatte. Schließlich wechselte sie zu Instagram.

Auf den ersten Blick schienen die Beiträge mit denen auf Facebook identisch zu sein. Aber dann stieß sie auf ein Foto, das ihn in einem Neoprenanzug mit Surfbrett unter dem Arm am Strand zeigte. Dazu der Hashtag #beforesunrise.

Genau wie damals, oder Alec? Das Surfen war schon immer deine große Leidenschaft.

Sie überflog weitere Beiträge und stolperte über ein Foto, das ihr Interesse weckte. Darauf war Alec mit einer älteren Frau zu sehen. Er hatte seinen Arm um die kleine, etwas streng wirkende Person gelegt. »Eine kluge, wundervolle Frau, zu der ich heute aufschaue«, kommentierte er das Bild.

Seine Mutter kann das unmöglich sein, er hat damals von ihr erzählt.

Selbst wenn Christophe Durand nur sehr wenig teilte, hatte er auf Instagram 9.000 Follower, während er selbst nur knapp 300 Leuten folgte. Molly sah sich die Liste gründlich an. Ein Großteil schien ebenfalls kunstinteressiert zu sein, war jedoch deutlich jünger als er und zumeist weiblich.

Mit einem Mal spürte sie einen Anflug von Eifersucht aufkommen und schämte sich zugleich dafür. Wie hatte sie einst tatsächlich glauben können, Alec würde sich ernsthaft für sie interessieren? Unwillkürlich dachte sie an sein Skizzenbuch, in dem sie damals über etwas gestolpert war, das sie vom Gegenteil überzeugt hatte.

Kapitel 3

Sydney, Australien

Heute

Molly fragte sich, ob sie nicht doch besser ein Taxi gerufen hätte, als sie im Erdgeschoss an der Tür ihrer Nachbarn klingelte. Der alte Herr hatte ihnen den Wagen zwar vor einiger Zeit zum Verleihen angeboten, es aber wahrscheinlich nicht ganz ernst gemeint, als er erklärt hatte: »In meinem Alter fährt man nicht mehr so viel. Aber ich habe es noch nicht übers Herz gebracht, mich von meinem alten Honda zu trennen. Von mir aus können Sie ihn gerne mal wieder aus der Garage holen.«

Gerade als Molly wieder zurück in ihre Wohnung gehen wollte, öffnete er die Tür.

Eine halbe Stunde später, Molly hatte inzwischen ein Stück selbst gebackenen Kuchen verspeist und sich in die Tücken des in die Jahre gekommenen Hondas einweisen lassen, machte sie sich auf den Weg zu ihrem Elternhaus, was sie etwas nervös machte. Ihr letzter Besuch lag bereits ein paar Monate zurück, außerdem hatte sie sich nicht angekündigt. Sie hatte nicht vor, lange zu bleiben, was ihre Mutter ihr sicher übel nehmen würde, sondern wollte nur etwas abholen.

Du bist stark, Molly. Du lässt dich von ihr nicht länger ins Bockshorn jagen. Dann wurde ihr bewusst, dass sie das längst getan hatte. Für wen sonst habe ich wohl meine schönste Bluse aus dem Schrank geholt?

Molly tuckerte mit dem alten Honda den vertrauten Hügel hinauf, von dem man einen fantastischen Blick auf die Stadt hatte. Als Kind hatte sie diese Aussicht als selbstverständlich genommen. Heute war das nicht mehr so. Nicht jedes Kind hatte die Möglichkeit, so privilegiert aufzuwachsen. Und trotzdem hast du es verbockt. Die vertraute Gedankenschleife lief durch ihren Kopf, während sie den Wagen in der steilen Seitenstraße parkte und den Motor verstummen ließ.

Auf geht’s.

Sie klappte die Sonnenblende nach oben und stieg aus dem Auto. Vor der Tür holte sie noch einmal tief Luft. Sie betrachtete das Klingelschild, auf dem ihr Geburtsname stand. Griffiths. Froh darüber, dass sie inzwischen anders hieß, betätigte sie den Knopf. Anstelle ihrer Mutter öffnete die Haushälterin, worüber sich Molly etwas wunderte, sich jedoch nichts anmerken ließ.

