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Kindheitserinnerungen an das jüdische Schtetl in Galizien: Bruno Schulz beschwört in diesen Erzählungen mit seiner eindringlichen Sprache eine Welt herauf, die es heute so nicht mehr gibt und die deshalb umso mehr eine Momentaufnahme der Zeit um die Jahrhundertwende im damaligen Galizien ist. Es geht um den Vater, verwunschene Gärten, Erinnerungen an heiße Sommertage, kindliche Phantasien, in denen Dinge zum Leben erwachen, und vieles mehr.
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Seitenzahl: 151
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Bruno Schulz
Saga
Die ZimtlädenCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1933, 2020 Bruno Schulz und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726539240
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Im Juli fuhr mein Vater alljährlich ins Bad und gab mich samt der Mutter und den älteren Brüdern den weißglühenden und betäubenden Sommertagen preis. Wir blätterten, verrückt vom Licht, in dem großen Ferienbuch, dessen Blätter sämtlich vor Hitze brannten und auf ihrem Grund den bis zur Ohnmacht süßen Matsch goldener Birnen hatten.
Adela kehrte im leuchtenden Glanz des Morgens zurück wie Pomona aus dem Feuer des glutentbrannten Tages und schüttete aus dem Körbchen die bunte Schönheit der Sonne — funkelnde Kirschen, voller Saft unter der durchsichtigen Haut, geheimnisvolle schwarze Weichsein, deren Duft alles übertraf, was ihr Geschmack erfüllte; Morellen, in deren goldenem Matsch das Mark langer Mittage war; und außer dieser reinen Poesie des Obstes lud sie vor Kraft und Nährwert strotzende Fleischlappen mit der Klaviatur von Kälberrippen aus, Gemüsealgen wie erschlagene Kopffüßler und Medusen — das Rohmaterial des Mittagessens, noch ungeformten und schalen Geschmacks — und vegetative und tellurische Zutaten des Mittagessens mit wildem Feldgeruch.
Durch die dunkle Wohnung im ersten Stock des steinernen Hauses am Ring ging jeden Tag der ganze große Sommer hindurch: die Stille zitternder Luftschichten, die glänzenden Sonnenquadrate mit ihren fanatischen Träumen auf dem Fußboden, die Melodie eines Leierkastens, aus der tiefsten goldenen Ader des Tages geholt, zwei, drei Takte eines Refrains, irgendwo auf einem Klavier gespielt, immer wieder von neuem, ohnmächtig zusammenbrechend in der Sonne auf den weißen Trottoiren, verloren im Feuer des tiefen Tages. Nach dem Aufräumen ließ Adela Schatten in die Zimmer, indem sie die leinenen Jalousien herabließ. Dann fielen die Farben um eine Oktave, das Zimmer füllte sich mit Schatten, wie versenkt in das Licht der Meerestiefe, noch trüber zurückgeworfen von den grünen Spiegeln — und die volle Glut des Tages atmete schwer auf den Jalousien, die von den Träumen der Mittagsstunde leise wogten.
An den Samstagnachmittagen ging ich mit der Mutter spazieren. Aus dem Halbdunkel des Flurs traten wir mit einem Schritt in das Sonnenbad des Tages. Die Vorübergehenden, im Golde watend, hatten die Augen vor Hitze halb geschlossen, wie mit Honig verklebt, und die hochgezogenen Oberlippen enthüllten Zahnfleisch und Zähne. Und alle, die in diesem goldenen Tag wateten, zeigten die Grimasse der Gluthitze, als ob die Sonne allen ihren gläubigen Bekennern ein und dieselbe Maske aufgesetzt hätte — die goldene Maske der Sonnenbruderschaft; und alle, die heute auf den Straßen gingen, einander begegneten und auswichen, Alte und Junge, Kinder und Frauen, grüßten sich im Vorübergehen in dieser Maske, die ihnen mit dicker, goldener Farbe aufs Gesicht gemalt war, grinsten in dieser bacchantischen Grimasse — der barbarischen Maske eines heidnischen Kultes.
