Das Singen der Sirenen - Michael Wildenhain - E-Book

Das Singen der Sirenen E-Book

Michael Wildenhain

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Beschreibung

Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2017 Als der deutsche Frankenstein-Experte Jörg Krippen auf dem Campus seiner neuen Londoner Universität umherirrt, hilft ihm die junge Stammzellenforscherin Mae sich zu orientieren. Die Begegnung wirkt zufällig, tatsächlich hat sie diese bewusst provoziert. Kurz darauf führt Mae ein Wiedersehen herbei, um eine Affäre mit dem deutlich älteren Mann zu beginnen. Zugleich scheint sie sonderbar viel über ihn zu wissen. Im Londoner East End hat niemand auf den Literaturwissenschaftler Jörg Krippen aus Berlin gewartet. Die Kleidung vom Nieselregen durchweicht sucht er nach einer Klingel, als eine junge Frau indischer Abstammung ihn anspricht: »You look so lost«. Sie selbst ist in Brixton aufgewachsen und forscht im Bereich neuer Reproduktionstechnologien. Krippen verliebt sich rasch und heftig – und belügt sie, was seine Familie und seine linke politische Vergangenheit betrifft. Auch sie ist nicht ehrlich und verschweigt, dass sie vor Jahren als Austauschschülerin in Berlin war. Es entspannt sich eine leidenschaftliche Liebesgeschichte, wie sie beide in der Intensität zuvor nicht erlebt haben. Doch ihre ungewöhnliche Liebe wirft Fragen nach dem Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaft auf.

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Seitenzahl: 322

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Michael Wildenhain

Das Singender Sirenen

Roman

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Anzinger und Rasp, München

unter Verwendung des Fotos »Untitled« by Jack Davison

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98304-3

E-Book: ISBN 978-3-608-10880-4

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

gewidmet denen, die ich liebe

Daß das Edle im Menschen, erworben in jahrhundertelangen Prüfungen und Irrtümern, darauf beruhe, die Materie zu beherrschen … Daß über die Materie siegen, sie begreifen bedeute, und daß das Begreifen der Materie notwendig sei, um das Weltall und uns selbst zu begreifen; und daß somit das periodische System … Poesie sei.

Primo Levi

Die schöne Russin, die nie eine Russin gewesen ist, kaut ungeduldig an ihrem rechten Daumen, treibt mit den lackierten Nägeln der Linken einen raschen Rhythmus ins Armaturenbrett.

Sie, asiatische Augen, hohe Wangenknochen, künstlicher Dialekt, hat ihn nach Paris eingeladen, mit ihm ein Festival in Montevideo, am Rio de la Plata besucht, ihm in Almaty, am Deutschen Theater, angeboten, er könne ein Stück für sie, die Regisseurin, schreiben – sie, Wunschbild aller Männer: Spielleitern, Intendanten, Schauspieldirektoren, hat ihm zu verstehen gegeben, dass er talentiert sei, sie den Willen, die Kontakte habe, dass er über den Stoff verfüge, sie zu ziemlich vielem, mit ihm, entschlossen sei.

»Deine Entscheidung.«

Sie hupt, sie denkt an die Nächte mit ihm, im Hotel, in ihrer Wohnung, sie hofft, dass er sich umdreht, seinen Rucksack über die rechte Schulter wirft und über den kleinen Parkplatz zu ihr herüberkommt.

Schließlich betrachtet sie erneut die rauchende Frau in Joggingmontur, die auf der Holzbank am Rand des Spielplatzes kauert, mit der blondierten Strähne des ungekämmten Haars spielt.

Kippe. Ausgedrückt. Nächste Zigarette.

Sie indes, schöner als jede, die er bisher kennen gelernt haben dürfte, schüttelt sich, zieht, die Hand auf der Hupe, eine Augenbraue hoch, umfasst mit den Fingern den Zündschlüssel des Wagens.

Gestern noch haben sie über seine Pläne gesprochen: endlich das zweite Stück beenden, in London, besser Paris anbieten, ein Thema, kaum aktueller zu denken. Sie habe unterdessen nicht nur Kontakt zu einem Pariser Theater, gut, Banlieue, aber das passt doch, sondern auch zu einer deutsch-französischen Agentin, altehrwürdige Abstammung: von Bismarck, was willst du mehr? Deine Entscheidung.

Verdeckt von einem Gebüsch, dessen Zweige das baldige Ende des Sommers ahnen lassen, dreht sich der junge Mann, der einen für den Spielplatz zu mächtigen Rucksack behutsam neben sich abstellt, zögernd um.

Sein Sohn, noch eben versunken ins Spiel mit seinen Backformen, scheint den Blick des Vaters im Nacken zu spüren, sodass er sich langsam aufrichtet, sich von der langen Reihe sorgsam geformter Sandkuchen abwendet, um die wenigen Schritte auf seinen Vater zuzugehen, den er hinter einem Holzschiff, der Arche Noah, bei der seit Tagen errichteten, nunmehr fast fertiggestellten Sandburg mit trutzigem Bergfried nicht vermutet – weiß. Der Vater ahnt den Schatten, der das Gesicht seines knapp vierjährigen Sohnes im nächsten Moment zeichnen wird, hört das verhaltne Hupen der wartenden Begleiterin, das knappe, trockene Geräusch, hört, wie der Wagen, ein Allrad-Jeep, mit dem man Gebirge über-, Wüsten durchqueren kann, auf dem Miere bewucherten Parkplatz anspringt, der ans Areal mit Wippen, Rutschen, Sandkästen und Basketballkörben anschließt.

Kurz mustert er die rauchende Frau, in sich versunken auf der Holzbank, die ihn nicht bemerkt, nicht bemerkt haben will: nikotinfarbene Fingerspitzen, Brandlöcher in der Joggingkluft, Kippe, Feuerzeug, nächste Zigarette. Kein Blick, keine Beachtung. Kein Suchen nach Sandburg und Sohn.

Wiederholtes Hupen – deine Entscheidung.

Er denkt an die Nächte in der Wohnung der Regisseurin, den Theaterunterkünften, den Hotels, wirft den monumentalen Rucksack über die rechte Schulter, hört, wie der Jeep mit der schönen Russin in seinem Rücken ruckartig anfährt, bricht eine verdorrte Knospe von einem spillerigen Ast, gibt dem geölten Gittertor, Zugang zum Buddelplatz, einen Stoß, setzt sich samt viel zu großem Gepäck und ohne die rauchende Frau auf der Holzbank zu beachten neben den Jungen, seinen Sohn, in den Sand, der, beharrlich in seiner Sorgfalt, die Mauern der Festung wie auch die Wände des Burggrabens mit der Metallschippe glättet und seinem Vater den Eimer mit Eierpampe gnädig überlässt.

