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Eine phantastische Geschichte über ein Sanatorium, in dem andere zeitliche Gesetze zu herrschen scheinen: Józef möchte seinen sterbenden Vater im Sanatorium besuchen und macht sich auf die weite Zugreise dorthin. Doch bereits die Landschaft, durch die er reist, erscheint fast wie in einem Traum. Als er das heruntergekommene Sanatorium erreicht, wird ihm berichtet, dass hier die Zeit zurückgestellt worden sei. Eine Zeitreise voller surrealer Begebenheiten beginnt...-
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Seitenzahl: 200
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Bruno Schulz
Saga
Das Sanatorium zur Todesanzeige Übersetzt Josef Hahn Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1937, 2020 Bruno Schulz und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726539257
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
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SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Das ist die Geschichte eines bestimmten Frühlings, eines Frühlings, der echt war, blendender und greller denn andere Frühlinge, eines Frühlings, der seinen Text einfach ernst genommen hatte, dieses begeisterte Manifest, mit dem hellsten, feiertäglichsten Rot geschrieben, dem Rot des Siegellacks und des Kalenders, dem Rot des Farbstifts und dem Rot der Begeisterung, dem Amarant glücklicher Telegramme von dorther . . .
Jeder Frühling fängt so an, mit diesen ungeheuren und betäubenden, nicht für eine Jahreszeit bemessenen Horoskopen, in jedem ist — um es einmal zu sagen — dies alles vorhanden: endlose Märsche und Manifestationen, Revolutionen und Barrikaden, durch jeden geht in einem bestimmten Augenblick dieser heiße Wind des Fanatismus, diese Grenzenlosigkeit von Trauer und Trunkenheit hindurch, die vergeblich eine Entsprechung in der Wirklichkeit sucht.
Aber dann treten diese Übertreibungen und Kulminationen, diese Stauungen und diese Ekstasen in das Blütenstadium ein, gehen zur Gänze in die Üppigkeit kalten Laubes, in nächtlich aufgewühlte Frühlingsgärten über, und das Rauschen verschlingt sie. So werden sich die Frühlinge selbst untreu, einer nach dem anderen versinkt in dem atemlosen Rascheln blühender Parke und in deren Schwellungen und Fluten; sie vergessen ihre Schwüre und verlieren ein Blatt nach dem anderen aus ihrem Testament.
Dieser Frühling allein hatte den Mut auszuharren, treu zu bleiben und alles zu halten. Nach so vielen mißlungenen Proben, Flugversuchen und Beschwörungen wollte er endlich in Wahrheit einen allgemeinen und endgültigen Frühling auf der Welt konstituieren und ausbrechen lassen.
Dieser Sturm der Ereignisse, dieser Hurrikan der Ergebnisse: ein glücklicher Staatsstreich, diese pathetischen, erhabenen und triumphalen Tage! Ich wollte, jeder Schritt dieser Geschichte würde ihren hinreißenden und begeisterten Takt erfassen, den heroischen Ton dieser Epopöe übernehmen und sich im Marsch dem Rhythmus dieser Frühlingsmarseiliaise angleichen!
So unermeßlich groß ist das Horoskop des Frühlings! Wer kann es ihm übelnehmen, daß er es auf hundert Arten gleichzeitig lesen, blindlings kombinieren und nach allen Richtungen buchstabieren lernt, glücklich, daß es ihm überhaupt gelingt, inmitten des störenden Vogelgezwitschers etwas zu entziffern. Er liest diesen Text von vorn nach hinten und von hinten nach vorn, verliert den Sinn und nimmt ihn von neuem in allen Versionen, in tausend Möglichkeiten, Trillern und Pfiffen auf. Denn der Text des Frühlings besteht völlig aus Vermutungen, unvollendeten Sätzen und Ellipsen, die ohne Buchstaben im leeren Lazur auspunktiert sind, und in die Lücken zwischen den Silben setzen die Vögel ihre launischen Einfälle und Lösungen. Deshalb wird sich diese Geschichte als Muster dieses Textes auf viele verzweigte Geleise erstrecken und ganz mit frühlingshaften Gedanken, Seufzern und Gedankenstrichen bestickt sein.
