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Fremde Heimat
Vierhundert Jahre in der Zukunft: Verity Auger ist eine junge Archäologin, spezialisiert auf die Überreste der menschlichen Zivilisation auf der Erde. Doch nach einer Expedition auf den Planeten nimmt ihr Leben eine ungeahnte Wendung: Wissenschaftler entdecken eine Alternativ-Erde, auf der die Geschichte ganz anders verlaufen ist. Und Verity ist die Einzige, die für einen Besuch dieser seltsamen Welt infrage kommt ...
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Seitenzahl: 1078
Veröffentlichungsjahr: 2014
www.diezukunft.de
1959 kommt in Paris eine junge Frau beim Sturz von einem Balkon ums Leben. Die Polizei geht von einem Unglücksfall aus und schließt die Akten. Der Hausbesitzer jedoch ist davon überzeugt, dass es sich um einen Mord gehandelt hat, und beauftragt Floyd, einen Jazzmusiker, der sich nebenbei als Privatdetektiv verdingt, mit den Ermittlungen. Susan White, das Opfer, war vorgeblich Amerikanerin. Sie ging merkwürdigen Aktivitäten nach, sammelte Unmengen von Schallplatten, besaß aber keinen Plattenspieler. Und in ihrem Zimmer wird ein Rundfunkapparat gefunden, der auf nur einem Band rätselhafte Signale empfängt. War sie vielleicht eine Spionin? Oder steckt ein weitaus monströseres Rätsel hinter alldem: Kam Susan White womöglich aus einer Parallelwelt des 23. Jahrhunderts, in der die Geschichte einen anderen Verlauf nahm, in der die Deutschen im 20. Jahrhundert einen Weltkrieg anzettelten, der mit dem Abwurf von Atombomben endete? Als die mysteriöse Verity Auger – die behauptet, die Schwester von Susan White zu sein – in Paris eintrifft, setzt Floyd alles daran, hinter das Geheimnis zu kommen …
»Alastair Reynolds’ Bücher sind wahre Glanzstücke moderner Science Fiction.« – Stephen Baxter
»Ein mehr als außergewöhnlicher Roman! Science Fiction Noir, wie man sie besser kaum schreiben kann.« – John Clute
Alastair Reynolds wurde 1966 im walisischen Barry geboren. Er studierte Astronomie in Newcastle und St. Andrews und arbeitete lange Jahre als Astrophysiker für die Europäische Raumfahrt-Agentur ESA, bevor er sich als freier Schriftsteller selbstständig machte. Reynolds lebt in der Nähe von Leiden in den Niederlanden. Im Wilhelm Heyne Verlag sind außerdem seine Romane Unendlichkeit, Chasm City, Die Arche, Offenbarung, Himmelssturz, Aurora sowie der Erzählband Träume von Unendlichkeit erschienen.
Für Josette
Der Fluss, der träge unter dem Pont de la Concorde hindurchströmte, war glatt und grau wie abgenutztes Linoleum. Es war Oktober, und die Behörden hatten beschlossen, dass es wieder einmal an der Zeit war, hart gegen Schmuggler durchzugreifen. Sie hatten ihren üblichen Überraschungskontrollpunkt am gegenüberliegenden Ende der Brücke eingerichtet. Der Verkehr staute sich über die ganze Brücke bis ans rechte Seineufer.
»Eins ist mir bis heute nicht klar«, sagte Custine. »Sind wir jetzt Musiker, die ihr Einkommen mit ein bisschen Detektivarbeit aufbessern, oder verhält es sich genau umgekehrt?«
Floyd warf einen Blick in den Rückspiegel. »Wie wäre es dir lieber?«
»Ich denke, es wäre mir am liebsten, ein Einkommen zu haben, das man nicht aufbessern muss.«
»Bis vor kurzem lief alles bestens.«
»Bis vor kurzem waren wir zu dritt. Und davor zu viert. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber da scheint sich ein gewisser Trend abzuzeichnen.«
Die Schlange kam in Bewegung. Floyd legte den Gang ein und ließ den Mathis ein Stück vorwärts rollen. »Wir müssen nur so lange die Stellung halten, bis sie zurück ist.«
»Das wird nicht geschehen«, erwiderte Custine. »Als sie in den Zug gestiegen ist, war das eine endgültige Entscheidung. Dass du ihr vorne im Auto einen Platz frei hältst, ändert nichts daran.«
»Es ist ihr Platz.«
»Sie ist fort.« Custine seufzte. »Das ist das Problem, wenn man ein echtes Talent erkennt. Früher oder später erkennt es auch ein anderer.« Der groß gewachsene Franzose kramte in seiner Jackentasche. »Hier. Zeig dem netten Herrn meine Papiere.«
Floyd nahm den vergilbten Ausweis entgegen and legte ihn neben seinem eigenen aufs Armaturenbrett. Als sie den Kontrollpunkt erreichten, warf der Wachmann einen kurzen Blick auf Floyds Papiere und gab sie ihm wortlos zurück. Dann blätterte er die von Custine durch und beugte sich vor, um einen Blick auf den Rücksitz des Mathis zu werden.
»Geschäftlich unterwegs, Monsieur?«
»Ich wünschte, es wäre so«, antwortete Custine ruhig.
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Dass wir Arbeit suchen«, erklärte Floyd freundlich. »Unglücklicherweise haben wir bislang keine gefunden.«
»Was für Arbeit?«
»Musik«, antwortete Floyd und zeigte nach hinten. »Deshalb die Instrumente.«
Der Wachmann stieß mit der Mündung seines Stanzmetall-Maschinengewehrs gegen den weichen Stoff des Kontrabasskastens. »Da würden eine Menge Zigaretten reinpassen. Fahren Sie rüber in den Inspektionsbereich.«
Floyd würgte den Gang rein und lenkte den alten Mathis in die Bucht, wo die Wachleute genauere Durchsuchungen vornahmen. An einer Seite stand eine gestreifte Holzhütte, in der sich die Wachen mit Kartenspielen und Pornos die Zeit vertrieben. Hinter einer niedrigen Steinmauer war ein schmaler, kopfsteingepflasterter Kai zu sehen. Ein leerer Stuhl stand an der Mauer, neben einer großen, aufgebockten Tischplatte, auf der eine Decke lag.
»Sag so wenig wie möglich«, sagte Floyd zu Custine.
Während der Wachmann mit dem Maschinengewehr auf seinen Posten zurückkehrte, klopfte einer der Männer im Inspektionsbereich aufs Autodach. »Holen Sie das Ding raus. Legen Sie es auf den Tisch.«
Floyd und Custine bugsierten den Instrumentenkasten aus dem Auto. Er war eher sperrig als schwer und hatte schon so viele Dellen und Kratzer ausgehalten, dass es auf ein paar mehr nicht ankam.
»Soll ich ihn öffnen?«, fragte Custine.
»Natürlich«, antwortete der zweite Wachmann. »Und nehmen Sie bitte auch das Instrument heraus.«
Custine tat wie geheißen und legte den Kontrabass behutsam nieder. Neben dem leeren Kasten war gerade ausreichend Platz auf dem Tisch. »Bitte«, sagte er. »Sie können den Kasten gerne untersuchen, wenn Sie glauben, dass ich gewieft genug bin, mehr als dieses Instrument darin zu verstecken.«
»Es ist nicht der Kasten, um den ich mir Gedanken mache«, erklärte der Wachmann. Er winkte einen seiner Kollegen heran, der auf einem Klappstuhl neben der gestreiften Hütte saß. Der Mann legte die Zeitung beiseite und nahm einen hölzernen Werkzeugkasten mit. Offensichtlich handelte es sich bei ihm um eine Art Inspekteur. »Ich habe die beiden schon mal gesehen«, fuhr der Wachmann fort. »Sie fahren über den Fluss hin und zurück, als würde es was umsonst geben. Da kommt man doch ins Grübeln, nicht wahr?«
Der Inspekteur musterte Custine mit leicht zusammengekniffenen Augen. »Den hier kenne ich«, sagte er. »Sie waren mal Polizist, nicht wahr? Irgendein hohes Tier im Hauptquartier.«
»Ich hatte das Gefühl, ein Berufswechsel würde mir gut tun.«
Floyd holte einen frischen Zahnstocher aus der Hemdtasche, steckte ihn in den Mund und biss darauf. Die Spitze grub sich so tief ins Zahnfleisch, dass es blutete.