ARRIVAL HEATHROW AIRPORT

1 – Charterhouse Square

»You look so lost.«

Sie lächelt, während er, den Schlüssel in der Hand und dennoch ratlos, vor dem Backsteingemäuer steht. Die Kleidung vom Nieselregen durchweicht, sucht er nach einer Klingel, einem Eingang unter dem tropfenden Torbogen, hofft, in der dunklen Durchfahrt auf jemanden zu treffen, der ihn empfängt, ihm den Weg weist: in seine Wohnung, die er hier, neben der Pestwiese, so wird er’s morgen auf einer Messingtafel lesen, längst nicht mehr vermutet.

»Ist leicht zu finden«, hatte der Student am Eingang zum Campus hurtig gesagt, wo er, nervöses Trippeln auf der Stelle, ihn immerhin erwartet hatte. »Paar Stationen mit der Tube, keinerlei Problem, dann zum alten Unigelände, Medizin, Zahnmedizin: Dean-Rees-House, Charterhouse Square.« Flugs war der Junge, ein Milchgesicht, wieder verschwunden.

Bei Feuer Hast!

Unwillkürlich das Schild im Treppenflur des Plattenbaus vor Augen, Dreiraumwohnung in Hellersdorf an der Berliner Stadtgrenze, die er seit einiger Zeit mit Frau und Kind bewohnt.

Wollte was sagen, rufen, doch kaum dass er den Koffer samt der beiden Rucksäcke auf dem Londoner Campus abgestellt hatte, war der Student nicht mehr zu sehen – Tutor vielleicht, der »noch etwas zu erledigen habe«, der auch in den folgenden Tagen stets etwas zu erledigen haben, ihm, immer in Eile, nicht in die Augen blicken wird.

Paar Stationen mit der Tube. Danach die Beschreibung, die er sich am Ausgang der Station Barbican mit Mühe meinte, erneut ins Gedächtnis gerufen zu haben. Dann aber, unweigerlich: falsche Treppe, falscher Ausgang. Die Überführung, Neubaublocks: über ihm, neben ihm, unter ihm, zwielichtig irgendwie.

»Nicht die Überführung zu den Blocks – Charterhouse Square! Da ist meist noch ein Hauswart, selbst um sechs.«

Klar.

Kein Hauswart. Auch klar.

Jetzt steht er vor den Backsteingebäuden, Dean-Rees-House, düsterer, schöner als Block und Plattenbau, unsicher, ob er den Weg nicht doch verfehlt hat und auf der anderen Seite der zahnmedizinischen Fakultät, der alten medizinischen Labore, gelandet ist.

Hatte der Student nicht Ähnliches erwähnt?

Simon, Sam – wie war noch der Name? Schau mir in die Augen, Simon, guck mich doch mal an, ich stehe vor dir.

You look so lost. Der Koffer. Der erste, dann der zweite Rucksack. Zusätzliches Gepäckstück. Einhundert Euro extra am Flughafen Schönefeld. Einen Rucksack hinten, einen vor der Brust. Wie er es hasst, in Gegenwart einer Frau zu schwitzen. Dieser Frau zu schwitzen. Ähnlich jung wie der Student, Tutor mit Schlüssel, Meister des raschen Rückzugs, aber eine dunkle, mäßig dunkle Haut.

Das Gesicht im Schatten, und als die Lampe oben am Torbogen erlischt, wirkt sie beinahe wie ein Geist, »my name is Mae«, fast unsichtbar, trotzdem sieht er sie lächeln.

»Oh, you are from Germany?«

Die geraden, weißen Zähne sollen ihm wohl sagen, sie habe den Klebstreifen mit dem Gepäckkontrollabschnitt am Rucksack vor der Brust sofort entdeckt.

Wohin er denn wolle?

Heben der Schultern. Wisse er nicht so genau.

Grinsen, ungläubiges Lächeln, knapper Ruck der linken, nein, der rechten Braue – ja, es gebe, gleich hier, eine Pforte, eine kleine Tür.

Während sie ihn mit einer Geste auf den Eingang im Windfang hinweist, gleitet ein Blatt aus einem leuchtstoffbunten Umschlag, Kladde, die unter der Achsel klemmt, und segelt in eine Pfütze ihr zu Füßen.

Deckblatt zu einem Vortrag über – Stammzellen? Deren Gewinnung? Stem Cells liest er in ultramarinblauer Schrift, der Rest liegt im Schatten. Übergroße Buchstaben, deren Tinte im Regen, noch schwimmt das Blatt in dem Rinnsal unter dem tropfenden Torbogen, zu verfließen beginnt.

Sie bückt sich, er bückt sich, eine Bewegung. Koffer längst nass, Rucksäcke auch. Sanft stößt seine Stirn an ihre.

Fühlt er den feuchten Ansatz der Haare, hebt seinen Kopf. Meint den Duft ihrer Haut, eines Parfüms, Shampoos zu riechen. Rosen? Rasen? Keine Ahnung, alles vermischt mit dem Londoner Niesel, stockender Kleidung. Blickt ihr in die Augen, als sie, die Tinte des Titels zieht Fäden, beim Griff nach dem Blatt seine Finger berührt. Ein Moment des Verhaltens, Verweilens, die Gesichter – keine zehn Zentimeter voneinander entfernt. Wenn ihr euch vorbeugtet, träfen sich unweigerlich eure Lippen.

Schmecktet ihr euren Atem. Schlösse sie ihre Lider. Spürte er die geraden, weißen Zähne.

Nicht dass sie zurückführe, hochschreckte, sich in abrupter Bewegung von ihm, dem Fremden, abwendete, dies sei ein Versehen, vielleicht feixte, ironischer Zug um die Winkel des Mundes, dennoch, sie lässt von dem Blatt.

Gibt die Berührung der Finger, der Kuppen, behutsam beinahe, auf. Erhebt sich, ebenso er.

Das Deckblatt ihres Handouts wird in der steten Feuchtigkeit unterm Baldachin des Bogens nachgiebig und weich. Während die Buchstaben ihre verfügte Form verlieren, die Schrift sich im flachen Wasser der kaum bewegten Pfütze langsam anfängt aufzulösen, hält er den Blick am Boden. Weiß nichts zu sagen, sich nicht zu bewegen, tastet nach dem Griff seines Koffers, wünscht sich, er wäre nicht hier.