»Komme ich ungelegen?«

»Nein, ich putze gerade die Fenster.« Sie musterte Molly. »Deine Mum ist nicht da. Sie ist auf Bali.«

»Ich weiß«, antwortete sie, was eine glatte Lüge war. Aber die Haushälterin musste ja nicht unbedingt erfahren, dass sie seit der Hochzeit mit Nick kaum noch Kontakt zu ihrer Mutter hatte. »Ich will nur schnell etwas abholen.«

Die kräftige Frau Mitte fünfzig ließ Molly eintreten. »Darf ich dir einen Kaffee machen?«

»Nein danke, ich bleibe auch nicht lange.«

Während die Haushälterin, die vormittags immer zwei Stunden putzte, sich wieder den Fenstern widmete, ging Molly nach oben, was sich falsch anfühlte, da ihre Mutter nichts davon wusste. Dennoch wollte sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen und betrat auf leisen Sohlen ihr Schlafzimmer. Wie erwartet war das Bett ordentlich gemacht und die Zierkissen waren perfekt arrangiert.

Molly trat an den Schminktisch, schnüffelte an den Parfümfläschchen und öffnete die oberste Schublade, in der ihre Mutter ihr gesamtes Make-up aufbewahrte. Wozu brauchst du diesen ganzen Kram? Das ist fast schon bemitleidenswert. Ebenso befremdlich wirkte die begehbare Garderobe auf sie, die piekfein ausgestattet war, als handele es sich um eine der exquisiten Boutiquen der Stadt. Was hast du bloß in deinen Reisekoffer gepackt, Mum?

Schließlich ging sie in ihr ehemaliges Kinderzimmer, das ihre Mutter ohne ihr Einverständnis zum Gästezimmer umfunktioniert hatte. Dass sie den Raum erneut umgestaltet hatte, überraschte Molly nicht im Geringsten. Trotzdem setzte ihr Herzschlag kurz aus, bis sie realisierte, dass der Einbauschrank, der ihr kleines Geheimnis barg, noch vorhanden war.

Um sich zu vergewissern, dass die Putzfrau noch immer mit den Fenstern beschäftigt war, warf sie rasch einen Blick in den Flur. Dann zog sie den Stuhl vom Frisiertisch vor den geöffneten Schrank. Die Regale waren leer. An der Kleiderstange hingen lediglich ein paar mit weißem Stoff bezogene Kleiderbügel.

Molly schlüpfte aus ihren Schuhen, stieg auf die gepolsterte Sitzfläche und tastete auf Zehenspitzen mit ausgestrecktem Arm nach dem Schuhkarton, bis ihre Fingerspitzen ihn berührten, während sie sich mit der anderen Hand am unteren Regal festhielt.

Gerade als sie den Deckel von der Kartonschachtel nehmen wollte, hörte sie auf der Treppe Schritte. Schnell sprang sie vom Stuhl und schloss die Schranktüren. Den Stuhl stellte sie wieder ordentlich an seinen Platz zurück.

»Praktisch, wenn man dieselbe Schuhgröße hat«, erwähnte Molly beiläufig, als sie am Treppenabsatz an der Putzfrau vorbeikam. Auch wenn Molly ihr die Verwunderung darüber ansehen konnte, dass Mutter und Tochter denselben Schuh-Geschmack haben sollten, kam keine Reaktion und dabei würde es hoffentlich auch bleiben.

Erst als Molly wieder im Wagen saß, traute sie sich, die Schachtel zu öffnen. Sofort lächelte ihr ihr dreiundzwanzigjähriges Ich unbeschwert entgegen, was ihr einen schmerzhaften Stich versetzte. Genauso wie das alte Foto von Alec mit dem Strand im Hintergrund, das sie damals von ihm gemacht hatte. Er wollte, dass sie es wieder löschte, und wusste nicht, dass es noch existierte.

Je länger sie sein Gesicht darauf betrachtete, desto mehr fiel ihr sein kühler Blick auf. Vielleicht täuschte das, weil der Lichteinfall auf der Momentaufnahme nicht optimal war und seine Augen dadurch relativ dunkel wirkten. Oder redete sie sich das bloß ein, weil sie tief in ihrem Herzen noch immer glauben wollte, dass er für sie dasselbe empfunden hatte wie sie für ihn und mit Emilys Verschwinden nichts zu tun hatte?