»Ein ganz schöner Absturz, von anspruchsvoller Polizeiarbeit zu dem hier«, fuhr der Inspekteur beharrlich fort und stellte den Werkzeugkasten ab.
»Wenn Sie es sagen«, antwortete Custine.
Der Inspekteur hob den Kontrabass auf und schüttelte ihn mit konzentrierter Miene, um ihn dann wieder auf den Tisch zurückzulegen. »Da klappert nichts«, sagte er und griff nach dem Werkzeugkasten. »Aber Sie könnten innen etwas festgeklebt haben. Wir werden den Burschen zerlegen müssen.«
Floyd sah, wie Custine scharf nach Luft schnappte und die Hände schützend auf das Instrument legte. »Sie können ihn nicht zerlegen«, widersprach Custine ungläubig. »Der Kontrabass ist ein Musikinstrument. Man kann ihn nicht auseinander nehmen.«
»Ich habe die Erfahrung gemacht, dass früher oder später alles zerlegt wird«, erklärte der Inspekteur.
»Bleib ruhig«, sagte Floyd. »Lass sie. Es ist nur ein Stück Holz.«
»Hören Sie auf Ihren Freund«, bestätigte der Wachmann. »Er ist vernünftig, besonders für einen Amerikaner.«
»Nehmen Sie bitte die Hände vom Instrument«, sagte der Inspekteur.
Custine würde nicht gehorchen, und Floyd konnte es ihm nicht einmal verdenken. Der Kontrabass war Floyds wertvollster Besitz, den Mathis Emyquatre eingeschlossen. Sofern ihnen nicht ein neuer Fall in den Schoß fiel, war er auch das Einzige, das sie noch vor der totalen Verarmung bewahrte.
»Lass los.« Floyd bildete die Worte lautlos mit den Lippen. »Ist die Sache nicht wert.«
Der Inspekteur und Custine rangen um das Musikinstrument. Von der Unruhe angezogen verließ der Wachmann mit dem Maschinengewehr, der sie angehalten hatte, seinen Posten und schlenderte zu ihnen herüber. Der Kontrabass befand sich mittlerweile nicht mehr auf dem Tisch, sondern zwischen den beiden Männern, die verbissen an ihm zerrten.
Der Wachmann entsicherte sein Gewehr. Der Kampf wurde hitziger, und Floyd befürchtete schon, dass der Kontrabass entzweibrach. Dann gewann Custines Gegner die Oberhand und entriss ihm das Instrument. Einen Augenblick lang erstarrte der Inspekteur, dann warf er den Kontrabass in einer einzigen fließenden Bewegung über die niedrige Mauer hinter dem Untersuchungstisch. Die Zeit dehnte sich: Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Floyd das grausame Splittern hörte, als der Kontrabass unten auf das Kopfsteinpflaster traf. Custine sackte auf dem Stuhl neben dem Untersuchungstisch zusammen.
Floyd spuckte den Zahnstocher aus und zertrat ihn wie einen Zigarettenstummel. Langsam ging er zur Mauer hinüber und blickte hinab, um den Schaden zu begutachten. Bis zum gepflasterten Kai ging es zehn oder zwölf Meter abwärts. Der Hals des Instruments war abgebrochen und der Klangkörper in Hunderte scharfe Splitter zerborsten, die einen weiten Kreis um den Aufschlagpunkt bildeten.
Das Geräusch von Stiefeln zu seiner Rechten erregte Floyds Aufmerksamkeit. Der zweite Wachmann ging über eine Steintreppe, die aus der Wand hervorragte, zum Kai hinab. Zu seiner Linken hörte Floyd ein gequältes Stöhnen und sah, wie Custine über die Brüstung blickte. Seine Augen waren weit aufgerissen und fast völlig weiß. Der Schock hatte seine Pupillen zu kleinen Punkten zusammenschrumpfen lassen. Nach und nach verwandelte sich sein Stöhnen in verständliche Laute.
»Nein. Nein. Nein.«
»Es ist geschehen«, sagte Floyd. »Und je schneller wir hier wegkommen, desto besser für uns.«
»Sie haben ein Stück Geschichte zerstört!«, schrie Custine den Inspekteur an. »Das war Sodieux’ Kontrabass! Django Reinhardt hat dieses Holz berührt!«
Floyd drückte seinem Freund eine Hand auf den Mund. »Er ist ein wenig aufgewühlt«, erklärte er. »Sie müssen ihn entschuldigen. In letzter Zeit stand er wegen einiger persönlicher Schwierigkeiten unter großem Druck. Er entschuldigt sich vorbehaltlos für sein Verhalten. Nicht wahr, André?«
Custine schwieg. Zitternd starrte er die Überreste des Kontrabasses an. Er will die Zeit zurückdrehen, dachte Floyd. Er wollte die letzten paar Minuten seines Lebens ungeschehen machen und von einem früheren Punkt aus weiterleben. Beim zweiten Mal würde er gehorchen, die Fragen der Wachleute höflich beantworten, und vielleicht wäre der Schaden, den sie dem Kontrabass unweigerlich zufügen würden, zu beheben.
»Sag es!«, flüsterte Floyd.
»Ich entschuldige mich«, sagte Custine.
»Vorbehaltlos.«
»Ich entschuldige mich vorbehaltlos.«
Der Inspekteur musterte ihn kritisch und zuckte schließlich die Achseln. »Was geschehen ist, ist geschehen. In Zukunft sollten Sie sich eine Scheibe von Ihrem Freund abschneiden.«
»Das werde ich tun«, sagte Custine ausdruckslos.
Unten beförderte der Wachmann die Überreste des Kontrabasses mit Fußtritten in den Fluss. Die Bruchstücke verloren sich schnell im Müll, der das Ufer wie eine Schleimschicht säumte.
Floyds Telefon klingelte, als er die Tür zu seinem Büro im dritten Stock eines alten Hauses an der Rue du Dragon öffnete. Er legte die Post, die er gerade aus dem Briefkasten geholt hatte, beiseite und griff nach dem Hörer.
»Detektivbüro Floyd« meldete er sich mit lauter Stimme, um das Rattern eines Zuges zu übertönen. Er nahm den Zahnstocher aus dem Mund. »Wie kann …?«
»Monsieur Floyd? Wo waren Sie?« Die Stimme – sie hörte sich nach einem älteren Mann an – klang eher neugierig als verärgert. »Ich habe schon den ganzen Nachmittag versucht, Sie anzurufen. Fast hätte ich aufgegeben.«
»Tut mir Leid«, sagte Floyd. »Ich war mit Ermittlungen beschäftigt.«
»Sie sollten mal darüber nachdenken, sich eine Sekretärin zu leisten«, bemerkte der Mann. »Oder falls das unmöglich sein sollte, einen Anrufbeantworter. Ich habe gehört, dass die bei den orthodoxen Juden sehr beliebt sind.«
»Sekretärinnen?«
»Anrufbeantworter. Sie arbeiten mit Magnetbändern. Erst letzte Woche habe ich in der Rue des Rosiers einen zum Verkauf angeboten gesehen.«
»Wir leben wirklich in einer faszinierenden Welt der Wissenschaft.« Floyd zog seinen Stuhl heran und setzte sich. »Darf ich fragen …?«
»Entschuldigen Sie. Ich hätte mich schon längst vorstellen sollen. Mein Name ist Blanchard. Ich rufe aus dem dreizehnten Arondissement an. Möglicherweise habe ich einen Fall für Sie.«
»Fahren Sie fort«, sagte Floyd, halb davon überzeugt, dass er nur träumte. Nach allem, was in letzter Zeit geschehen war – Greta hatte die Band verlassen, es gab keine Arbeit für sie, dann der Zwischenfall am Kontrollpunkt – war ein neuer Fall etwas, worauf er kaum zu hoffen gewagt hatte.