In diesen wilden und ausladenden Vorfrühlingsnächten, noch von rohen und duftlosen, doch ungeheuren Himmeln bedeckt, die mitten durch die Irrgärten und Scheidemauern der Lüfte in gestirnte Weglosigkeiten führen, nahm mich mein Vater oft zum Abendessen in ein kleines Gartenrestaurant mit, das von den Hofmauern der letzten Häuser des Rings eingeschlossen war.
Wir gingen im nassen Licht der Laternen, die im Windhauch klirrten, quer über den großen, gewölbten Ringplatz — allein, erdrückt von der Wucht der Luftlabyrinthe, verloren und desorientiert in den leeren Räumen der Atmosphäre. Der Vater erhob das von einem nichtigen Schein übergossene Gesicht gen Himmel und schaute mit bitterer Sorge in den Sternenkies, der über die Untiefen weit verzweigter Strudel verstreut war. Ihre unregelmäßigen und unzählbaren Verdichtungen hatten sich noch in keine Konstellationen eingereiht, und keine Figuren beherrschten noch diese ausgedehnten und abgestandenen Überschwemmungen. Die Trauer der Sternenwüsten lastete auf der Stadt, die Laternen durchwirkten die Nacht von unten mit Bündeln von Strahlen, indem sie diese gleichgültig mit Knoten aneinanderknüpften. Unter diesen Laternen blieben die Fußgänger zu zweit und zu dritt im Kreis des Lichts stehen, das rings um sich die flüchtige Illusion eines Zimmers im Schein der Tischlampe schuf — in der gleichgültigen und keine Geborgenheit schenkenden Nacht, die oben in unregelmäßige Räume, in wilde, von Windstößen ausgefranste, klägliche und obdachlose Luftlandschaften zerfiel. Die Unterhaltungen reimten sich nicht zusammen und lachten im tiefen Schatten der Hüte mit den Augen, während sie nachdenklich dem fernen Brausen der Sterne lauschten, die — gleichsam auf Hefe angesetzt — im Raum dieser Nacht emporschossen.
Im Restaurationsgarten waren die Wege geschottert. Zwei Laternen auf Pfählen zischten nachdenklich. Herren in schwarzen Gehröcken saßen zu zweit und zu dritt über die weißgedeckten Tischchen geneigt, gedankenlos in die glänzenden Teller versunken. Während sie dasaßen, zählten sie im Geiste die Züge und Manöver auf dem großen, schwarzen Schachbrett des Himmels und sahen im Geiste inmitten der Sterne springende Pferdchen und verlorene Figuren und Konstellationen, die an deren Stelle traten.
Die Musikanten auf der Estrade tunkten ihre Bärte in Seidel bitteren Biers und schwiegen, stumpf in sich selbst versunken. Ihre Instrumente, die edelgeformten Geigen und Celli, lagen verlassen auf der Seite unter dem tonlos rauschenden Platzregen der Sterne. Von Zeit zu Zeit nahmen die Musikanten sie in die Hände und probierten sie sozusagen an, stimmten sie winselnd auf den Ton ihrer Brust ab, den sie räuspernd von sich gaben. Dann legten sie die Instrumente wieder weg, als ob sie noch nicht zur Mensur dieser Nacht herangereift wären, die gleichgültig weiterrann. Dann erhoben sich plötzlich in der Stille und Ebbe der Gedanken, während die Gabeln und Messer auf den weißgedeckten Tischen leise klapperten, die Geigen selbst, vorzeitig erwachsen und großjährig, obwohl eben noch wimmernd und unsicher, standen beredt, schlank und schmal in der Taille da und gaben Nachricht von ihrer Vollmacht, übernahmen die auf ein Weilchen vertagte menschliche Sache und führten den verlorenen Prozeß vor dem gleichgültigen Tribunal der Sterne weiter, in deren Mitte sich im Wasserdruck die S-Löcher und Profile der Instrumente, fragmentarische Schlüssel, unvollendete Lyren und Schwäne drehten: der imitative, sinnlose Kommentar der Sterne am Rande der Musik.
