Das schöne Leben und der schnelle Tod - Michael Wildenhain - E-Book

Das schöne Leben und der schnelle Tod E-Book

Michael Wildenhain

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Beschreibung

Am Ende der Sommerferien zieht Gabor, Mathegenie und Gamer, mit seiner Mutter in eine neue Stadt. In der Brennpunkt-Schule gibt ein Junge den Ton an: Mozart, aus reichem Hause stammend, der eine Gruppe Klassenkameraden wie eine Leibgarde um sich versammelt. Mozarts Erzrivale ist der bleich geschminkte Luzius. Und dann ist da noch die elfenhaft schöne Fee. Sie weiß, warum Mozart und Luzius sich bekriegen. Es geht um ein Mädchen, ein heimlich gedrehtes Video, um Erpressung. Was noch niemand weiß: Es geht um Rache.Das hier ist kein Computerspiel. Es ist das Leben.

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Seitenzahl: 201

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Michael Wildenhain

Das schöne Leben und der schnelle Tod

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Inhalt

MottoPrologAnfang123456789101112IntermezzoGlück1314151617181920212223242526AuftaktschrittEnde2728293031Epilog

Und dann erklang wie ein Vogel aus köstlichstem gesponnenem Sphärenmetall, wie durch ein Raumschiff schwebender Silberwein, wenn alle Schwerkraft sinnlos wird, das Geigensolo über all den anderen Streichern.

aus: Clockwork Orange (Anthony Burgess)

Prolog

Während der Junge sich in der Spiegelung des dunklen Fensters den Lidstrich mit Kajal nachzieht und zugleich den Bildschirm schräg neben ihm auf einem Bord im Blick behält, denkt er: Was ich sehe – und was ich mir immer wieder anschauen muss –, ist ein unbekleidetes Mädchen, das ich geliebt habe. Das Mädchen jedoch liebt einen Jungen, den ich kenne und hasse. Jedenfalls gibt sie sich ihm hin. Gab sich ihm hin. Mich hat das Mädchen abgewiesen. Mich hat sie verachtet. Das zu akzeptieren ist unmöglich.

Dass es jenem Jungen ein einziges Mal gelungen ist, mich zu verprügeln, spielt keine Rolle.

Dass diese andere kleine Schlampe, die mich eine Ewigkeit angebetet hat, jetzt diesem Idioten in seinem albernen Mantel folgt, spielt keine Rolle.

Allein dass ich mich rächen muss, spielt eine Rolle.

Der Junge, den die meisten Mozart nennen, nickt seinem Gesicht im nächtlichen Fenster zufrieden zu, fährt mit dem Finger über die markante Narbe, erhebt sich von seinem Stuhl, nachdem er die SD-Karte mit dem Video darauf aus seinem Laptop gezogen und zurück in den fast schon antiken Camcorder gesteckt hat, den ihm sein Vater vor Jahren zu Weihnachten geschenkt haben muss – nie up to date, mein Erzeuger, technisch in etwa Jungsteinzeit, aber die Kohle sitzt locker.

Mozart, der diesen Namen akzeptiert hat und damit nicht unzufrieden ist, ruft über WhatsApp seine Gefolgschaft zusammen, ordnet ein Treffen in einer halben Stunde an, verflucht leise das baldige Ende der Sommerferien und baut sich vor dem fast deckenhohen Spiegel in seinem Schlafzimmer auf, das genügend Raum bietet, um darin Federball zu spielen.

Mit Genugtuung betrachtet er seinen durchtrainierten Körper, dessen Nacktheit durch das einzige Kleidungsstück, einen knappen Slip, noch betont wird, bevor er sich die Lieblingsverse des Lieblingsgedichts seines Lieblingsdichters ins Gedächtnis ruft, um sie vor seinem Spiegelbild leise vor sich hin zu sprechen, während er sich zugleich auf den silbernen Knauf seines Samuraischwerts stützt, das er von der Wand genommen hat:

»Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere / was alles erblühte, verblich / es gibt nur zwei Dinge: die Leere / und das gezeichnete Ich.«

Anfang

1

DEUS zerhackt mit seinem magischen Schwert einen Flugsaurier, danach ein furchterregendes Vieh ähnlich einem Werwolf und anschließend fünf Mutanten, die wie Uruk-hais aussehen. Er plündert die feindliche Waffentruhe und erstarrt auf dem Weg zur Schatzkammer, als Gabor auf »speichern« drückt, den Kopf schüttelt und denkt: Okay – funktioniert hervorragend. Wird nur unendlich öde, wenn man mühelos eigene Routinen ins Spiel implementieren kann. Ich bin eben einfach zu gut.