Dann stehen sie voreinander. Er sieht sie an und schweigt.

»Bist du verrückt? Oder einfach nur pervers?«

Sagt sie. Nein, schreit sie, als sie die Illustration aus den 20er-Jahren sieht, die mechanische Liebhaberin mit dem mächtigen Dildo, die er in das Buch eingelegt hat. Das Buch, das ihn seit Monaten, seit Jahren schon begleitet.

Es ist nicht das Bild allein: albernes Bild, harmlos. Im Stil eines Filmplakats, Metropolis. Es ist der Text, den sie auf seinem Schreibtisch entdeckt und in die Hand genommen, in die Finger bekommen hat: treffendes Idiom.

Nie interessiert sie sich für seine Arbeit. Nie hört sie ihm zu, wenn er länger als eine Minute darüber spricht. Fühlt sich angegriffen, wenn er ihr etwas erklären möchte. Sie, seine Gefährtin, Frau seines Lebens.

Ja, sie mag ja durchaus recht haben, er neigt zum Dozieren, ja. Aber wie soll er ihr nahebringen, was er den Tag über tut? Auch während der Nächte, wenn sie schläft, erschöpft von der Arbeit im Lager des mächtigen Supermarkts. Der nicht nur sie, sie beide und ihr Kind, den Sohn, der auch die Umgebung durch bloße Präsenz erstickt.

Nein, es ist nicht nur das Bild, die Abbildung – es ist der Text. Manifest einer Gender-Forscherin, der Name, Beatriz Preciado, steht für: Kontrasex.

Dildo und Anus statt Penis und Vagina.

Beschrieben ist eine Übung, bei der sich ein Transvestit, Prinzessin der Schmerzen, passend mit Dornenkrone und an intimer Stelle mit Stahlnadeln gepierct, den Hackenschuh in den Arsch rammt.

Verrückt? Oder einfach nur pervers?

Sie schreit ihn an, obwohl das Kind – längst kein Kind mehr, ein Junge – im Nebenzimmer schläft.

Wie jung sie einmal war, wie unbesiegbar.

Gift und Galle, Schwefel und Asbest.

Sie hat ja recht, denkt er.

Ich bin zu alt, ich bin ein Mann, ich kann das Abgefahrenste – Habil, klingt irgendwie arabisch – in meine Arbeit einschreiben: ich werde keine Chance haben, und darum hat sie recht.

Obwohl sie etwas anderes, Grauenerregenderes meint: das Unverständnis, das uns hier, im fast vergessnen Hellersdorf, auseinandertreiben lässt, die Fremdheit füreinander, die den Graben tiefer und tiefer einschneidet. Ihr Unvermögen, einzusehen, dass nun mal nicht jeder ganz Tat und Handeln, ganz Augenblick und Praxis ist – Primo Levi hat ihn, Sandro Delmastro, so beschrieben: den ersten, der vom Piemontesischen Militärkommando der Aktionspartei fiel.

Dann wird sie wieder zutraulich, redet trotz ihres Alters von einem zweiten Kind. Gleich darauf so, dass ihn die Angst des Anfangs packt: doch, doch, ja, ja, er weiß es noch – Köder, animalisch, Furcht, von ihr verschlungen zu werden.

»Sorry.«

Mae, das Gespenst, guter Geist von London, drückt den Schalter in der Nische. Und weil der Glühstrumpf der Birne wieder leuchtet, erkennt er, nicht jung, nicht alt, so irgendwie dazwischen, dass sie nun wieder lächelt, grinst, da er so tumb im regennassen East End steht, ihn anblickt, prüfend betrachtet und ihren Kopf schüttelt.

Während er, noch spürt er an der Stirn die Spur ihrer Berührung, nickt, als wisse er, als wisse er nun endlich, wohin er müsse, wo er sei, dass ihn jene Wohnung, hier in historischem Gemäuer, ihn, den aufstrebenden Wissenschaftler, hell und warm erwarte – auch eine dieser Lügen: Writer in Residence.

Später wird sie ihm die Labore zeigen, die Kelleranlagen, wo sie, wenn auch in – noch! – nachrangig dienender Funktion, der Forschung nachgeht, ihrer Forschung: am Leben, wie er’s insgeheim und nur für sich benennt. Sie, das weibliche, das dunkelhäutige Pendant zu jenem Arzt, den Mary Shelley in ihrem unvergleichlichen, weit über allem stehenden Roman verewigt hat. Der Unhold … die Züge gezeichnet von Bosheit, bitterer Verachtung, maßloser Qual … ein Geschöpf, grauenvoll, zu hässlich fürs menschliche Auge.

Wie das alles ausgegangen wäre, wenn er, mein Gott, wie lange ist das her?, fortgegangen, hier gelandet wäre. Im London der Labore: wie funktioniert das in den Filmen? Starkstrom, der Homunkulus auf einem Tisch mit Gummituch. Der Verputz der Wände roh. Die Armierung, rostig, blinkt unterm Beton hervor. Feuchtigkeit, auch das. Stiefel dickster Gummisohlen, dann unvorstellbar hohe Voltzahl, elektrischer Schlag und das Geschöpf erwacht: warum nicht weiblich?

Jetzt steht sie also vor ihm, dichter, als es sich – ziemt?

Seltsames Wort, denkt er.

Denkt es nur wegen ihrer Hautfarbe, wegen der hochgeschlossenen Bluse, deren Kragen er unter der nachlässig geknöpften Jacke, einer Regenjacke, gerade erkennen kann. Sie trägt einen Schirm bei sich: pink, nicht aufgespannt. Sodass ihr Haar, tropfnass und dunkel, kaum bedeckt von der Kapuze, die nur den Haarknoten im Nacken vorm fiesen Niesel, der Londoner Feuchtigkeit schützt, an Stirn und Schläfen klebt. In Strähnen haftet es daran, und trotzdem ist sie schön, denkt er, obwohl ihre Erscheinung, jetzt, in dem schmalen Eingangsbereich, Pforte unterm Torbogen, Amalgam aus Schatten und plötzlich wankender Beleuchtung, durchaus jämmerlich wirkt.

