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Die Vergangenheit. Eine kleine Gruppe wagemutiger Forscher bricht an Bord des Segelschiffes »Demeter« in den Norden auf. Sie wollen ein rätselhaftes Artefakt untersuchen, das in Nordnorwegen im Eis schlummert. Doch als die Crew, begleitet vom Schiffsarzt Doktor Silas Coade, ihre Untersuchungen beginnt, geschieht eine Katastrophe, so gewaltig, dass ihre Auswirkungen noch in der fernen Zukunft spürbar sein werden ...
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Seitenzahl: 466
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das Buch
Schiffsarzt Doktor Silas Coade bricht mit einer Gruppe wagemutiger Forscher an Bord des Segelschiffes Demeter nach Norden auf. Sie wollen ein rätselhaftes Bauwerk untersuchen, das nördlich von Bergen im Eis liegt. Doch bei der Durchfahrt einer engen Felsspalte kommt es zur Katastrophe … Aus diesem verstörenden Traum erwacht Silas Coade an Bord des Dampfschiffes Demeter. Seine Expedition sucht nach einem rätselhaften Bauwerk in der Antarktis. Als sie es finden, stellen sie fest, dass sie nicht die Ersten hier sind … An Bord des Zeppelins Demeter löst sich Silas Coade mühsam aus diesem Albtraum. Er will den entscheidenden Moment der Expedition nicht verpassen: den Anflug auf das mysteriöse Bauwerk im Eis. Doch etwas stimmt ganz und gar nicht. Hat er diese Reise schon einmal unternommen? Dieses Bauwerk, das sich der menschlichen Vorstellungskraft entzieht, schon einmal gesehen? Silas Coade muss dieses Rätsel lösen, wenn er sich, die Crew der Demeter und die Zukunft retten will …
Der Autor
Alastair Reynolds wurde 1966 im walisischen Barry geboren. Er studierte Astronomie in Newcastle und St. Andrews und arbeitete lange Jahre als Astrophysiker für die Europäische Raumfahrt-Agentur ESA, bevor er sich als freier Schriftsteller selbstständig machte. Mit seinem Debütroman Unendlichkeit führte er die Science-Fiction ins 21. Jahrhundert: Millionen von Leser*innen rund um die Welt haben die Abenteuer der Menschheit in dieser fernen, düsteren Zukunft verfolgt. Heute lebt Alastair Reynolds mit seiner Familie in Wales.
Mehr über Alastair Reynolds und seine Werke erfahren Sie auf:
ALASTAIR REYNOLDS
ROMAN
Aus dem Englischen von Thomas Salter
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
Die Originalausgabe EVERSION erschien erstmals 2022 bei Gollancz
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Copyright © 2022 by Alastair Reynolds
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Claudia Haimerl
Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Artsiom P) und Arcangel Images (Victor Habbick)
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-32948-8V001
ISBN 978-3-641-32948-8V001
Für meine Frau, weil.
Arzt, heile dich selbst.
Lukas, Kapitel 4, Vers 23
Schritte retteten mich aus meinem Albtraum. Sie klangen dringlich, als sie sich näherten: harte Sohlen, die über altes, knarzendes Holz stampften. An meinem Schreibtisch sitzend, das Gesicht auf die Seiten meines Manuskripts gedrückt, kam ich zu mir. Ich hob den Kopf und rieb mir die verklebten Augenwinkel. Auf dem Tisch vor mir lag meine Pince-Nez-Brille, etwas verbogen von dem Gewicht meiner Stirn. Ich bog sie wieder zurecht, setzte sie mir auf die Nase und spritzte mir Wasser aus einem mit Korken verschließbaren Tongefäß ins Gesicht.
Die Schritte verstummten, und ein Klopfen ertönte an der Tür, unmittelbar gefolgt von einem Quietschen, als sie leicht aufgedrückt wurde.
»Kommen Sie herein, Mortlock«, sagte ich und drehte mich in meinem Stuhl um, versuchte, den Eindruck zu vermitteln, bei der Erledigung irgendeiner unschuldigen Arbeit gestört worden zu sein.
Der große Seekadett schob gebückt seinen Kopf und seine Schultern durch die Tür, um die niedrige Kabine zu betreten.
»Woher wussten Sie, dass ich es bin, Doktor Coade?«
»Sie haben eine ganz eigene Art, sich zu bewegen, Mortlock«, sagte ich freundlich. »Alle haben eine eigene Art, und Ihre erkenne ich inzwischen. Früher oder später, so wir nicht vorher Schiffbruch erleiden, werde ich wohl alle auf diesem Schiff an ihren Schritten erkennen.« Ich machte ein großes Schauspiel daraus, mit dem Löschpapier auf meinem Manuskript herumzutupfen, obgleich die Tinte meiner letzten Hinzufügung schon seit Stunden trocken war. Soeben wollte ich die ledergebundenen Buchdeckel schließen, als mein Blick auf das kleine, maschinengravierte Schnupftabakkistchen fiel, das noch offen auf dem Tisch stand, sein Inhalt für jeden sichtbar. Kalter Schrecken, ertappt worden zu sein, durchfuhr mich. »Wie geht es dem Zahn?«, fragte ich ein bisschen zu eilig.
Mortlock zupfte an seinem Schal und zog ihn etwas tiefer, um seinen Unterkiefer zu betasten. Er war noch leicht geschwollen, aber weit weniger entzündet als noch vor vier Tagen, als ich mich um seinen Abszess gekümmert hatte.
»Viel besser, Doktor, Sir, vielen Dank.«
»Drehen Sie sich mal, lassen Sie mich das von der Seite sehen.«
Mortlock tat, worum ich ihn gebeten hatte, und verschaffte mir damit die wertvollen Sekunden, die ich benötigte, um die Schnupftabakkiste in der Schublade verschwinden zu lassen. »Ja«, sagte ich und nickte. »Ja, sehr gut. Fahren Sie mit der Anwendung der Tinktur fort, die ich Ihnen gegeben habe, dann sollten Sie über die kommenden Tage hinweg eine ständige Verbesserung feststellen.« Ich blickte ihn über den Rand meiner Brille an. »Ihre Gesellschaft ist mir freilich immer willkommen, Mortlock. Aber gibt es abgesehen von dem Abszess noch einen weiteren Grund für Ihren Besuch?«
»Es ist der Coronel, Sir. Er hat auf Deck ein bisschen was abgekriegt. Ohnmächtig war er, jetzt ist er wieder wach, aber er schlägt wild um sich, zappelt und flucht in dieser Sprache …«
»Spanisch ist der richtige Terminus, würde ich sagen. Oder zumindest die Variante des Spanischen, die in Neuspanien endemisch ist.« Ich entspannte mich ein wenig, jetzt, da es schien, dass Mortlock weder die Schnupftabakkiste noch ihr plötzliches Verschwinden zur Kenntnis genommen hatte. »Was ist die Natur seiner Verletzung?«
»Ein Block ist ihm auf die Birne gekracht, so fest Sie sich vorstellen können – hat ihn gefällt wie einen Baum.« Mortlock imitierte emphatisch das Schwingen einer Axt. »Wir haben da gerade den Kurs gewechselt, die Lücke im Fels gesucht, und der Coronel war einfach am falschen Ort, als ein Seil gerissen ist. Es hat ein bisschen geblutet, aber sein Kopf war nicht total weich, als wäre er zertrümmert worden oder so, also dachten wir, es müsste reichen, wenn wir ihn nur aufrecht hinsetzen und ihn am Rum nippen lassen, Sir …«
Ich erschauderte bei der Vorstellung, wie die Männer den armen Verletzten umringen und seine Verletzung betasten und befummeln, Männer, die kaum lesen konnten – und erst recht keine kompetente Diagnose durchführen. »Bringen Sie ihn sofort zu mir, Mortlock.«
»Was ist es, denken Sie?«
»Ich wage nicht zu spekulieren. Aber wenn er eine Gehirnerschütterung erlitten hat, sogar ohne eine Schädelfraktur, könnte ein erhöhter innerzerebraler Druck entstanden sein.« Ich fasste unter den Schreibtisch nach einer der zahlreichen eleganten Schatullen, die ich mit an Bord gebracht hatte. »Eile, Mortlock!«, fuhr ich mit aufgeregt erhobener Stimme fort. »Und seien Sie so freundlich, Mister Murgatroyd oder gar Captain Van Vught zu kommunizieren, dass es äußerst hilfreich wäre, wenn das Schiff für die nächste halbe Stunde einen konstanten Kurs beibehalten könnte.«
»Master Topolsky wird wohl meckern, Doktor, wenn das unsere Suche verlangsamt.«
Ich nickte ernst. »Das wird er mit Sicherheit. Aber dann werde ich ihn erinnern, dass es sein Waffenknecht ist, den ich zu retten versuche.«
Mortlock brach auf, seine Schritte entfernten sich. Ich saß einen Moment lang still da, sammelte mich und dachte darüber nach, welch Ironie darin lag, dass ich zuerst die eine hübsche Kiste versteckt hatte, um dann eine andere hervorzuholen. Beide Kisten waren sehr fein gearbeitete Objekte, jede Kiste für sich auf ihre Art lebensnotwendig für meine Arbeit. Diejenige, die ich versteckt hatte, enthielt schnupfbares Opium, welches ich mir selbst zu dem Zwecke verschrieben hatte, mich mittels seiner dämpfenden Wirkung in ein traumloses Delirium versetzen zu können. Die andere Kiste enthielt einen Trepanationsbohrer, ein makelloses Exemplar aus französischer Herstellung, zu dessen Anwendung an einem lebenden Menschen ich jedoch bislang keinen Anlass gehabt hatte.