Der Ring war leer und gelb von der Glut, staubgekehrt von heißen Winden gleich der biblischen Wüste. Stachelige Akazien, emporgewachsen aus der Leere des gelben Platzes, brodelten über ihm mit ihrem hellen Laub, Bukette edelgegliederter grüner Filigrane, wie Bäume auf alten Gobelins. Es schien, als affektierten diese Bäume den Wind, indem sie theatralisch ihre Kronen schüttelten, um in pathetischen Biegungen und Beugungen die Vornehmheit der Blattfächer mit ihren silbernen Unterleibern wie das Futter edler Fuchspelze zu zeigen. Die alten Häuser, poliert vom Wind vieler Tage, vergnügten sich mit Reflexen der großen Atmosphäre, Echospielen, Erinnerungen an Farben, die verstreut in der Tiefe der bunten Aura saßen. Es schien, als wären ganze Generationen Sommertage (wie geduldige Stukkatoren, die alte Fassaden aus dem Schimmel der Tünche klopfen) dabei, die verlogene Glasur abzuschlagen, von Tag zu Tag deutlicher die wahren Gesichter der Häuser, die Physiognomie ihrer Schicksale und ihres Lebens herauszuarbeiten, welche sie von innen geformt hatten. Jetzt schliefen die Fenster, geblendet vom Glanz des leeren Platzes; die Balkone bekannten dem Himmel ihre Leere; die offenen Flure rochen nach Kühle und Wein.
Ein Häuflein zerlumpter Kerle hatte sich in einen Winkel des Rings vor dem flammenden Besen der Sonnenglut in Sicherheit gebracht, belagerte ein Stücklein Mauer und suchte es stets von neuem mit Würfen von Knöpfen und Münzen heim, als ob man aus dem Horoskop dieser metallenen Scheibchen das wahre Geheimnis der Mauer ablesen könnte, die mit Hieroglyphen von Strichen und Rissen bemalt war. Der übrige Ring war leer. Man erwartete, daß vor jenem Ladenflur mit den Fässern des Weinhändlers im Schatten der schwankenden Akazien gleich das Eselchen des Samariters, am Zügel geführt, auftauchen würde und zwei Knechte sorgsam den kranken Mann aus dem glühendheißen Sattel heben würden, um ihn über die kühle Treppe vorsichtig in das nach Sabbat duftende Stockwerk zu tragen.
So wanderten wir mit der Mutter über die zwei Sonnenseiten des Rings und führten unsere geknickten Schatten über alle Häuser wie über Klaviertasten. Die Quadrate des Pflasters zogen langsam unter unseren weichen und flachen Schritten dahin — die einen blaßrosa wie die menschliche Haut, die anderen gelb und blau, alle flach, warm, samten in der Sonne wie Sonnengesichter, von Fußtritten bis zur Unkenntlichkeit, bis zur glückseligen Nichtigkeit zerstampft.
Bis wir schließlich an der Ecke der Stryjer Straße in den Schatten der Apotheke traten. Der große Glasballon mit Himbeersaft im breiten Apothekenfenster symbolisierte die Kühle der Balsame, mit denen jedes Leiden gelindert werden konnte. Und noch ein paar Häuser weiter vermochte die Straße nicht mehr das Dekorum der Stadt zu wahren — wie ein Bauer, der in sein Heimatdorf zurückkehrt, sich unterwegs seiner städtischen Eleganz entledigt und sich langsam, im gleichen Maß, wie er sich dem Dorf nähert, wieder in einen zerlumpten Kerl verwandelt.
Die Vorstadthäuschen schwammen zugleich mit den Fenstern versunken im üppigen und verworrenen Blühen der kleinen Gärtchen. Vergessen über dem großen Tag wucherten üppig und still allerhand Grünzeug, Blüten und Unkraut, froh der Pause, die sie hinter den Rändern der Zeit, auf den Rückseiten des unvollendeten Tages verträumen konnten. Eine riesige Sonnenblume, aufgepflanzt auf einem mächtigen Stengel und gleichsam an Elephantiasis erkrankt, harrte in gelber Klage der letzten, traurigen Tage ihres Lebens und beugte sich unter der Wucht ihrer scheußlichen Korpulenz. Doch die naiven Vorstadtglöcklein und anspruchslosen Perkalblümchen standen ratlos in ihren gestärkten rosa und weißen Hemdchen da und hatten kein Verständnis für die große Tragik der Sonnenblume.