Während er zwei Chips, die nach einer Mischung aus Kernseife und Grapefruit schmecken, aus der Steingutschale nimmt und mit lauwarmer Cola nachspült, fährt er den PC herunter, zerrt den lichtdichten Vorhang beiseite und murmelt: »Drei Tage reichen. Drei Tage Chips plus Cola und DEUS samt magischem Schwert.«

Er hebt den linken Arm, schnüffelt unter der Achsel des Pyjamaoberteils und stellt fest: Duschen. So was wie Wasser und Shampoo sind absolut überfällig.

Der Bildschirm wird dunkel, die Lüftung verstummt, die einsetzende Stille nimmt das Zimmer in einen Klammergriff, der Gabor schaudern lässt.

Er sieht sich selbst zu, dem Spiegelbild im übergroßen Bildschirm, wie er sich aus der verkrümmten Haltung am zu niedrigen Schreibtisch aufrichtet, noch mal versonnen über die ebenholzschwarze Tastatur streicht, und ärgert sich zum ungefähr siebzigsten Mal während der letzten Tage über seinen Vornamen – Gabor.

In der neuen Schule werden sie ihn, wie gewohnt, Gabriel nennen. Oder, schlimmer, Gabi.

Gabriel. Erzengel. Gesicht das Aussehen eines Blitzes, die Augen Feuerfackeln. So weit Wikipedia. Gabor – was hat sich seine Mutter bloß dabei gedacht.

Drei Tage noch bis Schulbeginn.

Er reckt sich, schlurft Richtung Bad, zieht einen mächtigen Popel aus seinem rechten Nasenloch und denkt: Mann, o, Mann.

Zu erledigen gibt es seit gut einer Woche eigentlich nichts mehr. Sogar sein Zimmer ist eingerichtet. Auch wenn von einer Einrichtung nicht wirklich gesprochen werden kann: Bett, Schreibtisch, PC, ein Schrank auf drei Beinen, an der Wand überm Bett ein Poster des unglaublichen HULK, dazu eine Kaktee, die seit etlichen Jahren ohne Wasser überlebt.

Gabor schließt leise die Zimmertür, obwohl seine Mutter sich bei der neuen Reinigungsfirma am anderen Ende der Stadt vorstellt und kaum vor sechs Uhr abends wieder zu Hause sein wird.

Widerwillig steigt er unter die Dusche, schiebt die gesprungene Plastiktür der Kabine gegen die Magnetleiste und fragt sich zum wiederholten Mal, wer dieses Monstrum hier hingestellt hat: der Durchgang bis zur Kloschüssel knapp fünfzig Zentimeter breit – sobald man sich auf die Brille setzt, kaum noch Platz für die Füße.

Während er sich einseift, denkt Gabor: Alles wie immer. Runtergerocktes Viertel. Erdgeschosswohnung. Trotz neuer Stadt keine Änderung in Sicht. Und wie’s an der Schule laufen wird – das, Gabi, weißt du doch längst.

Er trocknet sich ab. Was soll’s. Bloß nicht zurück in die Kammer, in der er fortan leben soll. Bloß nicht warten, bis sich die Decke mit dem Styroporfurnier auf seinen Schädel gesenkt hat: nur noch Marmelade im weichgekochten Hirn …

Er schlüpft in seine Turnschuhe, Markenimitat, schnappt sich Jacke, Geld und Schlüssel, das letzte Stück Pizza vom gestrigen Abend, dazu die letzte Coladose aus dem monumentalen Kühlschrank, hört die Wohnungstür hinter sich ins Schloss schnappen, kaut, schluckt, Kochschinken plus Käse, nach einer Nacht noch genießbar, springt die melierten Stufen, Marmorimitat, hinunter und macht sich auf den Weg.