Aber das Lächeln, so kommt es ihm vor – you look so lost –, scheint aus ihrem Innern nachzuglühen, gibt Körper und Gesicht die Wärme, die er im Londoner Regen dicht neben sich zu spüren meint, zu spüren und zu brauchen, als sie, da er den passenden Schlüssel in dem antik wirkenden Schloss gedreht und die Metall beschlagene Haustür geöffnet hat, mit ihm den Korridor betritt – als habe sie Sorge zu tragen, dass er seine Wohnung, die sich im ersten Stockwerk befinden soll, tatsächlich unversehrt erreicht. Während sie vor ihm im engen Flur steht, wünscht er mit einer Wucht, die ihn wundert, sie möge bleiben.

Möge sich zu ihm setzen, für die verbleibenden Stunden des Abends, von denen er nichts mehr erwartet in dieser verregneten Stadt. Loneliness of the Long Distance Runner. Möge mit ihm die Zeit verbringen: sie säße auf dem Stuhl am Fenster, dem einzigen Stuhl in der Wohnung, vom Küchenhocker abgesehen, er säße auf dem Bett. Unsicher, ob er darauf drängen solle, sie möge sich doch zu ihm, neben ihn auf das Deckbett setzen. Der Tee? Stünde auf einem Sekretär, Tischchen, einzigem Möbel, neben dem Bett mit Baldachin, nächst dem rötlich-braunen, überhohen Schrank, Furnier aus Eiche.

Sie begleitet ihn bis zur Treppe, verharrt am Fuß: zögernd, meint er zu erkennen. Doch dann lacht sie – »nice to meet you, but I’ve got to go«.

Schon wendet sie sich ab. Und er? Weiß nicht, wie er sie halten soll. Wie sich verhalten? Weiß nicht, was er nun sagen soll, ohne plump zu wirken.

Your phone number? Email address? Schweigt.

Als sie sich umdreht, ist es zu spät, einmal dem Fehlläuten gefolgt – er wird, sobald er die Treppenstufen hinaufgestiegen ist, feststellen, dass sich im Zimmer kein Tisch befindet, dass die Küche, das wird ihm mehrfach widerfahren, abgeschlossen worden ist, dass man die Heizung abgestellt hat, dass es kein warmes Wasser gibt, im riesigen Bad mit der ausladenden Badewanne. Es sei denn, er bereitete sich eine Portion nach der nächsten im Wasserkocher, der neben dem Kästchen mit dreieinhalb Teebeuteln, vier Zuckertütchen und einem Kaffeeweißer steht, dessen Haltbarkeit deutlich in der Vergangenheit liegt. Das große Bett ist klamm und frisch bezogen.

Jetzt dreht sie sich um, läuft von der letzten Stufe der Stiege durch den dunklen Korridor zur Tür, er hört das Schlagen, »bye«, das Schnappen des Schnappers im Schloss.

Später wird sie ihn manchmal mustern, den Kopf schütteln, wenn er sich wundert, worüber sie forscht, was für Dinge ihr Interesse wecken: Embryonen als Stammzellenspender in einer Petrischale. Das sei in Deutschland verboten, doch hier …

In Indien gebe es Kliniken, da züchte man künstliche Hornhaut.

Später wird sie die Schultern zucken, die Achseln heben, ihn auslachen ob seiner seltsamen Bedenken, seinem Gerede von Mary Shelley – ja, sie habe das alles gelesen, damals, in der Schule.

»Hertfordshire. Hockerill. College. Highest ranking.«

Später wird sie sagen: »Du weißt nicht, was du willst. Du bist ein Weißer.«

2 – Stadtbad Schöneberg

»Spring doch«, sagt er leise, »ich bin bei dir.«

Sein Sohn, der am Ende des Einmeterbretts verharrt, der den Geräuschen des Hallenbades zu lauschen scheint: dem Hall, den die Wasseroberfläche nicht bricht, sondern zurückwirft, sodass man für Momente den Eindruck bekommt, von einer Wand aus Worten, Lauten, aus Schall und Geräusch umstellt zu sein, eingemauert, sein Sohn, der nach unten blickt, einen Meter, einen weiteren Meter, der in die farblose Tiefe des Beckens bis hinab zu den Kacheln des Grundes der vier Meter betragenden Absenkung unter den Sprungbrettern blickt, Kacheln, die dunkler scheinen, blauer als die Kacheln oberhalb des an die Ränder schlagenden, in der Überlaufrinne verschwindenden, nach gechlorter Sonne riechenden Wassers.

Ohne einen Fuß zu bewegen, die Zehen verkrallt in das raue, schwarz glänzende Fiberglas, im Rücken nur das Metallschild, das die Erlaubnis, vom Brett zu springen, vorläufig suspendiert, sowie einen Bademeister, einen beleibten, geduldigen Mann, der die Schwimmkurse der Kleinen an den Nachmittagen beaufsichtigt, blickt sein Sohn hinunter auf das Wasser.

Behütet von jenem Schwimmmeister, der, die Arme vor der Brust verschränkt, seit zwei Minuten wartet, seit zweieinhalb Minuten, reglos und still. Wartet, ob der Junge, den er kennt, gut kennt, der es heute bis ans Ende des wippenden Stegs geschafft hat, in das Becken springen wird. Ein Junge, kein schlechter Schwimmer, der von einer Lähmung befallen ist, einem unerwarteten, rätselhaften, wiederkehrenden Zustand ähnlich einem Krampf, der niemandem vertrauter ist als dem dicken Herrn der Halle, der Obacht gibt, was geschieht.

Ein Zustand, eine Lähmung, die niemand inniger zu lösen wünscht als der Mann am Rand des nun ruhigen Beckens, der bis zur Brust im Wasser steht und wartet.

»Spring doch. Ich bin bei dir.«

Ohne eine Hand, einen Finger zu bewegen, ohne sich umzudrehen oder den letzten Schritt in die Tiefe zu wagen, ohne zu weinen oder etwas zu sagen, blickt der Sohn, indem er den Kopf wie gegen einen Widerstand bewegt, zu seinem Vater hinüber – der, nach einer gelungenen Krampe, Zapfen, einem Sprung, der das Wasser über ihm wie in einem Schacht hat zusammenschlagen lassen, eilig aufgetaucht ist, um zum Rand zu paddeln und seinem mutigen Sohn bei dessen Wagnis zuzuschauen.

Der Vater nickt und lächelt. Ahnt trotz geheuchelter Zuversicht, dass das Vorhaben seines Sohns – eben ein Klacks, nun ein Schrecken – im Angesicht des geduldigen Schwimmmeisters ein weiteres Mal scheitern wird.

»Spring doch«, sagt er leise, das stete Glucksen des Wassers am Überlauf im Ohr.

Sein Sohn wendet den Blick.