Der Herr Photograph, der uns schon seit einiger Zeit über den benachbarten Tisch hinweg verständigende Blicke zuwarf, setzte sich endlich zu uns, indem er sein Seidel Bier von Tisch zu Tisch trug. Er lächelte vielsagend, kämpfte mit den eigenen Gedanken, schnalzte mit den Fingern und verlor immer wieder die unbegreifliche Pointe der Situation. Wir spürten von Anfang an ihre Paradoxie. Dieses improvisierte Lagerleben des Restaurants unter den Auspizien ferner Sterne machte rettungslos bankrott, brach jämmerlich zusammen, weil es sich von den ins Maßlose wachsenden Ansprüchen der Nacht nicht befreien konnte. Was konnten wir schon diesen bodenlosen, unergründlichen Einöden entgegensetzen? Die Nacht strich dieses menschliche Unternehmen, welches die Geigen vergeblich zu verteidigen suchten, einfach durch, nahm diese Lücke selbst ein und zog ihre Sternenchöre auf den wiedergewonnenen Positionen zusammen.
Wir sahen das sich auflösende Lagerleben der Tische, das Schlachtfeld der weggeworfenen Servietten und Tischtücher, über welche die leuchtende, unermeßliche Nacht im Triumph hinwegschritt. Auch wir erhoben uns; während unsere Körper ausspannten, liefen die Gedanken schon längst dem lauten Gerassel ihrer Wagen, dem fernen, weitzerstreuten Sternengerassel dieser großen und lichten Wege nach.
So gingen wir unter den Leuchtraketen ihrer Sterne und nahmen im Geist mit halb geschlossenen Augen ihre immer unfaßlicheren Blendungen vorweg. Ach dieser Zynismus der triumphierenden Nacht! Nachdem sie vom ganzen Himmel Besitz ergriffen hatte, spielte sie jetzt Domino in seinen fahrlässigen und verschwenderischen Räumen und raffte gleichgültig die Millionengewinne an sich. Dann zeichnete sie gelangweilt auf dem Schlachtfeld der umgedrehten Tischplatten durchsichtiges Gekritzel, lachende Gesichter, immer ein und dasselbe Lachen in Tausenden von Wiederholungen, das nach einer Weile — schon verewigt — in Sterne überging und in gestirnte Gleichgültigkeit zerfloß.
Wir machten uns auf den Weg zur Konditorei. Kaum hatten wir durch die läutende, gläserne Tür deren weißes, überzuckertes Innere voll funkelnder Süßigkeiten betreten, blieb die Nacht mit allen Sternen stehen — aufmerksam, plötzlich, bedächtig und neugierig, ob wir ihr nicht entkämen. Sie wartete eine ganze Stunde geduldig auf uns, indem sie vor der Tür Wache stand und von oben durch die Spalten mit regungslosen Sternen hereinschaute, während wir in tiefer Versunkenheit Kuchen auswählten. Da erblickte ich zum ersten Mal Bianka. Sie stand im Profil mit ihrer Gouvernante am Ladentisch, in einem weißen Kleidchen, schlank und kalligraphisch, als wäre sie aus einem Tierkreiszeichen herausgetreten. Sie drehte sich nicht um, sondern stand in der musterhaften, zurückhaltenden Stellung junger Mädchen da und aß Kuchen mit Schlagrahm. Ich sah sie nur undeutlich, noch ganz von den Zickzacklinien der Sterne gezeichnet. So kreuzten sich unsere Horoskope das erste Mal noch sehr verworren. Sie begegneten einander und entbanden sich gleichgültig. Wir hatten unser Schicksal in diesem frühzeitigen Sternenaspekt noch nicht verstanden und gingen, gleichgültig mit der gläsernen Tür läutend, hinaus.