»Ich sollte Sie allerdings vorwarnen. Es ist eine ernste Angelegenheit. Ich bezweifle, dass es eine schnelle oder einfache Ermittlung wird.«
»Das … dürfte kein Problem sein.« Floyd goss Brandy in ein bereitstehendes Schnapsglas. »Um welche Art Fall handelt es sich, Monsieur?« Geistig ging er bereits die verschiedenen Möglichkeiten durch. Betrügerische Ehefrauen und - gatten waren recht gewinnträchtig. Manchmal musste man sie wochenlang beschatten. Das Gleiche galt für verloren gegangene Katzen.
»Es geht um einen Mord«, erklärte Blanchard.
Floyd erlaubte sich einen bittersüßen Schluck Brandy. Seine Stimmung sackte genau so schnell wieder in den Keller, wie sie sich kurz zuvor gehoben hatte. »Das ist sehr bedauerlich. Wir können keine Mordfälle annehmen.«
»Wirklich nicht?«
»Für Tötungsdelikte sind die Jungs mit den Melonen zuständig. Die vom Quai. Sie würden gar nicht zulassen, dass ich solche Aufträge übernehme.«
»Aber genau darum geht es. Die Polizei hält den Fall nicht für einen Mord – oder ein ›Tötungsdelikt‹, wie Sie es ausdrücken.«
»So?«
»Man ist der Meinung, dass es möglicherweise Selbstmord oder ein Unglücksfall war, aber letztlich interessiert man sich sowieso nicht dafür. Sie wissen ja, wie das heutzutage ist – diese Leute sind sehr viel mehr daran interessiert, ihren eigenen Nachforschungen nachzugehen.«
»Ich glaube zu wissen, worauf Sie anspielen.« Aus alter Gewohnheit machte er sich bereits Notizen: Blanchard, 13. Arr., mögl. Tötungsdelikt. Vielleicht wurde nichts daraus, aber falls das Gespräch unterbrochen wurde, konnte er zumindest versuchen, den Anrufer erneut zu kontaktieren. Er kritzelte das Datum auf den Notizzettel und stellte fest, dass es sechs Wochen her war, seit er sich das letzte Mal etwas auf dem Block notiert hatte. »Angenommen, die Polizei liegt tatsächlich falsch – wie kommen Sie darauf, dass es weder Selbstmord noch ein Unfall war?«
»Weil ich die betreffende junge Dame kenne.«
»Und Sie denken, dass sie nicht der Typ war, der Selbstmord begehen würde?«
»Das weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass sie Höhen nicht besonders mochte – das hat sie mir selbst gesagt – und trotzdem ist sie von einem Balkon im fünften Stock gefallen.«
Floyd zuckte zusammen und schloss die Augen. Er dachte an den zertrümmerten Kontrabass, die Splitter auf dem Kopfsteinpflaster. Er hasste Stürze. Er hasste schon die Vorstellung eines Sturzes, ob Selbstmord oder nicht. Er nippte an seinem Brandy, um das Bild vor seinem inneren Auge fortzuspülen.
»Wo ist die Leiche jetzt?«
»Tot und begraben. Genau genommen wurde er ihren Wünschen entsprechend verbrannt. Sie starb vor drei Wochen, am zwanzigsten September. Wie ich gehört habe, gab es eine Autopsie, die aber nichts Verdächtiges zutage gefördert hat.«
»Also gut.« Geistig bereitete Floyd sich bereits darauf vor, seine Notizen durchzustreichen. Dieser Fall sah nach einem Blindgänger aus. »Vielleicht ist sie schlafgewandelt. Oder etwas hat sie aufgeregt. Oder das Balkongeländer war locker. Hat die Polizei mit dem Vermieter gesprochen?«
»Das hat sie. Zufällig bin nämlich ich der Vermieter. Ich versichere Ihnen, dass das Geländer absolut sicher war.«
Das bringt nichts, sagte sich Floyd. Vielleicht war die Sache ein oder zwei Tage Nachforschungen wert, aber am Ende würden sie zum gleichen Schluss gelangen wie die Polizei. Das war besser als gar kein Fall, aber es würde Floyds schwere finanzielle Misere nicht beheben.
Er legte den Füller weg und nahm stattdessen einen Brieföffner zur Hand. Er schlitzte den ersten der Umschläge auf, die er aus dem Briefkasten geholt hatte, und zum Vorschein kam eine Forderung von seinem eigenen Vermieter.
»Monsieur Floyd – sind Sie noch dran?«
»Ich denke nur nach«, antwortete Floyd. »Wahrscheinlich wird es schwierig sein, einen Unfall prinzipiell auszuschließen. Und ohne Hinweise auf ein Verbrechen kann ich der offiziellen Einschätzung kaum etwas hinzufügen.«
»Hinweise auf ein Verbrechen sind genau das, was ich hier habe, Monsieur Floyd. Natürlich wollten die phantasielosen Trottel vom Quai nichts davon wissen. Von Ihnen erwarte ich deutlich mehr.«
Floyd zerknüllte die Mietforderung zu einer Kugel und warf sie in den Papierkorb. »Können Sie mir etwas über diese Hinweise erzählen?«
»Ich kann es persönlich tun. Ich möchte Sie bitten, mich in meiner Wohnung aufzusuchen. Heute Abend. Erlaubt das Ihr Terminplan?«
»Ich müsste sie zwischenschieben können.« Floyd schrieb sich Blanchards Anschrift und Telefonnummer auf und machte eine Zeit mit ihm ab. »Eine Sache noch, Monsieur. Ich verstehe, warum man am Quai nicht an diesem Fall interessiert ist. Aber warum haben Sie mich angerufen?«
»Wollen Sie damit andeuten, dass das ein Fehler war?«
»Nein, ganz und gar nicht. Es ist nur so, dass ich die meisten meiner Fälle über persönliche Empfehlungen bekomme. Den Großteil meiner Arbeit habe ich nicht Leuten zu verdanken, die meine Nummer im Telefonbuch gefunden haben.«
Der Mann am anderen Ende der Leitung ließ ein leises, wissendes Lachen hören. Es klang, als ob jemand Kohlen auf einen Rost schüttelte. »Das kann ich mir denken. Sie sind schließlich Amerikaner. Welcher Narr käme schon auf die Idee, in Paris die Dienste eines amerikanischen Detektivs in Anspruch zu nehmen?«
»Ich bin Franzose«, erwiderte Floyd, während er den zweiten Umschlag öffnete.