Behutsam nahm sie das pastellgelbe Buch mit den schwarzen Stoffecken aus seinem Versteck und blätterte durch die Seiten. Die Arbeiten mit Bleistift und schwarzer Farbe zeigten dunkle Gestalten, die allein durch das perfekte Schattieren den Eindruck erweckten, sie könnten jeden Augenblick zum Leben erwachen, ihre Flügel ausbreiten und davonfliegen. Immer noch fasziniert davon, blätterte Molly weiter. Die nächste Zeichnung war ihr auch heute noch ein Dorn im Auge. Damals hatte das Bild sie so gekränkt, dass sie die Seite am liebsten herausgerissen hätte. Was unüberlegt und ziemlich dumm gewesen wäre.

Auf dem Rückweg verbiss sie sich in der Vorstellung, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Ihre Gedanken überschlugen sich förmlich.

Alec, warum hast du mir das Gefühl gegeben, ich würde dir etwas bedeuten, wenn es in Wahrheit nie so war?

Verdammt, Molly, hör auf, so kindisch zu sein. Das Ganze liegt zehn Jahre zurück, ich bin inzwischen verheiratet. Und mein Gott, was ist mit Emily? Wie kann ich mich selbst so wichtig nehmen, wenn Emily noch immer verschwunden ist?

Alec wäre nicht so plötzlich gegangen, wenn er nichts zu verbergen gehabt hätte.

Zurück in ihrer Wohnung ging Molly verschiedene Möglichkeiten durch. Kurz zog sie sogar in Erwägung, Kontakt zu dem Polizisten aufzunehmen, der sich damals um Emilys Fall gekümmert hatte. Diesen Gedanken verwarf sie schnell wieder, da er ihre plötzliche Anwandlung mit Sicherheit als Hirngespinst abtun würde.

Ich habe Alec im Fernsehen gesehen. Er lebt heute in Frankreich und nennt sich Christophe Durand. Damals habe ich ihn nicht erwähnt, weil ich mir eingeredet habe, dass er mit Emilys Verschwinden nichts zu tun hat. Inzwischen habe ich meine Meinung geändert. Und schauen Sie nur, was ich für Sie habe. Sie können das Buch ruhig durchblättern.

Das Ganze klang derart an den Haaren herbeigezogen, dass sie es nicht einmal selbst ernst nehmen konnte.

Sie stellte ihr leeres Wasserglas ins Spülbecken und dachte über weitere Möglichkeiten der sozialen Netzwerke nach, um Alec, oder sollte sie besser Christophe sagen, ein wenig nachzuspionieren. Weil sie sich jedoch nicht traute, direkt und mit ihrem persönlichen Profil auf ihn zuzugehen, erstellte sie aus einer Eingebung heraus ein neues Profil mit einem erfundenen Namen. Art.love.Emma.

Perfekt.

Sie sah von ihrem Smartphone auf und überlegte fieberhaft, wie sie ihren Steckbrief gestalten sollte. Schließlich fielen ihr die passenden Schlagworte ein. Künstlerin, Lebenskünstlerin und Schöpferin meiner selbst.

Emma ist perfekt. Wer würde Emma nicht mögen?

Aber Instagram lebte nicht allein von sorgfältig ausgewählten Worten, sondern vielmehr von einer Flut aus Bildern, das war ihr klar. Da sie ihr Kunststudium abgebrochen und seither weder gezeichnet noch etwas mit ihren eigenen Händen erschaffen hatte, musste sie sich woanders bedienen.

Spontan dachte sie an den Künstler, für den sie arbeitete. An seine Skulpturen, die sie in der Galerie fotografiert und auf ihrem Mobiltelefon gespeichert hatte.

Was sie vorhatte, war etwas gewagt und mit ihrem Gewissen nicht unbedingt zu vereinbaren. Trotzdem wollte sie an der Idee festhalten. Da ihr Arbeitgeber die sozialen Netzwerke zum Glück nicht nutzte, würde er davon nichts mitbekommen. Außerdem könnte sie das Fake-Profil jederzeit löschen.