Ich befürchtete – nein, hoffte, dass dieser Umstand sich nun ändern würde.
»Bist du dafür wirklich bereit, Silas?«, fragte ich mich laut. »Für deine erste wirkliche Herausforderung auf dieser Reise? Für deine erste wirkliche Herausforderung überhaupt?«
Ich öffnete den Deckel der Kiste mit dem Trepanationsbohrer, stellte mir die zweifelnden Blicke der Prüfer am College vor, mit denen sie mich ob meiner zögerlichen Bewegungen taxiert hätten. Ernst dreinblickende Männer ganz in Schwarz; Männer mit Londoner Manieren, Veteranen beschwerlicher Reisen und blutiger Einsätze; Männer, für die das Schneiden und Sägen so mühelos war wie das Atmen; Männer, die Schmerzensschreie lediglich als die vertraute Hintergrundmusik ihrer Profession betrachteten. Welche Hybris war es, die mich glauben ließ, ich könnte einer der ihren werden? Ich war ein Landei aus dem Westen Englands ohne gesellschaftliche Verbindungen: ein armer Provinzarzt aus Plymouth (aber von cornischem Blute, wie ich alle erinnerte, die mir zuzuhören bereit waren), vierundvierzig (und somit weit über das Alter hinaus, in dem die meisten Chirurgen ihre erste Schiffsreise machten), auf einer Schaluppe fünften Ranges unter einem dänischen Kapitän. Der Kapitän war ein freundlicher Mann, aber sein Schiff war alt, seine Besatzung müde, ihre Versorgung dürftig und die Konditionen unseres Pachtvertrags äußerst fragwürdig.
So wollte ich etwas aus mir machen?
Die funkelnden Einzelteile des Trepanationsbohrers schmiegten sich in genau dafür geformte Einbuchtungen aus purpurnem Samt. Das Metall war mit Gravuren verziert, die Griffe waren aus Ebenholz. Welch wunderschöne Kunstfertigkeit für solch brutale Zwecke! Mit zitternden Fingern entnahm ich der Kiste die Bestandteile des Bohrers.
Mit einem kurzen Anflug von Schamgefühl zog ich erneut die Schnupfkiste hervor und nahm eine eilige Prise, um meine Nerven zu beruhigen und die letzten hartnäckigen Reste meines Albtraumes zu verjagen. Es war eine Gewohnheit, die mir langsam nur allzu vertraut wurde, je weiter wir uns die norwegische Küste entlangwagten. Die Umstände hatten sich verschlimmert, seit wir Bergen verlassen hatten, wiederholte sich der Albtraum in zunehmender Regelmäßigkeit. Um dem entgegenzuwirken, hatte ich angefangen, mehr und mehr Pulver zu nehmen, leider mit sich verringerndem Erfolg.
Die Albträume übertrafen alles, was ich diesbezüglich vor Betreten der Demeter je erlebt hatte. In ihnen kam ich stets zu mir, wie ich gerade eine kaum beleuchtete steinerne Passage hinabstolperte, eine Kapuze oder eine Maske oder einen Helm auf dem Kopf, von der schrecklichen Vorahnung geplagt, dass ich bereits tot, nur noch eine taumelnde Leiche mit leeren Augenhöhlen und einem grinsenden Totenkopf war. Die Ursache dieser quälenden Albträume vermochte ich nicht zu identifizieren, ich konnte nur spekulieren, dass mein Verstand durch die vielen langen Stunden, die ich in meiner Kabine festsaß, nur in der Gesellschaft von Büchern, Heilmitteln und Operationsbesteck, zu einer ungesunden Fixierung auf die dünne Membran verleitet worden war, welche die Lebenden von den Toten scheidet.
Meine einzige Hoffnung lag im Scheitern – oder sollte ich sagen: dem Abbruch – unserer Expedition. Vielleicht, während wir die endlosen trostlosen Meilen norwegischer Küste nach einem Hinweis auf etwas durchforsteten, an dessen Existenz nur ein einziger Mann – und zwar nicht gerade der nüchternste oder verlässlichste in unseren Reihen – wirklich glaubte, und während die Tage kälter wurden, die See rauer, das Eis üppiger, die Vorräte dürftiger, das Schiff abgenutzter, die allgemeine Moral schwächer, der schwermütige dänische Kapitän offener in seiner Skepsis bezüglich unserer Erfolgsaussichten – vielleicht würde ich noch dadurch errettet werden, dass wir einfach umkehrten und nach Hause segelten. Es war die Hoffnung eines Feiglings, dessen war ich mir nur allzu bewusst. Aber im Würgegriff der ebenbürtigen Qualen von Seekrankheit und Dysenterie, ganz zu schweigen von all den anderen gängigen Unannehmlichkeiten des Lebens auf See, hätte ich meine Feigheit nur allzu gerne gegenüber jedem herausposaunt, der bereit war, mir zuzuhören.
Die Schnupfkiste hatte ich bereits wieder versteckt, als der verletzte Coronel von Deck herab in mein Zimmer gebracht wurde. In den Minuten, die dazwischen verstrichen waren, hatte ich auch den Tisch vorbereitet, ihn von Büchern, Journalen und Manuskriptseiten befreit und sichergestellt, dass zusätzlich zum Trepanationsbohrer auch meine anderen Instrumente und Heilmittel in greifbarer Nähe waren. Coronel Ramos befand sich in einem Zustand beachtlicher Agitation, als die Kadetten ihn unter großer Anstrengung in das Zimmer zwangen, denn sogar in seinem verwirrten Zustand war er stärker als jeder Einzelne von ihnen, und größer ohnehin. Es waren vier Männer vonnöten, um ihn auf den Tisch zu bekommen, und sie mussten sich sehr anstrengen, ihm die Fesseln anzulegen, da er zappelte und sich wand wie ein kräftiger Aal.
»Er war unbewaffnet, als dieser erregte Zustand eintrat?«, fragte ich Mortlock, der einer der vier Männer war, die den Coronel herbeigeschafft hatten, zudem der einzige Kadett, den ich beim Namen kannte.
»Da haben wir Glück gehabt, Doktor. Er ist ja ständig damit beschäftigt, das Feuersteinschloss seiner Pistole zu polieren, und er hatte sie auch gerade in der Hand, in der anderen eine Reinigungsröhre, als der Block ihn traf und der Schlag ihn die Pistole fallen lassen ließ. Mister Murgatroyd konnte sie aufsammeln, bevor sie durchs Dollbord gespült wurde. Aber ich glaube, wenn er das nicht geschafft und der Coronel sie wieder in die Hände bekommen hätte, müssten Sie einem von uns jetzt eine Kugel rausschneiden.«
»Dann lasst uns für die kleinen Gaben dankbar sein.«
Da die Wunde sich an seinem Hinterkopf befand, hatte ich den Männern aufgetragen, den Coronel mit dem Gesicht nach unten auf den Tisch zu legen. Er blutete noch ausgiebig, also tupfte ich die betroffene Stelle so sanft und gründlich trocken, wie ich konnte, achtete dabei darauf, möglichst keinen Druck auf den Knochen auszuüben, bis ich mich zu meiner Zufriedenheit vergewissert hatte, dass keine ernst zu nehmende Fraktur vorlag. Meine Untersuchung wurde dadurch vereinfacht, dass Ramos glatzköpfig war, nicht nur auf der Krone seines Schädels, sondern auf seinem gesamten klobigen felsengroßen Kopf. An einigen Stellen wäre zwar eigentlich noch Haarwuchs möglich gewesen, aber diesen rasierte er jeden Morgen ab und ließ nur seinen Bart und seinen Schnurrbart stehen, den er mit derselben Hingabe pflegte, die er seinen Waffen zukommen ließ.
»Es sieht nicht allzu schlimm aus«, sagte Mortlock.
»Es liegt weder eine Penetration des Schädels vor, noch kann ich eine Fraktur erkennen. Er ist hart im Nehmen, unser Coronel. Aber der Stoß hat sein Gehirn durchgeschüttelt und damit seine jetzt zu beobachtende Qual verursacht. Im Schädel hat sich wahrscheinlich ein irgendwie gearteter Druck aufgebaut – Blut oder Hirnflüssigkeit –, der mittels Trepanation abgelassen werden muss.«
Mortlocks Augen wanderten zum exquisiten französischen Trepanationsbohrer, der in seiner offenen Schatulle wartete.
