Die Erfindung der Null - Michael Wildenhain - E-Book

Die Erfindung der Null E-Book

Michael Wildenhain

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Beschreibung

Gehorcht das Leben eines Menschen den Gesetzen eines mathematischen Beweises? Zwei Menschen sitzen sich in einem Verhörraum gegenüber. Dr. Gödeler wird des Mordes verdächtigt, der Staatsanwalt will ihm ebenjenen Mord nachweisen. Doch die Kontrolle über die Verhörsituation verschiebt sich unaufhörlich zugunsten des Verdächtigen. Ein raffiniert konstruierter, spannungsreicher Roman, literarisch vielfältig orchestriert, über Aufstieg und Fall eines Mathematikgenies. Martin Gödeler, Doktor der Mathematik, Nachhilfelehrer aus Stuttgart, wird verdächtigt, für das Verschwinden seiner Urlaubsbegleitung Susanne Melforsch verantwortlich zu sein. Ein junger Staatsanwalt möchte den Mathematiker unbedingt des Mordes überführen. Doch es kommt anders. Dr. Gödeler ist über die Maßen auskunftsfreudig. Was der Staatsanwalt zu hören bekommt, ist nicht weniger als die Lebensgeschichte des Verdächtigen. Ein Zahlengenie, dessen Leben stets von der Ekstase diktiert war, sei es in seinen Beziehungen zu Frauen, sei es im Aufgehen in der Mathematik. Als die Untersuchungshaft aufgehoben wird, verschwindet Martin Gödeler spurlos. Was bleibt, ist das Protokoll einer höchst eigentümlichen Existenz, eines Lebens zwischen Genialität und Verwahrlosung.

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Seitenzahl: 327

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Michael Wildenhain

Die Erfindung der Null

Roman

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: ANZINGER UND RASP Kommunikation GmbH, München

unter Verwendung eines Fotos von © iStock, haushe

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98305-0

E-Book: ISBN 978-3-608-12002-8

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

den Kommenden

Der Wissenschaftler beschäftigt sich nicht mit der Natur, weil sie nützlich ist; er beschäftigt sich mit ihr, weil es ihm Spaß macht, und es macht ihm Spaß, weil sie schön ist.

Wäre die Natur nicht schön, wäre es nicht wert, sie zu kennen, und wenn es nicht wert wäre, die Natur zu kennen, wäre das Leben nicht lebenswert.

Henri Poincaré

Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd.

Buffalo Bill

Induktionsannahme

Manche Menschen wirken auf den ersten Blick wie Verlorene. Als hätte ein Ereignis in ihrem Leben sie aus der Bahn getragen und als hätten sie trotz aller Bemühung nicht wieder Fuß gefasst.

Bei genauerer Kenntnis einer solchen Person ändert sich der Eindruck. Nun scheint es, als wartete sie, in sich zurückgezogen, und hütete einen verborgenen Kern, der es ihr, käme die Gelegenheit, ermöglichte, von vorn zu beginnen.

Beschäftigt man sich eine Weile mit der Person, gerät die Annahme erneut in Zweifel. Die gerade noch scharfen Konturen ihrer Eigenart beginnen zu verschwimmen. Eben noch meinten wir, einen Beweggrund zu erahnen, die Herkunft des Verhaltens verstanden zu haben, bis wir begreifen, dass sich einige Menschen ungern in ein Bild zwingen lassen und sich dem Zugriff, den sie als Gewalt empfinden, oft unbewusst entziehen.

Verglichen mit uns repräsentieren sie das Andere. In einer Welt der Sesshaften sind sie Nomaden und uns, auch wenn es ihnen gelingt, für eine Zeit zu bleiben, fremd. Keiner kommt ihnen auf die Dauer nah. Sie sind, wie von allem Anfang an, allein.

Am 14. Juli wird eine 47-jährige Frau in Castellane, einem Ort im Département Alpes-de-Haute-Provence, vom Betreiber einer kleinen Pension bei der örtlichen Polizeipräfektur als vermisst gemeldet.

Zwei Tage später werden zwei Kleidungsstücke, die der Frau zuzuordnen sind, von einem Wanderer in einem Gebüsch in den Gorges du Verdon gefunden.

Schon zuvor stellt sich heraus, dass Susanne Melforsch, so der Name der Deutschen, zusammen mit einem einige Jahre älteren Mann die Ferien in der Provence und den angrenzenden Seealpen verbracht hat. Der 14. Juli ist der letzte ihrer gemeinsamen Urlaubstage, wenn man dem Meldeschein – den, das lässt sich anhand der Unterschrift zweifelsfrei feststellen, nur die Frau ein paar Tage vorher an der Rezeption ausgefüllt hat – Glauben schenken möchte.

Am Vortag, dem 13. Juli, begleicht der Mann, Dr. Martin Gödeler, ebenfalls ein Deutscher, die Rechnung und wird anschließend nicht mehr gesehen, weder in der Pension noch in Castellane oder der näheren Umgebung.

Als der Betreiber der Herberge am Rand der malerischen Ortschaft etwa achtzig Kilometer nordwestlich von Cannes am späten Vormittag des 14. Juli das Zimmer des Paares in der Annahme betritt, es sei geräumt und er könne die Mansarde für die am Abend erwarteten Gäste herrichten, stellt er fest, dass die Sachen des Mannes fehlen, die der Frau jedoch nicht. Sowohl Toilettenartikel als auch Schminkutensilien stehen auf einem Bord im Bad.

Unter den Papieren, die, sorgsam mit einem Einweckgummi zusammengefasst, in der Nachttischschublade liegen, fehlen weder Ausweis noch Führerschein der Deutschen noch Pass oder Impfbuch. Neben dem verschnürten Päckchen sowie mehreren tagebuchartigen Notizheften finden sich eine geringe Summe Geldes, knapp achtzig Euro, einige unbenutzte Kondome und ein benutztes Präservativ in einer verschließbaren Box aus Plastik.

Der Betreiber ruft dreimal hintereinander das Handy an, dessen Nummer auf dem Meldeschein notiert ist. Dreimal hintereinander meldet sich die Mailbox mit der Stimme der Frau, deren knappe Ansage seltsam entschlossen wirkt. Nach dem dritten Mal wartet der Inhaber der Pension ungefähr eine Dreiviertelstunde, ohne etwas in den Räumen zu verändern, versucht es ein viertes und fünftes Mal, vergeblich, und geht zur Polizei, um Susanne Melforsch, seinen Gast, als vermisst zu melden.

Nachdem deren Jeans wie auch ein hellgraues Sweatshirt im Gebüsch gefunden und in ein Labor in Nizza gebracht worden sind, ebenso Schminkutensilien und Toilettenartikel aus der Herberge, stellt sich nicht nur heraus, dass die Kleidung zweifelsfrei der Deutschen gehört, sondern auch, dass sich im Schritt der Hose Spermienspuren finden und sowohl am Sweatshirt als auch an der Jeans das Blut der Frau.