»Lassen Sie uns nicht über Pässe und Papiere streiten. Ihr Französisch ist tadellos – für einen Ausländer. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Sie sind in den Vereinigten Staaten geboren, nicht wahr?«
»Sie wissen eine ganze Menge über mich. Woher haben Sie meinen Namen?«
»Vom einzigen vernünftigen Polizisten, mit dem ich bei dieser ganzen Angelegenheit gesprochen habe – ein gewisser Inspektor Maillol. Ich nehme an, Sie beide kennen sich.«
»Wir sind uns bereits begegnet. Maillol ist ein recht anständiger Kerl. Kann er nicht diesen scheinbaren Selbstmord untersuchen?«
»Maillol sagt, dass ihm die Hände gebunden sind. Als ich erwähnte, dass die Frau Amerikanerin war, ist er von ganz allein auf Sie gekommen.«
»Woher kam die Frau?«
»Aus Dakota, glaube ich. Vielleicht war es auch Minnesota. Auf jeden Fall irgendwo im Norden.«
»Ich komme aus Galveston«, sagte Floyd. »Damit liegen Welten zwischen ihr und mir.«
»Wie dem auch sei – nehmen Sie den Fall an?«
»Wir haben eine Verabredung, Monsieur. Dann können wir die Sache besprechen.«
»Gut. Kann ich also zur vollen Stunde mit Ihnen rechnen?«
Floyd schüttelte den zweiten Briefumschlag, der einen Stempel aus Nizza trug. Ein einzelnes, doppelt gefaltetes graues Blatt fiel auf den Schreibtisch. Er faltete es auf und sah eine handgeschriebene Nachricht in wässriger Tinte, die nur eine Spur dunkler war als das Papier, auf dem sie stand. Floyd erkannte die Handschrift sofort. Es war Gretas.
»Monsieur Floyd?«
Floyd ließ den Brief fallen wie ein Stück glühendes Metall. Seine Finger kribbelten. Er hatte nicht damit gerechnet, noch einmal von Greta zu hören – zumindest nicht in diesem Leben. Er brauchte einen Moment, um sich auf ihr plötzliches erneutes Eindringen in seine Welt einzustellen. Was konnte es geben, das sie ihm noch mitzuteilen hatte?
»Monsieur Floyd? Sind Sie noch da?«
Er klopfte mit einem Finger an die Sprechmuschel. »Sie waren einen Augenblick lang weg, Monsieur. Das sind die Ratten im Keller. Sie machen sich immer an den Telefonkabeln zu schaffen.«
»Offensichtlich. Zur vollen Stunde also? Sind wir uns einig?«
»Ich werde da sein«, antwortete Floyd.
Verity Auger begutachtete die unterirdische Szene aus der Sicherheit ihres Schutzanzugs. Sie stand etwa zwölf Meter vom bewegungsunfähigen Wrack des Kriechers entfernt. Die tarantelähnliche Maschine hatte schwere Schlagseite. Zwei Beine waren gebrochen und drei weitere unter der niedrigen ausgehöhlten Eisdecke verkeilt und völlig nutzlos. Der Kriecher würde sich nicht mehr von der Stelle bewegen. Es war nicht einmal möglich, ihn an die Oberfläche zurückzuschleppen – aber wenigstens war seine Lebenserhaltungsblase noch intakt. Cassandra, das Studentenmädchen, saß nach wie vor mit verschränkten Armen in der Kabine und beobachtete die Geschehnisse mit einer Art hochmütiger Distanz. Sebastian, der Junge, lag etwa fünf Meter vom Kriecher entfernt. Sein Anzug war beschädigt, aber er würde ihn immerhin so lange am Leben erhalten, bis das Rettungsteam eintraf.
»Halt durch da drin«, sprach Auger über den Anzugfunk zu ihm. »Sie brechen durch. Schon bald werden wir zu Hause im Trockenen sein.«
Das Knistern und Rauschen, die die Antwort des Jungen begleiteten, ließen ihn Millionen Lichtjahre entfernt erscheinen. »Mir geht es nicht besonders gut.«
»Was hast du?«
»Kopfschmerzen.«
»Halt einfach still. Die Anzugsiegel machen ihren Job bestens, solange du dich nicht bewegst.«
Auger trat einen Schritt zurück, als die Rettungskriecher vom Antiquitätenministerium über ihr auftauchten und das Eis mit kolbenbetriebenen Klauen und Hacken auseinander zwangen.
»Bist du das, Auger?«, erklang eine Stimme in ihrem Helm.
»Natürlich bin ich’s. Warum hast du so lange gebraucht? Ich dachte schon, ihr taucht gar nicht mehr auf.«
»Wir sind so schnell wie möglich gekommen.« Sie erkannte Mancusos Stimme, einen der Rettungshelfer, mit dem sie schon früher zu tun gehabt hatte. »Es war nicht einfach, euch so weit unten genau zu orten. Die Wolken haben sich heute Abend offenbar um irgendwas gestritten. Wir mussten durch eine Menge elektromagnetischen Scheiß durchgucken. Was genau machst du so weit unten?«
»Meine Arbeit«, antwortete Auger kurz angebunden.
»Ist der Junge verletzt?«
»Sein Anzug hat was abgekriegt.« Auf ihrem Visiermonitor sah sie nach wie vor die Diagnosezusammenfassung von Sebastians Anzug. Am rechten Ellbogengelenk pulsierten rote Schraffierungen, die Gefahr signalisierten. »Aber es ist nichts Ernstes. Ich habe ihm gesagt, dass er sich hinlegen und stillhalten soll, bis die Rettungsmannschaft eintrifft.«
Der vorderste Kriecher spie bereits zwei Rettungshelfer aus, die die etwas lächerlichen Anzüge der Einheiten für außerordentliche Gefahren trugen. Sie rückten mit den watschelnden Schritten von Sumoringern vor.
Auger bewegte sich zu Sebastian hinüber und ging neben ihm in die Hocke. »Sie sind da. Jetzt musst du nur noch stillhalten, dann bist du so gut wie in Sicherheit.«
Sebastian antwortete mit einem unverständlichen Gurgeln. Auger hob die Hand und winkte einen der beiden Helfer heran. »Das ist der Junge, Mancuso. Ich glaube, ihr solltet euch zuerst um ihn kümmern.«
»Das hatten wir ohnehin vor«, krähte eine weitere Stimme in ihrem Helm. »Tritt zurück, Auger.«
»Seid vorsichtig mit ihm«, warnte Auger. »Er hat einen bösen Riss am rechten …«
Mancuso stand in seinem Anzug über dem Jungen. »Ganz ruhig, Kleiner«, hörte sie ihn sagen, »Dich kriegen wir in null Komma nix wieder hin. Alles in Ordnung da drinnen?«
»Schmerzen«, hörte sie Sebastian keuchen.
»Ich denke, wir sollten uns lieber mit ihm beeilen«, sagte Mancuso und winkte den zweiten Rettungshelfer mit dem muskelbepackten Arm heran. »Wir können nicht riskieren, ihn zu bewegen, nicht bei dieser Partikeldichte.«
»Sollen wir ihn vor Ort behandeln?«
»Fangen wir an.«
Mancuso zeigte mit dem linken Arm auf den Jungen. Ein Spalt öffnete sich in der Rüstung, und eine Sprühdüse schob sich heraus. Sie verschoss eine silberweiße Masse, die sich beim Auftreffen sofort verhärtete. Innerhalb von Sekunden verwandelte sich Sebastian in einen menschenförmigen Kokon aus festen, speichelähnlichen Fäden.
»Seid vorsichtig mit ihm«, wiederholte Auger.
Dann machte sich ein zweites Team ans Werk und schnitt mit Lasern in den Eisblock, auf dem Sebastian lag. Dichter Dampf stieg auf. Dann und wann hielten sie kurz inne und gaben sich mit den Händen knappe Signale. Das erste Team kehrte mit einer Kombination aus Harnisch und Rolltrage zurück. Dünne Metallklauen senkten sich vom Schutzgestell herab und gruben sich ins Eis um Sebastian. Langsam hob die Trage die ganze eingesponnene Masse – auch das Eis unter Sebastian – vom Boden auf. Auger beobachtete, wie sie Sebastian fortschafften und ihn in die erste Rettungsmaschine verfrachteten.