Wir kehrten dann auf einem Umweg durch die entlegene Vorstadt nach Hause zurück. Die Häuser wurden immer niedriger und seltener, schließlich traten die letzten vor uns auseinander — und wir schritten in ein anderes Klima hinein. Wir traten plötzlich in einen milden Frühling, in eine warme Nacht ein, die sich mit dem jungen, eben aufgegangenen veilchenblauen Mond silbern in den Pfützen widerspiegelte. Diese Vorfrühlingsnacht schritt in raschem Tempo voran und antizipierte fieberhaft ihre späten Phasen. Die Luft, eben noch von der üblichen Herbheit dieser Jahreszeit angerührt, wurde plötzlich süß und mild, duftete nach Regenwasser, feuchtem Lehm und den ersten Schneeglöckchen, die mondsüchtig im weißen, magischen Licht erblühten. Und welch ein Wunder, daß unter diesem freigiebigen Mond die Nacht nicht von Froschgallerte auf den silbernen Pfützen wimmelte, nicht den Laich ausbrütete, nicht ins Plaudern geriet über die tausend schnatternden Schnäbelchen auf den Kiesgruben am Fluß, die aus allen Poren von einem funkelnden Netz süßen Wassers überflossen. Und man mußte nachstoßen, um zum Verständnis des Gequakes in dieser geräuschlauten, sprudelnden, subkutaner Schauder vollen Nacht zu gelangen, auf daß sie — ein Weilchen aufgehalten — weiter ginge und der Mond kulminierte, immer weißer und weißer, als ergösse sich sein Weiß von einer Schale in die andere, immer höher und immer strahlender, immer magischer und transzendentaler.
So gingen wir unter der zunehmenden Schwerkraft des Mondes dahin. Der Vater und der Herr Photograph nahmen mich zwischen sich, als ich mich vorübergroßer Schläfrigkeit nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Unsere Schritte knirschten im nassen Sand. Ich schlief schon längst im Gehen und hatte schon die ganze Phosphoreszenz des Himmels mit den leuchtenden Zeichen und Signalen astraler Erscheinungen unter den Lidern, als wir endlich auf freiem Feld Halt machten. Der Vater breitete den Mantel aus und legte mich auf die Erde. Durch die geschlossenen Augen sah ich, wie die Sonne, der Mond und elf Sterne sich in Paradeformation am Himmel aufstellten, um vor mir zu defilieren. »Bravo, Józef!« rief der Vater anerkennend und klatschte in die Hände. Es war ein offenkundiges Plagiat, an einem anderen Józef begangen und auf völlig andere Umstände angewandt. Niemand machte mir deshalb Vorwürfe. Mein Vater Jakub nickte mit dem Kopf und schmatzte mit der Zunge, der Herr Photograph stellte seinen Dreifuß auf den Sand, zog den Balg des Apparats wie eine Harmonika auseinander und hüllte sich ganz in die Falten eines schwarzen Tuchs: er photographierte diese sonderbare Erscheinung, dieses funkelnde Horoskop am Himmel, während ich mit kreisendem Kopf, vom Glanz geblendet, auf dem Mantel lag und ohnmächtig diesen Traum zur Belichtung aufrechterhielt.
Die Tage wurden lang, hell und ausladend, fast zu ausladend für ihren noch ärmlichen, unbestimmten Inhalt. Es waren Tage, zur Aufzucht bestimmt, Tage voller Warten, etwas bläßlich vor Langweile und Ungeduld. Ein heller Hauch, ein funkelnder Wind, noch nicht angefeuchtet von den Ausdünstungen nackter und sonnenvoller Gärten, strich über die Einöde dieser Tage, blies die Gassen sauber, und sie wurden lang und hell, feiertäglich gekehrt, als warteten sie auf jemandes nochferne, unbestimmte Ankunft. Die Sonne hielt allmählich auf die Tag- und Nachtgleiche zu, verlangsamte ihren Lauf und gelangte in eine Musterstellung, in der sie regungslos in idealem Gleichgewicht stehenbleiben sollte, um Ströme von Feuer, eine Portion nach der anderen, auf die öde und gierige Erde abzuschießen.