»Sie wollen mit dem Frosch-Dingsda in ihn reinbohren?«
»Das ist das Einzige, was ihn jetzt noch retten kann.« Ich schaute die vier Männer an, die den Coronel hereingebracht hatten. »Es wird ihm wahrscheinlich großes Unwohlsein verursachen, stellen Sie sich bitte darauf ein. Aber ich bin zuversichtlich, dass die Prozedur ihm helfen wird, wenn wir nur eilig zur Tat schreiten.« Ich schob mir den Kneifer die Nase hoch, um ihn daran zu hindern, langsam zur Nasenspitze zu rutschen. Dann rollte ich meine Ärmel hoch, packte den Bohrer und nahm die bequemste und zugleich stabilste Position für diese Art Prozedur ein.
Ohne Vorwarnung stürmten plötzlich Master Topolsky und Milady Cossile in den Raum, er eine Wolke aus Schwarz, sie ein strahlendes Gelb. Ich blickte von meinen Vorbereitungen auf und blinzelte sie durch die Haarsträhnen an, die mir in die Stirn gefallen waren.
»Was ist hier los?«, fragte Topolsky, seine schwere Kleidung durchnässt und zerzaust von der Witterung an Deck.
»Ein medizinischer Notfall, Master Topolsky.«
»Der Doktor bohrt ihm jetzt ein Loch in den Kopf«, erklärte Mortlock mit einer Eifrigkeit, als wäre er gerade zum Assistenzchirurgen befördert worden. »Sein Gehirn kann nicht ein- und ausatmen, wissen Sie? Also werden seine Gedanken zerquetscht.«
»Welch lobenswert konzise Zusammenfassung«, sagte Milady Cossile, ihre Finger vor ihrer Brust aufgestellt wie ein Giebeldach. »Wird Mister Mortlock bald die Standardmonographie zum Thema verfassen?«
Mortlock schaute mich zweifelnd an.
»Ist die junge Dame wieder sarkastisch, Doktor?«
Freundlich nickte ich dem Kadetten zu, der unterdessen mit all seiner Muskelkraft damit beschäftigt war, den zappelnden Ramos festzuhalten. »Schenken Sie ihr keine Aufmerksamkeit, Mortlock. Sie machen das sehr gut.«
»Ist das alles wirklich notwendig?«, fragte Topolsky, der sich über dem Tisch aufbaute. »Der Coronel ist ein rüstiger Mann mit der typischen Vitalität eines Mannes seiner Herkunft. Was er benötigt, ist etwas Erholung, aber doch nicht, dass Sie ihn anbohren wie ein Branntweinfass!« Sein Ton wurde schärfer. »Wir brauchen ihn noch, Coade!«
»Und meine Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass er Ihnen zur Verfügung steht, Master Topolsky.«
Vom Tisch aus hörte ich Ramos etwas murmeln. Es klang für mich wie trece, das spanische Wort für dreizehn.
Er war kein geborener Spanier, sondern ein Bürger Neuspaniens. Dort hatte er als Soldat gedient – daher sein Titel –, aber mittlerweile war er weder einer Armee noch einem König verpflichtet und bot seine Dienste gegen eine Gebühr Männern wie Topolsky an. Ich wusste sehr wenig über ihn, denn Ramos war ein schweigsamer Mann, so ziemlich das Gegenteil seines ungebärdigen Arbeitgebers. Aber wir hatten hin und wieder ein paar Worte gewechselt, gewöhnlich in den ruhigen Momenten zwischen den Aussichtsschichten, wenn einer von uns den anderen auf Deck antraf, wie er nachdenklich aufs Meer hinausblickte.
Irgendeine politische oder religiöse Auseinandersetzung – wahrscheinlich sowohl als auch – hatte ihn gezwungen, Südamerika zu verlassen: Ich konnte mir ein ungefähres Bild davon machen, indem ich die biografischen Krumen zusammenstückelte, die Ramos bei unseren einsilbigen Unterhaltungen nebenbei fallen ließ. Demnach hatte sich Ramos von seinem Vater abgewandt und Sympathien für die Unabhängigkeitsbewegung unter der Führung des Jesuiten Hidalgo entwickelt.
»Ehrenwertere Männer als ich mussten sich vor dem Gericht der Inquisition verantworten«, hatte Ramos mir anvertraut. »Mir hingegen gelang es, rechtzeitig das Land zu verlassen. Das ist kein Beleg für meinen Mut, nur für meinen Scharfsinn.«
Jetzt lag dieser Riese mit der sanften Stimme – Ramos sagte, er verdanke seine Größe und Stärke seiner Mutter, die der Abstammung nach criolla sei – wimmernd und mit Schaum vorm Mund auf meinem Operationstisch. Ich war froh, dass sein Gesicht abgewandt war und in Richtung Tür blickte, denn ich hätte es nicht ausgehalten, ihm in die Augen zu schauen, als ich begann, den Bohrer zu betätigen.
»Trece«, murmelte Ramos. Und nach einer Pause: »Cinco.«
Ich übte festen und gleichmäßigen Druck auf den Bohrer aus, während ich mit langsamer und beständiger Frequenz die Kurbel bediente. Die dreifache Bohrspitze hatte bereits die Haut durchdrungen und war nun dabei, ein münzgroßes Loch in seinen Schädel zu fräsen. Mortlock schaute immer wieder kurz auf meine Arbeit und wandte dann seine Augen wieder ab, während sich die anderen drei Kadetten nicht einmal dazu imstande sahen, wenigstens einen kurzen Blick zu wagen. Ich konnte es ihnen nicht verübeln: Trepanation war wohl kaum etwas, das ein Matrose im Lauf seiner Karriere gewöhnlich zu sehen bekam.
»Eine Frage der Terminologie, wenn ich darf?«
Schweiß tropfte mir schon in die Augen. Es war das erste Mal, seit wir Bergen verlassen hatten, dass ich meine Kabine nicht als unerträglich kalt empfand. Ich unterbrach meine Arbeit und schob mir kurz die Haare aus der Stirn und die Brille weiter nach oben.
»Nur zu, Milady Cossile.«
»La vigilia …«, sagte Ramos mit zunehmender Besorgnis in seiner Stimme. »La vigilia! La vigilia … de …«
»Hinsichtlich der Prozedur, die Sie da anwenden.« Milady Cossile hatte ihre Finger noch immer wie ein Giebeldach vor sich aufgestellt und tippte sich zwischen ihren Äußerungen mit den Spitzen ihrer Zeigefinger an die Lippen. Perfekte Lippen, dachte ich. Nicht einmal Gainsboroughs Pinsel hätte ihre Fülle einfangen können. »Diesbezüglich bin schon sowohl dem Begriff der Trepanation als auch der Trephination begegnet. Würden Sie vermuten, dass beide Formen etymologisch verwandt sind?«
Ich begann wieder zu bohren. »Ich kann nicht behaupten, dass ich dieser Frage bisher viel Beachtung geschenkt habe.«
»Aber dennoch: Würden Sie es vermuten?«
»Ich denke, dass ich das vielleicht würde.«
Obwohl meine Augen auf den Bohrer gerichtet waren, konnte ich dennoch Milady Cossiles selbstzufriedene Reaktion auf meine Antwort wahrnehmen. Sie hüpfte leicht nach vorne, klatschte zugleich entzückt in die Hände, die Federn ihres Hutes wackelten dabei schwungvoll, bevor sie ihre Finger wieder vor ihrer Brust aufstellte.
»Dann würden Sie dies irrtümlicherweise vermuten, Doktor Coade! Die zwei Begriffe sind etymologisch völlig unterschiedlich! Ich bin überrascht, dass Sie sich dessen nicht bewusst sind.«
Ich fuhr mit meiner Arbeit fort.