»Es war nur ein Kratzer«, sagte Auger, als Mancuso zurückkehrte, um bei ihr nach dem Rechten zu sehen. »Ihr müsst nicht so tun, als sei es ein Notfall. Ihr erschreckt den Jungen ja zu Tode.«
»Dann hat er mal richtig was erlebt.«
»Für heute hat er genug erlebt.«
»Tja, man kann gar nicht vorsichtig genug sein. Hier unten ist jeder Unfall ein Notfall. Das solltest du mittlerweile eigentlich wissen, Auger.«
»Ihr solltet mal nach dem Mädchen sehen«, sagte Auger und zeigte auf den Kriecher.
»Ist sie verletzt?«
»Nein.«
»Dann hat sie keine Priorität. Jetzt wollen wir mal schauen, wofür du das Leben dieser Kinder aufs Spiel gesetzt hast.«
Mancuso meinte die Zeitung.
»Sie ist im Lagerfach des Kriechers«, sagte Auger und ging, gefolgt von Mancuso, zur verkeilten Maschine hinüber. An der Vorderseite des Kriechers, zwischen Greif- und Werkzeugarmen, war ein Netzbeutel und eine Klappe, hinter der sich eine unterteilte Ablage befand. Auger öffnete den manuellen Verschluss und zog die Ablage heraus. »Sieh selbst«, forderte sie ihn auf und zog die Zeitung sehr behutsam aus dem Fach.
»Junge!« Widerstrebend stieß Mancuso ein anerkennendes Pfeifen aus. »Wo hast du die gefunden?«
Sie zeigte auf einen eingesunkenen Bereich direkt vor der zerstörten Maschine. »Wir haben da unten ein Auto entdeckt.«
»War jemand drin?«
»Es war Leer. Wir haben das Sonnendach aufgerissen und die Greifarme des Kriechers benutzt, um die Zeitung vom Rücksitz zu bergen. Dabei mussten wir den Kriecher an der Decke abstützen, damit er nicht umkippte. Dummerweise war die Decke nicht besonders stabil.«
»Das liegt daran, dass diese Höhle noch nicht für Einsätze mit Menschen freigegeben ist«, erklärte Mancuso.
Auger wählte ihre Worte mit Bedacht. Ihr war klar, dass alles, was sie jetzt sagte, in den Berichten auftauchen konnte. »Es ist niemand zu Schaden gekommen. Wir haben einen Kriecher verloren, aber die geborgene Zeitung wiegt das mehr als auf.«
»Was ist mit dem Jungen passiert?«
»Er hat mir geholfen, den Kriecher zu stabilisieren, und sich dabei den Anzug aufgerissen. Ich habe ihm gesagt, dass er stillhalten und auf die Kavallerie warten soll.«
Sie legte die Zeitung ins Fach zurück. Die Buchstaben waren immer noch so gestochen scharf und lesbar wie zu dem Zeitpunkt, als sie das gute Stück aus dem Auto geholt hatte. Durch die Berührung der Zeitung – wobei das Papier leicht aufgewölbt wurde – war sogar eine der animierten Werbeanzeigen zum Leben erwacht: Ein Mädchen am Strand warf einen Ball in die Kamera.
»Ziemlich gut, Auger. Sieht so aus, als hättest du diesmal Schwein gehabt.«
»Hilf mir bitte, die Ablage rauszuholen«, sagte sie in der Annahme, dass man nicht versuchen würde, den ganzen Kriecher zu bergen.
Sie zogen die Probenablage heraus, trugen sie zum nächsten Rettungskriecher und schoben sie in ein leeres Fach.
»Und jetzt die Filmbänder«, sagte Mancuso.
Auger ging um das schief hängende Fahrzeug herum, öffnete ein paar Riegel und zog die schweren schwarzen Kassetten hervor. Der Einfachheit halber steckte sie sie zum leichteren Transport zusammen. Als sie alle zwölf eingesammelt hatte, auch die von der Kabinenüberwachung, gab sie das unhandliche Paket an Mancuso weiter.
»Das sind alle?«, fragte er.
»Das sind alle«, antwortete Auger. »Können wir uns jetzt um Cassandra kümmern?«
Doch als sie wieder zur schimmernden Kabine blickte, war das Mädchen nirgends zu sehen. »Cassandra?«, rief sie in der Hoffnung, dass die Funkverbindung zum Kriecher noch funktionierte.
»Alles klar«, antwortete das Mädchen. »Ich bin direkt hinter euch.«
Auger fuhr herum und sah Cassandra im zweiten kindergroßen Schutzanzug auf dem Eis stehen.
»Ich habe dir doch gesagt, dass du drinnen bleiben sollst«, sagte Auger.
»Es war Zeit, zu gehen«, erwiderte Cassandra. Soweit Auger erkennen konnte, hatte sie ihren Schutzanzug mit professioneller Sorgfalt angelegt. Auger war beeindruckt. Selbst für einen Erwachsenen war es nicht leicht, ohne fremde Hilfe in einen Schutzanzug zu steigen, ganz zu schweigen von einem Kind.
»Hast du darauf geachtet …?«, setzte Auger an.
»Mit dem Anzug ist alles in Ordnung. Ich denke, wir sollten allmählich verschwinden. Der ganze Aufruhr könnte die Furien aufgestört haben. Wir sollten nicht mehr hier sein, wenn sie eintreffen.«
Mancuso berührte Auger mit einem Krafthandschuh, der sie ohne Schwierigkeiten hätte zerquetschen können, an der Schulter. »Das Mädchen hat Recht. Lasst uns ganz schnell aus Paris verschwinden. In dieser Stadt läuft es mir jedes Mal kalt den Rücken runter.«
Auger spähte durchs Deckenbullauge des Rettungskriechers und wünschte sich, dass die roten und grünen Scheinwerfer des Trägerschiffes durch die Wolkendecke schnitten, während sie gleichzeitig hoffte, dass die Wolken selbst nicht noch aufgewühlter würden. Etwas stimmte in dieser Nacht wirklich nicht mit den Wolken. Normalerweise war ihre Sprache ruhig und gelassen, kommuniziert durch Veränderungen von Form, Farbe und Oberflächenstruktur. Dann nahmen zum Beispiel riesige, schaltkreisähnliche Strukturen aus scharfkantigem Blaugrau innerhalb vieler Minuten Gestalt an, stabilisierten sich nach und nach und verblassten langsam wieder. Zwanzig oder dreißig Minuten später kamen dann Anzeichen neuer Muster im teigigen Grau unstrukturierter Wolken zum Vorschein. Solche Bewegungen waren lediglich die Grundbausteine einer Unterhaltung, die Stunden oder Tage dauern konnte.
Aber derzeit lagen sich die Wolken in den Haaren. Muster bildeten sich und zerfielen rasch wieder, und Blitze versahen die Auseinandersetzung mit eindringlichen Ausrufungszeichen. Die Wolken rissen auseinander und verschmolzen, als würden uralte Bündnisse und Allianzen neu ausgehandelt.
»Das machen sie manchmal«, sagte Cassandra.
»Ich weiß«, antwortete Auger, »aber nicht während meiner Schicht, und nicht genau über der Stadt, die ich gerade untersuche.«
»Vielleicht geschieht es nicht nur über Paris«, sagte Cassandra.