Weil Susanne Melforsch wie auch Dr. Gödeler in Stuttgart gemeldet sind, wird der Fall von den französischen Behörden an das Landeskriminalamt Baden-Württemberg übergeben. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft, die das Verfahren an sich zieht, besteht darauf, einen noch nicht 30-jährigen Mitarbeiter trotz dessen geringer Anzahl an Dienstjahren mit der Leitung der Ermittlung zu betrauen – auch weil er, aufgewachsen in Lothringen und unweit der deutschen Grenze im Elsass, aufgrund seiner Sprachkenntnisse in der Lage ist, mit den französischen Stellen problemlos zu kooperieren. Von seinem Vorgesetzten, der ihm nach zwei ungewöhnlichen Ermittlungserfolgen in jeder Hinsicht vertraut, bekommt er freie Hand.

Am 20. Juli wird Dr. Gödeler in seiner Wohnung festgenommen. Nichts deutet darauf hin, dass er hat fliehen wollen.

Dennoch entscheidet der Haftrichter auf Überstellung in die Untersuchungshaft.

Der Beschluss wird in der folgenden Zeit, während der sich der Staatsanwalt mit dem Verschwinden von Susanne Melforsch, vor allem aber mit Martin Gödeler, Doktor der Mathematik, zu beschäftigen hat, zwei Mal aufgehoben.

Egal, ob in Haft oder unter Meldeauflagen frei, Herr Gödeler ist in einer Weise auskunftsfreudig, die alle gewohnten Erfahrungen mit Verdächtigen übersteigt. Er besteht nicht allein darauf, dem Ermittler seine Biographie zu erzählen – wie es ihn nach Stuttgart verschlagen, wie er Susanne Melforsch wiedergetroffen hat, nur über das Geschehen in der Schlucht schweigt er sich lange aus –, er stellt auch Notizen, Material und Unterlagen in einem ungewöhnlichen Umfang zur Verfügung.

In den Wochen der Verhöre, des Beieinanderseins, entsteht, so der Staatsanwalt, zwischen den beiden Männern eine Atmosphäre eigenartiger Vertrautheit, die über das erwartbare Maß hinausgegangen sei. Trotzdem, darauf wird der Beamte stets beharren, sei ihm Dr. Gödeler seltsam fremd geblieben. Häufig habe er sich gewünscht, dem des Mordes Verdächtigen nie begegnet zu sein.

Vielleicht klüger als er, vielleicht wegen des Alters im Vorteil oder im Besitz von Informationen, die der Ermittler zum fraglichen Zeitpunkt unmöglich hätte haben können, begreift der Befragte früher als der ihn Verhörende, was den beiden Männern widerfährt. Als die Untersuchungshaft zum zweiten Mal ausgesetzt, der Haftbefehl schließlich aufgehoben wird, verschwindet Martin Gödeler.

Erst Monate später stellt sich heraus, dass den jungen Staatsanwalt Tage darauf ein Päckchen ohne begleitenden Brief erreicht. Bald trifft ein weiteres Paket ein, darin, akkurat geordnet, die Kopien des Materials, Gedächtnisprotokolle sämtlicher Verhöre, sowohl digital als auch in gedruckter Form, alles detailliert erläutert und akribisch kommentiert, dazu ein Buch in althochdeutscher Sprache. Fast zeitgleich folgt eine Postkarte mit »sehr liebem Gruß«. Paket wie Päckchen veranlassen den Staatsanwalt, der den Empfang der Post gegenüber seiner Behörde ebenso verschweigt wie nachfolgende Briefe, die sofortige Kündigung einzureichen. Dem Wunsch wird nicht entsprochen.

Anschließend an eine Unterredung mit dem Abteilungsleiter, der das Ansinnen bedauert, sowie dessen Vorgesetztem, der es kategorisch ablehnt – ein Gespräch, das in Gegenwart einer Psychologin geführt wird, die den jungen Mann in ihrem Bericht als »verstockt« bezeichnet –, einigt man sich auf Gewährung unbefristeten Sonderurlaubs und gibt dem eilends eingereichten Antrag des Beamten statt.

Der freigestellte Ermittler, der sich nie in der Funktion eines Jägers gesehen, sondern stets als peniblen Rekonstrukteur eines Sachverhalts begriffen hat, stellt sein Telefon ab, schaltet das Handy aus, zieht das Kabel des Routers aus der Steckdose und setzt sich an den seit seinem Studienabschlussjahr nicht mehr genutzten Sekretär, Erbstück seiner Mutter, in dessen einzigem Schubfach er die Kopie der Akte des Verdächtigen verschließt.

Bei einer ersten Durchsicht der Hinterlassenschaft orientiert er sich möglichst an der Abfolge des Dargestellten während der wochenlangen Verhöre, die bei ihm mit fortschreitender Dauer den Eindruck einer ununterbrochenen Unterhaltung erzeugt haben, deren Richtung er kaum noch bestimmt hat und deren Inhalt ihm von Dr. Gödeler mehr und mehr diktiert worden ist. Mangelndes Verständnis von und Zweifel an zentralen Punkten der Schilderung ignoriert er anfangs und versucht vor allem nachzuvollziehen, wer der Flüchtige gewesen sei.

Indem er schließlich weite Teile des Materials wörtlich übernimmt, ab und an eine nicht dokumentierte, zeitliche Lücke aus dem Gedächtnis oder, wenn möglich, anhand der Akte ergänzt, hie und da etwas hinzufügt, das ihm plausibel oder notwendig erscheint, sich so ohne Mühe den Blick des Mathematikers zu eigen macht, beginnt der junge Staatsanwalt, den entstehenden Text in immer neuen Anläufen zu arrangieren, um die finale Fassung – wenig Nahrung, kaum Schlaf – wieder und wieder zu lesen.

Manches muss dem Mathematiker im Verlauf der Untersuchungshaft und des Verhörs von seinem Anwalt hinterbracht worden sein. Manches mag spekulativ oder frei fabuliert sein. Dennoch ergibt sich ein Bild.

Induktionsschritt (1)

Am 22. Dezember, einen Tag vor Beginn der Weihnachtsferien, betrete ich den Seminarraum eines Instituts, das auf die Vorbereitung zum mündlichen wie schriftlichen Mathematikabitur spezialisiert ist und in dem ich seit über zwanzig Jahren als Nachhilfelehrer angestellt bin. Gelegen unterm Dach, ist es der größte und hellste der drei Unterrichtsräume meines Arbeitsplatzes in der Kanalstraße am Charlottenplatz. Ein schmales Fachwerkhaus mit aufgelassenem Dachstuhl, das dem Bohnenviertel zugerechnet wird.