»Klären Sie uns auf, Milady.«
Ramos sagte: »Trece … cinco. Trece … cinco! La vigilia de piedra! La vigilia!!«
»Trepanation leitet sich von trepanon ab, welches sich wiederum von dem griechischen trupanon herleitet, was ein Instrument für das Bohren bezeichnet. Trephination – oder trephine – leitet sich hingegen aus dem Lateinischen ab, genauer gesagt von tre fines oder drei Enden. Ob der letztgenannte Begriff zuerst von Fabricius ab Aquapedente oder ein Jahrhundert später von John Woodall geprägt wurde, ist eine Frage, die noch zu klären wäre.«
Ich blickte von meiner Arbeit auf und nickte. »Ich danke Ihnen für diese Aufklärung, Milady. Ich bin sicher, das war für uns alle sehr erhellend.«
»Wen kümmert die Aufklärung«, sagte Topolsky und beugte sich sehr tief herunter, um die Bohrung zu betrachten. Der Russe war ein beleibter Mann von etwa vierzig Jahren mit einem Kugelbauch und einem breiten, von einem Kranz aus dichtem Bartwuchs, Koteletten und lockigen Haaren umringten cherubimartigen Gesicht. Er hatte interessiert funkelnde, heitere Augen, die eine Umgänglichkeit im Temperament nahelegten, die dem Rest des Mannes jedoch leider fehlte. »Wird er überleben? Wir brauchen diesen Kerl noch, Coade! Ohne ihn kann unsere Expedition nicht fortgeführt werden! Er mag vielleicht nicht sehr gebildet sein, und seine Manieren sind klar erkennbar eher die der Neuen als der Alten Welt, aber wer unter uns versteht sich so gut wie der Coronel in der korrekten Platzierung von Schwarzpulver?«
»Ich stimme Ihnen völlig zu«, sagte ich. »Und wenn Sie ihn so sehr schätzen, wie Sie sagen, würden Sie vielleicht gut daran tun, keine Spucke über die Wunde zu spritzen.«
Topolsky verfluchte mich auf Russisch, seine Lippen fast unsichtbar unter der beeindruckenden Eruption seines Bartes, der so voluminös und raumgreifend war, wie Ramos’ Gesichtsbehaarung ordentlich und gepflegt wirkte, sein Haar glänzte und roch leicht nach parfümierten Ölen. Sobald er seine gewohnte Gefasstheit zumindest teilweise wiedererlangt hatte, fuhr er fort: »Ihr Ruf als Arzt ist zufriedenstellend, Coade. Ich wünschte nur, dass nicht schon der Zeitpunkt eingetroffen wäre, an dem dieser Ruf einer solch ernsten Prüfung unterzogen wird.«
»In meiner Erfahrung, Master Topolsky, passieren ernsthafte Unfälle selten zu einem günstigen Zeitpunkt.« Plötzlich spürte ich, wie der Widerstand unter dem Bohrer nachließ, als dieser durch die letzte dünne Knochenschicht drang. Ein Bild blitzte vor meinem inneren Auge auf: eine Bohrspitze, die durch die unterste Eisschicht in das dunkle Wasser darunter stößt. Eis statt Knochen, Wasser statt Dura mater und Gehirn. »Wir sind durch, Master Topolsky. Wenn Sie mir vielleicht assistieren würden: das kleine Gerät dort, das wie ein Zuckerlöffel aussieht? Ich muss das lose Knochenfragment heraushebeln. Mit etwas mehr Zeit hätte ich vielleicht versucht, einen osteoplastischen Lappen zu formen, aber …« Ich brach meine Kommentierung ab, um den Bohrer zu entfernen, und schloss dann meine Faust um das Gerät, das Topolsky mir reichte. Zu meiner ungeheuerlichen Erleichterung ließ sich das münzgroße Knochenstück mit Leichtigkeit aus dem Loch lösen und wurde von einer sofortigen Expulsion dicken, klebrigen Blutes aus einem schweren Epiduralhämatom begleitet.
»Es sieht aus wie Himbeerkonfitüre, Doktor!«, verkündete Mortlock aufgeregt.
Ich lächelte ihn an. »Aber vielleicht weniger wohlschmeckend, selbst mit Mutters bestem Brot und bester Butter.« Ich beobachtete Ramos eine Minute lang, bis ich zufrieden war, dass sich eine deutliche Verringerung seiner Qualen eingestellt hatte. »Das sollte helfen«, verkündete ich. »Mehr kann ich zumindest nicht tun. Tiefer als die Dura zu gehen, würde ihn töten. Die Medizin hat alles in ihrer Macht Stehende geleistet, Gentlemen – den Rest seines Schicksals muss Ramos mit seinem Gott aushandeln.«
»… mit seinem Gott«, murmelte Topolsky verächtlich. »Diese widerwärtige Gottheit möchte ich mir gar nicht vorstellen! Halb Papst und halb Inka-Teufel, oder was auch immer der primitive heidnische Glauben beinhaltet, den ihm seine Mutter eingetrichtert hat.« Lachfalten bildeten sich um seine Augen und seinen Mund, wie es immer geschah, wenn er mit einer Beobachtung zufrieden war, die er entweder soeben von sich gegeben hatte oder sogleich von sich geben würde. »Da ist es fast besser, gar keinen Gott zu haben, wage ich zu behaupten!«
Der Ausstoß von Blut versiegte langsam. Eine akute Blutung unter der Schädeldecke hielt ich für unwahrscheinlich, aber es würde vermutlich noch viele Stunden oder Tage dauern, bis wir uns seines Überlebens sicher sein konnten. Und um einiges länger, bis wir mit Überzeugung sagen konnten, dass er vollständig genesen würde. Ich war nicht übertrieben optimistisch, denn ich hatte sowohl mit eigenen Augen als auch aus Berichten schon vom bleibenden Einfluss erfahren müssen, den Gehirnerschütterungen und andere Krankheiten auf das Gehirn sonst gesunder Männer haben konnten. Er würde sich glücklich schätzen können, wenn er von diesem Tag nur die sichtbare Narbe davontragen sollte.
»Stöpseln Sie seinen Kopf wieder mit dem Stück Knochen zu, Doktor?«
»Nein, Mortlock – es würde sich nur entzünden. Aber ich habe das Loch so klein wie möglich gemacht. Wenn ich sicher bin, dass der Druck damit ausreichend gelindert wurde, werde ich die Wunde zunähen.« Die schrecklichen Bilder meines so oft wiederkehrenden Albtraums blitzten ungebeten in meinem Kopf auf: der steinerne Durchgang, die Kapuze auf meinem Kopf, mein eigenes Antlitz das eines Totenkopfes. Ich verzog das Gesicht, als hätte ich etwas allzu Saures gekostet. »Ich glaube, der Coronel wird sich glücklich schätzen, diesen Tag überstanden zu haben, auch wenn er fortan mit einem weichen Punkt an seinem Hinterkopf leben muss.«
»Eine löbliche Anstrengung, die Sie da unternommen haben«, sagte Milady Cossile. Sie war ganz in Gelb gekleidet, trug dazu einen Hut mit kurzer Krempe, der hauptsächlich aus gelben Federn zu bestehen schien. »Vielleicht sind unsere provinziellen Medizinschulen doch nicht so schlecht, wie man sagt.«
»Ihre großzügige Einschätzung werde ich freilich an meine Tutoren in Plymouth weitergeben. Zudem danke ich Ihnen für die Lektion in Etymologie, die zu keinem besseren Zeitpunkt hätte kommen können. Habe ich das richtig gesagt? Etymologie? Manchmal verwechsle ich den einen langen Begriff, der etwas mit dem Ursprung von Worten zu tun hat, mit dem, der von Insekten handelt.«
Sie lächelte herablassend und gönnerhaft. »Sie haben den richtigen Begriff benutzt, ausnahmsweise.«
»Ich finde trotzdem: ein bisschen Ruhe hätte völlig ausgereicht, ihn wieder schiffstüchtig zu machen«, beschwerte sich Topolsky, beäugte die inzwischen weit weniger aufgebrachte Gestalt auf meinem Tisch. Ramos murmelte immer noch, aber jetzt tropften ihm die Worte schläfrig und ohne Zeichen innerer Qual von den Lippen. »Trece … cinco. La vigilia de piedra.«
»Ohne diese Intervention wäre er binnen einer Stunde tot gewesen, Master Topolsky. Jetzt hat er zumindest eine geringe Hoffnung auf Genesung.«
»Gut. Wenn Sie dann mit Ihrem schrecklichen Gesäge durch sind: Dürfte ich unseren Kapitän wohl bitten, unseren nördlichen Kurs wiederaufzunehmen?«
»Nichts stünde mir ferner, als mich in die Prioritätensetzung der Expedition einzumischen, Master Topolsky. Darf ich fragen: Wie weit genau werden wir in die Eisschollen hinaussegeln, bevor Sie die Jagd nach Ihrer Beute aufgeben?«
»Kümmern Sie sich um Ihre Tinkturen, Doktor, und überlassen Sie die Arbeit der Entdeckung denen unter uns, welche über die dafür notwendige Vorstellungskraft verfügen.«
»Das tue ich gerne.«
Topolsky und Milady Cossile brachen auf. Ich sagte den Kadetten, dass sie eine große Hilfe gewesen seien, es ihnen aber nun freistehe, ihren eigentlichen Verpflichtungen nachzugehen. Da die Demeter sicherlich nun wieder wenden würde, und nochmals wenden, um sich im Zickzackkurs in den Norden vorzuarbeiten, vermutete ich, dass die Männer wohl an Deck gebraucht wurden, um ihre Rolle in jenem riesigen koordinierten Tanz von Seil und Segel zu spielen, der unser Schiff über das Meer segeln ließ.
Mortlock verweilte, nachdem die anderen drei schon gegangen waren.
»Ich bin gerade nicht im Dienst, Doktor, wenn Sie also jemand brauchen, der beim Coronel sitzt und ein Auge auf ihn hält, wäre ich mehr als bereit, das zu übernehmen.«
»Das ist sehr gütig von Ihnen, Mortlock.«
Sein Blick fiel auf den ruhenden Riesen, der immer noch an den Tisch gefesselt war. »Er ist ein stilles, nachdenkliches Mannsbild, finden Sie nicht auch? Die Männer sagten am Anfang, er sei so distanziert, weil er sich für was Besseres halte. Vielleicht ist das so. Aber von all denen, die mit Master Topolsky an Bord gekommen sind, mag ich ihn, glaub ich, am meisten.«
»Ich würde mich mit der Aussage vorwagen, dass unsere Meinungen diesbezüglich nicht ganz unähnlich sind.«
Mortlock setzte ein halbes Lächeln auf. »Ist das Ihre Art, zu sagen, dass Sie mir zustimmen, Doktor, aber dass Sie nicht ganz mit der Sprache rausrücken dürfen?«
Ich dachte über meine Antwort nach, während ich mich daranmachte, die Einzelteile des Trepanationsbohrers zu reinigen und wegzupacken.
