Das Schicksal der Banshee - Alina Schüttler - E-Book

Das Schicksal der Banshee E-Book

Alina Schüttler

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Beschreibung

Auf der neuen Schule in Schottland ist Felicity die Außenseiterin. Keine Überraschung für die Siebzehnjährige, denn ihre Mitmenschen haben sie schon immer gemieden. Doch als wäre das noch nicht schlimm genug, träumt und sieht sie unheimliche Dinge, die eigentlich nicht wahr sein können. Erst der geheimnisvolle Krieger Jack bringt ein wenig Licht ins Dunkle. Er warnt sie vor dem mysteriösen Schwarzen Orden und offenbart ihr ein unglaubliches Geheimnis: Felicity ist eine Banshee. Gejagt von dem Geheimbund, der sie töten will, folgt sie Jack in die Parallelwelt Aldean. Dort findet sie endlich Freunde, muss sich aber auch gefährlichen Herausforderungen stellen, denn es droht ein Krieg. Als Felicity von neuen schrecklichen Visionen geplagt wird, erkennt sie endlich, dass sie der Schlüssel zu allem ist. Ob Felicity bereit ist, ihr Schicksal als Banshee anzunehmen und an der Seite ihrer neuen magischen Freunde zu kämpfen, erzählt die außergewöhnliche Fantasy-Geschichte „Das Schicksal der Banshee“ aus dem Tomfloor Verlag.

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Alina Schüttler 

Das Schicksal der Banshee

Für meine Lieblingsschwester,

ich hab zwar nur die eine,

aber die ist mir am liebsten.

1. Kapitel

Als ich die Tür hinter mir schloss und mich meinen neuen Klassenkameraden gegenübersah, zitterte ich vor Angst. Mir wurden die Knie weich und ich war unfähig, mich zu bewegen. Die Augen der Schüler waren auf mich gerichtet und sie sahen mich neugierig und auch ein wenig abschätzend an.

»Hallo, ich heiße Felicity Collins«, stellte ich mich dem Lehrer vor, der sich zu mir umgedreht hatte, als ich durch die Tür getreten war.

Mr Wilson nickte freundlich und wandte sich dann an die Klasse. Mit wenigen Worten stellte er mich vor und hieß mich in der Klasse willkommen.

»Setz dich doch da hinten auf den freien Platz.«

Mr Wilson deutete auf einen Tisch in der letzten Reihe.

Mit schnellen Schritten ging ich durch den Raum, die Augen auf den Boden gerichtet. Ich zog den Stuhl zurück und lächelte das Mädchen, neben dem ich sitzen sollte, kurz an. Sie nahm ihre Bücher, die auf dem Tisch ausgebreitet waren und legte sie auf ihre Seite. Ihre Augen sahen mich abfällig an und ihr Blick war kalt. Hastig wandte ich mich von ihr ab und setzte mich. Ich spürte, dass die anderen mich noch immer beobachteten, doch ich versuchte, sie zu ignorieren, und konzentrierte mich auf den Unterricht.

»Wie war dein erster Schultag?«, fragte mich meine Mutter, als ich am Nachmittag wieder nach Hause kam.

Ich zuckte mit den Schultern. Was sollte ich groß dazu sagen? Es war eben Schule.

»Hast du schon Freunde gefunden?«

Ich schüttelte den Kopf.

Die Hoffnung in ihrem Blick verwandelte sich in Enttäuschung, obwohl sie versuchte ihre Gefühle zu verbergen.

»Mach dir nichts draus, Felicity, es wird schon nicht so werden wie in der alten Schule.«

Ihr Versuch, mich aufzumuntern, gelang nicht ganz, doch ich lächelte sie an. Sie sollte nicht merken, wie groß meine Angst vor der neuen Schule war. Allerdings war ich mir sicher, dass mein Lächeln eher einer Grimasse glich.

Ich ging hoch in mein Zimmer und machte mich daran, die Umzugskartons auszupacken.

Wir waren erst am Wochenende in Glasgow angekommen. Vorher hatten wir in Dublin gewohnt, wo ich auch geboren worden war und die ersten siebzehn Jahre meines Lebens verbracht hatte.

Da wir nach unserer Ankunft in unserem neuen Haus zuerst andere Dinge hatten erledigen müssen, war ich bis jetzt nur dazu gekommen, das Allernötigste auszupacken. Die meisten meiner Sachen hatte ich allerdings schon vor unserem Umzug weggeworfen und so war nicht viel in den Kartons. Den alten Kram hatte ich sowieso nicht mehr gebraucht, Glasgow sollte ein Neuanfang werden.

Nach zwei Stunden machte ich eine Pause und stellte mich ans Fenster.

Von hier konnte ich die Straße überblicken, die Reihenhäuser mit ihren Minivorgärten und die Kirche ein Stück weiter die Straße hinunter. Dass es hinter der Kirche und dem Friedhof auch eine von einer hohen Mauer umgebene Parkanlage gab, konnte ich von meinem Fenster aus nicht sehen. Ich wusste nur, dass es sie gab, weil ich durch das kleine Tor von der Straße aus schon einen kurzen Blick darauf geworfen hatte. Ganz plötzlich hatte ich Lust, sie mir näher anzusehen. Ich nahm eine Jacke aus einem der Kartons, zog sie über und ging nach unten.

»Mum, ich gehe raus«, rief ich ins Wohnzimmer, wo meine Mutter saß.

»Viel Spaß, komm nicht zu spät nach Hause«, kam ihre Antwort.

Ich ging nach draußen und blieb einen Moment vor der Haustür stehen. Zitternd schloss ich den Reißverschluss meiner Jacke. Es war noch kälter, als ich erwartet hatte, und ich war froh, dass ich mich für die wärmere Jacke entschieden hatte. Ich sah mich um und stellte fest, dass außer mir niemand unterwegs war.

Den Eingang zum Park fand ich sofort wieder, ich musste nur der Straße folgen und hinter der Kirche in die nächste Seitengasse abbiegen. Das Tor war nicht abgeschlossen. Ohne zu zögern, ging ich hinein. Scheinbar kümmerte sich niemand um die Anlage, denn das Gras reichte mir bis zu den Knien und während ich versuchte, auf dem Weg zu bleiben, oder besser gesagt, auf dem, was von ihm übrig war, musste ich mich an ausladenden Büschen vorbeizwängen und über Wurzeln und abgebrochene Äste steigen.

Doch mir gefiel die grobe Wildheit des Parks. Alles wirkte so natürlich, als wäre hier schon viele Jahre niemand mehr gewesen. Wahrscheinlich war es auch so. Allerdings fragte ich mich, warum. Die Anlage lag mitten in einer Wohngegend und sicher war ich nicht der einzige Mensch im Umkreis, der sich freute, wenn er mal ins Grüne gehen konnte.

Der schmale Pfad führte immer tiefer in den verlassenen Park hinein. Sogar die Tiere schienen ihn zu meiden und nicht einmal der Lärm der Stadt war hier zu hören, obwohl die Grünanlage sich nicht weit von den belebten Straßen der Innenstadt befand. Es schien, als würden die dichten Hecken und riesigen Bäume kein Geräusch zu mir durchlassen. Oder war es der Nebel, der plötzlich aufgekommen war, der alle Geräusche dämpfte? Er hing zwischen den Bäumen und umhüllte mich. Dennoch spürte ich eine unglaubliche Zufriedenheit tief in mir. Etwas an diesem Ort machte mich glücklich. Es war, als hätte ich etwas gefunden, das ich schon immer begehrt hatte, ohne es zu wissen.