Das Licht steht in den Scheiben der Zahnarztpraxis vis-à-vis und zeichnet einen Schattenwurf des flüchtig abgebeizten Tragwerks neben die Silhouette der neuen Regenrinne: verzinktes Stahlblech, weiß vom Frost, als grob schraffierter Haken auf der mit kreidestaubgewalkten Schwammresten nachlässig gewischten Tafel aus schieferblendeschwarz lackiertem Holz.

Soeben hat die Leitung, Herr und Frau Diplom-Mathematiker, zum Umtrunk geladen – man werde sich, bevorstehende Silberhochzeit, eine Auszeit gönnen. Sabbatical, ein halbes Jahr. »Sie, mein lieber Martin, halten ja hier im Haus die Fahne hoch.«

Obwohl ich mich beeile, das Glas Champagner, mit dem am Schluss der albernen Zusammenkunft angestoßen wird, in einem Zug zu leeren, komme ich zehn Minuten zu spät in den Unterricht.

Ebenso wie kürzlich, als ich das Plakat an dem Betonpfeiler entdeckt habe, der den Durchgang zur Kanalstraße markiert.

Die schräg in den nie geölten Angeln hängende Tür fällt mit einem Schlag ins Schloss. Ich stütze mich am vorspringenden Sturz über dem Rahmen ab. Nicht anders als gestern würdigen mich die Schüler, zwei Jungen, ein Mädchen, keines Blicks. Meine Verspätung nutzend, hat sich der Rest der Klasse offenkundig vorm Haus versammelt, um ungestört zu rauchen.

Die drei, die meine Frage: »Die andern?« schweigend übergehen, lassen keinen Moment ab von der Beschäftigung an jenem Teil der Tafel, der vom zurückgeworfnen Licht der Scheibenfront der Praxis noch nicht erreicht worden ist.

Bald nach dem Auftauchen der drei Mitte November – oft melden sich Schüler spät zu den Kursen an –, muss ich mich bei Gelegenheit nach den Gründen ihrer Teilnahme erkundigt haben. Zu ungewöhnlich kamen mir die drei Jugendlichen vor, für die das Amt die Kosten klaglos übernimmt.

»Wir wiederholen den Stoff.«

Zacharias’ Blick zu Juno, zu Lurek, eine Spur der Pose, die ihm damals schon eigen war. Juno, Lurek: hoben die Achseln und nickten nachdrücklich.

Zacharias. Ein Name, der mit hartem Z und hartem K und ohne S gesprochen wird, ein Junge aus Herat in Afghanistan, gut ein Jahr älter als seine Mitschüler. Jedem, der ihn fragt, gibt er von seiner Flucht in andrer Weise Auskunft. Unnahbar, dunkel. Nie ohne Juno und Lurek, der sich im Hintergrund hält.

Lurek. Speichelgesättigte Stimme, die ausschließlich Konsonanten kennt und die mir Übelkeit bereitet. Hätte jemand behauptet, der Junge wohne auf der Jugendfarm, dem Spielplatz an der Etzelstraße in einem der dürftigen Holzhäuser oder gar in einem Erdloch, hätte für mich kein Grund bestanden, daran zu zweifeln.

Lurek, sprachloser Schatten. Parterre an der Hohenheimer Straße, nur wenige Meter von der vielbefahrenen Fahrbahn entfernt: anderthalb Zimmer, Küche, bei seiner hochbetagten, stocktauben Großmutter.

Juno. Das Mädchen aus dem City-Hochhaus, schmuckloses Gebäude, kaum fünf Minuten Fußweg. Selten ein Frühstück. Bis zum frühen Nachmittag oft nur zwei Tassen Kaffee. Manchmal ein Milky Way. Oder ein Snickers.

Trotz ihrer Unverfrorenheit, trotz der fleckigen Leggins aus dem dünnen, hellen Kunststoff, der Gesäß und Schenkel wie eine eigens gefertigte Haut nachbildet, Kleidungsstück, das ich zu übersehen versuche, habe ich das Mädchen vor zwei Stunden, als es wie zufällig an dem chinesischen Restaurant auf der Charlottenstraße vorbeigeschlendert ist, an den Tisch gebeten, wo ich seit Jahren vor Unterrichtsbeginn zu Mittag esse. Ihr Appetit. Ihre wortlose Gier. Siebzehn Jahre sei sie alt. Körper einer Vierzehn-, höchstens Fünfzehnjährigen. Einsilbige Antworten. Auf meine selten gestellten Fragen. Flecken an beiden Oberarmen. Dunkel. Verschiedene Farben, changierende Schattierungen. Nach deren Herkunft mich zu erkundigen ich mir untersage. Kein Dank. Ihre oft akkurate Ausdrucksweise während des Unterrichts. Gewählte Formulierungen. Auch hier. Ihr häufig verblüffendes Wissen.

Vergessene Empfindung: ihre Schönheit. Verlorene Anmutung: mein Mitgefühl.

Schüler, wie ich sie in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren nie unterrichtet habe. Geben sich einen Tag vor den Weihnachtsferien einem Spiel hin, das ich gestern das erste Mal bemerkt habe. Das mich derart verblüfft hat, dass ich der Beobachtung nicht habe trauen wollen – Zacharias, der sich beeilt hat, die Tafel abzuwischen.

Aufgewachsen, so die Auskunft des Anmeldebogens, in einem Vorort Teherans, nennt er – nur einen Tag nach der Irritation, just im Moment, als ich den Seminarraum betrete – neuerlich die Summenformel einer nicht gewöhnlichen geometrischen Reihe, diktiert einen Satz der Kombinatorik.

Lurek kramt einen Kreiderest aus dem Kasten unter der Tafel hervor, schreibt, ohne abzusetzen, mit ungelenken Fingern und kreischendem Nagel in der ihm eigenen Bedachtsamkeit den Beweis an die Tafel.

Hin und wieder dreht er sich zu Juno um, die bestätigend nickt oder das Gesicht missbilligend verzieht.

Dann wenden sich die drei wie auf ein Wort mir zu.

Ich überfliege die vollständige Induktion über die Menge der natürlichen Zahlen N. Keine Herausforderung für einen Mathematiker. Für Schüler, die Nachhilfe benötigen, nicht zu bewältigen. Die übrigen Schülerinnen des Seminars, ohne Interesse am Stoff und dumm wie Pappelsamen, rauchen oder schäkern auf dem Platz vor der Eingangstür mit dem einzigen Jungen des Kurses, dem einzigen außer Lurek und Zacharias. Auch dieser Junge dort unten auf der Kanalstraße ist kaum klüger als eine Scheibe Toast.

Zacharias betrachtet mich, einen Käfer, der unters Mikroskop geschoben wird.

»Sie waren mal Mathematiker. An Universitäten. In Hamburg und Berlin. Wir haben das im Internet über Sie gelesen.«

Die Spur des Schokoladenriegels in Junos rechtem Mundwinkel, als sie mit Nachdruck nickt.