Das verworrene Dickicht der Gräser, Pflanzen, Unkräuter und Disteln brodelt im Feuer des Mittags. Es braust im Gewimmel der Fliegen das Mittagsschläfchen des Gartens. Das goldene Stoppelfeld schreit in der Sonne wie das Erz der Heuschrecken; im dichten Regen des Feuers toben die Grillen; die Schoten der Sämereien explodieren leise wie Heupferdchen.
Und am Plankenzaun schiebt sich der Pelz der Gräser als buckeliger Höckerhügel entlang, als ob sich der Garten im Schlaf auf die andere Seite gedreht hätte, und seine groben, bäuerlichen Schultern atmen die Stille der Erde. Auf diesen Schultern des Gartens türmte sich die unreine, weibische Üppigkeit des Augusts riesenhaft in die tauben Gefälle ungeheuerer Kletten hinein und breitete sich als Lappen zottiger Blattbleche, als schwülstige Zungen fleischigen Grüns aus. Hier sperrten die vorquellenden Wülste der Kletten ihre Glotzaugen auf wie breit dahockendes Weibervolk, zur Hälfte gefressen von den eigenen verrückt gewordenen Unterröcken. Dort ließ der Garten umsonst die billigen Graupen des wilden Flieders, die nach Seife stinkende Hirse des Wegerichs, den brennenden Fusel der Minze und den schlimmsten Trödelkram des Augusts ab. Doch auf der anderen Seite des Plankenzauns, hinter diesem Urwald des Sommers, in dem sich die Torheit verblödeten Unkrauts ausgebreitet hatte, war der Komposthaufen, wild mit Disteln verwachsen. Niemand wußte, daß eigentlich dort der August dieses Jahres seine große heidnische Orgie feierte. Auf diesem Komposthaufen, der sich an den Plankenzaun lehnte und mit wildem Flieder überwuchert war, stand das Lager des mißgestalteten und blödsinnigen Mädchens Tluja. So nannten wir sie alle. Auf einem Haufen von Kehricht und Abfällen, alten Töpfen, Pantoffeln, Steinbrocken und Trümmern stand ein grünbemaltes Bett, da die Füße fehlten, auf zwei alte Ziegel gestützt.
Die Luft über diesem Komposthaufen, wildgeworden vor Hitze, durchschnitten von den Blitzen funkelnder, sonnentoller Pferdefliegen, knisterte und knackte wie von unsichtbaren Klappern, die zur Raserei aufpeitschten.
Tluja sitzt zusammengekauert mitten auf dem gelben Bett und den Lumpen. Ihr großer Kopf sträubt sich als Strohwisch schwarzer Haare. Ihr Gesicht ist faltig wie der Balg einer Harmonika. Jeden Augenblick faltet eine weinerliche Grimasse diese Harmonika in tausend Querfalten, aber das Staunen zieht sie wieder auseinander, glättet die Falten, enthüllt die Schlitze der kleinen Augen und das feuchte Zahnfleisch mit den gelben Zähnen unter den rüsselförmigen, fleischigen Lippen.