Ich ließ mich auf den Boden sinken und lehnte mich gegen einen der Bäume. Eine Weile saß ich einfach nur da, doch dann … ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter und die Haare in meinem Nacken stellten sich auf. Mit einem Satz war ich auf den Füßen und sah mich nervös um. Mir war, als würde mich jemand beobachten.

Ich spähte durch den Nebel und mein Glücksgefühl wich einer nervösen Unruhe. Nur wenige Meter von mir entfernt stand eine schwarze Gestalt. Sofort wurde mir bewusst, dass etwas an ihr nicht normal war. Sie war vollkommen schwarz. Kein Gesicht und keine Kleidung waren zu erkennen. Nur die Umrisse waren die eines Menschen. Es war, als hätte jemand eine Person aus schwarzem Nebel geformt.

»Hallo?«, rief ich zögerlich, doch ich bekam keine Antwort. Die Gestalt bewegte sich auch nicht. Sie sah mich einfach nur an. Zumindest hatte ich das Gefühl, dass sie das tat, Augen hatte sie ja keine.

Angst kroch in meine Glieder und je länger ich mein Gegenüber ansah, umso schneller schlug mein Herz. Mein Atem ging stoßweise, mein Herz begann zu rasen und die Angst schlug in Panik um. Sie staute sich in mir auf und entwich schließlich in einem spitzen Schrei. Ich wirbelte herum und rannte los.

Der Park kam mir mit einem Mal nicht mehr romantisch, sondern nur noch bedrohlich vor. Das lange Gras schien sich bei jedem Schritt um meine Knöchel zu schlingen, als wollte es mich an der Flucht hindern, und ich hatte das Gefühl, die Äste der Büsche und Bäume würden nach mir greifen.

Hektisch schlug ich die Zweige von meinem Gesicht weg, als ich etwas Hartes an meinem rechten Fuß spürte und nach vorn auf die harte Erde geschleudert wurde. Der Aufprall presste mir die Luft aus den Lungen. Keuchend versuchte ich, wieder zu Atem zu kommen.

Es dauerte einen Moment, aber dann entdeckte ich hinter mir eine dicke Wurzel. Vermutlich war sie es, die mich zu Fall gebracht hatte, aber zum Glück schien ich mich nicht verletzt zu haben.

Umständlich rappelte ich mich auf und warf einen Blick über meine Schulter. Die schwarze Gestalt war verschwunden. An der Stelle, an der sie gestanden hatte, war nichts als hohes Gras, welches nicht einmal plattgedrückt war. Hatte ich mir das alles nur eingebildet?

Das Blut rauschte in meinen Ohren, und auch wenn die Panik langsam verschwand, wollte ich nicht länger in diesem Park bleiben. Ich hetzte den Pfad weiter. Doch diesmal achtete ich besser auf den unebenen Boden und fühlte mich sehr erleichtert, als ich endlich wieder auf die Straße trat.

Minuten später erreichte ich mein neues Zuhause und klingelte an der Tür. Meine Mutter öffnete mir und sah mich erschrocken an.

»Was ist denn mit dir passiert?«

Einen Moment lang wusste ich nicht, was sie meinte, bis ich bemerkte, dass sie auf meine Beine starrte. Ich sah ebenfalls an mir herunter und erschrak. Meine Hose war verdreckt und am rechten Knie aufgerissen. Darunter entdeckte ich sogar Blut.

Mum pflückte einen Zweig von meiner Jacke. Er musste ebenso wie die Blätter bei meiner Flucht dort hängengeblieben sein.

»Ich bin hingefallen«, murmelte ich, während ich in den Flur trat und meine Mutter die Tür schloss. Langsam zog ich Jacke und Schuhe aus. Mum nahm mir beides ab.

»Zieh dir frische Sachen an und wasch die Wunde aus«, rief sie mir nach, als ich die Treppe hinauflief.

»Wie ist denn die neue Schule? Bitte sag uns Bescheid, wenn es wieder so wird wie in der alten.«

Ich fühlte den besorgten Blick meines Vaters, als wir wenig später beim Abendessen in der Küche saßen. Ich wusste, wie sehr sich meine Eltern wünschten, dass es in der neuen Schule besser lief. Das Verhältnis zwischen meinen alten Mitschülern und mir war von Anfang an nicht gut gewesen. Doch dann hatte mich die ganze Klasse ausgegrenzt und schließlich gemobbt. Lange Zeit hatte ich niemandem etwas davon erzählt, da ich gehofft hatte, es würde vorübergehen. Außerdem hatte ich meine Eltern nicht damit belasten wollen. Es war klar, dass sie nun Angst hatten, es würde mir hier ebenso ergehen.

»Ich werde euch alles erzählen. Macht euch bitte nicht so viele Sorgen«, versuchte ich sie zu beruhigen, konnte aber an ihren ängstlichen Gesichtern erkennen, dass sie mir nicht glaubten.

Am nächsten Morgen saß ich im Geschichtsunterricht und sah aus dem Fenster. Ich konnte die schwarze Gestalt nicht vergessen und fragte mich noch immer, ob ich sie wirklich gesehen oder sie mir nur eingebildet hatte.

Ich hörte Mr Wilson nur mit einem Ohr zu, doch was er als Nächstes sagte, sorgte dafür, dass ich mit meiner Aufmerksamkeit sofort wieder beim Unterricht war.

»Bisher haben wir hauptsächlich über Geschichte gesprochen, die die ganze Welt betrifft. In den nächsten Wochen jedoch werdet ihr euch in Partnerarbeit intensiv mit der Geschichte von Schottland und dessen Sagen beschäftigen.« Er fuhr sich durch die grauen Haare, während die Schüler anfingen zu tuscheln.

»Ich werde die Partner zuteilen.« Sofort gehörte Mr Wilson wieder die Aufmerksamkeit der Klasse.

Ich betrachtete meine Mitschüler und hörte zu, wie der Lehrer begann, die Themen und Partner zuzuteilen.

»Bonnie, du arbeitest mit Felicity zusammen.«

Als ich meinen Namen hörte, sah ich mich im Raum um, um herauszufinden, wer Bonnie war.

Ein blondes Mädchen hob die Hand. »Kann Bonnie nicht noch mit uns arbeiten?«

Ihre kalte Stimme versetzte mir einen Stich. Ich sah hinunter auf meine Hände, die mit einer Strähne meiner schwarzen Locken spielten.

»Nein, ich teile die Gruppen zu und werde nichts daran ändern.« Mr Wilson benutzte einen Tonfall, der deutlich machte, dass der Lehrer nicht mit sich reden lassen würde.

»Ist schon okay, Fiona.« Ein rothaariges Mädchen sah zu mir. Ich lächelte sie an, doch sie wandte den Blick sofort wieder von mir ab und flüsterte der Blonden etwas zu.

»Bonnie, Felicity, ihr werdet euch mit den schottischen Sagengestalten beschäftigen«, bestimmte Mr Wilson.