Ein heller und endloser Luftzug wehte über die ganze Breite des Horizonts, stellte unter den sauberen Linien der Fernsichten Spaliere und Alleen auf, glättete sich im großen und öden Wehen und begeisterte sich schließlich, ungeheuer reflektierend, als wollte er in seinem allesumfassenden Spiegel ein fata morganisch in die Tiefe seiner leuchtenden Hohlrundungen verlängertes Idealbild der Stadt beschließen. Da verhielt die Welt einen Augenblick, blieb atemlos, geblendet stehen, um ganz in dieses illusionistische Bild, in diese provisorische Ewigkeit einzugehen, die sich ihr öffnete. Doch das beglückende Angebot schwand, der Wind zerbrach seinen Spiegel, und die Zeit ergriff wieder Besitz von uns.
Es kamen die langen, unübersehbaren Osterferien. Von der Schule befreit, streiften wir ohne Ziel und Notwendigkeit durch die Stadt, verstanden diese Freiheit nicht auszubeuten. Es war eine gänzlich öde, unbestimmte und nicht angewandte Freiheit. Selber noch ohne Bestimmung, erwarteten wir diese von der Zeit, die sie — selbst in tausend Ausflüchte sich verlierend — nicht zu finden vermochte.
Auf dem Pflaster vor dem Café standen schon die Tischchen. Frauen saßen in hellen, bunten Kleidern davor und verzehrten Wind in kleinen Schlucken wie Gefrorenes. Die Röcke schwirrten, der Wind biß von unten wie ein kleines wütendes Hündchen zu, die Frauen bekamen rote Backen, es brannten die Wangen vom trockenen Wind, und die Lippen sprangen auf.
Noch währte der Zwischenakt und die große Langweile des Zwischenakts; die Welt näherte sich langsam und mit Lampenfieber irgendeiner Grenze, erreichte frühzeitig ein Ziel und wartete.
Wir hatten in diesen Tagen einen Wolfshunger. Ausgetrocknet vom Wind liefen wir nach Hause, um in stumpfer Nachdenklichkeit ungeheure Schnitten Brot mit Butter zu vertilgen, kauften auf der Straße große, vor Frische knisternde Brezeln und saßen reihenweise im geräumigen Flur des leeren und gewölbten Steinhauses auf dem Marktplatz, ohne einen einzigen Gedanken im Kopf. Durch die niedrigen Arkaden war der weiße und saubere Ringplatz zu sehen. Weinfässer standen reihenweise an der Wand und dufteten. Wir saßen auf einem langen Ladentisch, auf dem an den Markttagen bunte Bauerntücher verkauft wurden, und trommelten vor Ratlosigkeit und Langweile mit den Fersen gegen die Holzplatten.
Plötzlich zog Rudolf, den Mund mit Brezeln vollgestopft, ein Markenalbum aus der Brust und entfaltete es vor mir.
Da begriff ich, warum dieser Frühling bisher so öde, hohl und verhalten gewesen war. Ohne davon zu wissen, beruhigte er sich, verstummte, zog sich in die Tiefe zurück, machte Platz, öffnete sich ganz in puren Raum, in ödes Blau ohne Meinung und ohne Bestimmung — eine erstaunliche nackte Form zur Aufnahme eines unbekannten Inhalts. Daher diese blaue, wie aus dem Schlaf geweckte Neutralität, diese große und gleichsam gleichgültige Bereitschaft zu allem. Dieser Frühling hielt sich ganz in Bereitschaft — menschenleer und weitläufig, stellte er sich atemlos und besinnungslos zur Verfügung, wartete mit einem Wort auf eine Offenbarung. Wer konnte voraussehen, daß er ganz fertig, in voller Rüstung und blendend aus dem Markenalbum Rudolfs hervorgehen würde!
