Das Rot, das nach Asche riecht - Milenko Goranović - E-Book

Das Rot, das nach Asche riecht E-Book

Milenko Goranović

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Beschreibung

Am Mittwoch, dem 4. Juni 1968 Punkt 16.25 Uhr kam es in Sarajevo zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen protestierenden Studenten und der Polizei. Die Studenten wollten das baufällige Gebäude des ehemaligen Gefängnises "Beledija" erstürmen. Unter den Studenten auch ein verliebter Schüler der Bautechnischen Schule am Zirkusplatz. Doch dann zog ein Gewitter auf, ein gewaltiger Wolkenbruch, mit Wind und Hagel. Schlimm. Trotzdem nichts Besonderes, wenn … Wenn nicht ein neunjähriger Junge ein altes Heft kurz vor dem Unwetter an einem vermeintlich sicheren Ort versteckt hätte. Und wenn die Polizei nicht genau dieses Heft gesucht hätte. Und wenn dieses Heft – plüschgrün mit goldgeprägten Weinblättern darauf – nicht das Letzte gewesen wäre, was von der Bauhauskünstlerin Ida Špieler übrigblieb ... Basierend auf einem realen historischen Hintergrund erzählt der Roman "Das Rot, das nach Asche riecht" von dieser Bauhauskünstlerin. Und von ihrem Heft. Und von ihrem Leben. Und von dem Jungen, der das Heft stahl. Und erklärt, warum ein verliebter Schüler die Beledija erstürmen wollte. Und warum ein leuchtendes Rot nach Asche riecht und warum der Erzähler all das heute, viele Jahre danach, erzählen muss. Es ist eine Erzählung von der Vergangenheit und von der Gegenwart, von Hoffnung und Enttäuschung, von Liebe und Hass, in einem Wort: eine Erzählung aus Sarajevo.

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MILENKO GORANOVIC

Das Rot,das nach Asche riecht

Roman

Der Roman Das Rot, das nach Asche riecht wurdedurch das Grenzgänger-Programm derRobert-Bosch-Stiftung und vomLiterarischen Colloquium Berlin gefördert.

A-9020 Klagenfurt/Celovec, 8.-Mai-Straße 12Telefon: +43(0)463 37036 Fax: +43(0)463 [email protected]

© Copyright dieser Ausgabe bei Wieser Verlag GmbH,2019, Klagenfurt / CelovecAlle Rechte dieser Ausgabe vorbehaltenLektorat: Carsten SchmidtISBN 978-3-99029-362-1eISBN 978-3-99047-102-9

– Für Bettina –

INHALT

DAS PLÜSCHGRÜNE HEFT

1 Jula

2 Eine stürmische Juninacht, Sarajevo 1968

3 Tilava, die Absteige am Zirkusplatz in Sarajevo

4 Tanja, die Schöne

5 Die Beledija, ein Palast zwischen Himmel und Erde

6 Malik, die kleine Ratte

BELEDIJA

1 Lucies Barke

2 Katja

3 Der einbeinige Nasenabschneider

4 Hasan Kula

5 Der Meister der Gespinste

6 Ojsa, Ojsalla

7 Eidechsennest namens Prenj

8 Ida Špieler, Sarajevo, August 1922

9 Trauer in Sarajevo

10 Beledija. Noch einmal

IDA UND ŠVABO

1 Die Fete der Feten

2 Der Tag danach. Oder: Die Beledija schon wieder

3 Bauhaus Dessau, Samstag, der 2. Februar 1929

4 Berlin, Wedding, 1. Mai 1929

5 Dessau, 12. 02. 1932

DIE FLUCHT

1 Berlin, Fasanenstraße, 03. 10. 1937

2 London, 24. Juni 1938

3 Ein verregneter Berliner Sonntag, April 2016

4 Die lange Reise von London nach Budapest

5 Budapest. 30. Juni 1944

DER STURM

1 Professor Švabo, Sarajevo, Juni 1965

2 Geljo Hamo Ćopo

3 Der Sturm

4 Selma, Geljo, sein Rucksack und eine Pistole drin

5 Malik, die kleine Ratte wieder

6 Munja und Nele

7 Sarajevo wieder

EPILOG

AKTUELLER HINWEIS

HISTORISCHE ANMERKUNGEN

DANKSAGUNG

DAS PLÜSCHGRÜNE HEFT

1 Jula

Das erste Mal sah ich Jula vor vier Jahren. Es war ein trüber Vormittag, Regen. Oktober. Winterkälte. Jemand klopfte an meine Tür. Wer soll denn schon so früh am Tag etwas von mir und Katja wollen? Eine junge Frau, verloren in einem dicken Mantel, Strickkäppchen, Sneakers, Jeans, entschuldigt sich, fragt, ob ich der und der wäre, lächelt dann erleichtert, sagt, sie hätte mich lange gesucht. Sie wäre übrigens auch eine Berlinerin, aber sie käme gerade aus Sarajevo. Sie heiße so und so. Danach schwieg sie, als ob mir ihr Name etwas sagen sollte. Ich konnte mich nicht erinnern, diese Frau jemals gesehen zu haben, weder in Sarajevo noch sonst wo, sie sprach kein Bosnisch, sondern Deutsch, sah trotzdem fremd aus, ich war müde, Katja krank, der Tag trüb, das Treppenhaus zugig, also sagte ich, danke schön, ich habe keine Zeit.

Doch bevor ich die Tür schließen konnte, fügte das Strickkäppchen hinzu, sie wolle ein Buch über die Beledija schreiben. Ich habe die Tür wieder geöffnet. Die Beledija lag mir im Magen, unverdaut seit Jahrzehnten, oder an den Nieren, ich weiß nicht, wo – und diese junge Frau wusste das. Irgendwie. Sie knipste dann das Licht noch einmal an, ich konnte sie jetzt besser sehen, ihr Gesicht war mir noch immer unbekannt, oder jetzt erst richtig, doch jetzt wusste ich, es war keine Verwechslung. Sie heiße Jula Geljo, wiederholte sie, ich müsse mich bestimmt an ihren Vater erinnern. Erst dann begann ich langsam zu begreifen, wer sie war. Sie hatte ich tatsächlich noch nie gesehen. Ihren Vater aber schon.

Geljo Ćopo war ein Architekt, ein guter, der überall gearbeitet hatte und es auch weiterhin hätte tun können, im Westen wie im Osten, er hätte auch gut in Zagreb bleiben können, aus seinem Namen hätte man schwer seine Ethnie herausgelesen, aber er kam nach Sarajevo. Im August 1992 wurde er erschossen.