Lurek, der seinen unförmigen Kopf ebenfalls auf und ab bewegt, ohne Zähne wie Lippen vorerst voneinander lösen zu können, während Zacharias mit leisem Triumph hinzufügt: »Vollständige Induktion ist ein Beweisverfahren, das nicht alle Mathematiker als gültig anerkennen.«

Bei dieser Feststellung klemmt sich Juno eine aus Kippenresten selbstgedrehte Zigarette hinter ihr linkes Ohr.

Mein Blick, bei dem ich mich beschämt ertappe: roséfarbene Leggins, die Laufmasche am Knie, auf beiden Oberschenkeln jeweils ein Kaffeefleck.

Indem der Schatten der verzinkten Stahlblechregenrinne wie ein Finger Gottes über die Zeilen von Lureks Beweis rutscht, beglaubigt er das Spiel der drei, während mir ein Schauer den Rücken herunterrinnt und ich mich fragen höre: »Wessen Idee?«

»Die hatten im Iran schon früher Folgen und Reihen, aber keine Beweise.«

Juno schnipst die Zigarette hinter ihrem Ohr hervor. Hilflos hebt Lurek die Schultern und senkt sie. Singt mit speichelsatter Stimme: »Ch, Hrr Gdlr.«

Eine Reihung von Lauten, die erwarten lässt, dass er sich übergeben wird.

Während Juno das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagert, ihr Becken vorschiebt, umfasst ihre verfärbte, obere Zahnreihe einen Teil der Unterlippe.

»Wir möchten mehr über Mathe erfahren, über Mathematik.«

»Mehr als in dem Kurs hier.« Zacharias blickt mich aus dunklen Augen an.

Ich trete vor an die Tafel, als könnte der Beweis sich als gefälscht entpuppen, obwohl ich mit einem Blick die Schönheit des Arguments erkenne, die Klarheit der Abfolge umfassen kann. Kein Zögern, als ich frage: »Hättet ihr Interesse, nach Weihnachten hierher zu kommen? In den Ferien?«

»Nur wir drei?« Zacharias’ verwunschener Gesichtsausdruck.

»Ein Erweiterungskurs. Ein Sonderkurs. Wenn ihr wollt.«

Erneut der Tanz von Junos Becken, während Lurek, vergeblich wie meist, zu lächeln versucht und sich der Schatten des Regenrinnenfingers in das dunklere Abteil des Seminarraums verliert.

»Wir werden kommen.« Zacharias’ Augen glänzen: schwarz, geschliffne Kohle.

Zeichen, denke ich, Wunder – nach fünfundzwanzig fest verschlossenen Jahren ohne Ausweg.

Ich trete ans Fenster, sehe, wie sich eine großgewachsene, ausnehmend schlanke Frau über den teils gefrorenen Vorplatz auf eine der schäkernden Schülerinnen zubewegt, zielgenau diejenige auswählt, die gewöhnlich den Ton angibt, sie am Oberarm berührt und ihr eine Frage stellt. Beim Anblick der sich leicht Vorbeugenden, eine Geste, als wollte sie die Dringlichkeit ihrer Erkundigung so unterstreichen, meine ich, die Frau, die nicht mehr jung ist, jedoch seltsam jugendlich wirkt, wiederzuerkennen, ohne dass mir einfiele, woher.

»Weihnachten ist sowieso so was von scheiße.«

Juno schiebt sich ihre Zigarette hinter das rechte Ohr.

Abschätzig mustert das Mädchen auf dem Vorplatz die fragende Frau, während sie eine offenbar abschlägige Antwort gibt, die sie mit einem Kopfschütteln und dem Wedeln der rechten Hand samt glimmendem Zigarettenrest nachdrücklich unterstreicht.

Die sichtlich enttäuschte Frau entfernt sich vorsichtig übers ungewisse Pflaster der Kanalstraße, durchs Puppenstuben gleiche Bohnenviertel. Schlittert Richtung Stadtbahneingang der Station Charlottenplatz, während die Mädchen auf dem Vorplatz im Rücken der Frau kichern und Lurek angestrengt murmelt: »Ch-ch, ch-ch, ch-ch …«

Seit ungefähr zwei Jahrzehnten, vielleicht etliche Jahre länger, mir ist die Zeit perdu, lebe ich in Stuttgart. Im Quartier zwischen Bopser, Anhöhe mit Teehaus, der Name des Parks will mir nie einfallen, Etzel- und Alexanderstraße, dem Charlottenplatz. Weder verlasse ich die Stadt noch wage ich mich weit über die Straßen und Plätze meiner Umgebung hinaus. Selten ein Spaziergang im Wald gen Degerloch, seltener ein Besuch im Mineralbad Leuze.

Für mein Viertel wie auch für das Weltgeschehen bringe ich kein Interesse auf. Mir ist gleichgültig, was in den Ländern der Erde geschieht und ob Nationen und Völker einander abschlachten. Niemand scheint einen Anlass zu finden, mir nach dem Leben zu trachten. Manchmal bedauere ich das.

Die ersten Tage nach meiner Ankunft in Stuttgart verbringe ich im Haus meiner Nenntante in Möhringen, ehe ich eine winzige Wohnung im Souterrain beziehe.

Gelegen in einem Hof, den als Hinterhof zu bezeichnen unzutreffend wäre, gelingt es mir, die preislich günstige Wohnung mühelos zu mieten, indem ich auf eine Anzeige in einem Möhringer Mitteilungsblatt ohne Verzug antworte. Die Wohnung, die einem Kardiologen gehört, der nach Singapur verzieht und von dem ich danach nicht wieder höre, liegt unweit der Stadtbahnstationen Dobelstraße und Bopser.

Ich verweise auf mein ausreichend ausgestattetes Konto, um dessen Ein- und Abgänge ich mich nie gekümmert habe, leiste die Unterschrift, bekomme Mietvertrag und Schlüssel ausgehändigt, erteile meiner Bank eine Einzugsermächtigung und beziehe die Wohnung noch am selben Tag. Ein Zimmer, eine kleine Küche, ausladendes Bad. Weit genug von der Hohenheimer Straße zwischen Schick- und Wächterstraße entfernt, um vormittags, unbelästigt vom Verkehrslärm, auszuschlafen. Ich schlafe gern und viel.

In den Träumen begegne ich meiner Tochter, meiner Frau, meiner vormaligen Geliebten, der ich zur Flucht verholfen habe. Fortan wird sie unauffindbar bleiben. In den Träumen bin ich mit leichter Hand fähig fortzusetzen, was ich in den Jahren zuvor mühelos beherrscht habe. Ich verstehe die Struktur der Zahlen, ich schmiege mich der Sprache der Mathematik an, formuliere beiläufig die Beweise, die mir früher Lebensinhalt waren. Sobald ich am späten Mittag erwache, finde ich mich in der zu jeder Tageszeit dunklen, vom fern wirkenden Verkehrsgeräusch verlässlich grundierten Höhle wieder. Sehe die Reihe der Buchrücken in hohen Regalen an der Wand. Könnte jeden Titel nennen, ohne aus der Ordnung zu geraten. Anker in der Welt. Trost leerer Stunden bis weit nach Mitternacht.