Es waren wunderliche Abkürzungen und Formeln, Rezepte auf Zivilisation, handliche Amulette, in denen man das Wesen der Klimas und Provinzen zwischen zwei Finger nehmen konnte. Es waren Anweisungen auf Imperien und Republiken, auf Archipele und Kontinente. Was konnten Cäsaren und Usurpatoren, Eroberer und Diktatoren mehr besitzen? Ich erkannte plötzlich die Süße der Herrschaft über Länder, den Stachel dieses Heißhungers, den man lediglich durch Herrschen befriedigen kann. Mit Alexander dem Großen verlangte ich die ganze Welt. Und keine Spanne Erde weniger als die Welt.
Finster, fanatisch, voll brennender Liebe nahm ich den Vorbeimarsch der Schöpfung ab, marschierende Länder, funkelnde Züge, die ich in Intervallen durch purpurne Finsternisse sah, betäubt von den Stößen des Blutes, das im Takt dieses universalen Marsches aller Völker in das Herz strömte. Rudolf ließ an meinen Augen die Bataillone und Regimenter vorbeiziehen und fertigte voll Eifer und Aufopferung die Parade ab. Er, der Eigentümer des Albums, degradierte sich freiwillig gleichsam zur Rolle des Adjutanten, rapportierte feierlich und voll Ergriffenheit, als schwöre er einen Eid — ganz geblendet und desorientiert von seiner undeutlichen und zweideutigen Rolle. Schließlich heftete er mir begeistert und wie in einem Anfall rasender Großherzigkeit das rosige Tasmanien, glühend wie der Mai, und Hajdarabad, wimmelnd im Zigeunergestammel verworrener Alphabete, wie einen Orden an die Brust.
Damals hatte sie ihren Platz, diese Offenbarung, diese plötzlich gezeigte Vision der entflammten Schönheit der Welt, damals kam sie zur rechten Zeit, diese glückliche Sache, diese geheime Sendung, diese besondere Mission von den unerschöpflichen Möglichkeiten des Seins. Es öffneten sich angelweit grelle, strenge und den Atem verschlagende Horizonte, die Welt bebte und wankte in ihren Gelenken, neigte sich gefährlich und drohte mit dem Ausbruch aus allen Maßen und Regeln.
Was bedeutet dir, lieber Leser, eine Briefmarke? Was bedeutet dieses Profil Franz Josef I. mit der von einem Lorbeerkranz bekränzten Glatze? Ist er nicht ein Symbol der Alltäglichkeit, ein Inbegriff aller Möglichkeiten, eine Bürgschaft unüberschreitbarer Grenzen, an denen die Welt ein für allemal versperrt ist?
Die Welt wurde zu jener Zeit allseits von Franz Josef I. umfangen — und es gab keinen Ausgang neben ihm. Auf allen Horizonten wuchs er empor, aus allen Ecken tauchte dieses allgegenwärtige und unvermeidliche Profil auf und sperrte die Welt wie ein Gefängnis ab. Doch siehe! als wir bereits voll bitterer Resignation alle Hoffnung verloren hatten, uns innerlich mit der Eindeutigkeit der Welt, deren mächtiger Garant Franz Josef I. war, ausgesöhnt hatten — gerade da öffnetest du, o Gott, unversehens, wie eine Bagatelle dieses Markenalbum vor mir und erlaubtest mir, im Vorübergehen einen Blick in dieses glanzgeschuppte Buch zu werfen, in ein Markenalbum, das seine Kleider verlor: Seite für Seite, immer greller und immer schrecklicher . . . Wer wird es mir übelnehmen, daß ich damals geblendet, kraftlos vor Aufregung wurde und aus den glanzüberschwemmten Augen Tränen flossen? Was für ein verblendender Relativismus, was für eine kopernikanische Tat, was für ein Fließen aller Kategorien und Begriffe! So viele Daseinsarten, o Gott, hast Du also der Welt gegeben, so unermeßlich, unerschöpflich ist also Deine Welt! Das ist mehr, als ich in meinen kühnsten Träumen phantasieren konnte. Diese frühzeitige Vorahnung der Seele, die entgegen allem Augenschein darauf beharrte, daß die Welt unermeßlich sei, ist also wahr!