Wir nickten.

Als schließlich alle ihre Partner und Themen kannten, stand Bonnie auf und kam auf mich zu.

Sie lächelte, doch ihr hübsches Lächeln erreichte nicht ihre Augen. Diese betrachteten mich vielmehr abschätzend und ein wenig misstrauisch.

Ich spürte auch die Blicke ihrer Freundinnen auf mir ruhen, und als ich zu ihnen hinüberschaute, konnte ich sehen, wie sie mich voller Abscheu musterten. Schnell sah ich wieder zu Bonnie.

»Die Stunde ist fast vorbei, wollen wir uns vielleicht heute Nachmittag in der Bibliothek treffen und dort mit unserem Referat anfangen?«, wollte sie wissen.

Ich nickte schnell.

Sie erklärte mir, wie ich von der Schule zur Bibliothek kam, und ich notierte es mir. Als es klingelte, verschwand meine Arbeitspartnerin allerdings sofort zu ihren Freundinnen. Sie verließen den Raum gemeinsam und langsam packte auch ich meine Sachen zusammen, bevor ich meinen Mitschülern auf den Flur folgte.

Auf dem Weg von der Schule zur Bibliothek hatte ich meine Mutter angerufen, um ihr zu sagen, dass es später werden würde. Nun war ich pünktlich an unserem vereinbarten Treffpunkt und wartete auf Bonnie, die schon wenig später erschien.

»Hey.« Sie begrüßte mich knapp, aber mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, das diesmal viel ehrlicher wirkte. Sofort legte sich die Nervosität, die sich in meiner Brust ausgebreitet hatte, ein wenig.

Wir betraten das große alte Gebäude und suchten in den Regalen nach Büchern über schottische Sagen. Wir arbeiteten schweigend, doch ich sah immer wieder zu meiner Arbeitspartnerin hinüber. Dieses Mädchen war die erste gewesen, die es nicht abgelehnt hatte, mit mir zu arbeiten, und ich war ihr dankbar dafür.

Einige Stunden verbrachten wir in der Bibliothek an unserem Referat, bis es schließlich dunkel wurde und wir uns auf den Heimweg machten.

»Wann wollen wir weitermachen?«, erkundigte ich mich.

»Hast du morgen Zeit?« Bonnie schenkte mir wieder ihr nettes Lächeln und mein Herz machte einen regelrechten Hüpfer.

»Natürlich. Treffen wir uns wieder zur selben Zeit?«

Meine Arbeitspartnerin nickte und wir verabschiedeten uns voneinander.

Im Bus sah ich aus dem Fenster und dachte über das nach, was an diesem Tag passiert war. Noch nie zuvor hatte ich mit jemandem in meinem Alter Zeit verbracht. Nach dem, was in meiner alten Schule passiert war, hatte ich Angst gehabt, dass ich auch in Glasgow wieder zur Außenseiterin werden könnte. Aber vielleicht hatte ich mich da ja getäuscht und es würde wirklich der erhoffte Neuanfang für mich werden.

Einige Straßen von unserem Haus entfernt stieg ich aus dem Bus. Inzwischen war es vollkommen dunkel und die Straßenlaternen spendeten nur wenig Licht. Eilig ging ich die Straße entlang und kam schließlich am Park vorbei. Friedlich lag er in der Dunkelheit und verrückterweise wünschte ich mir, durch das Tor zu treten und ihn erneut zu erkunden. Ich wusste nicht, warum er mich so anzog, besonders nach dem, was am Tag zuvor geschehen war, aber es war so.

Mit einem Kopfschütteln ging ich weiter. Es war ganz sicher keine gute Idee, im Dunkeln durch das Gestrüpp zu stolpern. Ich kam an der Kirche vorbei. Licht fiel durch die bunten Fenster nach draußen und ich hörte, dass jemand auf der Orgel spielte. Für einen Moment schloss ich die Augen und ließ die Stille der Stadt auf mich wirken. Alles um mich herum war so friedlich. Es erschien mir lächerlich, dass ich am Vortag voller Panik aus dem Park nach Hause geflüchtet war, wo doch alles hier so wunderschön war.

2. Kapitel

»Wieso bist du jetzt eigentlich auf unserer Schule?«, wollte Bonnie am nächsten Tag wissen, als wir wieder in der Bibliothek saßen.

»Ich hatte ein paar Schwierigkeiten in meiner alten«, erwiderte ich ausweichend.

Es war mir schon schwer genug gefallen, mit meinen Eltern und den Lehrern auf meiner alten Schule über meine Probleme zu sprechen. Da war es definitiv nicht einfacher, es jemandem zu erklären, den ich gerade erst einen Tag kannte.

»Du bist auch nicht aus Schottland, oder?« Ohne auf eine Antwort zu warten, ging Bonnie zu einem Regal in der Nähe, um ein Buch wegzuräumen.

»Ich komme aus Dublin«, antwortete ich.

Die Mobbing-Sache war nicht der einzige Grund für unseren Umzug gewesen. Eigentlich waren wir nur hierhergezogen, weil mein Vater in Glasgow einen Job angeboten bekommen hatte. Das erzählte ich auch Bonnie.

Sie setzte sich wieder neben mich und schwieg einige Minuten, bevor sie fragte: »Vermisst du deine Freunde gar nicht?«

»Ich hatte keine.« Verlegen sah ich auf den Block, der vor mir lag.

Bonnie schien nicht zu wissen, was sie dazu sagen sollte und blätterte stattdessen in unseren Notizen.

Auch ich hing meinen Gedanken nach und dachte kurz an die Zeit in Dublin. Doch mein bisheriges Leben war nun hoffentlich vorbei. Ich spürte zwar immer noch die Abneigung meiner Mitschüler, aber wenigstens Bonnie arbeitete mit mir und ich hoffte, dass sich daraus vielleicht sogar eine Freundschaft entwickeln würde.

»Weißt du, dass ich lieber mit dir, als mit meinen Freundinnen arbeite? Bei ihnen dauert es ewig, bis man überhaupt etwas aufs Papier bekommt.«

Ich sah sie überrascht an. »Warum denn das?«

»Sie geben sich einfach keine Mühe, was die Schule angeht. Ich glaube, sie wollten mich nur in ihrer Gruppe haben, damit ich die ganze Arbeit mache.«

Ihre Antwort kam mit einem leichten Schmunzeln, aber ich konnte die Enttäuschung über das Verhalten ihrer Freunde in ihren Augen sehen.

Dieses Mal war ich diejenige, die nicht wusste, was sie sagen sollte, aber zum Glück ersparte Bonnie mir eine Antwort und hielt mir eines der Bücher hin.

»Schau mal hier, das müssen wir unbedingt mit in unser Referat aufnehmen.« Sie deutete auf die rechte Seite. »Bei manchen Wesen bin ich echt froh, dass es nur Mythen sind und es sie nicht wirklich gibt.«

Ich betrachtete die Zeichnung einer alten Frau in einem grünen Kleid, die mich wütend anstarrte. Bonnie hatte recht. Als ich mir die Beschreibung der Banshee durchlas, wurde mir klar, dass das ein Wesen war, dem ich niemals begegnen wollte. Aber wer wollte das schon, wenn das Erscheinen dieser unheimlichen Frau den eigenen Tod ankündigte.