Die alte Ordnung war weg, die neue war noch nicht da, alles in der Schwebe, alles möglich. Es wurde geliebt und gehasst, Liebeslieder gesungen, Märchen erzählt, Schädel zertrümmert, Kinder verkauft, Hoffnung, Kollaps, Umbruch, Aufbruch, alles. Anarchie, eine Riesenwelle schwappte damals von irgendwoher nach Sarajevo über, der Mob jaulte und jauchzte, quasselte von Freiheit, die von unten kamen nach oben und umgekehrt, alles durcheinander und ich mittendrin; ohne mein Zutun bekam ich eine Position, die ich ganze 97 Tage ausüben durfte: Ich war der Stellvertreter des Direktors der Städtischen Museen, klingt groß, war nichts, ich war nur im falschen Moment am richtigen Ort, oder umgekehrt, so wie es mein ganzes Leben lang war, stillstehen, geschehen lassen, warten. Und ich hatte den richtigen Namen für die komplizierte Arithmetik der Postenverteilung. Aber zu sagen hatte ich nichts, zwischen all den Kriminellen und Waffenschiebern, ohne Geld, ohne Unterstützung, keine Partei, keine Macht, ich war nur ein Platzhalter. Und auch das nur auf Abruf. Ich war ja nur ein Buchhalter. Doch der Posten schützte vor Einberufung. Auch nicht schlecht, wenn es zum Krieg kommt. Also habe ich „ja“ gesagt. Zwei, drei Tage später entdeckte ich einen Richterspruch, der ein Jahr davor ergangen war und besagte, dass die alte Beledija als Immobilie den Städtischen Museen gehört. Davor gab es ein jahrzehntelanges Geschachere, wem warum die Beledija gehört und was daraus entstehen sollte.

Ich habe dann Geljo Ćopo in Zagreb angerufen, erzählt, wer ich bin, was ich will, erklärt, dass er sich jetzt gerne seinen alten Wunsch erfüllen könne, er könne jetzt die alte Beledija umbauen, vielleicht zu einem Ausstellungsort machen, ein Haus der Geschichte, oder so, die Stadt hätte nichts dagegen, aber es fehle das Geld. Das neugewählte Stadtparlament wäre zwar bereit, einen Teil der Kosten zu übernehmen, ich kannte auch ein paar Leute, wir könnten gemeinsam den Rest des Geldes suchen, was er davon halte.

Ich hätte gar nicht so viel reden müssen, Geljo Ćopo wäre nach Sarajevo gekommen, auch wenn er alles selber hätte bezahlen müssen. Auch er hatte eine alte Rechnung mit der Beledija offen, noch aus der Zeit, als er Schüler an der Bautechnischen Schule in Sarajevo war. Das hatte er selber mehrfach in Interviews erzählt; nichts würde er so gerne in seiner Geburtsstadt anpacken wollen wie die alte Beledija. Das Rad der Geschichte könne man nicht zurückdrehen, aber den Foltergeist könne man schon bändigen, jedenfalls sichtbar machen. Wir sollen versuchen, eine andere, schönere Geschichte zu erzählen, auch die wäre da, man muss nur an der Oberfläche ein bisschen kratzen, man muss nur wollen. So oder so ähnlich hat er es gesagt. Später hat er mir erzählt, dass man seinen Großvater sieben Tage lang in der Beledija auf den Kopf schlug und anschließend aus dem Fenster im dritten Stock warf, 1936, oder 1937. Es ist schon eine Weile her, an alle Details kann ich mich nicht mehr erinnern.

Mit Geljos Zusage habe ich dann der Stadt den Vorschlag gemacht, die Beledija in mehreren Phasen umzubauen, zunächst nur ein Ausstellungsort im Erdgeschoss, dann peu a peu den Rest und am Ende, so etwa 1996 oder 1997, auch die Glaskuppel draufzusetzen, so wie es vom ersten Baumeister Moritz Berger geplant war; auch da rannte ich weit geöffnete Türen ein: Das alte Gefängnis, die Beledija, bröckelte seit dem Zweiten Weltkrieg vor sich hin, offiziell leer, inoffiziell voll besetzt, Menschen, Tiere, Autos. Ein Unterschlupf für Junkies, Taschendiebe, Gemüsehändler, Flüchtlinge, sogar für einen Automechaniker, der hatte sogar den Gefängnishof besetzt. Deswegen bekamen die Städtischen Museen es überhaupt zurück, man wusste nichts mit der Immobilie anzufangen. Aber wenn man so einen Ort in etwas Sinnvolles umwandelt, und dann mit so einem Architekten, so kostengünstig, so schnell, das wolle man gerne unterstützen. Das hat mir der neue Bürgermeister persönlich versprochen.

Nun ja, seine politische Karriere war noch kürzer als meine. Als er noch an der Macht war, verlangte er, der Bürgermeister, von mir, dem Stellvertreter, einen Vorschlag zu unterbreiten, was man wie in der alten Beledija machen könnte, damit da endlich etwas Sinnvolles entstehe, damit wir in fünf, zehn Jahren sagen können: Ja, Sarajevo ist jetzt viel, viel schöner, alles ist besser. Eigentlich hat er das nicht von mir verlangt, zwischen uns gab es behördlich einen ziemlich großen Abstand, er hatte den Vorschlag vom neuen Kulturamtschef erwartet und der wiederum vom Direktor, dessen Stellvertreter ich war, aber die waren bereits weggespült worden, wie gesagt, es war jene seltsame Periode, in der man an einem Tag himmelhoch fliegt, am nächsten schon im Straßengraben verendet. Also habe ich es gemacht. Ja, richtig, ziemlich gestrig, ein Fünfjahresplan war das – und ja, ich habe wirklich geglaubt, dass es möglich wäre, den Foltergeist, von dem Geljo sprach, aus diesem finsteren Gebäude zu verbannen. Der Bürgermeister und die ganze Stadt dachten ähnlich, alles wurde ganz schnell genehmigt und noch schneller ad acta gelegt, man solle erst einmal abwarten, was morgen käme.