Stunden voller Hitze und Langeweile vergehen, in deren Verlauf Tluja halblaut redet, vor sich hindöst, mit der Stille hadert und sich räuspert. Die Fliegen belagern die Regungslose in dichten Schwärmen. Doch plötzlich beginnt sich dieser ganze Haufen schmutziger Lumpen, Hadern und Fetzen zu rühren, wie belebt vom Rascheln darunter ausgebrüteter Ratten. Die Fliegen schwirren aufgescheucht hoch und erheben sich als großer, surrender Schwarm voll zornigen Summens, Blitzens und Flirrens. Und manchmal, wenn die Lumpen auf die Erde fallen und wie aufgescheuchte Ratten über den Komposthaufen rennen, wühlen sich, rollen sich, schälen sich langsam der Kern und das Mark des Komposthaufens aus ihnen: die halbnackte und schwarze Blöde steht langsam auf und bleibt gleich einem heidnischen Götzen auf kurzen, kindlichen Beinchen stehen, und ihrem vom Ansturm der Wut aufgeblähten Hals, ihrem roten, zorndunklen Gesicht, auf dem wie barbarische Gemälde die Arabesken der angeschwollenen Adern aufblühen, entringt sich ein tierisches Geschrei, ein heiseres Geschrei aus allen Bronchien und Pfeifen dieser halb tierischen, halb göttlichen Brust. Die sonnenverbrannten Disteln schreien, die Kletten protzen und prahlen mit ihrem schamlosen Fleisch, das Unkraut geifert mit seinem funkelnden Gift — und die Blöde, heiser vom Schreien, schlägt in wilden Konvulsionen mit ihrem fleischigen Unterleib aus wütendem Jähzorn gegen den Stamm des wilden Flieders, der leise unter der Zudringlichkeit dieser ausschweifenden Begier knarrt, mit diesem ganzen armseligen Chor zu widernatürlicher, heidnischer Fruchtbarkeit verdammt.
Die Mutter Tlujas verdingt sich bei den Bauersfrauen zum Waschen der Fußböden. Sie ist eine kleine, safrangelbe Frau, und mit Safran behandelt sie auch die Fußböden, die tannenen Tische, Bänke und Geländer, die sie in den Stuben armer Leute wäscht. Einmal nahm mich Adela in das Haus dieser alten Maryska mit. Es war zu einer frühen Morgenstunde, wir betraten eine kleine, blaugetünchte Stube mit gestampftem Lehmboden, auf welchem die Morgensonne lag, noch grellgelb in dieser Morgenstille, die von dem schrillen Gerassel der Bauernuhr an der Wand gemessen wurde. Im Schrank lag auf Stroh die dumme Maryska, blaß wie eine Oblate und still wie ein Handschuh, aus welchem die Hand geschlüpft ist. Und als ob sie deren Schlaf ausnutzen wollte, sprach die Stille, die gelbe, grelle, böse Stille, redete mit sich selber, zankte, fluchte laut und ordinär ihren manischen Monolog. Maryskas Zeit, die in ihrer Seele gefesselte Zeit, trat schrecklich beredt aus ihr heraus und ging, sich selbst überlassen, durch die Stube: lärmend, krakeelend, höllisch — im grellen Schweigen des Morgens aus der lauten Uhrmühle geschüttet — wie böses Mehl, lockeres Mehl, dummes Mehl der Verrückten.
In einem dieser Häuschen, mit bronzefarbenen Staketen umgeben und schwimmend im üppigen Grün ihrer Gärtchen, wohnte die Tante Agata. Wenn wir zu ihr gingen, mußten wir im Garten an rot, grün und violett auf Stangen steckenden Glaskugeln vorbei, in denen ganze glänzende und lichte Welten verzaubert waren, wie jene idealen und glücklichen Bilder, die in unerreichbarer Vollendung in Seifenblasen gesperrt sind.
In dem halbdunklen Flur mit seinen alten Öldrucken, vom Schimmel zerfressen und erblindet vor Alter, fanden wir den uns bekannten Geruch. In diesem vertrauten alten Geruch hatte sich in wunderbar einfacher Synthese das Leben dieser Leute niedergeschlagen als Destillat einer Rasse, Eigenheit eines Blutes und Absonderung eines Schicksals, das unmerklich im täglichen Vergehen ihrer eigenen, abgesonderten Zeit beschlossen lag. Die alte blaue Tür, deren dunkle Seufzer diese Menschen einließen und hinausließen, schweigsamer Zeuge des Kommens und Gehens der Mutter, der Töchter und Söhne, öffnete sich lautlos wie der Flügel eines Schranks, und wir betraten die Stube. Sie saßen wie im Schatten ihres Schicksals da und wehrten sich nicht — mit den ersten wortlosen Gesten verrieten sie uns ihr Geheimnis. Waren wir nicht durch Blut und Schicksal verwandt mit ihnen?