Und er, der Vater, die linke Hand am Rinnenrand, die rechte unwillkürlich zur Sprunganlage vorgereckt, meint, ein Zucken der Schultern seines Sohnes zu erkennen, ein Zucken wie an den Tagen, wenn der Sohn den Gang zum Kindergarten mit feuchten Augen verweigert: den Kopf senkt, nicht redet, die Achseln hebt – sein Sohn, der die Füße stillhält und hoch zum Dreimeterbrett schaut.

Dort drückt sich, die Fiberglaskante umfassend, seine Mutter, deren Muskulatur sich abzeichnet wie vom elastischen Stoff des enganliegenden Badeanzugs eben erzeugt, mühelos in den Handstand.

Sie, die seit Wochen, Monaten in Jogginghose, Sweatshirt auf die Straße wie auch zur Arbeit ins Lager des Supermarkts geht, erscheint dem jungen Mann, der sich an die Umrandung der Überlaufrinne klammert, den gereckten Arm in der Luft, als zeige er auf etwas von Gewicht, während der Bademeister, die Trillerpfeife baumelt ihm vor der behaarten Brust, sich ein Grinsen versagt – sie, seine Frau, erscheint ihm wie ein wiedererstandenes Wesen aus einer Zeit, an die er sich inzwischen kaum noch erinnern möchte.

Als sie sich, während die Hände sich vom nachwippenden Kunststoff des Sprungbretts lösen, kontrolliert vornüber fallen lässt, den Oberkörper in einer vorschnellenden Bewegung zu den gestreckten Beinen bückt, einen Augenblick berühren ihre Brüste die gespannten Schenkel, die sie mit den nachgreifenden Händen fest umfasst, und während das Gesicht zwischen den geschlossenen Knien zu verschwinden droht, als sie, derart gebückt, der Oberfläche entgegenstürzt und er, der Mann am Rand, sich fragt, ob sie ihren Sohn nicht hat beachten wollen oder wegen des Sprungs nicht hat beachten können, als sie, die gestreckten Arme an Wange und Schläfe pressend, die Fäuste, bevor sie eintaucht, ballt und als die Geräusche der Halle für einen Moment zurücktreten, geht ein Ruck durch den Rumpf des Sohnes und es scheint, als springe auch er.

Obwohl ihr Körper: Pfeil, Fasern, Wille, das Wasser des Sprungbeckens teilt – gelernt ist gelernt: kaum Spritzer –, verharrt der Sohn, erstarrt seit Minuten, weiterhin am Ende des Einmeterbretts. Im Rücken den ihn im Auge behaltenden Bademeister, dessen verschränkte Arme sich, als die Mutter auftaucht, leicht gelockert haben.

Sie krault mit wenigen Schlägen zum Rand, schenkt dem Kuss des Mannes an der Rinne kaum Beachtung, mustert ihren Sohn, der den Blick erwidert.

»Spring«, sagt sie leise. »Mama ist bei dir.«

3 – Queen Mary University

Klopfen. Erneutes Klopfen. Die Tür geht auf, die Tür geht zu, fällt hinter ihr ins Schloss.

»Oh, am I late?«

Maes Lächeln. Kokett, ein wenig spöttisch. Frech.

Der Seminarraum, Souterrain: kein Fenster, Leuchtstoffröhren. Schlagartig hell, so scheint es ihm, luftig und licht, während er vorn am Overheadprojektor die statisch aufgeladene Folie ungeschickt knickt: das an die Wand geworfene Bild, Landschaft aus Schnörkeln, schliert, verschmiert, weil er die Klarsichtfolie auf die Glasplatte des Tageslichtprojektors drückt, sodass der dunkelgrüne Satz verwischt, weil er, der Seminarleiter, statt des wasserfesten den löslichen Stift benutzt hat – das machen die absichtlich hier mit mir.

Maes Lächeln. Augenaufschlag. Seitlich geneigter Kopf.

»Entschuldigen Sie bitte. Aber meine Bahn hatte Verspätung.«

Die Blicke der wenigen Teilnehmer des Seminars: Literarisches Schreiben unter spezieller Berücksichtigung … wenden sich ihr zu.

»Dürfte ich dennoch an Ihrem Seminar teilnehmen? Herr Dr. …«

»Krippen. Jörg Krippen.«

»Dürfte ich also trotzdem …?«

Die Blicke der wenigen Teilnehmer des Seminars wandern, wie an der Schnur gezogen, gemächlich von ihr zu ihm.

Warum spricht sie deutsch? Warum kann sie – deutsch?

Ja, im Seminar soll deutsch gesprochen werden, aber wir wissen doch alle …

»Ja, natürlich«, sagt er.

Knittert die Folie vom Projektor. Weiß, dass er zu hastig redet. Sich zu hektisch vorn vor den Versammelten bewegt.

Woher weiß sie von dem Seminar? Als Medizinstudentin? Oder Assistentin der – klinischen Physiologie?

Hatte sie am Dean-Rees-House nicht Ähnliches erwähnt?

Schmeißt die unbrauchbare Folie eilig in den Papierkorb. Murmelt: »Gut. Dann wären wir wohl vollzählig. Ich erläutere Ihnen, was ich von Ihnen erwarte.«

Den ersten Tag in London empfindet Jörg Krippen als schrecklich.

Am Donnerstag ist er in Heathrow gelandet, hat das Zimmer – keine Wohnung, ein Zimmer – neben der Pestwiese bezogen. Ist ihr begegnet. Hat am folgenden Vormittag alle fünf Minuten aus dem einzigen Fenster gespäht, in der Hoffnung, er sähe sie wieder. Könnte, die schmale Treppe kein Hindernis, hinaushuschen: aus der festungsartigen Toreinfahrt, dem Bogen, dem nur das Fallgitter fehlt. Ihr entgegen, »hallo« sagen, »ich bin gerade … auf dem Weg zum … um mir …«, sich um ein ruhiges Atmen bemühend. Wahrscheinlich vergeblich, egal, nach den englischen Wörtern müsste er sicherlich suchen. Sie aber wäre längst stehen geblieben, unterbräche ihren Weg: zu Vorlesung, Labor, Experimenten, um ihm ihren Namen, den vollen Namen zu nennen: Mae … Ihm zu sagen, dass sie sich freue, ihn hier, so wohlbehalten, wiederzusehen.

»Tragen Sie sich doch bitte auch in die Liste ein: Namen, Mailadresse, Ihre Handynummer. Nur, wenn Sie mögen …«

Die ersten Tage empfindet Jörg Krippen als grauenhaft.