»Das habe ich auch gehofft. Unglücklicherweise habe ich es überprüft. Es gibt einen ernsthaften Streit im Wettersystem, dessen Zentrum genau über Nordfrankreich liegt und der ungefähr zum Zeitpunkt unseres Eintreffens begonnen hat.«
»Zufall.«
»Oder auch nicht.«
Ein Blitz erhellte die Szene und schnitt mit der Präzision eines Laserstrahls einen langgezogenen Hindernisparcours aus Blöcken, Rampen und tiefen Schluchten mit glatten Rändern aus dem fahlblauen Eis. Auf beiden Seiten der Champs-Elysées waren die Umrisse eingestürzter Gebäude zu erkennen, überzogen von einer dünnen Glasur pastellfarbenen Eises, mit sauberen Stufen und Kanten an den Stellen, wo die ferngesteuerten Ausgrabungsmaschinen des Antiquitätenministeriums innegehalten hatten, weil sie auf brüchiges Mauerwerk, Stahl oder Glas gestoßen waren. Auger dachte an die Fahrzeugführer, die diese Maschinen aus dem Orbit steuerten, und verspürte das zunehmende Bedürfnis, ihnen Gesellschaft zu leisten, weit weg von den Gefahren des Erdbodens.
»Beeilt euch!«, drängte Auger mit gedämpfter Stimme. »Die Sache ist schon seit Stunden nicht mehr besonders lustig.«
»War eine einzelne Zeitung das wirklich wert?«, fragte Cassandra.
»Natürlich war sie es wert. Du weißt es auch. Zeitungen gehören zu den wertvollsten Artefakten des Leeren Jahrhunderts, die man überhaupt finden kann. Ganz besonders die Spätausgaben, die in den letzten paar Stunden, bevor alles geschah, noch auf den neuesten Stand gebracht wurden. Du glaubst gar nicht, wie wenige davon erhalten sind.«
Cassandra schob den Vorhang aus schwarzem Haar beiseite, der die Angewohnheit hatte, ihr vors linke Auge zu fallen. »Was spielt es für eine Rolle, wenn man ein paar Kleinigkeiten nicht weiß, solange man das große Ganze erkennen kann?«
Eine Bewegung weckte Augers Aufmerksamkeit. Durch das Deckenbullauge sah sie eine Schwadron aus Trägerschiffen, die sich auf Feuersäulen durch die Wolken herabsenkten.
»Weil wir dann vielleicht eine Chance haben, den gleichen Fehler nicht noch einmal zu machen.«
»Und der wäre?«
»Zum Beispiel die Erde zu ruinieren. Zu glauben, dass man ein technisches Chaos lösen kann, indem man noch mehr Technik draufschmeißt, obwohl bisher jeder entsprechende Versuch alles nur noch schlimmer gemacht hat.«
»Man müsste schon ein abergläubischer Fatalist sein, um zu sagen, dass wir es nicht trotzdem weiter versuchen sollten«, erwiderte Cassandra und verschränkte die Arme vor der Brust. »Außerdem kann es wohl kaum noch schlimmer kommen, als es ohnehin schon ist.«
»Benutz deine Phantasie, Mädchen«, entgegnete Auger. Sie spürte, wie der Rettungskriecher erzitterte, als die Schockwelle eines Trägerschiffes ihn umspülte. Helle Lichter tanzten durch die Kabine, gefolgt von einem Ruck, als die Bergungsklammer den Kriecher erfasste. Dann waren sie in der Luft, mitgerissen vom aufsteigenden Trägerschiff. Durch die Seitenfenster beobachtete Auger, wie die Champs-Elysées unter ihnen zurückfielen und bald darauf durch die eingestürzten Gebäude verborgen wurden. Jetzt konnte sie die Ringstraßen erkennen, unfähig, den Teil ihres Gehirns abzuschalten, der darauf bestand, ihre Namen aufzusagen. Die Haussmann im Norden, Marceau und Montaigne im Süden.
»Wie könnten wir es noch schlimmer machen?«, fragte Cassandra. »Da unten können keine Menschen mehr leben. Nichts kann dort leben, nicht mal Bakterien. Das ist doch schon das Schlimmstmögliche.«
»Heute haben wir gewonnen«, sagte Auger. »Wir kommen mit einem Stück Vergangenheit zurück, einem Fenster in die Geschichte. Aber dort unten gibt es eine Menge Dinge, die wir noch nicht gefunden haben. Wissenslücken, die darauf warten, geschlossen zu werden. Wir haben so viel vergessen, und es gibt so viel, das wir niemals wissen werden, wenn wir nicht die Wahrheit finden, die da unten im Eis eingeschlossen ist.«
»Das wird durch die Pläne der Kommunitäten nicht gefährdet.«
»Auf dem Papier nicht. Aber wir alle wissen doch, dass diese Pläne nur das Vorspiel sind. Erst wird mit den Furien aufgeräumt und das Klima stabilisiert, und dann können wir mit der eigentlichen Arbeit beginnen: Terraformung.« Das letzte Wort sprach sie mit tiefstem Abscheu aus.
Während die Wolken um den Rettungskriecher dichter wurden, erhaschte Auger einen kurzen Blick auf die Schlangenlinie der Seine – ein makelloser Streifen aus weißem Eis, hier und da mit abgesperrten Ausgrabungsstätten gesprenkelt. Weiter draußen konnte sie im gedämpften Licht der schwebenden Luftschiffe die unteren zwei Drittel des Eifelturms erkennen, seitwärts geneigt wie ein Mensch, der sich gegen eine Sturmböe stemmte.
»Ist es ein Verbrechen, die Erde wieder bewohnbar machen zu wollen?«, fragte Cassandra.
»Meiner Meinung nach ja, weil wir das nämlich nicht tun können, ohne dort unten alles auszulöschen und damit alle Bande zur Vergangenheit zu zerschneiden. Das ist so, als würde man die Mona Lisa weiß übermalen, während nebenan eine unbenutzte Leinwand steht.«
»Du bist also dafür, stattdessen die Venus zu terraformen?«
Auger hätte sich am liebsten die Haare gerauft. »Nein, dafür bin ich auch nicht. Aber wenn ich eine Wahl treffen müsste …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, warum ich diese Diskussion ausgerechnet mit dir führe!«
»Warum nicht?«
»Weil du eine von uns bist, Cassandra – eine brave kleine Stokerin, eine brave kleine VENS-Bürgerin. Ich sollte dir so etwas nicht erklären müssen.«
Cassandra zuckte mädchenhaft die Achseln und deutete einen Schmollmund an. »Ich dachte, ein guter Streit wäre eine gesunde Sache«, gab sie zurück.
»Stimmt«, erwiderte Auger. »Aber nur, solange du meiner Meinung bist.«
Tanglewood hüllte die Erde in Licht wie ein leuchtender Trauerkranz. Das Trägerschiff bewegte sich vorsichtig, flog hierhin und dorthin, um den beweglichen Strängen auszuweichen, von denen jeder eine riesige Kette aus miteinander verbundenen, bewohnten Habitaten war. In allen Richtungen setzten sich zahllose Schlaufen, Fäden und Lichtknoten fort, die in der Ferne zu einem blass leuchtenden Gewirr von beinahe übelkeitserregender Komplexität verschmolzen. Jeder Masseschwerpunkt folgte seiner eigenen Umlaufbahn um die Erde.
Hunderttausende Habitate, jedes für sich genommen schon eine Kleinstadt. Mehrere hundert Millionen Menschen, machte Auger sich klar, und jeder einzelne führte sein Leben, das genauso kompliziert und problembeladen und voller Hoffnung war wie ihr eigenes. Zwischen den verschiedenen Teilen von Tanglewood herrschte ständiger Verkehr, überall glitten Lichtfunken von einem Strang zum anderen. Die Stränge aus verketteten Habitaten befanden sich in einem ständigen Prozess der Teilung und Wiedervereinigung, wie DNS-Moleküle in einer Petrischalenkultur.