Bonnie notierte sich die wichtigsten Daten, die ich ihr diktierte, während mein Blick immer wieder zu der Zeichnung der unheimlichen Banshee huschte. Sie war äußerst hässlich, hatte nur ein einziges Nasenloch und Zähne, die zwischen ihren Lippen hervorragten. Doch das Schlimmste waren ihre Augen, die spöttisch und kalt aus der Zeichnung herausblickten. Diese Todesfee verursachte ein ungutes Gefühl in mir, aber trotzdem faszinierte sie mich auch.

»Im schottischen Volksglauben heißt es, dass die Banshee nicht wie in Irland unter einem Fenster steht und klagt, sondern in der freien Natur die Totenhemden wäscht.« Ich beobachtete wie Bonnie meine Worte mitschrieb und legte das Buch zur Seite, sobald sie geendet hatte, um mich dem nächsten zu widmen.

Eine Weile arbeiteten wir konzentriert und unser Referat nahm immer mehr Gestalt an.

Die Bibliothekarin ging an uns vorbei und blieb einen Moment neben unserem Tisch stehen. Sie betrachtete unsere Arbeit und runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts dazu.

»Ich muss langsam mal nach Hause. Treffen wir uns morgen wieder?«, fragte Bonnie. »Ich denke wir brauchen nicht mehr lange, bis wir das Referat fertig haben.« Sie stand auf und sah mich an.

»Ja, in Ordnung.« Ich wollte mir meine Enttäuschung darüber, dass unsere Zusammenarbeit so schnell beendet sein würde, nicht anmerken lassen. War unser Referat erst einmal fertig, dann hatte Bonnie keinen Grund mehr, Zeit mit mir zu verbringen.

Wir stellten die Bücher zurück in die Regale und packten unsere Sachen zusammen. Dann verließen wir die Bibliothek und machten uns getrennt voneinander auf den Heimweg.

Meine Eltern waren an diesem Abend nicht zu Hause und nachdem ich eine Kleinigkeit gegessen hatte, ging ich in mein Zimmer. Ich schaltete das Radio ein und räumte meinen letzten Umzugskarton aus, bevor ich ins Bett ging.

Für mich war es noch immer ein fremdes Zimmer und ich fragte mich, wie lange dieses Gefühl noch anhalten würde. Würde es sich überhaupt jemals ändern? Das Licht der Straßenlaterne fiel durch die Gardinen und ich betrachtete die Schatten, die es an die Wände warf, während ich langsam ins Reich der Träume sank.

Im Traum verließ ich das Haus und ging die Straße entlang. Es regnete und ich zog mir die Kapuze über den Kopf. Der Wind wirbelte um mich herum, zerrte an meiner Kleidung und schien mir etwas zuzuflüstern.

Mein Weg führte mich wieder an der Kirche vorbei. Die Melodie des Orgelspiels, die zu mir nach draußen drang, war traurig und ich blieb einen Moment stehen um ihr zu lauschen, bevor ich um das Gebäude herumging. Ich betrat den Friedhof, ohne zu wissen, warum ich es tat. Es war, als würde ich einer inneren Eingebung folgen.

Etwa in der Mitte des Friedhofs hatte sich eine kleine Gruppe versammelt.

Ich hielt mich im Schatten der Kirche und beobachtete die schwarz gekleideten Personen, die mich nicht zu bemerken schienen. Einige von ihnen hatten Schirme in den Händen, um sich vor dem Regen zu schützen, aber den meisten schien die Nässe von oben egal zu sein. Sie blickten auf eines der Gräber und lauschten dem Pfarrer, der neben einem hellen Sarg stand und seine Predigt hielt.

Ich konnte nicht hören, was er sagte, denn neben mir plätscherte das Wasser aus der Regenrinne zu Boden und rann über die Steine des Weges. Es war, als würde der Regen, der in der Luft hing, alles um mich herum ein wenig verdunkeln und doch war ich mir sicher, dass es eigentlich helllichter Tag sein müsste. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und ich drehte mich um.

Hinter mir war eine schwarze Gestalt. Sie war der ähnlich, die ich vor einigen Tagen im Park gesehen hatte und doch war es nicht dieselbe. Diese hier war ein ganzes Stück kleiner.

Verängstigt stolperte ich ein paar Schritte zurück. Ich wollte unbedingt einige Meter Abstand zwischen uns bringen.

Für einen Moment stand die Gestalt einfach wieder nur da und tat nichts. Doch dann setzte sie sich in Bewegung. Einige schreckliche Sekunden lang dachte ich, dass sie auf mich zukommen würde, aber sie ging an mir vorbei und zwischen den Gräbern entlang. In der Nähe der trauernden Gesellschaft blieb sie stehen und schien nun ebenfalls den Worten des Pfarrers zu lauschen.

Ich ließ sie nicht aus den Augen und keuchte erschrocken, als sie sich mit einem Mal in Luft auflöste. Hatte die im Park das auch gemacht? War sie deshalb auf einmal nicht mehr hinter mir gewesen?

Der Sarg war inzwischen in der Erde. Eine Frau, sank vor dem offenen Grab auf die Knie und weinte. Der Mann, der hinter sie trat und ihr tröstend die Hände auf die Schulter legte, hielt den Kopf gesenkt, aber seine Schultern bebten. Ich vermutete, dass es ihr Ehemann war und er ebenfalls weinte.

Die anderen respektierten offenbar ihren Wunsch, allein mit ihrer Trauer zu bleiben, und zerstreuten sich.

Der Pfarrer und ein paar der Trauergäste machten sich auf den Weg zurück zur Kirche und unterhielten sich dabei leise. Ich drückte mich hastig an die Wand, um im Schatten zu verschwinden und nicht von ihnen bemerkt zu werden, doch nun versperrte ein großer Steinengel meine Sicht. Als ich einige Minuten später aus dem Schatten trat, war niemand mehr an dem Grab und ich konnte hören, wie einige Autos vom Parkplatz vor der Kirche losfuhren.

Von einer seltsamen Neugier gepackt, ging ich zwischen den Ruhestätten hindurch. Eine fast vollkommene Stille umgab mich. Nur der Wind schien etwas in mein Ohr zu wispern und der Regen prasselte auf die Grabsteine.

An dem neu aufgeschütteten Erdhügel vor dem offenen Grab blieb ich stehen. Blumenkränze lagen am Rand und ein schlichtes Holzkreuz steckte dort, wo später einmal der Grabstein stehen würde.

Regentropfen liefen über mein Gesicht und ich hatte das Gefühl, als würde der Himmel weinen. Ich wischte das Wasser mit dem Handrücken weg und versuchte, meine schwarzen Locken zurück in die Kapuze zu stopfen, um sie vor der Nässe zu schützen. Während ich das tat, fiel mein Blick auf die Inschrift des Holzkreuzes. Ich erstarrte und es war, als würde mir jemand einen glühenden Dolch in die Brust rammen, als die Worte meinen Verstand erreichten.

Bonnie Brown

geboren am 8.3.2001

gestorben am 6.9.2018

Keuchend machte ich einen Schritt zurück. Das war das Datum von morgen.