Das Zimmer war dunkel und samten von den granatfarbenen Tapeten mit den goldenen Mustern, doch ein Echo des flammenden Tages zuckte auch hier noch durch das Messing auf den Bilderrahmen, auf den Türklinken und in den Goldleisten, wenn auch gesiebt durch das dichte Grün des Gartens. Von ihrem Sitz an der Wand erhob sich Tante Agata, groß und üppig, voll runden und weißen Fleisches, das vom roten Rost der Sommersprossen bekleckst war. Wir setzten uns zu ihnen wie an das Ufer ihres Schicksals, ein wenig beschämt durch die Wehrlosigkeit, mit welcher sie ohne Vorbehalt sich uns auslieferten, und tranken Wasser mit Rosensaft, ein wunderbares Getränk, in dem wir sozusagen die tiefste Essenz dieses glühenden Samstags fanden.
Die Tante jammerte. Das war der grundsätzliche Ton ihrer Unterhaltung, die Stimme dieses weißen und fruchtbaren Fleisches, das gleichsam schon außerhalb ihrer Persönlichkeit schäumte, kaum lose in Spannung, in den Fesseln einer individuellen Form gehalten, und selbst schon in dieser Spannung vervielfältigt und bereit zu zerfallen, sich zu verästeln und in der Familie aufzulösen. Es war eine schier selbstgebärende Fruchtbarkeit, eine Weiblichkeit ledig aller Zügel und Hemmungen und krankhaft wuchernd.
Es schien, als ob schon das Aroma der Männlichkeit, der Duft des Tabakrauches oder ein Herrenwitz dieser entflammten Weiblichkeit den Impuls zu wollüstiger Jungfernzeugung geben könnte. Und eigentlich waren alle ihre Klagen über den Mann und über die Dienstboten und ihre Sorgen um die Kinder nur Laune und Schmollen einer unbefriedigten Fruchtbarkeit, eine Fortsetzung dieser barschen, zornigen und weinerlichen Koketterie, mit der sie vergeblich ihren Mann heimsuchte. Onkel Marek, klein, bucklig, mit einem sterilen, geschlechtslosen Gesicht, saß da in seinem grauen Bankrott, ausgesöhnt mit dem Schicksal, im Schatten grenzenloser Verachtung, in dem er auszuruhen schien. In seinen grauen Augen glomm die ferne Glut des Gartens, der sich vor den Fenstern entfaltete. Von Zeit zu Zeit versuchte er mit einer schwachen Bewegung irgendwelche Vorbehalte zu machen und Widerstand zu leisten, aber die Woge selbstherrlicher Weiblichkeit stieß solche Gesten als bedeutungslos beiseite, ging triumphierend an ihm vorbei und übergoß mit ihrer breiten Strömung die schwachen Zuckungen der Männlichkeit.
Es war etwas Tragisches an dieser unsauberen und maßlosen Fruchtbarkeit, es war die Not der kämpfenden Kreatur am Rande des Nichts und des Todes, es war eine Art Heroismus der Weiblichkeit, die vor Gebärfreudigkeit sogar über die Krüppelhaftigkeit der Natur und über die Unzulänglichkeit des Mannes triumphierte. Doch die Nachkommenschaft bewies das Recht dieser Mütterlichkeitspanik, dieser Gebärwut, die sich in mißlungenen Geschöpfen und in einer ephemeren Generation von Phantomen ohne Blut und Gesicht erschöpfte.
Herein kam Lucja, die mittlere Tochter, mit einem allzu aufgeblühten und überreifen Kopf auf dem kindlichen und lockeren Körper aus weißem und delikatem Fleisch. Sie reichte mir ihr puppenhaftes, gleichsam jetzt erst knospendes Händchen und blühte auf einmal mit dem ganzen Gesicht auf wie eine vor rosiger Fülle überlaufende Pfingstrose. Unglücklich wegen ihres Errötens, das schamlos von den Geheimnissen der Menstruation erzählte, schlug sie die Augen nieder und entflammte noch heftiger unter der Berührung gleichgültigster Fragen, als ob jede eine heimliche Anspielung auf ihre überempfindliche Jungfräulichkeit enthielte.