»Damit lägen Sie richtig, wie Milady Cossile vielleicht sagen würde. Helfen Sie mir, den Coronel umzudrehen? Auf dem Rücken wird er es wohl bequemer haben.«
Und nachdem er mir dabei assistiert hatte, schleifte Mortlock einen meiner Stühle über die Dielen und setzte sich müde hin, ohne auf eine Einladung zu warten. Mortlock hatte ungefähr mein Alter und meine Größe. Damit endeten jedoch alle essenziellen Ähnlichkeiten: Mortlock war ein stämmiger rothaariger Mann aus Yorkshire, ich war dünn wie ein Zweig und stammte von cornischen Bergarbeitern ab. Mortlock war schon auf See, seit er ein kleiner Junge war, und hatte allerlei Aufregung, Meuterei, Peitschenhiebe, Schiffbruch und zwei Anfälle von Skorbut überlebt. Seit ich an Bord gekommen war, hatte ich lediglich unter einer schweren Seekrankheit und einer fast ununterbrochenen Sorge vor einer bevorstehenden Katastrophe leiden müssen. In meinem Kopf klangen jedes Knarzen und Ächzen des Schiffes wie eine Ankündigung, dass sich sogleich sein Holz von Bug bis Heck spalten würde. Ich war für die hohe See nicht geschaffen, was allen Männern an Bord mehr oder weniger bekannt war. Aber Mortlock schien der Einzige unter ihnen, der mich für dieses Versagen nicht verurteilte.
»Was die hochwürdige Dame betrifft, Doktor – und es ist nicht meine Absicht, anmaßend oder unverschämt zu sein –, aber sie ist ein bisschen ein Arsch, nein?«
»Ein Arsch, Mortlock?«
»Wenn Sie mir meine Wortwahl verzeihen.«
»Das ist völlig in Ordnung. Und in der Tat sehe ich keinen Grund, Ihrer Einschätzung zu widersprechen.«
Mortlock entspannte sich auf dem Stuhl. »Warum hat sie es die ganze Zeit so auf Sie abgesehen?«
»Ich glaube, das ist lediglich ihre Art, Mortlock. Ich könnte mir vorstellen, dass sie dazu erzogen wurde, die Menschen um sie herum stets als ihr geistig unterlegen zu empfinden. Und zweifellos hat das Leben diese positive Selbsteinschätzung an jedem Punkt bestätigt, von der Wiege bis zur Universität. Milady hatte noch nie Anlass, sich eines Besseren belehrt zu fühlen. Und vielleicht steckt sogar ein Körnchen Wahrheit in diesem Selbstbewusstsein. Ich habe keine Zweifel, dass sie in der Tat sehr intelligent ist und eine gute schulische Bildung erhalten hat.«
»Ich bin gar nicht zur Schule gegangen.«
»Dann ist meine These belegt. Ohne jede förmliche Unterweisung, bis auf die bescheidene Bildung, die Sie auf See genossen haben, haben Sie sich als weit angenehmere Gesellschaft erwiesen, als Milady Cossile es je sein könnte. Zugegeben, Sie sind nicht gar so hübsch anzusehen wie Milady, noch so frei von Makel, noch gerieren Sie sich mit solch einer mich in den Wahnsinn treibenden …« Ich brach meinen Satz ab, da ich rot zu werden drohte. »Aber wir müssen Zugeständnisse machen. Master Topolsky hat die Partner seiner Expedition selbst ausgesucht, und wir müssen versuchen, in jedem Mitglied einen Wert zu erkennen.«
Mortlock lehnte sich im Stuhl zurück, fasste zum Regal und begann, sich durch die Papiere zu blättern, die ich vom Tisch geräumt hatte.
»Hatten Sie je von ihr gehört, bevor Sie an Bord kamen?«
»Wie Milady mir stets penibel in Erinnerung ruft, bin ich ein Provinzchirurg aus dem Westen Englands, während Milady Cossile in gut vernetzten Londoner Zirkeln aus Intellektuellen und Akademikern verkehrt. Es ist mir zu Ohren gekommen, dass sie in einem ähnlich guten Verhältnis zu Byron und seinesgleichen steht wie zu Männern wie Humphry Davy. Unsere Sphären, wage ich zu behaupten, überlappen sich nicht sonderlich.«
»Erst Zirkel, dann Sphären – welches ist es denn nun, Doktor?« Er kratzte die raue rote Haut in seinem Nacken. »Ich versteh einfach nicht, warum Milady Sie die ganze Zeit so piesackt. Es ist, als hätten Sie sie in einem früheren Leben mal beleidigt!«
»Ich stehe vor demselben Rätsel wie Sie, Mortlock«, sagte ich müde. »Ich kann nur vermuten, dass Milady Cossile es als ihre wohltätige Mission erachtet, hin und wieder einer bedürftigen Seele zu Besserung zu verhelfen. Bedauernswerterweise – für die Dauer dieser Expedition – bin ich das Ziel dieses Altruismus. Aber genug von unserer formidablen Etymologin.« Ich warf ihm einen fragenden Blick zu, während er sich weiter durch meine Papiere blätterte. »Kann ich irgendwie behilflich sein, oder sind Sie ganz zufrieden, sich alleine durch meine Schriften zu wühlen?«
»Nein, Sie haben recht, Doktor. Ich hatte nur gehofft, ein bisschen Vorsprung vor den anderen zu bekommen, wissen Sie.«
Es war meine eigene Schuld. Als Mortlock mit seinem Abszess zu mir gekommen war, hatte ich ihm gestattet, mich zum Fortschritt meines Manuskripts auszufragen, ich hatte ihm sogar einen langen Blick auf die nächsten paar Kapitel gestattet, war in der Tat so weit gegangen, seine Meinung zu ein oder zwei schwierigen Punkten der Erzählung einzuholen. Aber Mortlock, die offene, vertrauensvolle Seele, die er war, hatte dies als sofortige Erlaubnis gedeutet, meine Papiere künftig als die seinen zu behandeln.
»Ich glaube, wir sollten erst mal einen Schlussstrich unter die Erzählung setzen.«
Mortlock blickte auf, so erschrocken, als hätte er gerade sein eigenes Todesurteil gelesen. »Das können Sie nicht machen, Doktor Coade! Das wird eine … na ja, Meuterei werde ich nicht sagen, weil das Wort auf jedem Schiff Unglück bringt, sogar einem angeheuerten Schiff wie der Demeter, aber wenn die Kadetten den nächsten Teil nicht zu hören bekommen, wird es auf dem Schiff zu Karnevallen kommen!«
»Krawalle ist das Wort, das Sie suchen. Aber davon abgesehen: Die Kadetten haben von der Geschichte doch noch kein Wort gehört! Sie sind schließlich der Einzige dieses Ranges, der am Kapitänstisch Platz nehmen darf.«
Mortlock kratzte sich an der inzwischen stark zurückgegangenen Schwellung seines Abszesses. »Das stimmt nicht ganz. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, aber ich habe mir Teile davon gemerkt, soweit ich konnte zumindest, und hab sie dann aufgesagt, wenn ich unter Deck war.« Er ruckelte unruhig auf seinem Stuhl herum, nervös wie ein Schuljunge, der zum Direktor gerufen wurde. »Ich wollte damit nichts Böses, aber viele der Männer da unten können nicht lesen oder schreiben, und eine Geschichte lenkt sie ab. Ich hab es mit Gullivers Reisen versucht, aber sie haben gesagt, Ihre Geschichte gefällt ihnen besser. Also habe ich weitergemacht.«
»Ich verstehe«, antwortete ich und ließ dann ein paar Sekunden unangenehmer Stille verstreichen, nicht ausschließlich deshalb, weil Mortlocks Unwohlsein mir einen gewissen gemeinen Genuss bereitete. »Die Männer finden also Interesse daran, sagen Sie?«
»Oh ja!« Mortlock beugte sich eifrig vor. »Besonders den Teil über das Schiff mit dem Dampf im Bauch!«
»Ein von Dampf betriebenes Schiff wäre lediglich eine logische Weiterführung aktueller technologischer Entwicklungen.«
»Und das Ding, auf das die Männer zusegeln – Sie können sie jetzt nicht einfach im Dunkeln darüber lassen, was es ist, Doktor!«
»Ach, wäre doch die Antwort auf diese Frage in meinem eigenen Kopf vollkommen klar, Mortlock! Aber ich befürchte, das ist nicht ganz der Fall. Wenn ich bei der Runde am Kapitänstisch eine Passage vorlese, bin ich dem Vorgetragenen, was die Komposition betrifft, selten mehr als ein oder zwei Kapitel voraus.« Ich deutete auf die Blätter in seiner Hand. »Das ist die Schwierigkeit. Zwischen Ihnen und mir: Ich bin vollkommen unschlüssig, was die weitere Stoßrichtung der Erzählung betrifft.«
Mortlock richtete seine Aufmerksamkeit auf den Anfang des Manuskripts. Sein Finger wanderte über die Zeile ganz oben auf der Seite.