Plötzlich schien das letzte bisschen Licht von dem Friedhof zu verschwinden. Nur noch Dunkelheit umgab mich und diese schien an mir zu reißen. Es war, als würde mich eine dieser gruseligen schwarzen Gestalten von hinten umarmen und die Luft aus meinen Lungen pressen.

Schweißgebadet erwachte ich. Vor meinem inneren Auge sah ich noch immer dieses furchtbare Kreuz. Ein schrecklicher Schmerz pochte in meinem Schädel und ich presste mir die Hände an die Schläfen, in der Hoffnung, dass er nachlassen würde.

Jemand schrie und ich brauchte einige Augenblicke, um zu begreifen, dass ich es war. Entsetzt schlug ich mir die Hände vor den Mund, sprang aus dem Bett und rannte in den Flur. Die Dielen im Zimmer meiner Eltern knackten. Sicher hatte ich sie mit meinem Schrei geweckt, aber ich achtete nicht auf sie.

Mit wenigen Schritten war ich im Bad, schlug die Tür hinter mir zu und drehte den Wasserhahn auf. Kaltes Wasser strömte über meine Hände und angstgeweitete graue Augen in einem blassen Gesicht starrten mir aus dem Spiegel entgegen.

»Es war nur ein Traum«, flüsterte ich meinem Spiegelbild zu. »Nur ein schlimmer Albtraum.«

Aber irgendetwas gab mir das Gefühl, dass das nicht stimmte. Es war so erschreckend echt gewesen. Wäre ich nicht aufgewacht, wäre mir niemals in den Sinn gekommen, dass das nicht die Realität gewesen war.

»Nur ein Traum, nur ein Traum …«, murmelte ich immer wieder. So versuchte ich, es mir einzureden, versuchte, es zu glauben und zu verdrängen, dass es doch wahr sein könnte.

»Felicity?« Mum klopfte an die Tür, bevor sie ins Bad kam. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja, ich hatte nur einen Albtraum.« Ich versuchte, so gelassen zu klingen, wie ich es gern gewesen wäre.

»Ach Liebes, das tut mir leid!« Sanft strich sie mir eine Haarsträhne aus meiner schweißnassen Stirn. »Zieh dir ein frisches Nachthemd an, sonst erkältest du dich noch, so nass geschwitzt wie du bist, und dann versuch, noch etwas zu schlafen.« Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn.

Ich nickte und ging an ihr vorbei zur Tür, während sie den Wasserhahn zudrehte, den ich vergessen hatte.

Mein Vater lehnte am Türrahmen des Schlafzimmers und lächelte mich müde an.

»Entschuldigt, dass ich euch geweckt habe«, murmelte ich zerknirscht. Ich wusste, dass sein neuer Job anstrengend war und jetzt hielt ich ihn auch noch vom Schlafen ab.

»Mach dir keine Gedanken, Kleines. Auch nicht über deine Träume, ja?«

»Ich versuch es«, behauptete ich, obwohl ich genau wusste, dass es nicht einfach werden würde, die Bilder aus meinem Kopf zu kriegen. »Gute Nacht, Dad.«

»Nacht, Felicity.«

Zurück in meinem Zimmer zog ich mich schnell um und kroch wieder unter die Bettdecke. Aber an Schlaf war nicht mehr zu denken, ich war hellwach. Außerdem tauchte immer das Holzkreuz vor meinen Augen auf, wenn ich sie schloss.

Also konnte ich gar nicht anders, als über meinen unheimlichen Traum nachzugrübeln. Konnte das tatsächlich so etwas wie eine Vision gewesen sein? Würde all das wirklich passieren? Würde Bonnie wirklich sterben?

Oder war es doch nur ein bedeutungsloser Albtraum? Hatte mir mein Unterbewusstsein vielleicht nur einen Streich gespielt, weil das erste Mal eine Mitschülerin freundlich zu mir gewesen war?

Als mein Wecker klingelte, zwang ich mich, aufzustehen. Ich fühlte mich schrecklich, während ich ins Bad schlurfte, und ein Blick in den Spiegel zeigte mir, dass ich auch so aussah. Meine schwarzen Locken standen wirr in alle Richtungen ab. Unter den Augen hatte ich dunkle Ringe, die das helle Grau meiner Augen noch hervorhoben.

Während ich das so fremd wirkende Gesicht anstarrte, hörte ich die Uhr an der Wand. Tack, tack, tack. Ich zählte die Tacks mit. Tack, tack, tack. Die Sekunden verstrichen und schließlich die Minuten, während ich mich nicht von meinem Spiegelbild lösen konnte. Schließlich schloss ich kurz die Augen und der Bann war gebrochen.

Trotzdem musste ich mich wieder zwingen, nach der Bürste zu greifen. Wie in Trance fuhr ich ein paar Mal damit durch meine Haare, die mir fast bis zur Taille gingen, und flocht sie dann zu einem Zopf. Irgendwie schaffte ich es auch, mir die Zähne zu putzen und mich zu waschen, ehe ich das Bad wieder verließ. Mit wackeligen Beinen schleppte ich mich nach unten in die Küche, doch schon beim Gedanken an Essen wurde mir schlecht.

Deshalb trank ich nur ein Glas Wasser. Die Dose mit meinem Schulbrot, die mir Mum auf die Anrichte gestellt hatte, ließ ich dort stehen, als ich zurück in mein Zimmer ging, um meine Schulsachen zu holen.

Der Versuchung, mich wieder ins Bett fallen zu lassen, konnte ich kaum widerstehen. Schnell stopfte ich Bücher und Hefte in meine Tasche, um mich abzulenken. Über meinem Schreibtisch hing ein Kalender, und mein Blick fiel auf das Datum. Heute war der 6. September. Heute war der Tag, an dem Bonnie in meinem Traum gestorben war.

Mit einem Kopfschütteln versuchte ich, diesen Gedanken zu vertreiben. Ich nahm schnell meine Tasche und verließ mein Zimmer. Eigentlich war es noch zu früh, um zur Haltestelle zu laufen, aber ich hielt es zu Hause nicht länger aus. So schlüpfte ich in Schuhe und Jacke und trat hinaus in den leichten Nieselregen.

Langsam verschwand die Müdigkeit, aber die Bilder der Beerdigung vergaß ich nicht. Sie umgaben mich wie ein dunkler Nebel und schienen mich auf Schritt und Tritt zu verfolgen.

»Das war nur ein Traum«, flüsterte ich mir erneut selbst zu.

Wie gern hätte ich mir geglaubt, aber irgendetwas tief in meinem Inneren gab mir das Gefühl, dass dieser Albtraum alles andere als das Produkt einer überbordenden Fantasie gewesen war.

Ich kam an der Kirche vorbei. Heute schien sie bedrohlich in den grauen Himmel zu ragen. Der Friedhof lag direkt dahinter und am liebsten wäre ich wieder nach Hause gerannt, um dem Ort meiner Vision nicht so nah sein zu müssen.

Doch das tat ich nicht. Ich musste Bonnie sehen, wissen dass es ihr gut ging, und so lief ich schnell weiter zur Haltestelle und war erleichtert, als der Bus endlich kam. Ich sank auf einen freien Platz am Fenster und legte meine Stirn erschöpft an die kalte Fensterscheibe. Der Regen rann auf der anderen Seite an ihr herab und ich nahm kaum wahr, wie die Häuser der Stadt an mir vorbeizogen.