Kein iPod. Keine Stöpsel im Ohr. Wegen der fremden Umgebung.

Dann steht er vor der Tür des pinkfarbenen, halbhohen Gebäudes, das einer Schachtel gleicht. Die Sonne hängt gemütlich am Himmel. Die Hitze staut sich zwischen den Fassaden. Er entscheidet sich für den Park, der zwei Straßenecken entfernt – erst links, dann rechts – neben dem Schrottplatz beginnt, sich entlang des Gewerbegeländes, der Industriebrachen, der Gleisanlagen hinzieht und nach vier, fünf Kilometern auf den Fluss stößt, an dessen Ufer er dichter wird, mehr Wald als Park, eine Art Urwald. Hat Gabor schon von der Bahn aus gesehen: Der Bahndamm wirkt wie ein Grenzwall, den kein Bewohner der mintgrünen und marzipanfarbenen, der gelben und pinkfarbenen Kartons je überqueren würde.

Niemand, so sein Eindruck, als er Stirn und Nase im vorletzten Waggon an die verkratzte Scheibe aus trübem Plastik gepresst hat, wird wagen, was so simpel aussieht: das ausgedehnte Waldstück zu betreten. Untote, weiße Wanderer. Nur DEUS samt seiner magischen Waffe und der unglaubliche HULK dringen ohne Furcht in die Wildnis vor.

2

Während Gabor die Brombeerranke behutsam aus seinem Haar löst und sich durch das dichte Gestrüpp, durch irgendein verfilztes, zusammengeschobenes Nadelzeug drängt, stockt ihm der Atem.

Er hält in der Bewegung inne. Nein, niemand ist auf ihn aufmerksam geworden. Niemand fährt plötzlich herum oder verharrt lauernd, als habe er ein Geräusch im Gesträuch gehört.

Gabor duckt sich tiefer ins Gebüsch, schmiegt sich an den Stamm der Kastanie, die passgenau vor ihm in die Höhe wächst, löst währenddessen nicht den Blick von der Szenerie auf der Lichtung.

Nicht atmen, nicht bewegen. Nicht husten oder niesen. HULK hin oder her.

Vor ihm, auf dem idyllischen Rasenstück, beschienen von einer wunderbar warmen Sonne Ende August, befinden sich: ein im Schatten dösender Schäferhund, angeleint an einen Walnussbaum, ein Mädchen, kaum jünger als Gabor, schlank, beinahe dünn, das in einem knappen Bikini auf einer Campingdecke liegt und sich zu sonnen scheint, und ein Junge, ein junger Mann mit langem, glänzend schwarz gefärbtem Haar, dessen Gesicht von einer Sonnenbrille verdeckt wird.

Der Junge oder junge Mann, der trotz der Hitze einen ebenfalls schwarzen Staubmantel trägt, kniet neben dem Mädchen auf dem Rasen. Er redet auf die Liegende ein, eindringlich, heftig, ohne Unterlass. Und ohne dass Gabor ein Wort verstehen könnte.

Gern würde er näher an Bikini und Staubmantel heranrücken, sich im Gebüsch, an dessen Zweigen vorjährige Schneebeeren vertrocknen, an das Paar anschleichen, aber er befürchtet, entdeckt, aufgestöbert zu werden. Schon meint er das Hecheln des Hundes im Nacken zu spüren, meint, die Rufe der Gestalt im Mantel zu hören, einer Gestalt, die wirkt wie ein Vampir. Bleich die Wangen, bleich Kinn-Hals-und-Stirn, bleich die Finger und Hände, ausgebleicht die Luft, die ihn umgibt.

Bloß kein Streit, denkt Gabor.

Bloß keine blöde Aktion von diesem Bleichfratz gegenüber dem Mädchen. Bloß nichts, das mich auffordern würde, einzugreifen.