Es wäre vernünftiger gewesen, wenn Geljo und ich genauso gehandelt hätten. Aber wir wollten nicht warten. Der Automechaniker kam zuerst dran, er hat natürlich zunächst gelacht, sich dann geweigert, den Räumungsgesuch überhaupt anzunehmen, dann angenommen, dann geflucht, danach gebettelt, es hat ihm nicht geholfen, das Gesetz war auf unserer Seite. Als wir mit der Polizei kamen, musste er seine Autos woanders unterbringen; mit den Flüchtlingen wollten wir uns Zeit nehmen, mussten wir auch. Da war nicht so klar, wer und wann die Genehmigung erteilt hatte. Aber uns ging es sowieso nicht um das ganze Gebäude. Die Eingangshalle war jetzt leer, und da wollten wir starten und dann nach und nach die weiteren Räume befreien, eine Befreiung von innen heraus, bis wir die ganze alte Beledija frei bekämen, damit wir dann richtig beginnen könnten.

Er hat mir auch die Kopien der alten Pläne des ersten Baumeisters Moritz Berger gezeigt. Nicht zufällig nannte man ihn „Meister der Gespinste.“ Denn alles, was sich dieser Moritz Berger vorgestellt hatte, war zart und zauberhaft. Lichtdurchflutet. Danach war ich noch mehr überzeugt, dass wir das Richtige tun. So habe ich selber die alten Ölkanister und verrosteten Schrauben weggeschafft, den Boden geschrubbt, Geljo Ćopo stand auch nicht nur daneben, er hat persönlich den Pinsel genommen, ist auf die Leiter gestiegen und hat alles weiß angestrichen. Auch er selber wusste, dass wir nicht unendlich viel Zeit hatten. Die Eröffnung der leeren Galerie war für den 6. April 1992 geplant, ein bisschen deswegen, weil wir die Stunde Null suggerieren wollten und noch mehr, weil wir gar nicht so sicher waren, was wir da alles ausstellen sollten. Wichtig war, sich der Trostlosigkeit entgegenzustellen. Aber kurz vor dem Eröffnungstermin kam der Automechaniker zurück, mit fünf Autos, in jedem Auto fünf Kerle, alle bewaffnet, ich war nicht dabei. Geljo schon. So, sagte der Automechaniker, du schuldest mir 22.345 DM für jeden Monat, in dem ich nicht gearbeitet habe, geh nach Hause und komm mit dem Geld zurück. Oder soll ich meine Leute zu dir schicken?

Als ich den Bürgermeister aufsuchen wollte, gab es ihn nicht mehr, er war weggescheucht worden, zwei Tage später wurde auch ich weggespült und der ganze Fünfjahresplan mit mir, alles wurde einfach vergessen, es gab Wichtigeres zu tun. An diesem Tag fielen die ersten Granaten, vor unserer Galerie standen bereits Sandsäcke aufgetürmt, das war jetzt das weißgestrichene Hauptquartier der Polizeieinheit, deren Kommandant der Automechaniker war.

Nun, so ist es im Leben, mal verliert man langsam, mal geht das ganz schnell, trotzdem dachte ich und wohl auch Geljo, all das wäre nur ein vorläufiger Knick, sobald der Krieg vorbei wäre, würden wir dort weitermachen können, wo wir stehengeblieben waren. Wir müssten uns jetzt nur in Geduld üben, haben wir gedacht. Wir haben sogar weitergearbeitet. Eigentlich nur weitergesponnen, aber das weiß ich erst jetzt. Einmal hatte er sogar mit einem Stück Kohle auf die weiße Wand gezeichnet, wie die neue alte Beledija mit der Glaskuppel dereinst aussehen würde. Bei mir im Keller. Bei Kerzenlicht. Da hatten wir Raum genug. Erst jetzt merke ich, wie absurd diese Höhlenmalerei war. Damals hätte ich wegen der Schönheit heulen können.

Er kam oft zu mir, fast jeden Tag und wir begannen endlich auch darüber zu brüten, worüber wir eigentlich davor hätten brüten müssen, nämlich was da drin ausgestellt werden soll. Solange ich mich erinnern kann, war die Beledija ein finsteres, halbverfallenes, verlassenes Gebäude, kein Knast mehr und trotzdem noch immer ein Unort, oder erst recht dadurch ein Unort geworden, weil er verlassen war. Verlassen, aber nicht leer. Mitten in der Čaršija, gleich neben dem Rathaus, so zentral, dass man es nicht nicht-sehen konnte, auch wenn man nicht hinschaut, zu groß, zu hässlich, zu voll, und vor allem, zu lange ein Knast gewesen, in dem jeder mal drin war, ob als Gefangener oder als Henker, egal, das spielt keine Rolle. Jeder wusste, was die Beledija ist, aber keiner wusste, wie man damit umgehen sollte. Wegschleifen – geht nicht, ein Mahnmal, nicht wegschleifen genauso wenig, vergessen erst recht nicht, so eine Halbruine kann man einfach nicht übersehen, eine offene Wunde. Es blieb wie ein Stück trockenes Brot, das einem im Hals steckenbleibt, schlucken – geht nicht, ausspucken noch weniger. Es gab auch niemanden, der einen auf den Rücken klopft. Aber wie zeigt man das? Wie erzählt man diese Geschichte? Die leeren, weißen Wände, das könnte irgendwie für die Eröffnung noch in Ordnung sein, aber was und wie weiter? Ohne Nahrung, ohne Wasser, ohne Luft, auch ohne Licht, ohne alles kann der Mensch aushalten, nur ohne Geschichten nicht. Und dann noch in Sarajevo. Doch wie viele Geschichten muss man in Sarajevo erzählen, damit ein Abgrund zugeschüttet wird?

Eine vernünftige Antwort haben wir natürlich nicht gefunden, wie auch, auch uns wurde langsam klar, dass wir zunächst das Ende des Krieges abwarten sollten, denn es könnte am Ende auch so kommen, dass dereinst nicht wir zwei, sondern der Automechaniker der zukünftige Erzähler wird; in dem Fall, sagte Geljo, werden wir zwei in unserer Galerie ganz prominent aufgehängt werden. Und zwar nur, wenn es gut läuft. Er hatte einen guten Humor. Doch bald konnten wir uns nicht mehr so oft treffen, der Krieg nahm an Fahrt auf, Geljo hatte auch ein kränkliches Kind, das wusste ich, eine Tochter, da hat man andere Sorgen; später sah ich ihn fast gar nicht mehr, am Ende wusste ich überhaupt nicht, ob er noch in Sarajevo war, er wollte unbedingt versuchen, mit dem kränklichen Kind rauszukommen, ich dachte nicht mehr an ihn, ich hatte auch andere Sorgen.