Als ich die Schule betrat, drang von überall her das fröhliche Stimmengewirr der anderen Schüler zu mir. Ich hatte das Gefühl, als würde mich ihre Heiterkeit erdrücken und ging so schnell wie möglich durch die Flure zum Klassenzimmer. Kraftlos ließ ich mich auf meinen Platz sinken und packte meine Sachen aus, während nach und nach auch meine Klassenkameraden den Raum betraten.

Es war mir auch kaum möglich, dem Unterricht zu folgen. Zum einen war ich viel zu müde, um mich auf das zu konzentrieren, was der Lehrer sagte, und zum anderen schweiften meine Gedanken immer wieder ab.

Bonnie saß in der Reihe vor mir und ich konnte sie kaum ansehen. Zuerst war ich erleichtert gewesen, sie gesund und munter zu sehen, doch nun schämte ich mich für meinen Traum und fühlte mich schuldig. Auch graute es mir vor dem Nachmittag, denn auch heute würden wir wieder in der Bibliothek an unserem Referat arbeiten.

Der Unterricht zog an mir vorbei, als wäre ich in Trance. Nach Schulschluss machte ich mich zusammen mit Bonnie auf den Weg zur Bibliothek. Die ganze Zeit konnte ich ihre Blicke auf mir spüren.

»Ist alles in Ordnung?«, wollte sie nach einigen Minuten von mir wissen.

»Ja. Warum fragst du?«

»Du siehst so blass aus und irgendwie wirkst du schon den ganzen Tag, als hättest du einen Geist gesehen.«

Ich wandte den Kopf und war überrascht, als ich ehrliche Sorge in ihren Augen entdeckte. »Hab nur schlecht geschlafen.« Ich hielt die Tür für sie auf und trat dann selbst über die Schwelle.

Schweigend gingen wir zwischen den Regalen entlang. Wie schon an den beiden Tagen zuvor setzten wir uns an einen freien Tisch und machten uns an die Arbeit. Während Bonnie unsere Notizen noch einmal durchging, verließ ich unseren Platz, um ein Buch aus einem der Regale zu holen. Ich hatte es schnell gefunden, kam jedoch nicht dran. Es stand so hoch im Regal, dass es außerhalb meiner Reichweite war. Ich zuckte zusammen, als auf einmal eine Hand nach dem Buch griff.

Rasch drehte ich mich um und sah ich in das Gesicht eines jungen Mannes, der mich freundlich anlächelte. Er strich sich mit der freien Hand seine braunen Haare aus der Stirn, während er mir das Buch mit der anderen hinhielt.

»Danke.« Ich nahm es ihm ab.

»Kein Problem.« Er lächelte kurz und verschwand dann den Gang entlang.

Einige Sekunden lang sah ich ihm verblüfft nach. Wie zuvorkommend er zu mir gewesen war!

Es fiel mir schwer, mich auf das Referat zu konzentrieren, als ich mich zu Bonnie setzte. Immer wenn ich das Mädchen ansah, das so freundlich zu mir war, musste ich an den Albtraum denken. Der Gedanke, dass das vielleicht doch mehr gewesen war, schnürte mir die Eingeweide zusammen. Am liebsten wäre ich nach Hause geflüchtet und hätte mich unter meiner Bettdecke versteckt, so wie ich es als kleines Kind getan hatte, immer wenn ich Angst gehabt hatte.

Vielleicht hätte ich mich besser gefühlt, wenn ich es Bonnie hätte erzählen können. Doch wenn ich das tat, würde ich sie nur erschrecken. Vermutlich würde sie mich als Freak abstempeln und nie wieder etwas mit mir zu tun haben wollen. Also schwieg ich und versuchte weiter, mich selbst davon zu überzeugen, dass es nur ein sinnloser Albtraum gewesen war.

Auch Bonnie war stiller als sonst. Nur ab und an verloren wir ein Wort über unser Thema. Schließlich beendeten wir unser Referat. Wir packten unsere Notizen zusammen und räumten die Bücher zurück in die Regale, bevor wir die Bibliothek wieder verließen.

»Mach’s gut, wir sehen uns morgen in der Schule«, sagte Bonnie lächelnd.

»Bis morgen.« Die Worte kamen mir nur schwer über die Lippen, denn ich hatte das Gefühl, als wären sie eine schreckliche Lüge.

Einem Gefühl folgend, schloss ich Bonnie in meine Arme und sie erwiderte meine Umarmung, wenn auch etwas überrascht. Dieser Abschied fühlte sich so endgültig an, dass mir fast die Tränen kamen. Mein Herz fing an zu rasen. Ich sah sie genau an, um mir ihr Gesicht einzuprägen und es nie mehr zu vergessen. Mit einem letzten Winken verabschiedete sich Bonnie von mir und verschwand in der Dunkelheit, während ich zurückblieb und ihr nachstarrte. Erst als der Regen stärker wurde, wandte ich mich ab und machte mich auf den Weg zur Bushaltestelle.

Die ganze Fahrt über ließ mich das Gefühl nicht los, dass Bonnie in Gefahr war. Mein Traum war noch immer so allgegenwärtig, dass ich hätte schreien können. Die Angst um sie schnürte mir die Brust zu und machte mir das Atmen schwer.

Als der Bus an der Haltestelle bei unserem Haus hielt, stieg ich aus. Ich zögerte einen Moment, als mir bewusst wurde, dass mein Weg mich wieder an der Kirche vorbeiführen würde.

Dort angelangt konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Das warme salzige Nass vermischte sich mit dem Regen und dieser wusch die Tränen gleich wieder fort. Vermutlich würden später nur noch meine geröteten Augen davon zeugen, dass ich überhaupt geweint hatte.

An der Haustür angekommen konnte ich wieder klarer denken. Mit zitternden Fingern holte ich meinen Schlüssel aus der Tasche. Das Zittern war so schlimm, dass ich eine gefühlte Ewigkeit brauchte, um den Schlüssel ins Türschloss zu bekommen und umzudrehen. Mit einem leisen Klicken sprang die Tür endlich auf und ich betrat den wohlig warmen Flur. Schnell streifte ich mir Jacke und Schuhe ab, und lief die Treppe hinauf.

»Bist du das, Felicity?«, kam die Stimme meiner Mutter aus dem Wohnzimmer.

»Ja«, rief ich zurück, ging jedoch nicht wieder nach unten. Mir war nicht danach, mich mit ihr zu unterhalten. Ich wollte nur noch ins Bett.

Einige Minuten später klopfte es leise an der Tür und meine Mutter kam ins Zimmer. Ihre schwarzen Haare fielen ihr bis auf die Schultern und umrahmten ihr Gesicht, das mir mit den vollen Lippen und den blauen Augen so gar nicht ähnelte.

»Ist alles in Ordnung, Schatz?«

»Ich fühle mich nicht gut.« Diese Worte beschrieben nicht im Ansatz, wie schrecklich ich mich wirklich fühlte.

»Soll ich dir einen Tee kochen?«

Ich konnte die Sorge in ihrer Stimme hören.