Später richte ich mich Wochentag für Wochentag, oft auch an Wochenenden, widerwillig auf, hocke mich auf die Kante meines noch neuen Betts, einer wohlig warmen Gruft, ehe ich mich erhebe, zur Küche schlurfe, die am Abend bereitete Kaffeemaschine mit dem Besatz aus Kalk und der von übergelaufener Flüssigkeit rührenden, schwarzbraunen Maserung behutsam in Betrieb nehme.

Ohne im Ablauf innezuhalten, mich der Bequemlichkeit, Trägheit zu ergeben, bevor ich die Dusche erreicht habe, gelingt es mir, mich zu waschen. Im großen Bad hallt jeder meiner Schritte.

In der mich bedrängenden Gewissheit, dass meine Existenz zerbrechlicher kaum sein kann, vermeide ich den Blick zum Spiegel. Manchmal meine ich zu merken, wie die Schüler, vor allem die Schülerinnen, auf Abstand zu mir achten, frage mich, ob mangelnde Mundhygiene Grund für die Vorsicht sei.

Die Kraft, die es kostet, nicht der Verlockung zu erliegen, alle Körperpflege einzustellen. Die Überwindung, die ich aufbringen muss, um nicht erneut auf einer Matratze am Boden zu schlafen. Die Mühe, die es bereitet, täglich Seife und Shampoo zu benutzen. Nachts bin ich mir sicher, unter den Mühlzahn geraten zu sein, das stete Mahlen des Steins am offenen Herzen.

Kreatürliche Nähe. Nackte Erde.

Der Wunsch, meine Tochter wäre wieder ein kleines Kind und schliefe in ihrem Kinderbett mit mir in einem Raum. Ein Lebewesen, das sparsam Geräusche verursacht. Pumpendes Herz, Blut in den engen Adern.

Mehrere Male gebe ich dem Bedürfnis nach, mich auf der Matratze ins Laken zu entleeren. Die Wärme, die sich in den ersten Momenten einstellt und die ich deutlicher empfinde als Hunger und Durst, ruft in mir eine schöne Behaglichkeit hervor. Ich bleibe so lange im klammen Bettzeug liegen, wie die Empfindung mir Heim ist und Haus.

Bald gewinnt der Ekel überhand.

Rutsche von der Matratze aufs durchgetretene Laminat. Bewege mich Richtung Bad. Weil ich die Stelle am Nachhilfeinstitut angetreten habe, untersage ich es mir, nach Exkrementen oder Urin zu riechen. Zerre das Laken von der Bettstatt. Stopfe es in die Plastiktüte. Im Institut findet sich eine Waschmaschine, die ich benutzen darf.

Erst nach Wochen: Entsorgung der Matratze. Neues Bett.

Mein Konto, das mir von meiner Frau zum bedeutenden Teil genommen wird. Das dennoch weiterhin eine gewisse Summe ausweist, dazu die Einkünfte aus meiner Tätigkeit. Sie, meine Frau, habe die Maßnahme im Namen unserer Tochter ergriffen. Das möge ich bitte verstehen.

Ich möchte nichts verstehen. Keine Maßnahme. Keine Bitte, nichts.

Nach der misslungenen Reise mit meiner Tochter, einzig verbliebner Kompass – einer Reise, die keinen Eingang in meine Träume findet –, bin ich nach Stuttgart gezogen.

Ort der Einkehr. Leerstelle.

»Papa, ich möchte lieber zu Mama zurück.«

Die Worte meiner Tochter. Das Urteil des Familienrichters. Meine Anwältin, der ich nicht antworte. Die Halbierung des Kontos. Der Geruch nach Kot.

Flucht nach Möhringen, zur Nenntante. Die stets allein geblieben ist. Die mir, als Patin, hätte zur Seite gestellt sein sollen. Die ich stets ignoriert habe. Die mich stets ignoriert hat. Bis ich vor ihrer Tür stehe.

Ich arbeite an den Samstagen, häufig an Sonn- und Feiertagen. Finde die Kraft, das Fernsehgerät, Geschenk der Nenntante aus Möhringen, wieder abzuschaffen, indem ich es nachts an der Haltestelle Bopser abstelle und mich rasch entferne. In der darauf folgenden Nacht ereilt mich ein Traum, in dem mich meine frühere Geliebte wegen meiner Feigheit verspottet, derweil sie, hoch aufgerichtet, einem fremden Himmel entgegentreibt. Beim Aufwachen die Erinnerung, wie ich ihr leeres Zimmer inspiziere, im Motel, knapp hundert Kilometer vor Brüssel. Schlagartig die Erkenntnis: Sie ist gegangen. Sie ist fort.

Auch in späteren Jahren besitze ich weder PC noch Laptop, nie ein Handy. Kein Internet. Kein W-Lan. Ein Telefon mit Wählscheibe. Die wenigen Straßen und Plätze. Kleine Kreise.

Versuche, mich erneut meiner in Hamburg und Berlin begonnenen Habilitation zu widmen, sind vergeblich. Bögen mit Ansätzen, Notizen, die auf der leeren Schreibtischplatte und in jedem Winkel ungeordnet liegen blieben, bilden das Sediment meines Zimmers. Fremdheit der Ziffern und Zeichen. Staub, der sich darauf absetzt. Wissen, das war einmal ich.

Abende, Nächte mit neu entdeckten Büchern. Selten ein Blick für die dennoch in Ehren gehaltene Arbeit. Thema: ein Spezialbereich der Differentialgeometrie. Vage Nähe zur Riemannschen Vermutung. Nach wie vor die Empfindung, mit einer Reliquie das staubige Zimmer zu teilen.

Als ich vor Jahrzehnten in Rom auf einer Tagung bin, gemeinsam mit der späteren Geliebten, entdecke ich beim Schlendern eine Kapelle, angefüllt mit menschlichem Gebein. Die Kronleuchter – Knochen. Der Zierrat an den Wänden – Knochen. Bewacht vom leeren Blick lachender Schädel, deren verlorene Augen nicht von mir lassen wollen.

Träume von der im Glutball einer Explosion verlöschenden Frau. Kanne Kaffee am Morgen. Ein oder zwei Brote. Käse, Wurst, Marmelade geringer Qualität. Ausreichend oft Salat oder einen Früchtemix am chinesischen Büffet. Saft aus der Ernte eigenen Obsts, den mir die Tante in unregelmäßigen Abständen und ohne eine Nachricht vor die Haustür stellt.

Sie sieht, dass die Beutel verschwinden. Sie weiß mich vorhanden.