Bevor sie es sich anders überlegte, postete sie das erste Bild. Zwei lasziv übereinandergeschlagene Frauenbeine aus Holz, die glänzten wie frisch geschmolzene Schokolade und perfekt auf einen Esstisch oder ein langes Sideboard passen würden. »Provokante Weiblichkeit«, schrieb sie spontan dazu. Worte, die ihr jedes Mal in den Sinn kamen, wenn sie die Skulptur betrachtete. Dann veröffentlichte sie noch zwei weitere Fotos mit passenden Beschreibungen.

In der Hoffnung, einige würden dasselbe für Art.love. Emma tun, überflog Molly Christophe Durands Follower-Liste und tippte willkürlich auf Folgen, damit ihr Profil weniger verlassen wirkte.

Erneut betrachtete sie das Foto, das Alec mit der älteren Frau zeigte, um deren Schultern er seinen Arm gelegt hatte. Weil sie es nicht dabei belassen konnte, kommentierte sie den Beitrag.

»Was wäre die Welt ohne Vorbilder?«

Dann legte sie ihr Smartphone weg, ihr Herz pochte noch immer spürbar.

Wird er auf den Kommentar reagieren?

Zwei Tage später kam eine Reaktion. Zwar hatte er nicht auf den Kommentar geantwortet, aber er folgte ihr zumindest schon einmal. Das brachte sie kurz aus dem Konzept, da Art.love.Emma nun offiziell zu seiner kleinen erlesenen Gruppe gehörte.

Wenn das kein Zeichen ist. Eine leichte Euphorie kam in ihr auf.

Kapitel 4

Byron Bay, Australien

Damals, zehn Jahre zuvor

Molly sprang aus dem Bett, streckte sich gähnend und riss gut gelaunt das Fenster auf. Wieder so ein perfekter Tag, der sich anfühlte, als könnte man die ganze Welt umarmen.

Zufrieden stützte sie sich mit den Unterarmen auf die Fensterbank, sah hinunter auf die Straße und beobachtete all die coolen Leute, die gemächlich über die Gehwege flanierten. In den Bäumen zwitscherten die Vögel und am Himmel zogen ein paar Schleierwolken vorüber, die aber nie für Schatten sorgten.

Molly liebte das entspannte Flair, das in Byron Bay den Ton angab, während in Sydney immer alle so beschäftigt wirkten. Vor allem ihre Eltern taten, als befänden sie sich permanent auf einer lebenswichtigen Mission. Sollen die doch weitermachen wie bisher. Überzeugt, alles besser zu machen, weil sie ihr altes, mit Vorschriften behaftetes Leben hinter sich gelassen hatte, hätten sie ihr nicht gleichgültiger sein können. Hier in Byron Bay würde sie noch einmal ganz neu anfangen.

Sie sah noch eine Weile aus dem Fenster, danach zog sie sich rasch an und ging nach draußen. Das Leben fand nun einmal nicht drinnen statt. Oder gibt es was Schöneres, als den Tag mit einem frisch zubereiteten Smoothie in der Sonne zu beginnen?

In dem kleinen Café hatten sich bereits ein paar Leute versammelt. Trotzdem gab es keine richtige Warteschlange, was ihr schon öfter aufgefallen war. Die meisten hier waren Stammkunden und ebenso entspannt wie die junge Geschäftsführerin, die ihr Herz auf der Zunge trug und sich gerne mit ihrer Kundschaft austauschte. Oder sich auch mal spontan fürs Surfen verabredete.

Vom Surfen hatte Molly keine Ahnung, hätte aber zu gerne mitreden oder sich jemandem anschließen können. Die anderen Gäste hielten sie sicher für eine Touristin, die schon bald weiterziehen würde.

»Du warst gestern auch schon hier, stimmt’s?«

Es war nur eine simple Frage, dennoch zauberte sie sofort zwei hübsche Grübchen in Mollys Wangen. »Ja, eure Smoothies sind der Hammer.«

»Danke, freut mich zu hören. Ich gebe mein Bestes. Man lebt schließlich nur einmal, oder?«

»Ja, das stimmt«, pflichtete Molly ihr bei und hätte den Smalltalk am liebsten in die Länge gezogen, aber es wollte ihr partout nichts Originelles einfallen, nachdem sie ihre Bestellung an der Theke aufgegeben hatte. Aber morgen ist auch noch ein Tag. Beim Hinausgehen sog sie genüsslich am Strohhalm ihres Mango-Banane-Smoothies.