Emil, der älteste meiner Cousins, mit einem hellblonden Bart und einem Gesicht, von welchem das Leben gleichsam jeden Ausdruck abgewaschen hatte, spazierte im Zimmer auf und ab, die Hände in den Taschen der faltigen Hosen.
Sein eleganter und wertvoller Anzug trug das Brandmal der exotischen Länder an sich, aus denen er zurückgekehrt war. Sein Gesicht, welk und fahl, schien von einem Tag zum anderen sich selbst zu vergessen und eine weiße, leere Wand mit einem blassen Netz von Äderchen zu werden, auf denen, wie Linien auf einer verwaschenen Landkarte, erlöschende Erinnerungen an ein stürmisches und vergeudetes Leben umherirrten. Er war ein Meister der Kartenkünste, rauchte lange, edle Pfeifen und duftete wunderbar nach fremden Ländern. Mit einem Blick, der über weite Erinnerungsfelder wanderte, erzählte er wunderliche Anekdoten, die an einem bestimmten Punkt plötzlich abrissen, in ein Nichts zersprangen und sich auflösten.
Ich folgte ihm mit sehnsüchtigen Blicken und dürstete danach, seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken und mich aus dieser Pein der Langweile zu erlösen. Und tatsächlich, es kam mir vor, als ob er mir zuzwinkerte, als er ins andere Zimmer ging. Ich schlich ihm nach. Er saß tief in einem kleinen Sofa, die Knie fast in der Höhe des Kopfes gekreuzt, der kahl wie eine Billardkugel war. Es schien, als ob sein Anzug allein — faltig, verknittert, hingeworfen — über dem Fauteuil hinge. Sein Gesicht war wie der Schemen eines Gesichts, ein Streifen, den ein unbekannter Passant in der Luft zurückgelassen hatte. In den blassen, bläulich emaillierten Händen hielt er eine Brieftasche, in der er etwas betrachtete.
Aus dem Nebel des Gesichts rang sich mühsam das vorquellende Weiße des blassen Auges ans Licht und lockte mich schelmisch zwinkernd zu sich heran. Ich empfand eine unwiderstehliche Sympathie für ihn. Er nahm mich zwischen die Knie, mischte vor meinen Augen mit geübter Hand Photographien und zeigte mir Darstellungen nackter Frauen und Burschen in seltsamen Stellungen. Ich stand, seitlich auf ihn gestützt, da und betrachtete diese delikaten Menschenleiber mit fernen, nichtssehenden Augen, als das Fluidum einer unklaren Erregung, welches plötzlich die Luft trübte, zu mir gelangte und mich als unruhiges Staunen, als Woge plötzlichen Verstehens überlief. Doch mittlerweile war der Hauch des Lächelns, das sich unter seinem weichen und schönen Bart abzeichnete, der Keim der Begierde, der sich auf seinen Schläfen mit einer pulsierenden Ader emporrankte, die Spannung, die seine Züge ein Weilchen in gesammelter Andacht verharren ließ, schon wieder in das Nichts versunken und hatte sich sein Gesicht in Abwesenheit verkehrt, selbstvergessen und aufgelöst.
Schon damals verfiel unsere Stadt immer schneller in das chronische Grau der Abenddämmerung und überwucherte ihre Ränder mit Flechten des Schattens, quellendem Schimmel und eisenfarbenem Moos.
Kaum aus den bräunlichen Rauchschwaden und Nebeldünsten des Morgens geschält, neigte sich der Tag schon einem niedrigen, bernsteinfarbigen Mittag zu, wurde nach einem Weilchen durchsichtig und golden wie dunkles Bier, um darauf in die vielfältig gegliederten, phantastischen Gewölbe bunter und ausladender Nächte hinabzusteigen.