Er duckt sich tiefer in den dichten Bewuchs.

Inständig hofft er, der elend lange Güterzug, der quietschend Gleis und Weichen quält, möge endlich hinter der nächsten Biegung verschwinden, damit er, Gabor, mitbekäme, worüber sich Bikini und Staubmantel streiten.

Er sollte sich nach einem Ast umschauen, um ihn diesem Bleichling übers Hirn zu hauen.

Würde den HULK oder DEUS kaum mehr als ein müdes Lächeln kosten.

Und, klar, jetzt legt dieser Mister Mantel auch noch seine schmutzige Hand auf ihr schmales Gesicht. Streicht über ihre Schläfe. Nähert seine sonnenbebrillte Vampirvisage ihrem kleinen, zerbrechlich zarten Kopf.

Gabor rutscht in den Schatten, schließt die Augen.

Er drückt seine Wange an die Borke der Kastanie und wünscht, er hätte seinen Platz vorm Bildschirm nie verlassen.

3

Als Gabor die Augen nach einer Weile wieder öffnet, ist nach wie vor niemand auf ihn aufmerksam geworden.

Doch während er noch überlegt, ob er sich nicht aufraffen und schlicht verschwinden sollte, und derweil der Güterzug das blanke Eisen der Gleise beständig malträtiert, betritt eine Gruppe Jugendlicher die Lichtung vom anderen Ende her.

Fünf Gestalten. Darunter ein Mädchen, das aussieht wie eine Ringkämpferin mit Metallringen und -dornen in den Lippen, der Nase, den Wangen und dem Kinn. Dazu ein Junge mit Lidstrich und einer Narbe quer über der linken Wange. Typ gegelter Arroganzling, offenbar der Anführer. Hinter ihm zwei Trottel, Marke Crabbe-and-Goyle, die wie seine Leibwache wirken.

Der Fünfte, ein spilleriges Wiesel, schneidet der schlanken Miss Bikini den Weg zu ihrem Schäferhund am Fuß des Walnussbaums ab.

Die Güterwaggons kreischen und prallen aneinander. Das angeleinte Tier bellt sich die Seele aus der Schnauze. Sein Sabber tränkt das verdorrte Rasenstück vorm Stamm des ausladenden Walnussriesen. Der Arroganzling, ebenfalls blass, wie ein Zombie, huscht auf den Hund zu und tritt ihm mit dem schweren Schnürstiefel gegen den Kopf.

Der Hund jault auf und schüttelt seinen Hundeschädel. Fährt vor und will den Kerl ins ausgestreckte Bein beißen. Die Leine ist zu kurz.

Und während Arroganzling lacht, dreckig und übertrieben laut, und sich der HULK vorsehen muss, am Stamm seiner Kastanie nicht unversehens einzupullern, schmeißen Crabbe-and-Goyle ein paar Steine, ordentliche Brocken auf das wimmernde Tier – das sich, Leine würgt Kehle, ins Unterholz verzieht.

»Fini!«

Der Anführer weist seine Untergebenen mit harscher Geste an, die Steinigung zu stoppen. Er wendet sich, ein Ruck, dem erstarrten Staubmantel zu, der von der eisenbewehrten Ringkämpferin, links einen Schlagring auf der Faust, in der Rechten wippt ein Knüppel, in Schach gehalten wird.

»Nanu, nana / wen haben wir denn da – das mediokre Mäntelchen …«

Und wie an sich selbst gerichtet, fügt er fast flüsternd hinzu: »O bunte Welt / was schillerst du mir her / allein auf mich gestellt / bedarf ich dein – nie mehr.«

Obgleich auf verlorenem Posten grinst der junge Mann im schwarzen Mantel.

Grinst über sein gesamtes, bleiches Vampirgesicht, obwohl die Situation auf der Lichtung kein bisschen dazu einlädt.

Und Gabor denkt: Ich träume, ich träum das alles nur.

»Mantel mit süßer Matratze.« Der gegelte Arroganzling mit der Lyrik auf den Lippen geht einen winzigen Schritt auf das von der Ringkämpferin, einer wahren Walküre, fixierte Bleichgesicht zu.