In der Nacht vom Donnerstag auf den Freitag überfällt ihn ein ungeheurer Hunger, kaum dass er eingeschlafen und sofort wieder aufgewacht ist. Als er die Augen aufschlägt, wird ihm erst nach Sekunden klar, wo er sich befindet. Die Momente, die ihm vorkommen, als halte ihn ein Traum, der ungewohnt real wirkt, gefangen, machen ihm Angst. Eine Angst, die ihn entscheiden lässt, dass es sinnlos sei, noch einmal hinaus auf die Straße zur Station Barbican zu gehen, um etwas Essbares zu kaufen. Gibt es in London eigentlich einen Spätkauf? Tankstellen, die nachts geöffnet sind?

Am Freitagnachmittag trifft er Simon – Sam? Und als er ihn fragt, ob er am Abend, oder am Sonnabend, mit ihm essen gehen wolle, erwähnt der Tutor einen »Freund aus Frankreich«. Einen Freund, der am »Weekend« über den Kanal käme.

Und hat dann noch Dringendes, ausgesprochen Dringendes in der verbleibenden Zeit zu erledigen. Wirkt wie gehetzt. Wie von ihm zurückgestoßen. Habe ich Ausschlag? Mundgeruch? Simon, das Gemüse.

Er habe ihm nur rasch den Zweitschlüssel, die electronic card, für den Campus, geben wollen. Und, ja, jetzt müsse er wieder zurück zum Bus. Und, nein, es sei nicht nötig, dass er, Dr. Krippen, ihn begleite.

»Im Wesentlichen erhoffe ich mir, dass Sie einen Text schreiben. Eine story. Eine Geschichte, in der ein künstlich erschaffenes Wesen eine … tragende Rolle spielt. Verstehen Sie, was ich meine?«

Am Freitagabend stellt er fest, dass die Küche verschlossen und die Heizung abgestellt ist.

Kein warmes Wasser.

Zugang hat er nur zu seinem Zimmer, ein Raum mit Erker, das einzige Fenster zur Pestwiese, mit ungeheurem Bett, Baldachin, Daunendecken, Kissen, in denen er versinkt. Mit einer Anrichte, winzigem Teekocher, klumpigem Zucker, trockenem Tee, einem Schrank, dessen Schatten das Zimmer zu füllen scheint. Kein Tisch, kein Stuhl mit Lehne.

Zudem gewährt ihm einer der Schlüssel Zutritt zu einem üppig ausgestatteten Saal. Geräumig wäre ein Euphemismus, ausladend käme dem Sachverhalt näher. Ein Saal, der auf ihn den Eindruck eines Museums macht. Die Wände bespannt mit einer Tapete, die grün und aus Stoff ist. Bilder, Portraits von Koryphäen, die hier, neben der Pestwiese, als forschende Ärzte gewirkt haben sollen, die Möbel antik, die Tafel von einer Länge, dass Artus und seine Ritter nicht hätten drängeln müssen. Es gibt einen Tisch, viele Tische, und Stühle mit einer Lehne, je einen trägt er in sein angrenzendes Gemach. Erst Tage später wird jemand oben an seine Tür klopfen, die Torbogenpforte kein Hindernis, wird ihn dafür schelten, dass er dem antiken Ensemble Gewalt angetan habe.

Schulterzucken, tja.

»Ich hätte noch eine Frage.«

»Ja?«

Sie wird als einzige Teilnehmerin aus London, singuläre Britin, mehr als nur eine Doppelstunde im Seminar verbleiben, alle anderen werden aus der Schweiz, aus Deutschland, Österreich oder Luxemburg sein und mit Erasmus studieren.

Die hiesigen Studenten sprächen zu wenig deutsch. Meint sie. Deren Eltern – Inder gewesen sind?

»Ich habe Ihrer CV entnommen, dass Sie theoretisch arbeiten. Aber es soll ein … erzählender Text sein?«

»Ich wurde darum gebeten.«

»Vom Department?«

»Ja.«

Er zögert.

»Und ich habe, früher, selbst literarisch geschrieben.«

Sie mustert ihn einen Augenblick. Nickt. Sagt: »Ich weiß.«

Am Samstagmorgen versteht er, warum die Küche für ihn verschlossen war.

Am Samstagmorgen beginnt die Tagung, die bis zum Abend dauert und die sich, das immerhin begreift er aufgrund der Vorträge hinter der dünnen Wand, der Transplantationsmedizin widmet, Schwerpunkt: Hand, und deren Teilnehmer mit Schnittchen und Getränken und Kuchen und Kaffee und Tee und einem Imbiss am Nachmittag aus der Küche versorgt werden, in der er am Abend zuvor gern die Konserven aufgewärmt hätte, die er aus Hellersdorf, Berlin, ins nieselige East End von London mitgebracht hat.

Das wird sich alles klären.

Am Sonntag ist es ruhig, er schläft lange.

Schläft aus und träumt von künstlichen Armen und Händen, von Implantaten im Gehirn, von Augen, die besser sehen, als es denen des Menschen je möglich gewesen sein wird.

Am Sonntag öffnet er das Schloss der abgesperrten Küchentür mit einer zu einem Dietrich gebogenen Büroklammer. Grinst beim Gedanken an die Zeit, als derartige Fähigkeit wichtig für ihn gewesen ist. Zweieinhalbtausend Euro – per month. Üppige Apanage. Die erste Rate schon auf seinem Konto. Da braucht es keinen Einbruch in jenen kleinen Kassenraum des murkeligen Kinos in Neukölln.

Begutachtet die Ausstattung der Küche, in der eine Heerschar bekocht werden kann, Töpfe mit Kurbeln, Pfannen am Aufzug, wärmt seine Konserven, isst.

Setzt sich an seinen erbeuteten Tisch, breitet seine Notizen aus. Stellt die mitgebrachten Bücher ins Fenster, das auf die Pestwiese schaut. Allen voran Mary Shelley in deutscher wie englischer Ausgabe, fühlt sich, bis es dämmert, unerwartet wohl. Telefoniert nach Hellersdorf. Sieht vor sich die Zimmer der Plattenbauwohnung, noch immer nicht renoviert seit dem Einzug, noch immer die eigenartige Farbwahl der Vormieterfamilie. Mal die Tapete violett, mal die Decke meliert, das eine Zimmer in Oliv, und jede Wand des kleinen Bads mit andrem Material verputzt: in hellen, grellen Farben je anders übertüncht.