Die zwei, oft genug drei Stunden in dem Restaurant mit dem vertrauten Interieur und dem preiswerten Essen. Starren auf goldlackierte Kunststofflöwen. Lesen im nächsten und wieder nächsten Buch. Ausschließlich schöne Literatur, belle et triste. Indem ich in die erdachten Geschichten sinke, verweigere ich mich jedem Sachverhalt, der auf die Wirklichkeit hindeutet. Ich lebe im Text.

Froh, dass der schmale Durchgang von der vielbefahrenen Straße zur Wohnung im Souterrain ebenso wenig renoviert wird wie die Hälfte des Hauses, die dem nach Singapur ausgewanderten Kardiologen wohl weiterhin gehört – seit Jahren wohne ich dort unbehelligt –, laufe ich auf dem Weg zum Institut Tag für Tag die Stitzenburgstraße entlang, biege beim Bäcker in die Wächterstraße, passiere die Fahrbahn und flaniere auf dem Bürgersteig linker Hand die Danneckerstraße zur Arbeitsstelle hinunter, ohne den Blick des Flaneurs, ohne überhaupt einen Blick: für beispielsweise den Taro-Platz und dessen Schautafeln zum Gedenken an eine während des spanischen Bürgerkriegs getötete Fotografin.

Schatten eines Mathematikers – ich bin ein glücklicher Mann.

Am 27. Dezember duckt sich die Stadt Stuttgart unter einem unfreundlichen Frost. Nach Glühwein riecht Bert Schauerleut, als er mich, den »Herrn Doktor«, steif wie zumeist begrüßt.

»Sind schon oben.«

Der Hauswart, einen von zwei Tagen schläft er auf einer Couch im Keller, hat die drei Schüler eingelassen, damit sie in der für Stuttgart erstaunlichen Kälte nicht auf dem Vorplatz hätten ausharren müssen, bis ich, ihr verspäteter Lehrer, am dritten Feiertag eingetroffen wäre. Zwei Tage haben wir bereits unter dem aufgelassenen Dach mit den abgebeizten Balken im Institut verbracht.

Trotz lausiger Temperatur habe ich minutenlang am vorletzten Pfeiler vorm Durchgang zur Kanalstraße verharrt, weil mir das frisch am Beton verleimte Plakat in den Blick geraten ist.

Mit dreckigen Turnschuhen über rote Teppiche.

Ich lese die Worte, die, von Hand hastig aufs Papier gepinselt, ineinander übergehen. Lese sie mehrfach, obwohl ich all die Jahre Anschlägen an Pfeilern oder Reklame in der Stadt keine Beachtung geschenkt habe. Lese, bis ich, kopfschüttelnd und vor Kälte klamm, einbiege in die Gasse zum vertrauten Institut.

Das Schönste, das wir erleben können, ist das Geheimnisvolle.

So lautete die Inschrift vor knapp einer Woche. So verkündet es auch das Plakat, das ich auf meinem Heimweg entdecken werde, nur wenige Meter vom sorgsam renovierten Fachwerkhaus entfernt. Quatsch, werde ich denken und einen schmutzigen Schneeball nach dem Geheimnis werfen.

Ich bedanke mich bei Bert Schauerleut und schenke ihm, verwundert über mein eigenes Tun, ein Marzipanbrot der Nenntante, das im gestrig hinterlassnen Beutel neben der eingekochten Marmelade, Apfelsinen, Clementinen und Zimtstangen gelegen hat. Niederegger Marzipan. Achtundachtzig Jahre ist sie, die Nenntante, inzwischen alt. Sie weiß mich vorhanden.

Bert Schauerleut hebt verlegen, doch sichtlich geschmeichelt die Achseln. Froh und für mich ungewohnt lächle ich dem Hauswart viel zu lange zu.

Das Knarren der Treppe, Schritt auf den Stufen, der Schlag der Tür ins Schloss. Mein Räuspern. Neuerlich das mathematische Spiel, Satz der Kombinatorik, eine weitere Aussage aus dem Reich der Zahlentheorie.

Sie rechnen. Ich warte. Es hat sich gelohnt.

Nach einiger Zeit geht die Spülung im Bad, das sich auf dem Gang befindet, der Toilettendeckel klappt hinter der Tür zur Teeküche – die leise quietscht, als sie mit einem Ruck geöffnet wird. Vier Schritte, und die Frau vom Vorplatz betritt den Seminarraum unterm Dach. Ohne Lurek, Juno oder Zacharias zu beachten, sagt sie, und es klingt, als spräche ein koketter Teenager: »Guten Tag, Martin – du erinnerst dich noch an mich?«

Weil Bert Schauerleut vergessen hat, die schadhafte Birne der Deckenlampe zu ersetzen, steht Susanne Melforsch, schlanke Erscheinung, im Schatten des Gebälks. Ein Schatten, der ihr Gesicht als dunklen Fleck erscheinen lässt: jünger als ich, ich weiß es, natürlich weiß ich es.

Sichtlich nervös zermalmt sie das Kaugummi zwischen Ober- und Unterkiefer. Als sie aus dem Dämmer zögernd auf mich zukommt, wirkt sie im Licht, das von den Scheiben der Zahnarztpraxis vis-à-vis reich zurückgeworfen wird, noch um Jahre jünger.

Die knapp über den Firsten des Bohnenviertels hockende Wintersonne berührt ihre Hände, da sie nach meiner Rechten greift, um mich mit trockenem Druck, der nicht mehr enden will, im Seminarraum zu begrüßen wie einen alten Freund.

Ich bin kein alter Freund. Niemandes Freund bin ich.

Muss mich zwingen, nicht schroff zu reagieren, ihr die Hand nicht zu entziehen.

»Du bist doch … Doktor … Gödeler …?«

Der Klang der Silben erinnert an das Scharren von Lureks spröden Nägeln auf der Tafel. Bedachtsam nimmt dort der Beweis Zeile für Zeile Gestalt an.

Melodie der wenigen Worte, lang vergangene Zeit.

»Entschuldigen Sie.«

Ich entwinde ihr meine Finger, weiche einen Schritt zurück, um ihr zu bedeuten, dass mir weder an ihr noch ihrem Händedruck gelegen sein darf.

»Sie sind hier falsch. Bis nach Neujahr bleibt das Institut geschlossen. Wir arbeiten nicht öffentlich. Sie sind hier heute falsch.«

Während ich die rechte wie die linke Hand in die Taschen des Wintermantels gleiten lasse, weiß ich wieder, mattes Klingen einer Saite, wie ich nackt neben ihr liege. Ich meine, ihre Haut zu spüren, die sich nicht glatt, sondern eigenartig stumpf anfühlt.

Mir läuft, Tier im Nacken, der Schauder die Wirbel ab.

»Ich muss Sie bitten, zu gehen.«

Mit einer Gewalt, die ich hinter der Stirn zu spüren meine, will ich mich von ihr abwenden, als sich ihre Augen mit einem Mal frech aufhellen.