»Tja, was machen wir denn hier? Liebesdinge?«

»Halt’s Maul, Kretin!«

Der Staubmantel richtet sich trotz der Bedrohung zu voller Größe auf.

»Und sag dei’m Fräulein Knüppelkuh, es soll mir aus der Sonne gehen …«

»Sonst?«

Noch während der kajalumflorte Anführer damit beschäftigt ist, ein überlegenes Feixen auf sein Gesicht zu malen, lenkt der Staubmantel die eisenbewehrte Dame mit einer Bewegung der rechten Hand ab, greift mit der linken nach dem Knüppel, zerrt sie zu sich heran und stößt ihr mit der Stirn die Armierung tiefer ins aufspringende Fleisch – Blut auf beiden Seiten.

Dann schubst er das Häuflein Elend, das sich mit dem Schlagring durchs eigene Gesicht wischt, den Knüppel jedoch nicht loslässt, in die Schneebeerenbüsche, während Crabbe-and-Goyle überraschend flink neben ihm auftauchen und ihn umklammern.

»Körperklammer, jap.«

Ihr Grunzen klingt dunkel, als käme es aus einem eigens ausgehöhlten Baum.

Das spillerige Wiesel packt Miss Bikini an den Haaren, lang, braun, fast seidig in der Abendsonne, und reißt ihr den Kopf in den Nacken.

Der Arroganzling tritt den letzten Schritt auf den Staubmantel zu, zerrt im Vorbeigehen Miss Bikini das Oberteil von den Brüsten, mustert den Gegner von oben bis unten, nimmt dem sich vergeblich im Griff der Klötze Windenden vorsichtig die Sonnenbrille aus dem blassen Gesicht, zermalmt die dunklen Gläser unter der Stiefelsohle, wirft der am Boden hockenden Ringkämpferin, dem wimmernden Sumo-Ungetüm, ein Taschentuch zu und fährt mit dem Zeigefinger über die leicht blutende Stirn seines Gegenübers.

Miss Bikini presst die Unterarme vor den unbekleideten Oberkörper und stößt ein Geräusch aus, das einem Schluckauf ähnelt, während Crabbe-and-Goyle sie unverhohlen anstieren.

Der gegelte Arroganzling spitzt die Lippen, als wolle er Staubmantel anrotzen, lässt es, stopft ihm stattdessen das Bikinioberteil in den Mund. Dann rammt er ihm das Knie in den Unterleib.

»Du weißt, was du mir schuldest / das keinen Aufschub duldet. / Und zahlst du nicht beizeiten / dann könnte ich, mein Lieber / fett Unbill dir bereiten.«

Er zieht den Schleim in den Hals und spuckt ihn vor dem Jungen, der ohne seine Sonnenbrille jünger aussieht, sehr jung, in den Staub.

Die Güterzüge schweigen.

Der Anführer deutet das Öffnen seines Hosenstalls an. Und wieder spricht er leise und dabei wie zu sich: »Wir waren miteinander nicht befreundet / doch hatten wir einander beigewohnt.«

Dann nickt er Crabbe-and-Goyle zu, murmelt: »Na, guck, das hast du nun davon / Max und Moritz sabbern schon …«

Schwenkt den Blick hinüber zur halbnackten Miss Bikini.

Zuckt mit den Schultern: »Lassen wir das. Dennoch, mein lieber Luzius, solltest du dringend an mich denken / denn ich kann die Geschicke / du weißt es längst, wie Jupiter / dort an den Himmeln lenken.«

Er senkt den Kopf, und Gabor hört ihn wispern: »Als wir einander in den Armen lagen / warn wir einander fremder als der Mond.« Ein unendlich mattes Lächeln. »Das kann er, Sex und Liebe. Nur die großen Dinge, die gehn ihm komplett ab.«

Und während sich Staubmantel krümmt – der unglaubliche HULK hat längst die Flucht durch ein Wurmloch in eine entfernte Galaxie angetreten – und sich die Ringkämpferin schluchzend aufrappelt, winkt der Gegelte seiner Gefolgschaft, die Lichtung zu verlassen. Auf der gegenüberliegenden Seite gleiten sie ins Gebüsch wie nie gewesen.