Doch eines Tages fand er wieder zu mir, verprügelt, geschlagen, mit blutunterlaufenen Augen, die Nase gebrochen, mit zerquetschter Hand, einen schmutzigen Verband um die gebrochenen Finger. „Mein Kind, mein Kind, meine Tochter.“

Die Kerle des Automechanikers hatten ihn gefunden. Ich wollte wissen, wer genau, wo, wie, aber davon wollte er nicht reden. Das war nicht sein Problem, er hatte Angst um sein Kind. Er hat nicht ein einziges Mal erwähnt, dass sein Kind ein Adoptivkind war, noch weniger, dass seine Tochter dunkelhäutig wäre, also konnte ich Jula dann gar nicht mit ihm in Verbindung bringen, als sie 22 Jahre später an meine Tür klopfte.

Egal, ich wollte Geljo helfen, schließlich war ich es, der ihn nach Sarajevo gelockt hatte. Am nächsten Tag ging ich zu Predo Finci. Ich wusste, dass seine Hilfsorganisation gerade dabei war, einen Konvoi für Waisenkinder zu organisieren. Wenn ich Geljos Kind helfe, habe ich auch ihm ein bisschen geholfen. Zu meiner Freude hat Predo Finci sofort zugesagt, Geljo hat sich dann sofort mit Papieren bei Predo gemeldet, das Kind wurde tatsächlich auf die Liste gesetzt, die Liste wurde von der Polizei auch genehmigt, das Kind dann tatsächlich gerettet, aber Geljo blieb in Sarajevo.

Vielleicht war es gar nicht der Automechaniker, der geschossen hatte, das war gar nicht sein Territorium. Es war der 1. August, es war heiß, das Kind ohnehin kränklich, Geljo hatte die Fünfjährige in den Armen zum Bus gebracht, die Finger bandagiert, das Kind wollte sich von ihm nicht trennen, hatte Angst, hat geweint, ach, was geweint, gebrüllt hat das Kind, so geschrien, dass auch alle anderen Kinder angefangen haben zu brüllen, zu schreien, zu heulen, alle waren verzweifelt, Geljo, die Polizisten, die Erzieher, die Kinder. Es war alles so mühsam ausgehandelt, mit jeder der unzähligen Armeen musste man einzeln verhandeln, damit sie an diesem 1. August 1992 für 30 Minuten das Feuer einstellen, von 10.00 bis 10.30, schon um 10.31 wollte man weiterschießen, das war beschlossene Sache – und wenn der Bus in diesem Zeitfenster nicht durch ist, dann kannst du dich auf etwas gefasst machen. Aber das Kind schrie und schrie, drohte ohnmächtig zu werden, also bat Geljo einen der Polizisten, ein paar hundert Meter mitfahren zu dürfen – im Bus waren nur zwei erwachsene Personen erlaubt, der Fahrer und eine Erzieherin – schon in der nächsten Straße würde er aussteigen, dem Kind irgendwas erzählen, irgendwas erfinden und den Bus verlassen. Als der Bus dann zwei Straßen weiter stoppte, damit Geljo seiner Tochter ein großes Eis und eine große Cola und riesengroße Schokoriegel und was-weiß-ich-noch für den Weg besorgen kann, kamen die Kugeln. Woher, weiß ich nicht. Predo auch nicht. Er hat mir all das erzählt. Später, viel später. Der Polizist konnte aussteigen, Geljo und zwei Kinder, der einjährige Roki Sulejmanović und die zweijährige Vedrana Glavaš blieben liegen. Das war Samstag. Am Sonntag fuhr der Konvoi trotzdem weiter. Geljos Kind auch. Nach Split. Von Split nach Monza. Nach dem Krieg begann Geljos Mutter, „ihr Kind“ zu suchen. Fand es auch in einem Kinderheim namens Mamma Ritta. Sie sprach weder Italienisch noch Englisch noch sonst so eine Weltsprache, noch hatte sie jemanden, der für sie sprechen konnte, auch ihre Papiere waren dürftig, aber zwei Jahre später bekam sie trotzdem „ihr Kind“ zurück.

22 Jahre später stand dieses Kind, jetzt eine junge Frau, vor meiner Tür und sagte, sie heiße Jula Geljo, sie schreibe ein Buch über die Beledija und deswegen würde sie gerne mit mir reden, vielleicht könne ich ihr helfen.

Eigentlich wollte sie zunächst nur ihre Magisterarbeit an der UdK machen, Architektur als Sozialutopie, also begann sie zu forschen, Sarajevo, Dessau, Haifa, Berlin natürlich auch, fand mehr Geschichten, als sie für eine Magisterarbeit gebrauchen konnte, so schreibt sie jetzt auch ein Buch, dazu kam noch ein Zufall, man suchte in Brüssel gerade Frieden stiftende Projekte auf dem Westbalkan, sie hat sich beworben, und wenn das klappt, kann sie sogar Geljos alten Wunsch erfüllen. Sie nannte ihren Vater immer nur Geljo.

Schön für sie, habe ich gesagt, aber ich habe für die Beledija im Moment keine Zeit. Dass es auch für sie besser wäre, die Finger von der Beledija zu lassen und all diese und ähnliche Frieden stiftende Projekte in Bosnien zu vergessen, habe ich nicht gesagt, aber gedacht.

Ach, Kind, warte nur ab. Wahrscheinlich hat sie mich durchschaut, sie lächelte, als ob ich etwas nicht so richtig verstanden hätte, sie sei übrigens nicht allein, sagte sie, das Beledija-Projekt macht sie mit ihrem Freund Aris zusammen und tausende andere seien auch dabei und alles sei ganz organisch entstanden, keine Megalomanie, sie haben auch eine Website, von überallher kommen unterstützende Worte für so ein Projekt, endlich mal in Bosnien einen Ort zu haben, wo nicht kleinkarierte Nationalscheiße erzählt wird, sie sagte es genau so, kleinkarierte Nationalscheiße, es wird ein Haus der Geschichte entstehen, und wenn es ganz gut läuft, auch ein Haus der Gegenwart, für alle, richtig für alle, für Christen, für Muslime, für Juden, für Gläubige, für Ungläubige und für alle anderen auch, nicht nur in Bosnien, sondern auf dem ganzen Balkan, und die Magisterarbeit hat sie fast schon fertig und das Buch, das kommt natürlich auch, sowieso, sie weiß schon, wie ihr Buch heißen wird, „Das Rot, das nach Asche riecht“, sie könne mir auch erklären, warum.