»Die steinerne …«, er zögerte. »Nachwache?«
»Nachtwache«, verbesserte ich ihn. »Die steinerne Nachtwache. Das ist der Titel, auf den ich mich endlich festgelegt habe.«
Mortlock las weiter. »Die steinerne Nachtwache oder Das Bauwerk im Eis. Eine Romanze von Doktor Silas Coade.« Er nickte würdigend. »Das hat einen guten Klang, das hat es.«
Neben uns murmelte Ramos: »La vigilia de piedra.«
»Und er ist auch dafür!«, sagte Mortlock lachend. »Ich hab mich schon gefragt, was er da redet, als Sie gebohrt haben. Das ist einfach der Titel Ihres Buchs auf Spanisch, oder?«
Ich nickte mit einem leichten Unwohlsein.
»Sie haben ein gutes Ohr für Sprachen.«
»Gehört zum Seefahrerleben dazu, schätze ich. Ich hab schon jede Sprache unter der Sonne gehört. Und in der Hälfte davon kann ich fluchen.« Er packte die Seiten des Manuskripts wieder ordentlich zusammen und legte sie zurück auf das Regal. »Na ja. Ich hab ja gesagt, ich würde ihn im Auge behalten, wenn Sie wollen, und ich hab’s auch so gemeint. Und ich verspreche Ihnen, ich werde nicht weiter in den Kapiteln rumstöbern, die Sie uns noch nicht vorgelesen haben.« In ernsthaftem Ton fügte er hinzu: »Aber Sie müssen weitermachen! Wenn schon nicht für den Kapitänstisch, dann doch wenigstens für die Männer unten. Die Jungs werden mich an meinen Eingeweiden erhängen, wenn ich ihnen wieder mit Gullivers verdammten Reisen komme, von Robinson Crusoe ganz zu schweigen.«
»Ich werde … mich darum bemühen.« Ich lächelte innerlich, ein wenig geschmeichelt von dem Gedanken, dass die Männer unter Deck – so rau und ungeschliffen ihr literarischer Geschmack zweifellos war – meine Kritzeleien den Bemühungen von Swift und Defoe vorzogen. »Obwohl Sie hoffentlich verstehen, dass meine chirurgischen Pflichten stets Vorrang haben.«
Mortlock blickte freundlich auf Ramos herab, der inzwischen wieder verstummt war. »Unser Schiff ist von Glück gesegnet, sagt Captain Vannie. Es tut mir leid für den Coronel, dass es ausgerechnet ihn erwischt hat, aber damit ist unser Pech erst mal erledigt, lassen Sie’s sich gesagt sein!«
»Für einen intelligenten Mann, Mortlock, pflegen Sie eine schändliche Neigung zum Aberglauben.«
»Auch das gehört zum Seefahrerleben dazu, befürchte ich«, antwortete er ungerührt. »Wie Sie selbst noch rausfinden werden, wenn Sie lange genug durchhalten.«
»Ich habe erhebliche Zweifel, dass meine Karriere zur See von großer Dauer sein wird«, antwortete ich.
In dem beruhigenden Wissen, dass Mortlock über meinen Patienten wachen würde, suchte ich die Kleidung zusammen, die ich an Deck brauchte, und kleidete mich, bevor ich mich in die ungestüme Wildnis aus Wind und Wellen wagte, in so viele Lagen wie tunlich. Gerade war ich dabei, meinen Mantel zuzuknöpfen, als ein Blitz über mein Kabinenfenster flackerte. Ich wartete auf die verzögerte Ankunft des Donnergrollens, aber die Geräusche des Schiffes mussten sie wohl überdeckt haben.
»Immer blitzt es«, murmelte ich vor mich hin, als läge in diesen Worten irgendeine tiefe Wahrheit verborgen.
Wie weit nördlich wir es bereits genau geschafft hatten, war weder professionell meine Angelegenheit, noch hatte ich privat daran Interesse. Der letzte feste Bezugspunkt, den ich in meiner Erinnerung notiert hatte, war unser Aufenthalt in Bergen, wo wir unsere Vorräte aufgestockt hatten, aber seitdem waren wir weitere zehn Tage die norwegische Küste entlanggesegelt und hatten uns dabei alle vierundzwanzig Stunden zwischen vierzig und sechzig Meilen weiter Richtung Norden bewegt. Unser Kurs war jedoch selten geradlinig, da uns der Wind vom nördlichen Polarkreis entgegenwehte und Captain Van Vught daher gezwungen war, die Strecke stattdessen in eine mühsame Zickzackroute aufzuteilen.
Die etwa ersten zwanzig Male bemerkte ich die dafür nötigen Veränderungen im Steuerkurs und in der Neigung des Schiffes noch: Ihnen ging stets ein aufgeregtes Durcheinander aus Rufen und Schritten über meiner Kabine voraus, während die Segel neu ausgerichtet wurden. Aber schließlich – wie all die Rhythmen und Routinen des maritimen Lebens – sanken auch diese Störgeräusche unter die Schwelle meiner bewussten Wahrnehmung, es sei denn, sie führten dazu, dass ich mein Gleichgewicht verlor oder eine Kerze auf meinem Schreibtisch umstieß.
Dass wir in der Tat weit nördlich von Bergen waren – vielleicht vier- oder fünfhundert Meilen –, wurde mir reichlich klar, als ich langsam die Leiter (Treppe zur Kajüte, sollte ich sagen) hinaufstieg, die mich bis nach ganz oben aufs Achterdeck führte. Der schneidende Wind traf mich mit einer unpersönlichen Bösartigkeit, die mit jedem Schritt eskalierte, bis seine gesamte grausame Gewalt meinen ganzen Körper erfasst hatte.
Die Planken waren vereist. Das Steuerrad war näher am Heck als die Leiter, also musste ich mich auf dem Weg dorthin den Bemühungen des Windes widersetzen, mich schlitternd über das Achterdeck zu schieben. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich jedoch bereits gelernt, den stabilen, breitbeinigen Stand der älteren Schiffskräfte nachzuahmen, nicht nur, weil dies als angewohnte Haltung dem Fortkommen auf einem schaukelnden, rutschigen Deck förderlich war, sondern auch, weil es gegen Seekrankheit half, zu der ich bereits einen ausgeprägten Hang bewiesen hatte. Die Männer hatte es sehr amüsiert, dass von all den Leiden, die einen befallen konnten, ich als Chirurg ausgerechnet mit der einen Krankheit gestraft war, für die es kein anderes Heilmittel gab als die Zeit.
Im peitschenden Wind machte ich mich auf den mühsamen Weg über das Achterdeck. Aus der Ferne konnte ich am Steuerrad drei Männer eng beisammenstehen sehen. Einer von ihnen musste der Kapitän sein, der andere Topolsky (kein anderer Mann hatte seine Statur), aber der dritte war nicht mit solch Leichtigkeit auszumachen. Milady Cossile würde es nicht sein, dachte ich, auch keiner der höheren Offiziere, somit blieb – da ich Ramos logisch ausschließen konnte – nur noch einer der zwei Männer übrig, die Topolsky mit an Bord gebracht hatte: Monsieur Dupin oder Herr Brucker, die von ihrer Statur beide gleichermaßen infrage gekommen wären. Ich führte meine vorsichtige Annäherung über Deck fort, ließ dabei meinen Blick kurz die Segel und die Takelage emporsteigen und dann in die zölestischen Tiefen dahinter tauchen. Es war zehn Uhr nachts, der Himmel wolkenlos, ruhig und völlig durchsichtig. Der Polarstern saß weit über uns im Gestirn, und ein voller Mond tauchte das Schiff in ein schimmerndes geisterhaftes Blau, durchbrochen nur von winzigen Pfützen aus Orange vom Licht eines Kohlebeckens oder einer Laterne oder einer wackelnden Pfeife, die in hohler Hand vor einem Mund schwebte.
Backbord erstreckte sich eine ungeheuerliche Wand aus dunklem, schaumgekröntem Wasser bis an den Horizont. Steuerbord, zum Osten hin, ragte eine durchgehende Steilwand aus Klippen in die Höhe, zerklüftet und karg, darunter ein schmaler Strich aus schaumiger Brandung. Wir waren etwa eine Meile von diesen Klippen entfernt und segelten schon an ihnen entlang – soweit es der Zickzackkurs des Schiffes zugelassen hatte –, seit wir Bergen verlassen hatten.
Hin und wieder hatte eine Bucht oder eine Insel die Monotonie unterbrochen, aber der Gesamteindruck war der einer trostlosen Wiederholung des immer gleichen Musters, wie eine Rolle Tapetenpapier, die zu einem durchgehenden, ermüdenden Streifen gestaltet wurde. Ich fragte mich, wie sich auch der leidenschaftlichste Navigator jetzt noch unserer genauen Position sicher sein konnte. Van Vught hatte mir in den Tagen unmittelbar nach Bergen seine Karten gezeigt. Sie begannen recht akkurat, fast jedes winzige Detail der Küste war eingezeichnet und benannt, wurden jedoch mit steigendem Breitengrad zunehmend weniger detailliert. Vor einigen Tagen hatte er schließlich damit aufgehört, Inseln und Buchten zu identifizieren, verließ sich stattdessen auf Bemessungen der Sterne und konsultierte Chronometer und Tabellen. Das klingt einfacher, als es ist, wenn diese Leistung zudem auf einem in rauem Gewässer befindlichen Schiff zu erbringen ist, und dies oft auch noch unter bewölktem Himmel.