Die Welt war zu jener Zeit von Franz Josef I. begrenzt. Auf jeder Briefmarke, auf jedem Geldstück und auf jedem Stempel bestätigte sein Bildnis die Unveränderlichkeit der Welt und das unerschütterliche Dogma ihrer Eindeutigkeit. So ist die Welt, und du sollst keine anderen Welten neben dieser haben! lautete das Siegel mit dem kaiserlichköniglichen Greis. Alles andere ist Trug, wilde Anmaßung und Thronräuberei. Auf allem lag Franz Josef I. und bremste die Welt in ihrem Wachstum.
Wir verbeugen uns aus der Tiefe unseres Wesens vor der Rechtschaffenheit, lieber Leser. Die Loyalität unserer geschmeidigen Natur ist für Autoritätsansprüche nicht unempfindlich. Franz Josef I. war die höchste Autorität. Wenn dieser autoritative Greis sein ganzes Gewicht in die Waagschale dieser Wahrheit warf, dann gab es keinen Rat: man mußte den Trugbildern der Seele, ihren inbrünstigen Vorahnungen entsagen, sich einrichten, wie es in dieser einzigen aller Welten anging — ohne Illusionen und ohne Romantik — und vergessen.
A ber wenn sich schon der Kerker unwiderruflich schließt, wenn die letzte Öffnung zugemauert ist, wenn sich alles verschworen hat, um Dich, o Gott, totzuschweigen, wenn Franz Josef I. den letzten Spalt verrammelt hat, um Dir keinen Einblick zu gewähren, dann wirst Du im rauschenden Mantel der Meere und Kontinente auferstehen und ihn Lügen strafen. Du, o Gott, nahmst damals das Odium der Häresie auf Dich und brachst gegen diese Welt in ungeheure, bunte und prächtige Lästerungen aus. O prächtiger Häresiarch! Du schlugst damals mit diesem flammenden Buch auf mich los, du explodiertest als Markenalbum aus Rudolfs Tasche. Ich kannte damals die dreieckige Form des Albums noch nicht. Ich verwechselte es in meiner Verblendung mit der papierenen Pistole, aus der wir unter der Bank zur Qual der Professoren schossen. Oh, wie Du mit ihr schossest, o Gott! Das war Deine inbrünstige Tirade, das war Deine flammende und weihevolle Philippika gegen Franz Josef I. und seine Herrschaft der Prosa, das war das echte Buch des Glanzes!
Ich öffnete es — und es leuchtete vor mir in den Farben der Heiligen, im Wind unermeßlicher Räume und im Panorama kreisender Horizonte auf. Du gingst vor mir her, Blatt für Blatt, und zogst diese aus allen Zonen und Klimas gewebte Schleppe hinter Dir her. Kanada, Honduras, Nicaragua, Abrakadabra, Hiporabundia . . . Ich verstand Dich, o Gott. Dies alles waren Ausflüchte Deines Reichtums, das waren die erstbesten Worte, die Dir einfielen. Du griffst mit der Hand in die Tasche und zeigtest mir wie eine Handvoll Knöpfe die in Dir wimmelnden und schwärmenden Möglichkeiten. Dir ging es nicht um Genauigkeit. Du sprachst, was Dir der Speichel auf die Zunge brachte. Du hättest ebensogut Panfibras und Haleliva sagen können — und die Luft hätte inmitten von Palmen vor Papageienflügeln geschwirrt, und der Himmel hätte wie eine riesige, hundertfältige, saphirene Rose, aufgewühlt bis auf den Grund, seinen glänzenden Kelch gezeigt und Dein Pfauenauge hätte, bewimpert und schrecklich, im grellen Mark Deiner Weisheit geblinzelt, hätte in einer Überfarbe aufgeleuchtet und wäre in einem Überaroma verweht. Du wolltest mich blenden, o Gott, Dich rühmen und mit mir kokettieren, denn auch Du hast Augenblicke der Eitelkeit, in denen Du von Dir selber entzückt bist. Oh, wie ich diese Augenblicke liebe!