Der Hund kauert noch am Boden. Das Mädchen beugt sich zum Staubmantel hinunter, der die Hände auf sein Geschlecht presst.

Dann zieht sie sich ein Oberteil über, eher ein Fetzen als ein Kleidungsstück, und eine Jeans und streichelt dem Getretenen übers gefärbte Haar.

Der Junge oder der junge Mann, dessen Gesicht ohne Sonnenbrille unbedarft, wie geliehen wirkt, hebt den Kopf und sagt, ohne die Zähne auseinanderzubringen: »Scheiße. Und überübermorgen beginnt wieder die Schule.«

Das Mädchen nickt und streicht dem bleichen Staubmantel erneut und immer weiter übers Haar. Und auf dem Gleis hinterm Gebüsch beginnt ein nächster Güterzug kläglich und grell und durchdringend und monoton zu kreischen.

Und während der Hund sich winselnd meldet und das Mädchen ihn losbindet, robbt Gabor durchs Nadelgestrüpp bis zu einer Hängebuche, unter der er sich verbirgt. Niemand indes macht Anstalten, ihm ins Buschwerk zu folgen.

4

Staubmantel Luzius und dem elfenähnlichen Mädchen ist Gabor nach kurzem Zögern und auf geräuschlosen Sohlen schließlich doch gefolgt: den Wind im Gesicht, den Hund im Blick – und bis zu einem Bahnareal, einem verlassenen Lokschuppen, in dem die drei verschwinden.

Er umkreist das Gebäude. Findet ein gekipptes Fenster, durch das er sie belauschen und beobachten kann. Und obwohl eine innere Stimme ihn drängend fragt: Was tust du da?, bleibt Gabor auf seinem Posten. Zu groß ist die Neugier, zu sehr interessieren ihn Luzius und vor allem das Mädchen, zu deutlich meint er mit einem Mal zu spüren, dass er mit DEUS, dem Schwertträger, mühelos mithalten kann.

Im Innern des Schuppens breitet Luzius bedächtig seinen schwarzen Mantel auf einem Podest aus, das mit hellen, breiten Holzplanken ausgelegt ist, die wie gescheuert wirken. Unpassend blank heben sie sich gegen die staubige und ölverschmierte Umgebung des offenbar aufgegebenen Lokschuppens ab.

Das Mädchen, unfassbare Erscheinung, schöner als jede Waldelbe aus dem Herrn der Ringe, nicht dürr, keineswegs, das hast du dir, Gabor, vorhin nur eingebildet, holt eine Decke aus einem Blechkasten, der mit einem Vorhängeschloss gesichert ist. Den passenden Schlüssel trägt sie an einer kurzen Kupferkette um den hellen Hals.

Sie leint den Hund an, streicht das grobe Wolltuch über dem Staubmantel glatt, stellt Teelichter auf verrostete Stahlvorrichtungen: Hebel, Zahnradreste, riesige Schraubenmuttern, deren abblätternde Lackierung die Zündholzflamme reflektiert, während sich Luzius am Wasserkran, der wie neu installiert wirkt, das Blut aus dem Gesicht wäscht.

»Nur zur Probe?«, fragt das Mädchen.

»Nur zur Probe«, murmelt Luzius. »Für den scheiß Ernstfall. Aber der tritt nicht ein.«

Es scheint kühl in der Halle zu sein. Fröstelnd stellt sich das Mädchen neben dem Podest in einen Kegel aus Helligkeit, der das von Dachsparren, Pappfetzen, Pflanzenbewuchs, vielen Farnen gefilterte Licht an ihrem Gesicht, dem Haar abperlen lässt, an ihrem Oberkörper, den sie von jenem Stück Stoff, nicht T-Shirt, nicht Bluse, mit einem trotzigen Ruck befreit, so dass Gabor mehrmals schlucken muss. Derweil Luzius zwei Efeuranken beiseiteschiebt, sich nähert, aus den Stiefeln steigt, deren Leder die Flammen der Teelichte widerspiegelt, und etwas in der Hand hält, das Gabor nicht erkennen kann.