Als ich in Hörweite der drei Männer kam, konnte ich Dupin schließlich als das dritte Mitglied der Gruppe identifizieren. Van Vught hatte seine Hände auf dem Steuerrad, Topolsky stand direkt neben ihm; die verwitterten Gesichtszüge des Kapitäns waren von der schwachen Glut seiner Pfeife beleuchtet. Hätte Rembrandt ihn gemalt, hätte man ihn leicht für irgendeinen stoischen biblischen Patriarch unglaublichen und unwahrscheinlichen Alters halten können. Der Kapitän war etwa fünfzig, sah aber älter aus, wie es Männer, die ihr Leben auf See verbracht hatten, oft taten. Er hatte einen Vollbart und einen prominenten Schnauzer, der wie ein Felsvorsprung aus seinem Gesicht ragte, das Haar steif wie die Borsten eines alten und verlässlichen Besens.
»Wie geht es Coronel Ramos, Doktor Coade? Master Topolsky sagt mir, Sie hätten ihm ein Loch in den Kopf gebohrt?«
Das Englisch des Kapitäns war fehlerfrei, aber noch immer klangen seine S-Laute ganz weich, »es« wurde »ezh«, »Ramos« wurde »Ramozh« und so fort.
»Eine einfache Trepanation, die den gewünschten Ausgang haben dürfte.«
»Er hat sich drauf gestürzt wie ein Mann, der unbedingt seine Ausgaben rechtfertigen will«, beschwerte sich Topolsky beim Kapitän.
»Ich bin sicher, wir können uns auf die Einschätzung des Doktors verlassen.«
»Das werde ich mit Freude tun – vorausgesetzt, er besteht nicht darauf, auch dem Rest von uns Löcher in den Kopf zu bohren.«
Topolsky war um einiges kürzer und breiter als der Kapitän. »Meine körperliche Verfassung ist die eines kosakischen Ringers«, hatte er mir recht bald nach unserer Bekanntmachung versichert, als ich ihm gegenüber bemerkt hatte, wie schnell er allein davon außer Atem gerate, die Treppen zur Kajüte auf- oder abzusteigen. Ja, dachte ich: aber nur wenn dieser hypothetische Ringer ein Jahr damit verbracht hätte, sich gigantischen Festmahlen und heroischen Orgien der Untätigkeit hinzugeben. Vielleicht war sein Blut in der Tat kosakisch, allerdings zeigte Topolsky stets eine solche Neigung zum Schwadronieren und zur Irreführung, dass ich keine seiner Behauptungen ungeprüft als Tatsache akzeptierte. Er sprach sehr gut Englisch und Französisch und hatte offensichtlich Zeit in London und Paris verbracht. Russisch sprach er nur, um zu fluchen, aber oft ließ er beiläufig Anspielungen auf seine Nähe zum Hof des Zaren fallen. »Ah, ja, wie Katharina selbst mir einmal anvertraute …« oder »Das erinnert mich an ein exquisites objet d’art, das mir einst Peter höchstpersönlich zeigte, in einem Flügel der Eremitage …« und dergleichen. Versuchte man jedoch, ihm genauere Informationen zu entlocken oder ihn auf irgendetwas davon festzunageln – etwa durch die Frage, wann er das letzte Mal in Russland gewesen sei oder was ihn veranlasst habe, seinen Ruhm anderswo zu suchen –, dann wurde dem Thema schnell und gekonnt ausgewichen.
Doch in einem Punkte war ich mir sicher: Er war wohlhabend genug, diese Expedition zu finanzieren, aber nicht so wohlhabend oder großzügig mit seinem Geld, dies freigiebig zu tun. Das Schiff war der Definition nach fünften Ranges und wurde in einer gegenseitigen Übereinkunft zwischen Van Vught und Topolsky mit einer sehr kleinen Besatzung betrieben, sodass die Männer dem ständigen Risiko ausgesetzt waren, sich zu verausgaben. Bei den Ausgaben war auf zahllose knauserige Weisen gespart worden, angefangen bei der Verpflegung mit der billigsten Sorte gesalzenem Rindfleisch über das gebrauchte Segeltuch bis hin zu meiner chirurgischen Ausrüstung. Auch ich selbst war eine dieser kostensparenden Maßnahmen: ein ausgebildeter Chirurg zwar, aber keiner von hohem Ansehen, keiner also, der es sich leisten konnte, die Bedingungen seiner Anstellung zu diktieren. Ich war, in anderen Worten, in der Beschaffung so günstig wie das Rindfleisch gewesen.
»Wir haben unseren nördlichen Kurs wiederaufgenommen?«, fragte ich.
Van Vught lächelte breit genug, dass sich der steif abstehende Schnurrbart etwas hob. »Aus Ihnen machen wir noch einen richtigen Navigator, Doktor Coade.«
»Gerne würde ich dieses Lob für meine Beobachtung annehmen, aber es bedarf sehr geringer Gelehrsamkeit, zu bemerken, dass Norwegen zu unserer Rechten liegt – Steuerbord, sollte ich sagen.« Ich nickte einem der anderen Männer am Steuerrad zu. »Konnte Monsieur Dupin Ihr Ziel bereits entdecken, Master?«
»Das habe ich nicht«, antwortete Dupin.
Dupin sah mich dabei nicht an, noch veränderte er sonst auf irgendeine Weise seine Blickrichtung, denn er hatte ein Auge an ein kleines feines Fernrohr gepresst. Und dieses Fernrohr hatte er nach vorne und leicht nach rechts ausgerichtet, um es fest auf die Klippen etwa eine Meile nördlich der Demeter zu heften.
Raymond Dupin war ein sehr junger Mann, vielleicht der Jüngste auf dem Schiff, abgesehen von den frischesten Seekadetten unter Deck. Ich schätzte sein Alter auf etwa zwanzig Jahre, aber seine äußerliche Erscheinung war die eines ernsten, etwas verbissenen Schuljungen. Wunderbare gelbe Locken brachen unter seiner Wollkappe hervor, die er an Deck zu tragen pflegte. Sein Gesicht war lang und kantig mit einem Kinn so scharf, als könnte es Brennholz spalten, und Wangenknochen wie Rasierklingen. Dies gab ihm den Anschein, nur aus Schatten und Licht zu bestehen, eher die Skizze eines Mannes als das fertige Werk. Kein Hauch von Bartwuchs war irgendwo auszumachen, weder um seinen Mund herum noch an seinem Kiefer. Seine tiefgründigen, eng zusammenliegenden Augen waren so kalt und graugrün wie die Gewässer, durch die wir gerade segelten.
Er war von Topolsky als der Kartograph der Expedition angeheuert worden und die Autorität in allen Fragen der Navigation. Freilich hatte Van Vught seinen eigenen Erfahrungsschatz, auf den er sich berufen konnte, dazu noch die Karten und Instrumente, die sich schon an Bord der Demeter befanden. Jedoch waren diese Ressourcen offensichtlich für den Bedarf dieser Expedition als unzureichend beurteilt worden, also hatte Dupin seine eigenen Fernrohre, Sextanten, Uhren und so weiter, alle von makelloser Qualität (in diesem Punkt zumindest war an den Kosten nicht gespart worden), sowie auch Truhen voller Karten, Gezeitentabellen und Almanache. Diese Objekte hütete er wie Kronjuwelen, klammerte sie eifersüchtig an seine Brust, wenn ein anderer (besonders jemand von der gewöhnlichen Mannschaft) auch nur die leichteste Neigung erkennen ließ, sie anfassen oder gar genauer ansehen zu wollen. Die feinen Instrumente – von denen manche zweifellos von dem anderen Mitglied dieser Gruppe bereitgestellt worden waren, Herrn Brucker – wurden so zärtlich aus den samtgesäumten Kisten gehoben und wieder hineingelegt wie Neugeborene aus ihrer Krippe.
In dieser Hinsicht konnte ich ihm jedoch keinen Vorwurf machen: Mein Beschützerinstinkt war kein bisschen weniger ausgeprägt, was meine Bohrer, Messer und Knochensägen anbelangte. Wir beide waren in einen Beruf hineingeboren worden, und beide kannten wir den Wert unserer Instrumente. Meine waren für das Zerteilen und Vernähen von menschlichem Gewebe; seine trennten und verbanden Zeit und Raum.
»Was genau …«, setzte ich an. »Was genau … ist es, was wir suchen?«
»Die Fissur!«, sagte Topolsky. Sodann mit kaum verhüllter Irritation: »Coade, sind Ihnen denn all unsere Unterhaltungen diesbezüglich vollständig entgangen? An all den Abenden, die wir zusammen verbracht haben?«
»Ich wollte mich lediglich nicht einmischen, habe mich deshalb um meine eigenen Angelegenheiten gekümmert, Master.«
»Der Doktor hat genug eigene Sorgen, ohne dass wir ihm noch weitere aufbürden«, bemerkte Van Vught.