Es geht niemand ans Telefon. Und er ist froh, weil das Guthaben begrenzt ist, weil sie, er ahnt es, kaum erfreut klingen wird, sondern ihre Stimme, Tonfall, Melodie, den üblichen Vorwurf transportieren, modellieren, zum Ausdruck gebracht haben wird: du treibst dich in der Welt herum, ich bin allein mit unsrem Sohn, einem fast fünfzehnjährigen Jungen, der kifft und eine Freundin hat und bloß noch Scheiße baut.

Am Ende der Seminarsitzung will er Mae an der Tür des Hörsaals abfangen.

Möchte sie fragen, ob sie …? Würde sie gerne einladen, mit ihm das East End zu erkunden, den Weg am Kanal mit den Schleusen entlang, die Parks mit den grauen Eichhörnchen, die all die roten verdrängt und ausgerottet haben. Die Orte in London, die man besucht, wenn man als Tourist reist. Hätte mit ihr gern die Plätze entdeckt, die keiner der Fremden kennt: den großzügigen Friedhof, Tower Hamlets Cemetery, nicht weit entfernt, mit den verwunschenen Gräbern, überwucherten Grabplatten, die Dämmerung bedrohlich. Tage später wird sie sich einfach an ihn schmiegen.

Wär am liebsten mit ihr an der Tafel gesessen im musealen Tagungsraum, das weiche Licht des Vormittags auf grüner Spanntapete. Das Zwinkern der Koryphäen, altehrwürdige Forscher, wie in den allzeit magischen Portraits auf dem Zauberschloss Hogwarts. Jeden Abend die Vorlesezeit mit seinem Sohn, acht Jahre alt – ja, am liebsten mit ihr an der langen Tafel gesessen, high table, während die Daunenkissenberge unter dem künstlichen Himmel des Betts, des Baldachins aus Tüll, Troddeln und Bommeln und spitzengeklöppeltem Tuch, dem Duft lang aufbewahrter Säckchen mit Lavendel, noch restwarm wären von ihren schlafschweren Körpern.

Als er von seinen Folien und Notizen aufblickt, ist Mae wie alle Teilnehmer des Seminars verschwunden.

Weg aus dem Raum im Souterrain. Vielleicht durch jene zweite Tür hinter der Tafel und dem vermüllten Abstellraum. Sie wird nicht wiederkommen.

Eine gefakte Nummer, eine falsche Mailadresse. Als er die schwergängige Tür zu dem Büro, das er mit Simon teilen muss, aufschließt, aufstößt, nicht darauf achtet, dass die Klinke ungebremst gegen die Bürowand kracht: kein Stopper, klar, Simon ist ein selten blöder Hund, als er den winzigen Raum mit einem Blick erfasst, berührt ihn eine Hand an der Schulter, und er fährt herum.

»Wollen wir uns treffen? Heute Abend?«

Wo kommt sie her? Was hat sie ihn gefragt?

»Why …?«

»Because – you look so lost?«

Lächeln, kokett: wie sonst? Sie drängt ihn in die Ecke. Sie beißt sich fest, wie ein Vampir. Sie ist eine Agentin.

»Und?«

Weshalb sie so gut deutsch spreche, das hätte er sie fragen wollen. Woher sie wisse, dass er, früher, »geschrieben« habe? Warum sie, Medizinstudentin, oder vielleicht Assistentin, krakeliger Listeneintrag, in sein Seminar gekommen sei?

Das wird sich alles klären. Stumm hat er genickt.

Sie lacht. »Bis nachher!« Nennt den Ort.

Und führt ihn ohne Umschweife am frühen Abend zu einem Japaner, dessen Speisekarte er nicht lesen kann.

4 – Reaktionsgeschwindigkeiten

»Papa, was ist Chemie?«

»Eine Wissenschaft, eine Naturwissenschaft. Warum fragst du?«

Leon, sein Sohn, besucht die fünfte Klasse einer Berliner Grundschule und wird nach den Sommerferien mit dem letzten Jahr der Grundschulzeit beginnen.

Im frühen Herbst, wenn er die sechste Klasse, die letzte vor der weiterführenden Oberschule, geplant ist der Besuch eines fußnahen Gymnasiums, seit einigen Wochen begonnen haben wird, werden sie seinen elften Geburtstag in einem Spaßbad feiern, mit Freunden, auch mit Mädchen.

»So was wie NaWi?«

»Ja, Leon. Aber schwieriger.«

Sein Sohn bohrt in der Nase.

Er, der Vater, wünscht sich zurück an seinen Schreibtisch, um das Paper für die Bewerbung nicht erst nach Mitternacht beenden zu müssen.

Während sie aus dem Fenster schauen und eine Krähe beobachten, wie sie auf dem Dach der Garage gegenüber eine Walnuss zu öffnen versucht, indem sie die Frucht mit dem rechten Krallenfuß festhält und mit dem furcheinflößend großen Schnabel die Naht, an der die Hälften der Nussschale aneinandergefügt sind, behutsam entlanghackt, murmelt sein Sohn: »Weißt du, schwierig, das mag ich eigentlich.«

Ihm, dem ungeduldigen Vater, fällt ein, dass er im Fach seines Schreibtischs, zuunterst, eine nicht sonderlich große, zusammengerollte Kladde, Tafel des periodischen Systems der chemischen Elemente verwahrt: gestohlen am letzten Schultag aus dem Chemielabor. Unvermittelt meint er, sich seither kein einziges Mal an dieses letzte Gedenken seiner Schulzeit erinnert zu haben.

»Ich zeig dir, was Chemie ist. Aber zuerst musst du mir sagen, warum du mich gefragt hast.«

»Wir machen eine AG. Mit welchen vom Gymnasium. Hab mich angemeldet.«

»Du dich?«

»Nö. Der Herr Leithold. Aber ich find’s gut.«

Die folgenden Monate sitzt er mit seinem Sohn an fast jedem Wochenende, und manchmal während der Woche, am leergeräumten Schreibtisch. Sie beugen sich über das periodische System der chemischen Elemente, das an einigen Stellen rissig und an anderen verblasst ist. Der Vater erläutert dem Sohn, woran er sich an den Tagen vorher meint erinnert zu haben – oder was er sich während der Nächte wieder angelesen hat.

Es ist, als sei er in die eigene Schulzeit zurückgekehrt, spürte noch einmal die während der Unterstufe empfundene Gewissheit, den Rätseln des Universums auf die Spur zu kommen. Fühlte erneut jenen Rausch, den er ähnlich allenfalls beim Verfertigen seines ersten, einzigen Theaterstücks für Momente empfunden hat. Danach trotz allen Bemühens, trotz der Verehrung für Mary Shelleys großen Roman, nicht noch ein weiteres Mal in vergleichbarer Weise.

