Das Schwedengrab - Meinrad Braun - E-Book

Das Schwedengrab E-Book

Meinrad Braun

0,0

Beschreibung

Im winterlichen Faschingstreiben des schwäbischen Städtchens Erbach entführen zwei Dämonen eine Frau, scheinbar im Scherz - tatsächlich aber verschwindet die junge Kurdin für immer. Sebastian Sailer, Psychiater mit einer Nase für Unheil, trifft am gleichen Tag in Erbach ein, um seine Kur in der Schlossbergklinik anzutreten. Die Begegnung mit einer alten Frau, die ihm wie eine Fastnachtshexe vorkommt und ihm heimlich einen menschlichen Zahn in die Hand gibt, lässt ihn nicht mehr los. Er begibt sich mit diesem Zahn auf eine Spurensuche, die ihn in die geheimnisvolle Schwedenhöhle führt - zurück in die Vergangenheit und schließlich buchstäblich an die Pforte der Hölle. Unaufdringlich schimmert feiner Humor durch die Zeilen, nur in leisen, sich steigernden Untertönen kündigt sich das Unheil in der scheinbar idyllischen Schwäbischen Alb an. Die Spannung wächst, spitzt sich zu - bis zu einem furiosen Höhepunkt, der durch ein schaurig-schönes Ereignis konterkariert wird. Der Autor legt einen rundum gekonnten Kriminalroman vor.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 425

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Meinrad Braun, geboren 1953, ist Psychotherapeut. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Mannheim. Er schrieb drei Kriminalromane mit dem Psychiater Sebastian Sailer als Titelfigur. 2006 erschien der Roman »Winterreise« und 2007 die Erzählung »Die künstliche Demoiselle« im Axel Dielmann Verlag Frankfurt.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

©2014 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-675-1

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons: Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

Für Heike

1

Das Mädchen trat ins Freie und schloss die schwere Tür hinter sich. Einen Augenblick blieb sie vor dem zwei Meter hohen, stabilen Drahtgeflecht stehen. Der Zaun war ganz neu und frisch verzinkt. Aber es krönten ihn keine Stacheldrahtrollen. Wenigstens das nicht, dachte sie.

Sie hob ihr Gesicht in die kalte Luft. Der fahle Wintertag legte sich wie ein feuchtes Tuch auf den Ausschnitt ungeschützter Haut, den das Kopftuch freiließ, das ihre Haare, die Stirn und den Hals bedeckte. Sie roch den Schnee. Die Wolken an der Kante der Berge hielten ihn bereit.

Sie ging los, verließ den Bannkreis des Zaungevierts, in dem die acht Wohncontainer standen. Sie setzte ihre Schritte fest auf die vom Frost harte Erde. Ihre Füße steckten in hochgeschnürten Stiefeln, sorgfältig eingefettet und geputzt, ihre Beine waren warm in den grauen wollenen Strümpfen, die Knie streiften beim Gehen den schweren schwarzen Rock, der ihr bis zu den Knöcheln reichte. Darüber trug sie den warmen Wollmantel mit hohem Kragen und das eng anliegende Kopftuch, das ihre schwarzen Haare verbarg.

Sie hatte sich gerüstet. Mit diesen Kleidern, mit der ganzen Entschlossenheit ihrer neunzehn Jahre. Viel mehr als das, was sie jetzt am Leib trug, besaß sie nicht, abgesehen von dem kleinen Koffer, der in der Blechhütte lag, in der sie jetzt wohnte. Was darin war, glich dem Notgepäck, das alle Flüchtlinge bei sich tragen. Fetische gegen die Einsamkeit, gegen die Angst. Fotos, Papiere, Briefe. Ein Stofftier war dabei, eine kleine gestreifte Katze.

Eine Rüstung gegen die Kälte. Nicht nur gegen den eisigen Wind, den sie auf ihrem Gesicht spürte, während sie mit langen, kräftigen Schritten dem Ort zustrebte. Eine schmale, dunkle Gestalt, die allein über den grauen Feldweg zwischen den gefrorenen Ackerschollen ging. Diese Rüstung half auch gegen eine andere Art von Kälte.

Die blaugrauen Wolken glitten von den Kanten der Berge herab, träge Luftwesen, die im Zwielicht schwammen, sich auflösen wollten, um den Schnee, den sie trugen, auszuschütten, hinunter auf die kalte, fremde Erde.

Sie sehnte sich nach diesem Schnee. Er deckte die Fremde zu, war ein Leintuch, unter dem die Welt einschlief. Er verwandelte alles, er erzählte ihr von zu Hause.

Als sie die ersten Häuser des Städtchens erreichte, traf sie auf eine Gruppe Maskierter. Junge Männer in Anoraks mit Totenschädelgesichtern. Weiße Gummimasken mit schwarzen Augenhöhlen und Nasenlöchern, die sie über das Gesicht gezogen hatten. Sie hielten Dosen in den Händen. Riefen ihr Worte zu, die sie nicht verstand. Schmutzige Worte. Sie nahm den fuseligen Alkoholgeruch wahr, als sie an ihnen vorüberging. Mit einer jähen Bewegung ihrer Schulter wich sie einer ausgestreckten Hand aus.

Die Burschen schwenkten die Dosen, als wollten sie ihr Bier anbieten. Ihr Herz schlug schnell, die Halsmuskeln taten weh, sie war hellwach, bereit, loszulaufen. Aber die Gruppe blieb schwankend stehen, grölte, die unverständlichen Worte trieben hinter ihr her, langgezogene, höhnische Geräuschfetzen.