»Nein, ich will nur noch schlafen.«

»Du solltest aber vorher etwas essen, Schatz. Dein Schulbrot hast du heute Morgen auch stehenlassen.« Sie ließ sich auf die Kante meines Bettes sinken.

»Mum, ich fühle mich schrecklich, wenn ich jetzt was esse, dann muss ich mich übergeben. Bitte mach dir nicht so viele Sorgen um mich.« Ich setzte mich auf und gab ihr einen Kuss auf die Wange in der Hoffnung, sie so beruhigen zu können.

Doch die Unruhe in ihren Augen blieb, auch wenn sie verständnisvoll nickte und mein Zimmer verließ, ohne mich weiter mit Essensermahnungen zu quälen.

Ich war ausgelaugt von der letzten Nacht und todmüde. Erschöpft schloss ich die Augen. Während ich so dalag, kamen mir wieder Zweifel. Eigentlich war es doch vollkommen bescheuert, dass ich mir so viele Gedanken machte. Ich hatte so viele Träume in meinem Leben gehabt. Nur weil ich schon einmal davon geträumt hatte, konnte ich ja noch lange nicht fliegen. Es waren immer Träume gewesen und nicht die Realität. Warum sollte es also diesmal anders sein?

Nein. Schluss mit den schrecklichen Gedanken! Bonnie würde nicht sterben.

3. Kapitel

Ein neuer Tag begann. So, wie es immer sein würde, auch noch in vielen tausend Jahren.

Doch sobald ich die Augen aufschlug, beschlich mich das Gefühl, dass sich etwas verändert hatte. Noch dazu hatte ich schreckliche Kopfschmerzen. Wie am Vortag musste mich dazu überwinden, aufzustehen.

Auch wenn ich nicht viel Zeit hatte, huschte ich schnell unter die Dusche. Das warme Wasser prasselte angenehm auf meine Haut. Für einen Moment schloss ich die Augen und hoffte wieder, dass sich mein Albtraum nicht bewahrheitet hatte. Der sechste September war vorbei, doch mein schlechtes Gefühl hatte sich nicht verflüchtigt, obwohl ich mich am Abend noch so bemüht hatte, meine Angst zu vertreiben. Was, wenn er doch wahr geworden und Bonnie gestorben war?

»Nein. Nur ein Traum«, flüsterte ich in die Stille hinein und stieg aus der Dusche. Ich sah in den Spiegel und bemerkte wieder die Augenringe in meinem erschöpften Gesicht. Ich sah aus, als hätte ich auch in dieser Nacht nicht geschlafen. Meine Hände zitterten leicht und mein Herz schlug schneller bei dem Gedanken, dass ich Bonnie vielleicht nie wiedersehen würde. Ich mochte sie. Sie war die Erste gewesen, mit der ich mich hatte normal unterhalten können.

Tränen stiegen mir in die Augen, aber ich unterdrückte sie. Ich schüttelte den Kopf, um die düsteren Gedanken zu vertreiben. Sicher würde sie mich freundlich anlächeln, wenn wir uns nachher in der Schule trafen. Nur weil ich dieses bescheuerte Gefühl hatte, hieß es noch lange nicht, dass es stimmte.

Schnell trocknete ich mich ab und band meine noch nassen Haare zu einem Zopf zusammen, bevor ich das Bad wieder verließ. Ich ging in die Küche, wo meine Eltern am gedeckten Frühstückstisch saßen.

»Guten Morgen, Lissy, wie hast du geschlafen?«, wollte mein Vater wissen, den Blick auf die Tageszeitung gerichtet. Ich ließ mich auf den Stuhl neben ihm sinken.

»Nicht so gut.«

»Du siehst auch nicht gut aus. Wirst du etwa krank?«, erkundigte sich meine Mutter und legte mir ihre Hand auf die Stirn. »Kein Fieber, aber vielleicht solltest du dich heute lieber ausruhen?« Sie schüttete mir ein Glas Wasser ein und sah mich fragend an.

Nun blickte auch mein Vater auf. »Deine Mutter hat recht, willst du vielleicht zu Hause bleiben?«

Ich schüttelte schnell den Kopf und nahm einen Schluck von meinem Wasser.

»Wo warst du eigentlich gestern Abend, Dad?«, versuchte ich abzulenken.

Ich wusste zwar, dass er in seiner neuen Firma viel zu tun hatte, trotzdem wäre er um diese Zeit normalerweise schon da gewesen.

Meine Mutter arbeitete noch nicht wieder. Sie würde ihre neue Stelle erst in zwei Monaten antreten.

»Ich hatte noch ein Meeting. Das hat etwas länger gedauert«, antwortete mein Vater.

Erst jetzt fiel mir auf, dass auch er müde aussah. Mein Blick streifte die Uhr und erschrocken sprang ich auf. Ich war spät dran.

»Ich muss los. Hab euch lieb.« Ich gab erst meiner Mutter und dann meinem Vater einen Kuss auf die Wange, ehe ich meine Tasche nahm und in den Flur lief. Ich schlüpfte in die Schuhe und streifte mir meine Jacke über.

Obwohl ich so spät losgekommen war, hatte ich den Bus noch rechtzeitig erreicht und war wie immer die Erste im Klassenraum.

Während ich wartete, ließ ich die Tür keine Sekunde aus den Augen. Angst schnürte mir die Kehle zu und ich rutschte nervös auf meinem Platz hin und her. Immer wenn jemand hereinkam, hoffte ich, dass es Bonnie war. Doch bis zum Klingeln blieb ihr Platz leer und als Mr Wilson schließlich kam, gab ich die Hoffnung auf, dass sie noch kommen würde.

»Ich habe leider schlechte Nachrichten für euch.«

Erschrocken fuhr mein Blick nach vorn zu meinem Lehrer, der sich gerade auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch sinken ließ. Mein Magen zog sich zusammen und eine Stimme in meinem Kopf flüsterte mir zu, dass mein schrecklicher Traum wahr geworden war.

Mr Wilson legte seine Tasche auf den Tisch und holte eine Mappe heraus.

Inzwischen war ich so nervös, dass ich meine Hände zu Fäusten geballt hatte und die Fingernägel sich in mein Fleisch bohrten.

»Die Klassenfahrt in drei Wochen muss leider abgesagt werden.«

Niemand bekam mit, wie ich vor lauter Erleichterung ausatmete, denn meine Mitschüler sprachen laut durcheinander. Ich hatte mir sinnlos Sorgen gemacht. Bonnie verspätete sich bestimmt nur. Oder war sie vielleicht krank?

»Warum denn das?«, hörte ich einen Jungen sagen, an dessen Namen ich mich nicht erinnern konnte.

Ich blickte von meinen Handflächen hoch, auf denen meine Nägel kleine rote Halbmonde hinterlassen hatten, und sah Mr Wilson an, der gerade erklärte: »Die Jugendherberge, in die wir eigentlich fahren wollten, ist vor wenigen Tagen abgebrannt und bis jetzt ist es mir nicht gelungen, eine geeignete Alternative zu finden.«

Die Schüler beschwerten sich natürlich lautstark, wurden jedoch von unserem Lehrer unterbrochen. »Ich versuche, die Klassenfahrt auf das Frühjahr zu verschieben. Hier habe ich Briefe für eure Eltern, um sie darüber zu informieren. James, teilst du sie bitte aus?«

Der Junge in der ersten Reihe stand auf und nahm dem Lehrer die Umschläge ab.