Ihre Laune hellte sich auf, als sie spürte, wie das Trägerschiff zum Landeanflug abbremste. Direkt vor ihnen befanden sich, entlang der Naben aufgefädelt, die sechs gegeneinander rotierenden Ringe des Antiquitätenministeriums. Auger war überzeugt, dass die Nachricht von ihrem Fund bereits durch die üblichen akademischen Kanäle eilte, und bald würde man sie drängen, eine vorläufige Zusammenfassung des Inhalts der Zeitung zu veröffentlichen. Wenn sie in den nächsten vierundzwanzig Stunden Schlaf finden wollte, musste sie schon sehr viel Glück haben. Aber zumindest kam die Art von Arbeit auf sie zu, die sie gern machte, die gleichzeitig ermüdend und berauschend war. Am Ende würde sie einen Zustand erschöpfter Begeisterung erreicht haben. Und das war nur der Anfang einer weitaus langwierigeren detaillierten Analyse, in der sie feststellen würde, ob ihre ersten Ahnungen und Vermutungen einer Überprüfung standhielten.
Die Staffel der Trägerschiffe dockte am ersten Ring an und kam in einem großen Hangar mit niedriger Gravitation voller Schiffe und Ausrüstungsteile zur Ruhe. Mit einem nervösen Kribbeln im Bauch bemerkte Auger, dass eins der hier geparkten Raumschiffe ein Slasher-Modell war. Es handelte sich um ein schnittiges Design: langgestreckt und stromlinienförmig wie ein Tintenfisch mit angelegten Fangarmen und von derselben halb durchsichtigen Eleganz. Mechanismen und Beschriftungen schimmerten durch den kobaltblauen Glanz der Außenhülle. Umgeben von den robusten, aber schwerfälligen Maschinen aus Augers Kultur wirkte das Slasher-Schiff auf geradezu beleidigende Weise futuristisch. Was es in gewisser Weise auch war.
Auger konnte den Grund für ihr Unbehagen nicht genau bestimmen. Es war ungewöhnlich, ein Slasher-Schiff in Tanglewood zu sehen, vor allem in Anbetracht der zunehmenden Spannungen in den letzten Monaten. Aber trotzdem tauchte dann und wann eins auf, und wenn es zu einem diplomatischen Kontakt kam, war es meistens schlicht effizienter, Slasher-Schiffe zu benutzen.
Aber im Antiquitätenministerium? Das war zugegebenermaßen etwas ungewöhnlich.
Sie unterdrückte ihr Unbehagen und konzentrierte sich auf die unmittelbaren Notwendigkeiten. Während verschiedene aggressive Sterilisierungsprozeduren durchgeführt wurden – die Schiffe wurden von letzten möglichen Spuren einer Kontamination aus Paris befreit –, durchsuchte Auger den Rettungskriecher, bis sie einen Stift und einen Block mit Standard-Antiquitätenmeldebogen fand. Dann machte sie sich daran, ihre Stellungnahme zu den unterirdischen Ereignissen festzuhalten. Wie immer kam es darauf an, ein Gleichgewicht zwischen Regelmissachtung als Kavaliersdelikt und der professionellen Einstellung zu finden, dass manche Regeln dehnbarer waren als andere.
Als die Sterilisierungsprozedur beendet war, hatte sie ihren Bericht größtenteils fertig. Ein Luftschleusengang wurde ans Rettungsfahrzeug angeschlossen, und die Lichter um die Außenluke schalteten auf Grün, womit verkündet wurde, dass man nun gefahrlos aussteigen konnte. Die Rettungsmannschaft verließ das Fahrzeug zuerst – die Besatzungsmitglieder hatten es eilig, ihre Schicht zu beenden, damit sie mit ihren Kameraden trinken und abenteuerliche Geschichten austauschen konnten.
»Komm«, sagte sie und bedeutete Cassandra mit einem Wink, vor ihr auszusteigen.
»Nach dir«, antwortete das Mädchen.
Etwas an ihrem Tonfall war noch immer seltsam, aber Auger schob es auf ihre eigene Angespanntheit, die sich durch den Anblick des Slasher-Schiffs wieder verstärkt hatte. Sie zog sich durch die Luftschleuse und trieb mit geübten Bewegungen den Verbindungsschlauch entlang.
Am anderen Ende wurde sie von zwei Offiziellen empfangen, die beide graue Nadelstreifenanzüge trugen. Einen von ihnen erkannte sie als hochrangigen Manager namens August Da Silva. Er war eine kleine Person mit glattem Engelsgesicht und stets tadellos gekämmtem Haar, das von parfümiertem Wachs in Form gehalten wurde. Ihre Wege hatten sich bereits zuvor gekreuzt, als es um das Forschungsbudget und unbedeutende Verfahrensfehler auf Augers Seite gegangen war.
Da Silva legte großen Wert darauf, Auger und das Mädchen zu trennen. »Sie bitte hier entlang«, sagte er.
»Ich muss mich um Cassandra kümmern«, protestierte Auger.
Mit sanfter Gewalt drängte Da Silva sie in ein kleines fensterloses Wartezimmer. Hinter ihr wurde die Tür sofort verschlossen. Sie war allein, nur die gepolsterten Wände leisteten ihr Gesellschaft. Auger hämmerte an die Tür, aber niemand kam oder erklärte ihr, was hier vor sich ging. Eine halbe Stunde verstrich, dann eine ganze. Nach einer Weile kochte Auger vor hilfloser Wut. In Gedanken ging sie durch, was sie sagen und auf wen sie losgehen würde, wenn man sie endlich hier herausließ. So etwas war ihr noch nie passiert. Manchmal gab es Verzögerungen wegen Pannen bei der Sterilisierung, aber die Behörden waren unter solchen Umständen immer darauf bedacht gewesen, sie auf dem Laufenden zu halten.
Nach einer weiteren halben Stunde öffnete sich die Tür, und Da Silva schob den parfümierten Kopf durch den Spalt. »Zeit, in die Gänge zu kommen, Auger. Man erwartet Sie.«
Sie brachte ein trotzig spöttisches Lächeln zustande. »Wer, zum Teufel, ist man? Ist Ihnen nicht klar, dass ich zu tun habe?«
»Ihre Arbeit wird noch etwas warten müssen.«
Mürrisch folgte sie Da Silva aus dem Wartezimmer. Er roch nach Lavendel und Zimt. »Ich muss die Zeitung und die Filmbänder holen, damit ich anfangen kann, meinen Fund zu dokumentieren. Das ist wichtig – da draußen warten Tausende darauf, zu erfahren, was diese Zeitung uns mitzuteilen hat. Sie werden sich jetzt schon fragen, warum ich noch keine vorläufige Erklärung abgegeben habe.«
»Ich fürchte, ich kann Ihnen die Bänder nicht aushändigen«, erklärte Da Silva. »Sie sind bereits zur Sicherheitsüberprüfung geschickt worden.«
»Was reden Sie da? Das sind, verdammt nochmal, meine Daten!«
»Es sind keine Daten mehr«, widersprach da Silva. »Jetzt handelt es sich um Beweismittel zur Aufklärung eines Verbrechens. Der Junge ist gestorben.«
Der Schock traf sie wie ein Faustschlag in den Magen. »Nein!«, hauchte sie, als ob ihre Leugnung etwas daran ändern würde.