Nun, wie ihr Buch heißen wird und warum und ob überhaupt, das war mir herzlich egal. Nur weil der Titel so umständlich war, blieb er mir damals im Kopf hängen. Es war kalt im Treppenhaus, ich war müde, machtlos, kraftlos, das Licht ging aus, nur ihre Augen glühten, trotzdem merkte sie, dass ich ungeduldig war, versuchte noch in abgewürgten Halbsätzen schnell zu erklären, was sie eigentlich von mir wissen wollte. Sie hätte in Haifa eine Verwandte der Bauhauskünstlerin Ida Špieler gefunden, die wiederum eine Verwandte des ersten Baumeisters Moritz Berger wäre, ob mir der Name etwas sagt. Der Name sagte mir nichts, ich hatte auch keine Zeit, Katja musste ihre Medikamente einnehmen, also habe ich die Tür zugemacht. Ich habe gemerkt, dass sie sehr enttäuscht war, aber ich wusste nicht, wie ich ihr helfen könnte, sie schaffte nur noch, mir ihr Kärtchen mit der Telefonnummer zu geben, ich nahm es, aber nicht, weil ich mit ihr telefonieren wollte; ich werde sie nie wieder im Leben sehen, dachte ich. Besser gesagt, ich habe gar nichts gedacht, die Vergangenheit klopft jeden Tag an meine Tür, das heißt aber nicht, dass ich jedes Mal öffnen muss. Danach bin ich zu Katja gegangen, habe mich auf die Bettkannte gesetzt und gesagt, ich habe eine neue Geschichte für dich.

2 Eine stürmische Juninacht, Sarajevo 1968

Es war Samstag, der 8. Juni 1968, als die kleine Wohnung von Professor Švabo gestürmt wurde. Nein, es war bereits Sonntag, der 9., Mitternacht war vorbei. Zehn, fünfzehn Polizisten brachen herein, wuchtig, hungrig. Lustvoll. Atemlos. Die kleine Wohnung war im dreizehnten Stock, der Aufzug kaputt, die Männer müde, mürbe, unausgeschlafen, aber die Freude war riesengroß. Darauf hatten sie ja so lange warten müssen.

Zwei Monate hatten sie nichts anders gemacht als gewartet, waren wie Hühner in einen Käfig gesperrt, nicht nur die Milizionäre aus Sarajevo und Mostar, auch die aus Zenica mussten aushelfen, die Reserve nicht mitzuzählen, und sie alle wurden in eine kleine Kaserne eingepfercht und in Hab Acht gehalten, einfach so, ohne irgendwas zu machen, zwei Monate, nur um zu warten. Bei der Hitze. In dieser Kasematte. Bei der Strenge. Disziplin. Dünner Tee zum Frühstück, Fleischkonserven für den Rest des Tages. Man begann sich zu hassen, zu schlagen, zu piksen, Rache wurde geschworen, Mütter verflucht, Pistolen gezückt. Als eines Tages dann endlich der Befehl kam – es gibt eine Wohnung auf dem Koševo, die gilt es zu stürmen – wollte jeder mitmachen, es war auch mehr als nur ein Befehl, es war die Erlösung.

Die ganze Straße wurde gesperrt, Scharfschützen postiert, Schutzwesten angelegt, man wusste nicht, was einen erwartete, es ging um Leben und Tod. Die Gefahr einfach zu groß. Doch die Vorfreude, die war noch größer, endlich war die Nuss geknackt, der Schuldige gefasst: Aleksander Kukla, genannt Professor Švabo. Und das Schönste, die Bestie, die lag noch im Bett, blinzelte nur so dämlich, gerade erwacht, als ob er mit den Ausschreitungen und dem ganzen Chaos in Sarajevo nichts zu tun hätte.

Seitdem die Studentenproteste begannen, hatte man nach ihm gesucht. Nun ja, nicht gerade nach ihm, das war ja das Problem. Es gibt keine Proteste ohne einen Aufwiegler, das wusste man, aber wer diese Aufwiegler, wer diese Unruhestifter waren, das wusste man eben nicht, man stellte sich alle möglichen vor.

Die Unruhen, die Straßenschlachten, die Tumulte, das war nichts Neues, das gab es in Sarajevo seit jeher, immer mal wieder, und immer überraschend: Noch einen Augenblick davor – der friedlichste Friede, nichts zu sehen, nichts zu hören, nichts zu ahnen. Doch dann bumms. Alle überrascht, alle auf dem falschen Fuß erwischt, noch bevor einem die Nackenhaare zu Berge stehen, ist es schon geschehen, es ist schon zu spät, die Lawine rollt schon auf einen zu. Nicht gut. Aber auch nicht ganz schlimm. Denn auch eine Lawine hat ihre Gesetze, keine kommt von alleine, es gibt immer ein Steinchen, das zuerst wackelt, das alles ins Rollen bringt, und wenn du dieses Steinchen rechtzeitig findest, ist alles halb so schlimm. Ja, gut, keine einfache Aufgabe, aber machbar. In den Jahren davor hatte man es sogar so gut gemacht, dass es in manchen Jahren gar keine Tumulte gab. Aber in diesem Jahr konnte man nichts finden. Nichts! Man hat auch nicht so richtig gesucht. Das Jahr war kein gutes, der alte, erfahrene Oberpolizist ging in diesem Jahr in Rente, der neue, ein gewisser Bauk Branko musste sich erst einmal zurechtfinden, und als er sich zurechtfand, war er schon verloren, Sarajevo brannte lichterloh. Und damit nicht genug, in diesem Jahr begann die Lawine zu rollen, nicht etwa, weil ein Felsen bröckelte oder weil ein Stein gewackelt hätte, nicht mal ein Steinchen war es. Es war nur ein winziges Sandkörnchen, das alles ins Chaos stürzte.