Mit der Macht eines archaischen Urbilds weht die Empfindung ihn an. Zugleich genießt er das Behagen, neben seinem Sohn am präparierten Schreibtisch zu sitzen, mit ihm allein einen Gegenstand zu teilen, dessen Geheimnisse sich Leon nach und nach zu erschließen beginnen, egal, wie jung er noch sein mag. Die Vielfalt der systematisch angeordneten Elemente, ihr prinzipieller Aufbau, ihre besonderen Eigenschaften, die Faszination des tabellarischen Überblicks, das Wissen um die Hilflosigkeit von Erde-Feuer-Wasser-Luft, der Triumph der modernen Chemie über die alten Alchemisten, die Blamage eines Mannes, der auf den Sockeln der Denkmäler steht, seines »Es-gibt-mehr-Dinge-zwischen-Himmel-und-Erde-als-Eure-Schulweisheit-sich-träumen-lässt« – das Erkennen der Welt.

Er weiß nicht, ob sein Sohn all das versteht, worüber sie sprechen. Aber er spürt das Einverständnis, wenn sie die abgegriffene Tafel beiseitelegen, sich die Proben der Elemente, Moleküle: Schwefel, verschiedene Metalle, Kohlenstoff, das Siliziumdioxid – »das ist doch bloß Sand«, Leon lächelt – aus dem Chemiebaukasten anschauen, den er seinem Sohn zu dessen elftem Geburtstag geschenkt hat. Und wenn sie danach Mühle oder Dame spielen und Cola trinken oder Sprite mit Orangensaft, wünscht er, die Zeit bliebe stehen: nie mehr zurück an den Schreibtisch, die Universitäten, Schwangerschaftsvertretungen für eins-komma-sieben-fünf Semester vor dünkelhaften »Studierenden«, die alles über Leute wie Roland Barthes, Judith Butler oder Derrida und den sogenannten linguistic turn wissen, aber nichts mehr vom Periodensystem der chemischen Elemente.

Bevor er, kurz nach der Geburtstagsfeier seines Sohns im Spaßbad, zu der die vier eingeladenen Mädchen und zwei der fünf eingeladenen Jungs – einer aus der Klasse, einer aus der Fußballmannschaft – pünktlich erscheinen, zur nächsten spärlich honorierten Gastdozentur in einer fast fünfhundert Kilometer entfernten Universitätsstadt aufbricht, bevor er sich verabschiedet und das periodische System in Vergessenheit gerät, sagt sein Sohn, als sie sich am letzten Abend über die Metalle beugen, Nebengruppe, vierte Periode: Scandium / Titan, Vanadium, Chrom / Mangan, Eisen, Kobalt / Nickel, Kupfer, Zink – fast alles Stahlveredler, sagt mit einer Stimme, aus der das Bedauern herauszuhören ist: »Weißt du, Papa, eigentlich find ich Chemie … beinah sogar noch besser als Rechnen und Geometrie.«

5 – Brixton Market

»You look just … a little bit excited?«

Sie lächelt, während er, das Ticket für die Tube achtlos in die Tasche schiebend, verlegen vor ihr steht.

Das Gesicht von einer erstaunlich kräftigen Februarsonne angenehm warm, die Augen blinzeln ins Gegenlicht, im Rücken die Station Brixton.

Karamellisiertes Gummi: der Geruch, als er die Bahn verlassen hat – mit einem leichten Misstrauen, ob sie wohl, wie verabredet, am vereinbarten Ort sei.

Dann steht sie, lächelnd, am beschriebenen Ausgang. Den er diesmal, die Skizze in der Jackentasche wäre ihm vor ihr peinlich, mühelos gefunden hat. Blind könnte er die Ausgänge jedem Touristen aufzeichnen: mit Rolltreppen und Fahrstühlen und allem Drum und Dran.

Gestern schon hier gewesen. Das wird sie nicht erfahren.

Wird nicht erfahren, dass er, überwältigt von der fast ausschließlich farbigen Bevölkerung, nur für die Dauer einer Zugfolge geblieben ist. Das Gelände der Station nicht verlassen hat, nachdem er sämtliche Treppen, Rampen, Schrägen der Zu- und Ausgänge von Brixton abgelaufen ist, um sie sich einzuprägen. Begleitet von der Erinnerung an die Diskussion, vor Jahren, in einem Theater: er und zwei Begleiter die einzigen Weißen, Bleichgesichter, keinem ihrer Beiträge wurde, als bewegten sie die Lippen ohne Ton, in jenem kleinen Probenraum damals Beachtung geschenkt.

Sie lächelt, während er, das Ticket für die Tube achtlos in die Tasche schiebend, verlegen vor ihr steht.

Sein Blinzeln in das Gegenlicht, das klare Licht des Februars: ihr Strahlen, wie gebleichte Zähne, das Augen, Wangen, Stirn erfasst, ihrem Gesicht wie eingeschrieben wirkt – endlich, da bist du ja.

Wieder ihr Lächeln, als sie ihm, ein wenig steif, die Hand gibt – »begrüßen sich die Deutschen nicht für gewöhnlich so?«

Sein Mut, als er den Handschlag nur beiläufig erwidert, dazu den Kopf schüttelt.

Die Kühnheit, als er auf sie zutritt, ihr die Arme leicht um Oberkörper, Schultern legt, nicht wagt, sie an sich zu ziehen.

Ihr Schalk, als sie ihn von sich schiebt, ihm in die Augen schaut.

»Tun das nicht bloß die Jüngeren?« Grinst, lacht. »Komm, lass uns gehen.«

Hier in der Gegend sei sie aufgewachsen.

Obwohl’s ihre Eltern in Brixton nicht immer leicht gehabt hätten, sei’s eine unbeschwerte Kindheit gewesen.

»Da drüben, in der Markthalle, da haben sie gearbeitet. Nachmittags, nach der Schule mussten meine große Schwester und ich ihnen oft helfen. Six days a week – you know, I’m just working class …«

Brixton, mythischer Klang.

Die Aufstände Anfang der 80er-Jahre, immer und immer haben die Genossen die Beschreibung der riots im Munde geführt, von der Zeit erzählt, den Kämpfen um eine bessere Welt – »da bist du zu jung für gewesen«.

Immer zu jung für gewesen. Immer alles verpasst.