»Ich fürchte, es ist so.«
Ihre Stimme klang geisterhaft und weit entfernt. »Was ist geschehen?«
»In seinem Anzug war ein Loch. Die Furien haben ihn erwischt.«
Auger erinnerte sich, dass Sebastian über Kopfschmerzen geklagt hatte. Das mussten die winzigen Maschinen gewesen sein, die sein Gehirn überflutet hatten und sich dabei vermehrten und ihr Zerstörungswerk verrichteten.
Der Gedanke verursachte ihr Übelkeit.
»Aber wir haben den Furienzähler überprüft«, sagte sie. »Er stand bei null.«
»Ihre Detektoren waren nicht empfindlich genug für den neuesten mikroskopischen Stamm. Das wäre Ihnen bekannt gewesen, wenn Sie sich die Mühe gemacht hätten, regelmäßig die technischen Rundschreiben zu lesen. Sie hätten diese Möglichkeit mit einbeziehen müssen, als Sie beschlossen haben, nach draußen zu gehen.«
»Aber er kann unmöglich tot sein.«
»Er starb während des Fluges.« Da Silva erwiderte ihren Blick. Vielleicht fragte er sich, wie viel er ihr sagen durfte. »Vollständiger Hirnstammtod.«
»Mein Gott!« Sie holte tief Luft und versuchte, klar zu denken. »Hat es schon jemand seiner …«
»Seiner Familie mitgeteilt? Man hat seinen Angehörigen gesagt, dass es einen Zwischenfall gegeben hat. Sie sind bereits auf dem Weg hierher. Man hofft, dass der Junge zumindest halbwegs in einen Bewusstseinszustand versetzt werden kann, bevor sie eintreffen.«
Offenbar spielte Da Silva mit ihr. »Sie haben gesagt, dass er gestorben ist.«
»Das ist er auch. Glücklicherweise konnte man ihn zurückholen.«
»Mit einem Kopf voller Furien?«
»Man hat ihn mit UR voll gepumpt und die Furien mit dieser wundertätigen Slasher-Medizin rausgespült. Im Moment liegt der Junge noch im Koma. Möglicherweise sind wichtige Teile seines Gehirns irreparabel beschädigt, aber das werden wir erst in ein paar Tagen wissen.«
»Das kann doch alles nicht wahr sein!«, sagte Auger. Sie kam sich vor, als würde sie bei diesem Gespräch nur zuschauen. »Es war nur ein Exkursion. Niemand hätte sterben sollen.«
»Jetzt lässt sich das leicht sagen.« Er beugte sich zu ihr hinüber, sodass sie seinen Atem riechen konnte. »Glauben Sie ernsthaft, dass wir so etwas deckeln können? Wir haben jetzt schon das Übertretungsministerium im Nacken. In letzter Zeit hat es eine Menge übler Missgeschicke unten auf der Erde gegeben, und es heißt, dass man es langsam für angebracht hält, ein Exempel zu statuieren, bevor jemand eine echte Dummheit begeht.«
»Das mit dem Jungen tut mir Leid«, sagte Auger.
»Ist das ein Schuldeingeständnis, Auger? Wenn ja, würde es die Angelegenheit insgesamt sehr viel einfacher machen.«
»Nein«, antwortete sie stockend, »Das ist überhaupt kein Eingeständnis von irgendwas. Ich sage nur, dass es mir Leid tut. Hören Sie – kann ich mit den Eltern reden?«
»Auger, im Moment dürften Sie der letzte Mensch im Sonnensystem sein, mit dem seine Eltern reden wollen.«
»Ich will sie nur wissen lassen, dass es mir nicht egal ist.«
»Das hätten Sie sich überlegen sollen, bevor Sie für ein einziges wertloses Artefakt alles riskiert haben«, sagte Da Silva.
»Das Artefakt ist nicht wertlos«, gab sie schroff zurück. »Ganz gleich, was da unten passiert ist, es war das Risiko in jedem Fall wert. Jeder, der sich mit Antiquitäten auskennt, würde Ihnen das Gleiche sagen.«
»Soll ich ihnen die Zeitung zeigen, Auger? Würde ihnen das gefallen?«
Da Silva hatte sie in seine Jackentasche getopft. Er zog sie heraus und überreichte sie Auger. Sie nahm sie mit zitternden Fingern entgegen und spürte, wie all ihre Hoffnung in einem einzigen Augenblick vernichteter Enttäuschung verpuffte. Die Zeitung war – genauso wie der Junge – gestorben. Die Druckerschwärze war verwischt, Zeilen rannen ineinander wie Zuckergussmuster auf einem Kuchen. Sie war bereits jetzt völlig unleserlich. Die Illustrationen und Werbeanzeigen waren erstarrt, ihre Farben so sehr ineinander verlaufen, dass sie wie Kleckse abstrakter Kunst aussahen. Der kleine Motor, der das intelligente Papier mit Energie versorgte, musste auf der letzten Reserve gelaufen sein, als sie die Zeitung aus dem Auto geholt hatte.
Sie gab ihm das nutzlose Ding zurück, das all ihre Anstrengungen verhöhnte.
»Ich scheine in Schwierigkeiten zu stecken, nicht wahr?«
Floyd bog mit dem Mathis in eine schmale Seitenstraße zwischen hohen Mietshäusern ab. Er war seit Jahren nicht mehr in der Rue des Peupliers gewesen, und in seiner Erinnerung bestand sie aus geborstenem Asphalt, vernagelten Läden und schmuddeligen Pfandleihern. Inzwischen war die Straße sauber asphaltiert, und bei den geparkten Autos handelte es sich durchweg um blitzblanke 50er-Jahre-Modelle, tiefliegend und kraftvoll wie lauernde Panther. Die frisch gestrichenen Laternenpfähle glänzten im elektrischen Licht. Die Geschäfte im Erdgeschoss wirkten allesamt dezent und hochklassig: Uhrmacher, Antiquariate, exklusive Juweliere, ein Geschäft für Landkarten und Globen, eins, das auf Füllfederhalter spezialisiert war. Als der Nachmittag zum Abend wurde, malten die Schaufenster einladende helle Lichtrechtecke auf den dunklen Bürgersteig.
»Da wäre Nummer dreiundzwanzig«, sagte Floyd und hielt auf einem Parkplatz neben dem Wohnhaus, das Blanchard als Adresse angegeben hatte. »Hier muss sie gestürzt sein«, fügte er hinzu und machte eine Kopfbewegung in Richtung eines Stücks Bürgersteig, das offensichtlich vor kurzem gesäubert worden war. »Muss von einem der Balkone über uns gewesen sein.«
Custine blickte aus dem Seitenfenster. »Da ist nirgendwo ein beschädigtes Geländer. Es sieht auch nicht so aus, als wäre eins in letzter Zeit ersetzt und neu gestrichen worden.«
Floyd streckte die Hand nach hinten, und Custine reichte ihm Notizbuch und Filzhut. »Wir werden sehen.«
Als sie ausstiegen, trat ein kleines Mädchen in abgewetzten schwarzen Schuhen und fleckigem Kleid aus dem Haus auf die Straße. Floyd wollte der Kleinen gerade zurufen, dass sie die Tür nicht zufallen lassen sollte, aber als er ihr Gesicht sah, blieben ihm die Worte im Hals stecken. Selbst im schwindenden Tageslicht war eine Ahnung von Entstellung oder Sonderbarkeit zu spüren. Er beobachtete, wie sie über die Straße davonrannte und schließlich im Schatten zwischen den Laternen verschwand. Schicksalsergeben versuchte Floyd es mit der verglasten Tür, durch die das Mädchen gekommen war, und fand sie verschlossen vor. Daneben war eine Klingeltafel mit den Namen der Bewohner angebracht. Er fand Blanchards Namen und drückte auf den dazugehörigen Knopf.
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