Derweil sie an die Tafel tritt, um mit Schwamm und Kreide in den Beweis zu schneiden, obwohl ihr niemand die Erlaubnis gibt, wird mir die Zunge zu einem Stück Holz.

»Die Induktionsverankerung. Gilt nicht für n gleich null. Und nicht für n gleich eins. Aber für n gleich zwei.«

Das kühne Licht in ihrem Blick. Der Ritt der gelben Kreide über den dunklen Grund.

Lurek, der die Frau bisher nicht beachtet hat, ebenso wenig wie Zacharias oder Juno, hält unwillkürlich inne.

Dreht sich der Person zu, die unverfroren wischt und schreibt, keine Achtung für sein Werk zeigt, und teilt dabei den Kreiderest, kaum vorhandene Splitter, in feinere Späne, die er in den Kasten unter der Tafel schneien lässt.

Indem Juno den Steg ihrer Leggins zwischen die Gesäßbacken zerrt, strafft sich der Stoff im Schritt. Zacharias ballt, links wie rechts, die Fäuste.

»Es tut mir leid. Sie müssen nach Neujahr wiederkommen.«

Ich fasse die Frau am Oberarm. Ich ziehe sie weg von der Tafel.

Ich dränge Susanne Melforsch aus der schief in der Angel hängenden Tür des überheizten Dachzimmers, Seminarraum Nr. 1, Heimstatt des Dr. Martin Gödeler, gymnasiales Rechnen, Analysis, Refugium, seit er Frau und Tochter, Mathematik, deren Schönheit, Berlin, Leben, Geliebte vor fast drei Jahrzehnten in einer anderen Wirklichkeit zurückgelassen hat.

»Gehen Sie«, sage ich.

Ich schließe die schwergängige Tür, deren böses Schnarren wie ein Einwand klingt, drücke sie mit Macht ins Schloss.

Noch hält sich das Bild der Frau im Rahmen, deren gebeugter Nacken verloren und traurig wirkt.

Widerwillig habe ich Susanne Melforsch die Teilnahme an meinem Ferienkurs gestattet, obwohl ich nicht zu sagen weiß, wieso. Schauerleuts hilflose Bitte, nachdem sie fast zwei Stunden vorm Haus in der Kanalstraße in der entseelten Kälte Stuttgarts ausgeharrt hat.

Erneute Begrüßung. Wiederholter Händedruck. Die Beschaffenheit ihrer Haut haftet mir wie Kreidestaub an den Fingerkuppen.

Ihre bloße Gegenwart, Ticken des Metronoms im Raum, insistiert mit stetem Schlag: Woher bist du gekommen, wohin bist du geraten, wer wolltest du einst sein.

Juno, Zacharias, Lurek schenken ihr keine Beachtung. Scheinen jeden Kontakt zu meiden, weichen ihr aus. Beantworten nicht eine ihrer Fragen.

Wenn sie aus ihrer manchmal verblüffenden Kenntnis der Zahlentheorie schöpft, indem sie mit einer Bemerkung auf einen Fehler hinweist, trifft sie für die Länge eines Lidschlags Zacharias’ zorniger Blick.

Ihn und sie meine ich an einem Abend im Eingang des kleinen Parks neben dem meist verlassenen Taxistand nah der Ecke Etzelstraße gesehen zu haben, wie er ihr, Bittsteller, demütig geneigter Kopf, die Rose eines Verkäufers – Sri Lanka, Bangladesh – überreichen möchte.

Sie schlägt ihm die Blume aus der Hand. Zertritt den Kopf der Rose auf dem Pflaster.

Nach Neujahr werde ich krank.

Krankheit. Erinnerung an die Kindheit im nach Lavendel duftenden, eben noch kühlen, nun wärmflaschenwarmen Bett.

Meine Mutter.

Als Chemikerin bei Schering nimmt sie sich einen Tag frei, um mich, ihren Lieblingssohn, zu pflegen. Ihm, der die letzte Klasse einer Grundschule in Berlin-Schöneberg besucht, das Periodische System der chemischen Elemente auf der von ihm geliebten Schautafel an der Wand überm Bett zum wiederholten Mal zu erläutern. Atomgewicht. Die Zahl der Neutronen im Kern. Anzahl der Protonen sowie der Elektronen. Systematik der Ordnungszahlen. Hauptgruppen: Alkali- und Erdalkalimetalle – bis zu den Chalkogenen, Halogenen und den Edelgasen.

Sie sitzt neben mir auf der Bettkante, füttert mich, indem sie mir heiße Hühnersuppe einflößt. Während wir das Spiel »Reaktionsgleichung und deren Lösung« spielen, freue ich mich insgeheim, dass mein Bruder mit der Klasse am Abend zum Kinderkonzert in die Philharmonie gehen muss und ich mir von unserem Vater, sobald er aus dem Institut käme, die Polynomdivision erklären lassen kann, ohne von meinem lästig krähenden Bruder fortwährend gestört zu sein.

Sie sind früh gestorben. Unsinniger Unfall. Mein Bruder hat sich bald darauf das Leben genommen, indem er von einer Brücke gesprungen ist. Den Beginn meiner Laufbahn haben alle drei noch erlebt. Das sorgfältig renovierte Haus in der Kanalstraße, Bohnenviertel, Charlottenplatz, glücklicherweise nicht mehr.

Während ich in meinem Stuttgarter Bett liege, das ich in all den Jahren tagsüber mit Bedacht gemieden habe, und dem Gaukel des Fiebers, den Bildern der Kindheit ohnmächtig und zufrieden folge, überhöre ich zunächst das zaghafte Pochen an der Wohnungstür, die zugleich als Haustür hinaus auf den Durchgang zu den Höfen dient.

Kein Klingelknopf, zerbrochener Draht – inmitten des steten Summens der Motoren, dem Gesang der Hohenheimer Straße zwischen Olgaeck und Bopser: das mehrmalige Geräusch, dieses behutsame Klopfen.

Nur angelehnt, möchte ich rufen, treten Sie ein. Notdienst der Apotheke, den ich mithilfe meines nahezu nie genutzten Telefons, Bakelit, Wählscheibe, vorhin angerufen habe: mit der dringenden Bitte um ein Grippemittel, fiebersenkendes Medikament. Ist nur angelehnt, möchte ich, kraftlos, wispern, als sich das Türblatt Stück um Stück in den von meinem Bett aus gut einsehbaren Korridor schiebt. Ahnung eines Flurs, von dem die kleine Küche, das große Bad abgehen: ein gefliester Raum, in dem die Schritte im Echo überdauern.

»Hallo«, sagt Juno.

Und Lurek sagt: »Hll.«

Bettdecke am Kinn, im Rücken die vom Fieberschweiß vielfach durchsottenen Kissen, richte ich mich auf.