Das Mädchen öffnet den Gürtel ihrer Jeans und lässt ihn aus den Schlaufen gleiten. Die Gürtelschnalle klingt am Stein wie eine kleine Glocke, die zur Andacht ruft.

Einmal, und noch einmal – ping und ping –, das Mädchen verschränkt die Arme vor ihrem Oberkörper, den eine feine Gänsehaut im Licht der Halle überzieht, wie um ihre Nacktheit zu verbergen, als Gabor mit der wackeligen Blechtonne, auf der er vor dem Fenstersims verharrt, das Gleichgewicht verliert.

Das Mädchen stößt ein quietschendes Fiepen aus – »die sind uns gefolgt, die Schweine!« –, während Gabor eben noch sieht, wie sich Luzius nach einer armlangen Schraube bückt und, obwohl barfuß, losrennt: Richtung Fenster und Gabor und dessen polternder Tonne, mit der er seitlich umkippt.

Gabor zögert keinen Moment und rappelt sich auf.

Mit einem Sprung von der moosüberwachsenen Terrasse ins dichte Gehölz des umgebenden Waldes verschwindet er – wie nie gesehen, nie vorhanden.

Der Tanz der Sonnenflecken auf seinen Armen und Schenkeln – auch in Stiefeln, Luzius, sähest du kaum mehr als den Staub des sommertrockenen Waldbodens, über den Gabor mit seinen Flügelschuhen fliegt, auf seinem Weg zur Schatzkammer, dem abgesperrten Waffenschrank, vielleicht dem nächsten Level – in einem Spiel, dessen Regeln er nicht ansatzweise begreift.

5

Drei Tage danach, am ersten Montag nach den Sommerferien, betritt Gabor den Schulhof seiner neuen Schule.

Dritte Stunde. Neues Schuljahr. Alles beginnt etwas verzögert. Was, keine Frage, äußerst angenehm ist.

Die Schule besteht aus einem hochherrschaftlich wirkenden, mehr als hundert Jahre alten Gebäude – überm Haupteingang die lateinische Ziffernfolge MDCCCXCVIII, darunter ein Sinnspruch – PERASPERAADASTRA – und aus einem Neubau. Zweckbau heißt solch ein Gebäudeteil nicht selten: die Betonpfeiler roh und unverkleidet, die Stahlträger und -pfeiler ausgestellt und hässlich.

Während die pompösen, sich über zwei Stockwerke erstreckenden Fenster – Bleiverglasung, bunte Scheiben, das Motiv lässt sich von außen nicht erkennen – respekteinflößend wirken, sieht der Anbau, blätternde Farbe auf schlichtem Waschbeton, komplett kläglich aus.

Auf dem Schulhof, einem asphaltierten, von einem Maschendrahtzaun eingefassten Areal, stehen in einer Ecke, nah einem von Unkraut überwucherten Buddelplatz mit verrotteter Wippe: die Ringkämpferin, die sich auf einem der Holzsitze des mürben Spielgeräts abstützt, und Luzius, einen Fuß auf dem anderen Ende der Wippe, deren Haltebügel wie Krallen aus dünnem Draht in die leere Luft ragen.

Luzius lässt das in sich zusammengesunkene Mädchen, Trumm mit Eisen im Gesicht, nicht aus dem Blick, während sie die Augen gesenkt hält und manchmal leise schnieft.

Unmöglich, ihnen auszuweichen. Der ehemalige Spielplatz befindet sich neben dem Schultor in einem annähernd toten Winkel. Hinter dem Mädchen warten, in losem Halbkreis: der Anführer samt seiner Gefolgschaft, die er mit einem Wink daran hindert, ins Geschehen einzugreifen.

Als Gabor, kaum dass er den Hof betreten hat, am Eingang wie angewurzelt stehen bleibt, erkennbar in der Absicht, auf der Stelle kehrtzumachen, bedeutet ihm der Anführer mit einer kaum merklichen Bewegung, einem leichten Rucken des Kopfs, sich zu der Gruppe zu gesellen.