Richtig Chaos, Blut, Rache, Feuer, Tote, ja auch Tote! Die Kriminellen, die waren wie entfesselt. Gut, auch Studenten waren dabei, aber die waren in der Minderheit, viel mehr als Studenten gab es Diebe und Verbrecher und Nichtsnutze, die sich als Studenten ausgaben, man verlor auch die Übersicht, von Kontrolle ganz zu schweigen, und in diesem Chaos musste dann Branko Bauk nach diesem Sandkörnchen suchen. Eigentlich aussichtslos. Man suchte den Urheber, ohne auch nur eine Ahnung davon zu haben, wo man ihn finden könnte oder wer er war und wie er aussah; was nutzt die Theorie, wenn man nicht weiß, wer konkret das Volk aufgewiegelt hatte und wie und warum; man suchte und suchte und fragte – nichts, ganz Sarajevo wurde auf den Kopf gestellt, auch das letzte Steinchen umgedreht, nichts, alles umsonst. Erst in dieser Nacht wurde das Unmögliche vollbracht, man fand endlich heraus, wer dahintersteckte und wie er hieß und wo er wohnte und was er machte – Aleksander Kukla. Ein Lehrer an der Bautechnischen Schule am Zirkusplatz, 68 Jahre alt. Man nannte ihn Professor Švabo, obwohl er kein Professor war. Nicht mal ein Lehrer, nur die vorläufige Vertretung für Mathe und Architekturgeschichte. Ledig. Klein. Keine Haare. Augen: braun. Keine Geschwister, in Sarajevo geboren, das Leben im Ausland verbracht. Ein Ingenieur und zwar einer ersten Ranges! Einer, um den sich die ausländischen Universitäten gerissen haben, einer, der auch Bücher geschrieben hatte. Uiuiui! Aber solche sind eben die Gefährlichsten. Weil sie sich gerne hinter ihren Büchern verstecken, so dass man nicht weiß, ob das, was sie sagen, ihre oder die Meinung ihrer Figuren ist. Doch jetzt war auch er am Ende.

Schon erstaunlich, was man alles erfährt, wenn man die richtigen Leute richtig befragt; auf einmal wusste man nicht nur, wer sein Vater war und wie die Mutter hieß und ähnliche Formalien, sondern auch, was er alles in seinem Leben dort draußen, in der weiten Welt gemacht hatte und mit wem und warum, auch dass sein rechtes Ohrläppchen aufgeschlitzt war und warum, alles kam raus, vor allem aber, dass es auch ein Corpus Delicti gibt, weil er – der Trottel – alles, alle seine Gedanken in ein grünes, schäbiges Heftlein notierte, und nicht nur Gedanken, sondern auch Namen und Codes und Zahlen. Es gibt auch dumme Spione und Aufwiegler, aber umso leichter die Jagd. Man brach also ein in seine kleine Wohnung, 38 Quadratmeter, nur ein Zimmerchen. Aber im Zimmerchen – die Schlange, und die lag noch immer im Bett, in einem schäbigen graugrüngelben Schlafanzug. Erwischt, erschrocken, erstaunt, verwirrt wiederholte er ständig, meine Herren, meine Herren …

Was den Polizisten allerdings ziemlich egal war. Man wollte schnell das Corpus Delicti finden und alles ad acta legen. Danach nach Hause gehen, schlafen, vielleicht träumen. Obwohl es zum Träumen nichts gab. Schon auf den ersten Blick sah man, mit wem man es zu tun hatte, gleich beim Reinplatzen in die Wohnung war man gehörig enttäuscht, man hat nach einem Drachen gesucht, aber nur ein Würmchen gefunden. Und so ein Nichts soll die ganze Ordnung zerstört haben?! Nichtsdestotrotz zog ihn einer aus dem Bett, fasste ihn an die Gurgel, hob ihn hoch, knallte ihn an die Wand, fragte, wo ist es? Wo sind die Codes und Zahlen? Wo das grüne Heft? Doch Professor Švabo tat auch weiter so, als ob er nichts verstünde, er wiederholte auch weiter „Meine Herren.“

Endlos meine Herren, bis er eine Kopfnuss bekam. Und dann noch eine. Keine Schläge, keine Ohrfeigen, nur eine Kopfnuss, nur eine kleine Ermahnung, oder zwei oder drei. So steht es jedenfalls im Dienstbericht, den Jula gefunden hatte. Unterschrift: Bauk. Vielleicht war es tatsächlich so, vielleicht wollten die Polizisten ihm tatsächlich nur mal zeigen, wie ernst seine Lage war, vielleicht.

Doch egal, wie es tatsächlich war, es stellte sich heraus, dass Professor Švabo auch so eine sanfte Ermahnung nicht aushielt, er wurde bleich und dann immer bleicher, schrumpfte regelrecht in sich zusammen und hing – graugrüngelb im Gesicht – samt seinem zerknüllten Schlafanzug im Arm des Polizisten wie verwelktes Unkraut. Man musste ihn immer wieder mit Wasser abkühlen, was auch nicht richtig half, denn jedes Mal, wenn er ein bisschen Wasser ins Gesicht bekam, wurde alles noch schlimmer, er brabbelte irgendein wirres Zeug, mal Deutsch, mal Englisch, mal in einem altmodischen Sarajevoer Slang, aber so, dass kein Polizist irgendwas verstehen konnte. Lächerlich. Auch die Spione waren offensichtlich nicht mehr das, was sie einst waren.

Jedenfalls war die Vorfreude schon reichlich verdorben und nach einer Weile war man nicht nur enttäuscht, sondern verbittert, aber weil die Welt so ist, wie sie ist und weil von Professor Švabo nun keine Zusammenarbeit mehr zu erwarten war, begann man mit der Durchsuchung, womit alles noch verworrener wurde; jetzt sprach Professor Švabo lächelnd von einer Ida, oder mit einer Ida, oder für eine Ida, der Teufel soll es wissen. Es war auch nicht klar, ob er richtig begriff, was um ihn herum passierte. Seine Bücher flogen plötzlich durch die Wohnung und seine Hemden und seine Hosen, seine Socken und Fotos und Fenster und Türen, seine Schreibmaschine, alles. Sein ganzes Leben wirbelte an ihm vorbei, aber er war gar nicht erstaunt oder erschrocken oder entsetzt, er war eher verzaubert von der Schönheit des Augenblicks. Seine Bücher hatten auf einmal Flügel bekommen, Meine Herren, ich hab’s gewusst …

Drei Stunden später war dann Schluss, alles vorbei, die ganze Aktion, und nicht nur die Aktion, auch die Vorfreude, auch die Enttäuschung, auch die Verbitterung, all das war verflogen zusammen mit all den Fotos und Socken, jetzt gab es nur Wut und Zorn, drei elendig lange Nachtstunden hat man gearbeitet, ach was gearbeitet, geackert wie die Ochsen, die ganze Wohnung war durchwühlt, alles war durchsucht, alles umgedreht, alles abgenommen, alles abgehängt, alles herausgerissen und alles – umsonst: Kein grünes Heft, kein Corpus Delicti. Gut, was man fand, Bücher, Zettel, Fotos, Papiere, das war auch nicht ohne, auch das waren irgendwie Beweise, aber dass es den wichtigsten Beweis nicht gab, das war sehr, sehr ärgerlich, man hatte diesen alten Mann offensichtlich grob unterschätzt, er hatte es rechtzeitig beseitigt. Schlimm. Die Sucherei gehe weiter, für immer und ewig.