Wie tief unten bliebst du doch, Franz Josef I., samt deinem Evangelium der Prosa! Vergeblich suchten dich meine Augen. Endlich fand ich dich. Du warst auch in dieser Menge, doch wie klein, entthront und grau. Du marschiertest mit anderen im Staub der Landstraße dicht hinter Südamerika und vor Australien und sangst mit den anderen Hosianna.
Ich blieb ein Adept des neuen Evangeliums. Ich freundete mich mit Rudolf an. Ich bewunderte ihn, obgleich ich unklar spürte, daß er nur ein Werkzeug und das Buch für einen anderen bestimmt war. In Wirklichkeit schien er eher dessen Wächter zu sein. Er katalogisierte, klebte ein, riß heraus und hielt es im Schrank unter Verschluß. Im Grunde genommen war er traurig wie einer, der wußte, daß man ihn erschlagen, ich dagegen aufsteigen würde; er war wie einer, der gekommen war, die Wege des Herrn zu ebnen.
Ich hatte viele Gründe zur Annahme, daß dieses Buch für mich bestimmt war. Viele Zeichen wiesen darauf hin, daß es sich als besondere Mission, Sendung und persönlicher Auftrag an mich wandte. Ich erkannte dies schon daran, daß sich niemand als sein Eigentümer fühlte. Nicht einmal Rudolf, der es bediente. Es war ihm im Grunde genommen fremd. Er war ein sozusagen unwilliger und fauler Diener im Frondienst der Pflicht. Manchmal überschwemmte ihm der Neid das Herz mit Bitternis. Er lehnte sich innerlich gegen seine Rolle als Beschließer eines Schatzes auf, der nicht ihm gehörte. Er betrachtete mit Neid den Reflex der fernen Welten, der als leise Farbenskala über mein Gesicht wanderte. Erst als sie erlosch, traf ihn der ferne Widerschein jener Blätter, an denen seine Seele keinen Anteil hatte.
Ich sah einmal einen Zauberkünstler. Er stand auf der Estrade, mager, von allen Seiten sichtbar, und demonstrierte seinen Zylinder, indem er allen dessen leeren und weißen Boden zeigte. Als er auf diese Weise seine Kunst, was den Zweifel betrifft, vor jedem Verdacht betrügerischer Manipulationen gesichert hatte, zeichnete er mit einem Stäbchen sein verzwicktes magisches Zeichen in die Luft und begann sogleich mit übertriebener Genauigkeit und Offensichtlichkeit mit diesem Stöcklein papierene Bändchen, bunte Bändchen aus seinem Zylinder herauszuziehen — zuerst ellenweise, dann klafterweise und schließlich kilometerweise. Das Zimmer füllte sich mit dieser bunten, raschelnden Masse, wurde von der hundertfältigen Vermehrung, von dem schäumenden und leichten Fließpapier, von der leuchtenden Türmung hell — und er hörte nicht auf, diesen nicht enden wollenden Faden trotz verblüffter Stimmen voll entzückten Protestes, ekstatischer Schreie und lauter Weinkrämpfe weiter abzuwickeln, bis es schließlich sonnenklar wurde, daß es ihn nichts kostete, daß er diesen Überfluß nicht aus eigenen Vorräten schöpfte, sondern daß sich ihm einfach überirdische Quellen außerhalb menschlicher Maße und Rechnungen aufgetan hatten.
Mancher, der damals zur Aufnahme des tieferen Sinns dieser Demonstration auserkoren, nachdenklich und innerlich geblendet nach Hause ging, war zutiefst von der Wahrheit durchdrungen, die ihm zuteil geworden: Gott ist unermeßlich . . .