Es klopfte an der Tür und die Stimmen verstummten, als der Direktor den Raum betrat.

»Ah, was für eine Ehre, dass Sie uns besuchen kommen.« Mr Wilson begrüßte ihn mit einem Lächeln, aber der Mann blieb ernst und ging zum Pult. Er sagte etwas zu unserem Lehrer, das ich nicht hören konnte, doch innerhalb von Sekundenbruchteilen fiel Mr Wilson das Lächeln aus dem Gesicht und er starrte seinen Vorgesetzten schockiert an.

»Ich habe euch etwas Wichtiges mitzuteilen«, wandte sich der Direktor schließlich an uns Schüler. Er wirkte angespannt und sah uns der Reihe nach an.

»Ich möchte, dass ihr mir jetzt genau zuhört und mir währenddessen keine Fragen stellt.« Einen Moment schwieg er und schien sich zu sammeln, bevor er fortfuhr: »Es geht um eure Mitschülerin Bonnie Brown. Ich habe gerade einen Anruf von ihren Eltern erhalten. Es tut mir sehr leid, aber ich muss euch mitteilen, dass Bonnie gestern Abend gestorben ist.«

In der Klasse war es totenstill, aber ich fühlte mich, als würde mir jemand das Herz aus der Brust reißen. Alles, was der Direktor danach sagte, bekam ich nicht mehr mit. Es war, als hätte jemand eine dicke Decke über meinen Kopf geworfen. Die Stimmen klangen gedämpft und ich konnte den Sinn der Worte nicht begreifen.

Ich blickte in die Gesichter meiner Mitschüler und konnte in den meisten von ihnen das pure Entsetzen lesen, als sie realisierten, dass wirklich wahr war, was der Direktor eben gesagt hatte. Langsam stieg das Stimmengewirr an, aber nur die Worte unseres Direktors drangen in mein Bewusstsein. »Ihr seid für den restlichen Tag alle vom Unterricht befreit.«

Ich registrierte, wie meine Klassenkameraden sich erhoben und nach und nach den Raum verließen. Wie in Trance stand auch ich auf. Vor meinem inneren Auge spielte sich mein Albtraum noch einmal in Zeitraffer ab. Ich dachte an den Vortag. Dachte an Bonnie, daran, dass sie der erste Mensch auf dieser Welt gewesen war, der für mich so etwas wie eine Freundin gewesen war. Ich erinnerte mich, wie wir uns vor der Bibliothek umarmt und einander zum Abschied gewinkt hatten.

Es war nicht fair, dass sie hatte sterben müssen. Sie hatte das nicht verdient. Aber mich machte nicht nur ihr Tod fertig. Ich musste wieder an den Traum denken, in dem ich auf ihrer Beerdigung gewesen war.

Wie konnte das sein? Konnte ich in die Zukunft sehen? Aber das war nicht möglich! Ich wusste, dass so etwas nicht möglich sein konnte, nicht möglich sein durfte.

Wie von selbst trugen mich meine Beine zur Bushaltestelle und ich stieg in den nächsten Bus. Immer wieder und wieder kreisten meine Gedanken um meine Zeit mit Bonnie. Ich konnte ihre Stimme hören, ihr Gesicht sehen und dachte an ihre Worte. Sie war die Erste gewesen, die mir, abgesehen von meiner Familie, keine Abneigung entgegengebracht hatte. Doch nun war sie nicht mehr da und ich konnte ihr nicht mehr sagen, wie gern ich ihre Freundin geworden wäre.

Ich brachte es nicht übers Herz, an der Kirche und dem Friedhof vorbeizugehen, also entschied ich mich zuerst einen Abstecher in den verwilderten Park zu machen. Nur kurz dachte ich an die seltsame Schattengestalt, doch diesmal fürchtete ich mich nicht, ihr zu begegnen. Ich war in Gedanken nur bei Bonnie. Tränen stiegen mir in die Augen und ich sah meine Umgebung nur noch verschwommen. Äste schlugen mir ins Gesicht, aber selbst der Schmerz, den sie verursachten, war nichts gegen das, was in mir tobte. Es war, als hätte sich in meiner Brust ein schwarzes Loch gebildet, das alle guten Gefühle und jedes bisschen Wärme verschlang. Kalte Schauer liefen mir über den Rücken und zitternd zog ich meine Jacke fester um mich.

Hätte ich Bonnie von meinem Traum erzählen sollen? Hätte ich ihren Tod vielleicht verhindern können? Ich fühlte mich schrecklich schuldig.

Neben einem verwitterten, moosüberwucherten Brunnen sank ich auf den Boden und ließ meinen Tränen freien Lauf.

Ich wollte einfach nicht nach Hause gehen, dort würde ich keine Ruhe finden. Mum würde mir sofort ansehen, dass etwas nicht stimmte, aber ich konnte im Moment mit niemandem darüber reden. Es war einfach zu schmerzhaft und zu verrückt. Wieso hatte ich Bonnies Beerdigung gesehen und warum sogar das genaue Datum? Ich war mir sicher, dass mir das niemand glauben würde. Vermutlich würde man mich für gestört halten und mich in die Psychiatrie einweisen. Ich konnte das alles ja selbst nicht begreifen. Was stimmte nur nicht mit mir?

Ich wusste nicht, wie lange ich dort auf dem Boden gesessen hatte, aber irgendwann trocknete ich mir die Tränen mit meinem Ärmel ab und stand langsam auf.

Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass mehr als eine Stunde verstrichen war. Es war mir nicht so lange vorgekommen, nur wie ein paar Minuten.

Ich machte mich auf den Weg nach Hause und hob den Blick für keinen Moment vom Boden. Die Kirche und den Friedhof wollte ich nicht sehen, wollte nicht wissen, was um mich herum geschah.

Meine Mutter war in der Küche und kam in den Flur, als sie die Tür hörte. Sie war offenbar gerade erst vom Einkaufen gekommen, denn sie hatte eine Packung Käse in der Hand und ein Karton mit Lebensmitteln stand noch im Flur.

»Lissy! Warum kommst du denn jetzt schon? Ist etwas passiert?« Ihre Stimme klang überrascht und besorgt. Sie nahm mir meine Jacke ab und hängte sie an die Garderobe, ließ mich aber keine Sekunde aus den Augen.

»Was ist denn los? Du bist ja ganz blass.« Ihre Hände legten sich auf meine Schultern, in der einen Hand hielt sie immer noch den Käse.

Mir stiegen erneut die Tränen in die Augen, als ich an meine Freundin dachte, und meine Mutter nahm mich in den Arm. Ich schmiegte mein Gesicht ganz dicht an ihre weiche Wolljacke.

»Bonnie ist gestern Abend gestorben«, schluchzte ich.

»Oh Süße, wie schrecklich!« Mum strich mir über den Rücken. »Das tut mir so leid.«

Ich kuschelte mich noch enger an sie und war froh, dass sie für mich da war.

»Willst du darüber reden?«

Ich schüttelte den Kopf und löste mich von ihr.