Luzius betrachtet währenddessen das vor ihm kauernde Mädchen, wie sie in ihr Stofftaschentuch schnaubt, mit dem sie noch erbärmlicher wirkt.

»Ellie, du bist jämmerlich.«

Der erste Satz, den Gabor von Luzius, den rechten Fuß auf der rostigen Wippe, hier auf dem ausrangierten Schulhofspielplatz hört.

»Du lässt dich von den Ärschen behandeln wie ein Hund.«

Ellie fährt sich mit der Hand über die feuchten Augen.

Ui, denkt Gabor, ein verblasener Wichser. Aber er traut sich was.

Während er darüber nachgrübelt, ob es möglich wäre, wortlos weiterzugehen, macht das Wiesel einen Schritt auf Luzius zu, hält, verborgen in der hohlen Hand, etwas Spitzes. Kein Messer, eine stabile Nadel oder Ahle.

Und dann ist die Stimme eines Mannes zu hören, der groß und schwer aus einem SUV am Straßenrand steigt: »Herrschaften, bitte.«

Gabor sieht das Grinsen in Luzius’ Gesicht – kein Bemühen, den unverhofften Triumph vor der Gruppe seiner Feinde zu verbergen.

Ganz im Gegenteil.

Trotz des gemeinen Lächelns, das die sich kräuselnden Lippen des Anführers Augenblicke lang umspielt.

Der schwere Mann aus dem schwarzen SUV hält einen Moment am Sandkasten inne, schüttelt mit Blick auf Luzius den Kopf und knurrt: »Bitte, was soll das?«

Dann läuft er gemächlich weiter Richtung Haupteingang – durch den Staub zu den Sternen –, ohne die Gruppe bei der Wippe aus dem Blick zu lassen.

»Ellie«, sagt der Gegelte mit dem Lidstrich so leise, dass der sich Entfernende es nicht mehr hören kann, doch zugleich so laut, dass weder Gabor noch Luzius es überhören könnten: »Ellie, nun hab dich nicht so. Gib nichts auf ihn. Natürlich bist du fett. Und natürlich bist du nett. Und tust, was ich dir sage. Aber dafür mag ich dich. Und das, meine Liebe – nun zieh doch nich’ so’ne Schnute –, das gefällt dir doch.«

Ellies Gesicht zeichnet der Ansatz eines Lächelns, das von den Dornen und Ringen in Portionen geteilt wird, derweil der Anführer sich abwendet und betont langsam auf die Schule zugeht. Crabbe-and-Goyle wie auch das Wiesel folgen ihm ohne Aufforderung.

Und während Gabor nicht weiß, wie er sich verhalten soll, und nur versonnen die Fassade des Schulgebäudes mit den imposanten Bleiglasscheiben betrachtet – wo mag das Zimmer des Direktors sein? – und während er darüber nachdenkt, dass der Gegelte, der wie ein Schatten an ihm vorbeizieht, diesmal keine wirkliche Gedichtzeile, nicht einen Vers rezitiert hat, trifft ihn ein knapper, harter Schlag mit der Faust oder dem Handrücken so zwischen die Beine, dass ihm für die Länge eines Lidschlags der Atem ausbleibt.

Unwillkürlich geht er in die Knie, presst die Hände auf seinen Unterleib und schaut Ellie und den anderen nach, die ohne Regung an ihm vorbeigegangen sind. Der große Mann aus dem SUV verschwindet soeben in dem wuchtigen Schulgebäude.

Während Gabor im warmen Sand des mit Miere bewachsenen Buddelplatzes hockt und auf das Abebben des Schmerzes wartet, kommt ihm der Ablauf des Geschehens zwingend und vernünftig vor. Und als er dicht an seinem Ohr die dunkle, seltsam warme und einschmeichelnde Stimme von Luzius hört, der ihn am Oberarm packt, ihm aufhilft: »Hallo Gabor. Wir haben auf dich gewartet«, fühlt er sich in all seinen Gedanken und Empfindungen ganz und gar bestätigt.