»Warum ist nicht abgeschlossen?«

Junos Leggins schimmern im schwachen Flurlicht hellblau oder hellgrün, türkis?

»Apotheke … Lieferung …« Ich huste. Niese. Muss mich schnäuzen.

»Sie haben nicht so häufig hier Besuch?«

Juno schiebt die Tür zurück in den Rahmen, ohne das Schloss einschnappen zu lassen, tastet sich Schritt für Schritt durch die Diele und betritt mein Zimmer.

Bett, Bücherregale, der Staub, die nie geputzten Fenster, die mit dem Erdboden und dem verwilderten Garten zum nächsten Hof eben abschließen. Lurek, im Schatten ihrer Schulterblätter, widerborstige Flügel, wiederholt: »Hll, Hrr Gdlr.«

Türkis. Opaker Stoff.

»Kalt draußen, oder?«

Während ich mir ein weiteres Kissen, Spuren von Schleim und Spucke am Bezug, eilig in den Rücken schiebe, setze ich mich mühsam in der Lakenlandschaft auf, stopfe die zerknüllten Papiertaschentücher in die Lücke zwischen Bett und Wand, glätte mein fettiges Haar mit den Händen, versuche meine Pyjamajacke hastig zu richten.

»Ja. Ziemlich kalt.«

Juno kaut mit den verfärbten Vorderzähnen auf ihrer Unterlippe herum, während ich spüre, wie ein nächster Schub des Fiebers von mir Besitz nimmt.

»Sie machen selten sauber, stimmt’s?«

Indem sie einen Spinnwebfaden von ihrer rechten Wange streicht, der sich von einem Regalbrett – Buchrücken, Lampenschirm – aufgrund der Bewegung im Zimmer gelöst haben muss, nuschelt Juno: »Kenn ich. Is’ bei uns genauso. Ich mach mal einen Tee.«

Ungefragt hebt Lurek den Bücherstapel vom Schreibtischstuhl und setzt sich an den seit Jahren nicht mehr genutzten Arbeitsplatz.

Ich schwitze.

Ich weiß, dass meine Bettwäsche unangenehm riecht.

Ich warte auf den Abdecker, nicht auf den Apotheker.

Ich will sagen: Lass das, Lurek. Weder bin ich zu einem Wort noch zu einer Regung fähig.

Juno lässt den Kessel in der Küche pfeifen, gießt Wasser auf Teebeutel, derweil Lurek den Staub andächtig von Notizen und Arbeitsblättern fegt, bis die Zeichen und Zahlen, die mathematische Landschaft im Licht der letzten Birne des Leuchters eines fernen Vormieters wieder sichtbar wird.

»Oh«, sagt Lurek leise.

Ein Vokal aus dem Mund des verkrümmt vor der Schreibtischplatte hockenden Jungen, ein Laut, an den ich mich Tage später als dunklen Ton erinnern werde.

Juno kommt mit dem Tee aus der Küche. Sie murmelt, während sie drei Tassen mit der dampfenden Flüssigkeit füllt: »Wir haben uns Sorgen gemacht. Sind Sie denn sehr krank?«

Lurek, ohne den Blick von den Formeln zu heben und sich umzudrehen: »Srgn.«

Vorsichtig setzt sich Juno zu mir auf die Bettkante. Reicht mir eine Teetasse.

Unwillkürlich weiche ich an die Wand zurück.

Nachdem sie mir den Schweiß aus der Stirn gestrichen hat, nimmt sie einen Schluck aus dem Pott, auf dem das Rentier den Schlitten durch Porzellanschnee zieht.

»Sie haben Fieber. Ziemlich hoch.«

Juno wechselt erneut in die Küche und kehrt mit einer Schüssel und einem Handtuch zurück. Sie tunkt das Tuch ins Wasser, weicht es ein, wringt es aus, legt es mir auf Stirn und Augen.

»Sie bleiben hier liegen. Und Lurek passt auf Sie auf.«

Das undeutliche Nicken des Jungen, der nicht von meinen Notizen lässt.

»Während ich für Sie einkaufe. Herr Gödeler, haben Sie Geld?«

Mit der freien Hand weise ich auf die Schatulle, die auf einem Bord neben dem Nachttisch steht. Flankiert von den Fotos meiner Tochter: Säugling, Kind mit einer Schultüte, stolze Klarinettistin, sämtlich Aufnahmen meiner Frau – ihr Triumph, sie mir noch geschickt zu haben.

»Sieht Ihnen ähnlich, Herr Gödeler. Die hat Ihr Gesicht.«

Juno klappt die Schatulle auf, entnimmt dem Bündel Papiergeld einen Zwanzig- und zwei Zehneuroscheine, schließt den intarsienverzierten Deckel des kleinen Kästchens. Der Mechanismus rastet ein. Sie sagt, indem sie sich mir zuwendet: »In einer halben oder dreiviertel Stunde bin ich wieder da.«

Während ich geschehen lasse, was das Mädchen mir verordnet, und Lurek ohne meine Erlaubnis die Blätter auf meinem Schreibtisch studiert – oder nur vorgibt, konzentriert darin zu lesen –, während ich ihn nicht hindere, sondern einnicke, hochschrecke, als Juno die Wohnung betritt, in jeder Hand eine Tüte, Edeka am Olgaeck, faltet sich die Welt zur Blüte aus blankem Papier.

Ich habe Tee verschüttet. Anis-Fenchel-Kümmel. Juno bringt Küchenvlies.

Sie sortiert den Einkauf in den Kühlschrank, legt Münzen neben der Schatulle aufs Bord, bringt eine weitere Schale Wasser und einen frischen Lappen.

Ihre Finger schweben über meine Wangen, als sie mir das Tuch sacht vom Gesicht hebt, gleiten, Flügelschlag des Vogels, über meine fieberheiße Haut.

Juno bezahlt den Apothekenboten mit dem Geld aus der Holzschatulle, reiht die Päckchen mit den Medikamenten auf den Nachttisch neben Otto Forster, Analysis I, der seit einigen Tagen dort liegt und in dem ich gelegentlich verschämt vor- und zurückblättere, wartet, bis der Bote den Motor des Mopeds auf dem Gehsteig vorm Haus anspringen lässt, setzt sich zu mir ans Bett.

Ohne die verschwitzte Wäsche, deren Geruch zu beachten, wischt sie mir mit dem kühlen Lappen den Schweiß von Stirn und Hals und Brust, hebt, ohne zu zögern, die Decke, wäscht Oberarme und Bauch, indem sie die Knöpfe meiner Pyjamajacke öffnet, fährt am Bund der fadenscheinigen Hose entlang, legt den Lappen in die Schüssel, schüttelt die Decke auf und breitet sie über mir aus.

»Wir müssen.«

Sie berührt Lurek an der Schulter.

»Sie trinken Ihren Tee. Und dürfen« – sie deutet auf Otto Forster