Erstaunlich, wie ein einfacher Satz eines einfachen Volkspolizisten in einem einfachen Dienstbericht das ganze Leben, Gott und die Welt, alles einfach auf den Punkt bringt: Die Sucherei gehe weiter, für immer und ewig. Also wurde Professor Švabo von der Wand abgenommen und zusammen mit einem Sack voll von verdächtigten Materialien in einen LKW geworfen und abtransportiert.

Es war schon ganz hell, als die Wohnung versiegelt wurde. Ein schöner Sommermorgen, 9. Juni, ein Sonntag 1968. Die Luft war rein und frisch, würzig, von den nahen Moscheen hörte man Imame, die den allmächtigen Gott laut lobten, die Vögel trillerten nicht weniger laut, ein herrenloser Hund schnüffelte an einem Busch am Straßenrand, pinkelte, schnüffelte wieder, pinkelte noch einmal und zog von dannen, ein Rentner latschte vorbei, alles wie eh und je, jeder ging seinem kleinen oder großen Geschäft nach, keiner merkte, dass es hier um alles oder nichts ging, keiner merkte, dass Professor Švabo nicht mehr ist.

Seine Schüler nicht, es war ja Sonntag, seine Nachbarn nicht, er kannte ja keinen, sprach auch mit niemandem. Außer einem stummen Kopfnicken hatte er nicht viel übrig für die, die neben ihm wohnten. Nur Munja und Nele, zwei Lastenträger, die merkten es sofort.

3 Tilava, die Absteige am Zirkusplatz in Sarajevo

An diesem Sonntag, dem 9. 06. 1968, hockten die zwei, Munja und Nele, wie jeden Tag schon ganz früh mit ihrem Gefährt vor der Tilava, am Zirkusplatz, kaum hundert Meter von der Bautechnischen Schule entfernt. Alt, zittrig, vernarbt, wettergegerbt hatten sie darauf gewartet, dass Professor Švabo vorbeikommt. Da lief er nämlich immer vorbei auf seinem Weg in die Schule, jeden Tag. Auch wenn es keinen Unterricht gab. Auch sonntags. Im Dachstuhl des Schulgebäudes gab es einen Raum, wo er aus Holz und Ton und Pappe und Spucke und Stärke Modelle für jeden der tausend Stile in der Architektur gebaut hatte; Anschauungsunterricht. Munja und Nele waren schon längst bereit. Schon seit zwei Stunden eigentlich, auch ihre vier Zigaretten hatten sie, wie immer, im Voraus gedreht und dann genüsslich hinter die Ohren gesteckt, alles wie immer, vier Ohren, vier Zigaretten, alles schweigend. Was gab es da noch zu sagen, so früh war die Tilava natürlich zu, aber sie dachten, sobald Professor Švabo vorbeikomme, würde dann auch Lalo Međivuk, der dicke Wirt, rauskommen, würde sagen, rein mit euch, und dann würde alles schön und gut, so wie es gestern oder vorgestern oder vorvorgestern war. Doch an diesem Sonntag kam Professor Švabo nicht vorbei, Lalo Medđivuk wollte auch nicht rauskommen, und so war der ganze Tag verdorben, noch bevor er überhaupt begonnen hatte. Schade um die vier Zigaretten.

Es war das erste Mal, dass so was geschah. Oft ging es drunter und drüber, mal wurde die Straße gesperrt, mal versagte die Bahn, mal gab es Sturm, auch Chaostage gab es, doch nichts konnte Professor Švabo hindern, er kam jeden Tag. Auch als sich die Lawine von Studenten vor einer Woche – oder war das gestern? – in die Straßen von Sarajevo ergoss, als es in ganz Sarajevo tausende Straßensperren gab, als es auch hier am Zirkusplatz von Rebellen nur so wimmelte, als es wirklich nicht einfach war, vorbei zu kommen, kam er, der Professor, und jetzt, ausgerechnet jetzt, an so einem schönen Sommertag, wo alles wie geschmiert lief, wo alles wieder ganz ruhig war, kam er eben nicht vorbei.

Sie wussten natürlich nicht, was tatsächlich geschehen war, aber dass etwas geschehen war, dass heute nichts mehr wie gestern war und nie mehr sein wird, das haben sie nicht nur gemerkt, sondern mit ihren Ohren und Mägen und Nieren, mit ihrem ganzen Körper gespürt. Sie waren ja so ein eingespieltes Team, sie und Professor Švabo. Unfreiwillig. Aber was macht man schon freiwillig?

Wie sie richtig hießen, wusste kaum einer, sie waren einfach Munja und Nele. Angeblich Brüder, Albaner oder so was, sie machten alles, was so anstand, auch wenn es um Kadaver ging, waren sie gefragt. Sie gruben auch Brunnen, waren auch weise wie zwei Hunde, oder wie zwei Ameisen: wenn die Sonne aufgeht, gehst du auch auf, du gehst in den Tag hinein und lebst, und wenn die Sonne untergeht, dann gehst du auch unter, glücklich, weil du der trügerischen Versuchung, die Welt besser machen zu wollen, nicht aufgesessen bist, weil sie das auch gar nicht braucht, die Welt, sie ist gut genug, besser kann sie sowieso nicht werden, selbst, wenn du dir noch so Mühe gibst, nur schlechter.

Sie waren die ersten, die Professor Švabo gesehen hatten, als er eines Morgens im Herbst 1965 mit dem Belgrader Schnellzug nach Sarajevo kam. Ein alter, kleiner, unbekannter Mann, Hut, Fliege, Mantel geht auf sie zu, zeigt auf seine Gepäckstücke und sagt: Zur Beledija.

Die waren mit ihrem Schubkarren zum Hauptbahnhof gelatscht, nicht etwa, weil sie sich große Geschäfte erhofft hatten; ihr Lalo war an dem Tag ganz schlecht drauf, er wollte niemanden sehen, auch sie nicht, es gab auch eine Razzia, allerlei, jedenfalls gab es an dem Tag keinen Kaffee bei Lalo. Also gingen sie quer über den Zirkusplatz zum Hauptbahnhof.