»Ja, welch belastende Bürde, sich ein Märchen auszudenken.«
Van Vught blickte den Mann mit einer überraschenden Schärfe an. »Das meinte ich nicht. Das Schreiben macht der Doktor nur in seiner freien Zeit, derer er zudem wenig hat. Und ich weiß, dass die Männer seine Erzählung als angenehme Ablenkung von den drängenden Sorgen unserer Reise empfinden. Sogar Milady Cossile kann dem Vergnügen abgewinnen.«
»Ja«, sagte ich, da die unangenehme Etymologin nicht anwesend war. »Dieselbe Art Vergnügen, die ein Jagdhund einem Fuchs abgewinnt.«
»Sie ertragen keine Kritik?«, fragte Topolsky. »Vielleicht ist das Schreiben doch nicht Ihre Berufung.«
»Ein Mann kann zwei Berufungen haben«, sinnierte Van Vught.
Auch Topolsky gefiel meine Erzählung nicht, aber sein Einwand war dem Wesen nach weit durchsichtiger als Milady Cossiles Einrede. Als wir abgelegt hatten, war Topolsky noch der Prinz des Abendtischs gewesen. Er hatte so viele Geschichten gehabt, die er zu verkünden wünschte, und eine kleine Weile war ihm dafür ein aufmerksames, wenn auch skeptisches Publikum geschenkt worden. Ich hatte für ihn, was seine Redekunst betraf, keine Herausforderung dargestellt, folglich hatte er mich zunächst gemocht. Seine Augen funkelten, der Sherry floss in Strömen, Zigarren wurden konsumiert, seine Märchen ermutigt. Aber je mehr Seemeilen der Wind hinter uns gebracht hatte, desto mehr hatte sich der Glanz seiner Prahlerei über große Taten und berühmte Freunde abgenutzt. Es hatte sich irgendwann eine gewisse Eintönigkeit eingestellt, eine Erwartbarkeit, als hätten wir alle dieselben Geschichten bereits mehrmals zu Ohren bekommen. Zudem waren es die Art Erzählungen, die damit zu enden pflegten, dass Master Topolsky sich zurücklehnte und verkündete: »Natürlich stellte sich am Ende heraus, dass ich recht hatte.« Oder: »Freilich, hätten sie auf mich gehört, wäre nichts davon geschehen«, und derlei weitere Variationen. Als ich mich also eines Abends, während einer Flaute im Gespräch, dazu hatte überreden lassen, aus meiner noch im Schreibprozess befindlichen Romanze vorzulesen (von der Murgatroyd und ein oder zwei der anderen mitbekommen hatten), hatte ich damit Topolsky bei diesen abendlichen Versammlungen aus dem Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit verdrängt. Das war zwar nie meine Absicht gewesen, nichtsdestotrotz musste ich fortan täglich die Konsequenzen dieser unbedachten Unverfrorenheit erleiden. Wie konnte ich es wagen, der beliebtere Redner am Abendtisch zu sein!
»Sie werden vielleicht erleichtert sein zu hören, Master, dass ich erwäge, die Erzählung abzubrechen. Mortlock hätte gerne, dass ich sie fortführe …«
»Das Landei kann ein Gehirn nicht von einer Lunge unterscheiden.« Er tippte sich mit einem Finger an die Nase, als er sich dafür rüstete, mir einen scharfsinnigen Rat anzubieten. »Ich würde seiner Meinung weit weniger Beachtung schenken, wenn ich Sie wäre, Coade. Er ist ein Mann von geringer Bildung und noch geringerer Urteilskraft. Wählen Sie Ihre Vertrauten mit mehr Bedacht!«
»Das werde ich im Kopf behalten, Master.«
»Davon abgesehen: Ihre blühende Einbildungskraft strapaziert unsere Leichtgläubigkeit bereits auf das Äußerste. Schiffe, die mit Dampf angetrieben werden? Kanonen, die mehrere Kugeln abfeuern können, ohne nachgeladen zu werden? Und Gemälde, die sich durch Lichteinwirkung von selbst komponieren!« Er wandte sich dem Kartographen zu. »Was, denken Sie, kommt als Nächstes, Dupin? Männer, die auf der Luft reiten? Ein Picknick auf dem Mond?«
Dupin kommunizierte grummelnd sein Desinteresse an dem Gespräch. Er suchte immer noch die Klippen ab, hatte sein Fernglas auf einen Punkt etwa zwei Meilen vor uns gerichtet.
»Lassen Sie uns lieber über unsere Position sprechen«, sagte Kapitän Van Vught. Die eine Hand noch am Steuerrad, deutete er mit der Pfeife in der anderen auf den angewinkelten Kartentisch daneben.
Es war eine improvisierte Konstruktion, ähnlich einem Rednerpult, mit einer Scheibe aus Glas, unter die eine offene Karte oder mehrere Tabellen geklemmt werden konnten, um sie so vor Wind und Wetter zu schützen. Über dieser Vorrichtung hing eine Laterne, die vom Wind und den Bewegungen des Schiffes wackelte und schwankte.
»Wo, denken wir, dass wir sind?«, fragte ich.
Van Vught tippte mit dem Mundstück der Pfeife auf einen Abschnitt der Karte.
»Meine Überzeugung ist, dass wir kürzlich den achtundsechzigsten Breitengrad überquert haben, was unsere Position etwa hier verorten würde. Monsieur Dupin hingegen behauptet, dass wir noch ein gutes Stück südlich des erwähnten Breitengrades sind: kein Stück weiter als siebenundsechzigeinhalb Grad nördlich.«
»Siebenundsechzig Grad und zweiundzwanzig Minuten Breite«, sagte Dupin mechanisch.
»Ich wünschte, ich könnte diesbezüglich eine Meinung anbieten«, sagte ich. »Aber alles, was ich weiß, ist, dass es kalt ist und dass die Sonne von Tag zu Tag etwas weniger hoch in den Himmel steigt. Aber das tut sie wohl jeden Winter.«
»Die Schwierigkeit«, übernahm Topolsky, »ist die folgende: Es herrscht Zustimmung – breite Zustimmung –, dass in allen Fragen, in denen eine Entscheidung zu treffen ist, unserem exzellenten Kapitän die Befehlsbefugnis zusteht. Das ist so ziemlich jenseits jeder Diskussion! Aber die Schwierigkeit …«
»Dann gibt es keine Schwierigkeit«, unterbrach ich ihn. »Wenn der Kapitän den achtundsechzigsten Breitengrad als die nördliche Obergrenze sieht, die wir nicht überschreiten sollten, dann ist das seine Entscheidung.«
»Aber die Schwierigkeit«, beharrte Topolsky, »eine sehr ernste Schwierigkeit gar, ist, dass wir – da wir uns nicht auf unsere genaue Position einigen können – nicht den Luxus haben, uns der unfehlbaren Autorität des Kapitäns zu unterwerfen. Da es noch keine verifizierte Tatsache ist, dass wir in der Tat nördlich des achtundsechzigsten Breitengrads sind, wurden die Bedingungen für die Entscheidung des Kapitäns – wie auch immer sie lauten wird – noch nicht aktiviert!«
»Ohne Monsieur Dupin zu nahe treten zu wollen, sollten nicht die Beobachtungen von Kapitän Van Vught und seinen fähigsten Männern Vorrang haben? Der Kapitän kennt sein Schiff und seine Instrumente. Und er kennt diese Gewässer sehr gut.«
»Zwar war ich in der Tat schon einmal in der Nähe dieses Küstenabschnitts«, warf Van Vught ein, der zu bescheiden war, meine lobende Aussage ohne einschränkende Präzisierung stehen zu lassen. »Aber niemals so nah an diesen Klippen, wie wir es jetzt sind.«
»Monsieur Dupin ist sich seiner Beobachtung ziemlich sicher«, sagte Topolsky. »Sind Sie doch, Dupin?«
Dupin senkte kurzzeitig sein Fernglas. Trotz der Kälte benetzte ein Schweißfilm seine Stirn und die scharfen Kanten seiner Wangenknochen.
»Ich habe ausreichend Gewissheit.«
»In Situationen wie diesen«, wagte ich mich vor, »könnte es weise sein, sich an das Prinzip der Vorsicht zu klammern. Wir haben zwei unterschiedliche Messungen, und keine davon kann als verlässlicher als die andere bezeichnet werden. Der Kapitän kennt seine Instrumente und seine Methoden, und auch auf Monsieur Dupins Seite sollten wir keine geringere Befähigung vermuten.«
Van Vught stopfte sich die Pfeife in den Mund und benutzte kurz beide Hände, um am Steuerrad eine Anpassung vorzunehmen. Von irgendwo unterhalb des Decks konnte ich das Ächzen von Seilen und Holz spüren, als seine Absichten an das Ruder übertragen wurden. Einige wenige kurze Befehle lösten unter der Besatzung eilige Aktivität an den Segeln und der Takelage aus, den kletternden Matrosen war dabei jedoch keinerlei Angst anzumerken, weder vor dem Wind noch dem Eis noch dem tumultuösen Wasser unter ihnen.
Van Vught sprach aus seinen Mundwinkeln, die Pfeife wippte im Takt seiner Worte.
»Wollen Sie suggerieren, dass wir die Mitte zwischen beiden Messungen wählen?«