Die Reisenden haben sie nicht mal angeschaut, sie wollten nur die Zeit totschlagen, bis man mit Lalo wieder sprechen könnte, doch da kommt ein kleiner Mann mit Fliege und sagt, guten Tag, er möchte zur Beledija. Wenn einer „Beledija“ in Sarajevo sagt, da gibt es keinen Zweifel, der kennt sich aus, den muss man kennen, also haben sie den Neuankömmling etwas näher angeschaut. Munja und Nele kannten alles und jeden in Sarajevo, doch dieser Kunde war auch für sie unbekannt. Erstaunlich genug. Und dann will er noch zur Beledija. Zur Beledija? Wieder? Der Krieg war gerade vorbei, ein für alle Mal, und Hass und Schlachten und Katholiken und Muslime und Orthodoxe und Juden und Zigeuner und Albaner und all das Unaussprechbare, alles war wieder gut und schön, besser als je zuvor, man war wirklich willig, alles zu vergessen, man ging auch nicht hin, wenn man nicht musste, und selbst wenn man musste, versuchte jeder trotzdem, die Straße, wo die Beledija vor sich hin verfaulte, zu umschiffen. Nicht mal die Kinder sprachen davon, es wurde alles totgeschwiegen, doch dann kommt ein unbekannter Fremder und sagt, laut, er möchte zur Beledija. Und damit kein Zweifel aufkommt, zückte er gleich auch sein Portmonee, bezahlte im Voraus. Also fuhren sie hin.

Der Unbekannte ging hin und her, sah die Beledija von allen Seiten an, packte ein Heft aus, notierte da etwas, Zahlen, Worte, alles so winzig klein, die zwei schauten sich an, skurril, aber sie waren ja bezahlt. Und sie wollten möglichst schnell zur Tilava. Als sie die Koffer aber ausladen wollten, sagte der Unbekannte: Jetzt gehen wir weiter. Erst am Ende des Tages lieferten sie ihn im Hotel „Central“ ab. Oder „Belgrad.“ Später, als man sie danach gefragt hatte, konnten sie sich nicht mehr richtig erinnern.

Am nächsten Tag waren die zwei noch früher als sonst bei Lalo, dachten, Lalo wird staunen, wenn sie ihm alles erzählen, dachten, heute wird es den doppelten und dreifachen Kaffee geben. Bevor sie zur Arbeit gingen, tranken sie gern früh morgens ein Schnäpschen, oder zwei, oder drei, wie viel man sich halt leisten konnte, die Arbeit am Rangierbahnhof war ja auch schwer. Doch das war gar nicht so einfach. Vor 12.00 Uhr gab es in ganz Sarajevo keinen Schnaps. Verboten. Nur in der Tilava und nur mit Lalo Medđivuk, dem dicken Wirt, ließ sich etwas arrangieren, wenn … ja, wenn!

Lalo war in der Tilava alles, Chef, Wirt, Koch, Kellner, Mutter, Schwester, Rausschmeißer, alles; dick, träge, langsam, konnte er manchmal stundenlang einem mitfühlend zuhören, genauso, wie er manch einen rausprügeln konnte, noch bevor er Guten Tag gesagt hatte, manchmal konnte er großzügig eine um die andere Runde aufs Haus gehen lassen, genauso wie er manchmal verbissen bis zur letzten Para die Rechnung beglichen sehen wollte, manche Kinder verscheuchte er mit schmutzigem Abwaschwasser, den anderen spendierte er sogar Kokta, alles nach Lust und Laune, und für Munja und Nele war er bereit, sogar die Gesetze zu brechen.

Nicht umsonst, natürlich. Lalo Medđivuk war einer, der immer alles wissen wollte, war eben sehr neugierig und Munja und Nele waren eben immer unterwegs, sie trugen nicht nur Zementsäcke am Güterbahnhof, sie schaufelten Kohle, machten Umzüge, sie wussten, wessen Esel krepiert, wer gekommen und wer weggegangen war, sie waren gesprächig, fragten auch gezielt nach, wenn Lalo was Besonderes wissen wollte, und so ergab sich eine schöne Symbiose: Frühmorgens kamen sie zuerst zur Tilava, erzählten, was sie am Vortag so erfahren hatten oder was sie gehört hatten, oder was sie dachten, dass sie gehört haben, oder was sie so dachten, dass die anderen so denken, es gab immer viel zu erzählen und falls nötig, fragte Lalo auch nach, doch immer tischte er auch großzügig auf, für den Anfang – zwei verzierte, kupferne Kaffeekannen, drin natürlich kein Kaffee, sondern Schnaps, die Form muss ja gewahrt werden. Aber alles prima, Gesetze sind Gesetze und Schnaps bleibt Schnaps.

Voller Vorfreude waren sie also nach der Begegnung mit dem Fremden, der zur Beledija wollte, zu Lalo geeilt, hatten gedacht, die Belohnung folgt, doch Lalo war ganz und gar unzufrieden mit dem, was die zwei zu berichten wussten. Ja, Mensch, Heft und Zahlen und Worte, aber was für ein Heft und welche Zahlen und welche Worte und warum? Er hätte einen schwarzen Hut?! Ja, und?! Das hat doch jeder! Und Brille? Aber wie heißt er, woher kam er, warum, warum zuerst zur Beledija, das will ich wissen!

Die zwei versuchten es von Neuem, erzählten alles noch einmal, wollten zeigen, dass sie sich ganz genau an jedes Detail erinnern, aber genau damit machten sie alles noch schlimmer. Sie verhaspelten sich, sie begannen sich sogar zu widersprechen, Munja wollte ein rotes Heft gesehen haben, Nele ganz und gar ein grünes, das aber in ein rotes Seidentuch eingewickelt war, vielleicht auch schwarz. Auch ob der Hut wirklich schwarz oder eher gräulich war, konnten sie sich nicht einigen.

Die Farben des Heftes werden die zwei später noch mehr durcheinanderbringen, als sie von der Polizei ins Kreuzverhör genommen wurden, aber das kommt später. Jetzt mussten sie erst einmal etwas mehr über diesen kleinen alten Mann herausfinden, wer und warum. Schon am nächsten Tag warteten die zwei vor der Tilava mit frischen Details. Kein Problem für die beiden. Sarajevo ist klein, jeder kennt jeden, und jeder weiß, wer was