Sie kam in eine Neubausiedlung, manche Häuser waren noch nicht verputzt. Dazwischen lagen Baustellen mit Betonmischern und Sandhaufen. Die Häuser wirkten verlassen, unbewohnt, hätten nicht hinter manchen Fenstern kleine, elektrisch beleuchtete Sterne gehangen. Was die Sterne bedeuteten, verstand sie nicht.

Sie schritt rasch aus. Die Autos der Bewohner standen unter separaten Holzhäusern. Teure Autos, sauber gewaschen, der Lack und die Chromteile schimmerten selbst in dem fahlen Winterlicht, das über die kleine Stadt ausgegossen war, als wäre der Himmel ein Lampenschirm und die Sonne dahinter eine viel zu schwache, armselige Glühbirne.

Fünfzehn Uhr. Sie orientierte sich am Kirchturm, direkt daneben musste es sein. Der Polizeiposten. Leicht zu finden, hatte der Mann am Telefon gesagt.

Ein Schild, ein blaues Schild. »Polizei« steht darauf.

Musik drang an ihre Ohren, ein gedämpftes Durcheinander aus Trompeten und Diskomusik. Als sie um die Ecke bog, schallte ihr die Musik unvermittelt lauter entgegen, und sie sah Reihen von Menschen, die die Hauptstraße säumten.

Sie raffte ihren Mantel mit der behandschuhten Rechten enger um die Brust und durchquerte die Reihen, schnell, mit gesenktem Kopf, ohne Blickkontakt aufzunehmen. Sie sah nur konzentriert auf die Schultern, die Arme und Hände, zwischen denen sie sich hindurchschob. Diesmal griff niemand nach ihr.

Die Zuschauer hatten sich untergehakt, wiegten sich im Takt der dröhnenden Musik und sangen dazu. Hatten Clownsgesichter, dazwischen ein paar Gummifratzen, die wohl Fernsehmonster darstellen sollten. Einige trugen nur komische Hütchen und Pappnasen, die Kinder hatten die Gesichter bemalt. Die Clowns und Monster wiegten sich, den Elefanten gleich, die sie einmal im Zoo gesehen hatte, stoisch im Takt der Musik hin und her wie in Trance, viele sahen dabei auf den Boden. Es schien, als wäre die Fröhlichkeit etwas, was von ihnen verlangt wurde.

Aber vielleicht war es nur das fahle Licht, in das sich jetzt feine Flocken zu mischen begannen, die ganz unmerklich in das Bild hineinrieselten. Sie bemerkte sie erst, als sie auf ihrem Gesicht hängen blieben und zu schmelzen begannen. Kalte, kristallfeine Nadeln berührten ihre Nase, ihre Wangen und ihre Lippen.

Eine Gruppe rot gekleideter Gestalten kam in schnellem Trab die Straße herunter. Sie trugen Holzmasken mit aufgerissenen Glotzaugen und gebleckten Hauern. An den Köpfen Tierfelle, Fuchsschwänze baumelten von den Schultern. Der Trupp bewegte sich anders als die apathisch schaukelnde Menge der Zuschauer. Geduckt, mit dem sichernden Blick einer Jägerhorde, klingelnde Schellen skandierten ihren Trab. Sie kamen rasch näher.

Plötzlich knatterte ein Knallfrosch in einer Nebenstraße. Sie taumelte, als wäre sie getroffen. Bilderfetzen rutschten ihr vor die Augen. Soldaten, ein Stoßtrupp. Schüsse. Bilder, die sie noch vor Kurzem hatte sehen müssen.

Der Schreck flutete heiß durch Brust und Hals, fast hätte sie aufgeschrien, aber sie presste die Hand auf den Mund und drängelte durch die Reihe am Straßenrand, die ihr den Fluchtweg zu versperren drohte. Man griff nach ihr, eine rote Plastikmaske rief etwas Unverständliches direkt in ihr Ohr, ein Mondgesicht mit zitterndem Drahtblumenstrauß auf der Glatze und begütigender Stimme schob sie weiter. Ein paar Frauen lachten aufgekratzt.

Hände legten sich auf ihre Schultern, sie machte sich steif, duckte sich. Es war ihr egal, ob sie höflich war. Mit den Ellbogen verschaffte sie sich freie Bahn. Drehte sich nicht um, rannte weiter im wirbelnden Schnee. Ließ die laute Musik hinter sich.

In die erste Seitengasse bog sie ein. Die alten Häuser hier schienen bereits zum Stadtkern zu gehören, am Ende war der Kirchturm zu sehen. Die richtige Richtung also. Nach ein paar Schritten wurde sie ruhiger, sie zwang sich, gleichmäßig zu atmen. Ihr Herz hämmerte, als poche es auf Holz, sie meinte, die Schläge bis in die Schläfen hinauf zu hören.

Schneeflocken schmolzen auf ihrem Gesicht, das sich so heiß anfühlte, als hätte sie Fieber.

Es passiert dir nichts, sagte sie sich. Du erinnerst dich bloß. Es ist alles vorbei. Du bist in Sicherheit. Sie wurde ruhiger, als sie den Kirchturm durch die herabschwebenden Schneeflocken hindurch dicht vor sich sehen konnte.

Der Kirchplatz war leer bis auf ein paar Leute unter aufgespannten Schirmen am anderen Ende, die sich schemenhaft durch das Schneetreiben bewegten. Es war dunkler geworden. Eine Laterne verschwand zuckend in der Hand eines Kindes hinter dem düsteren Rumpf des Kirchenschiffs.

Sie blieb stehen und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, wischte sich die Schneekristalle aus den Brauen und suchte das Schild, wie man es ihr angewiesen hatte.

Das Schild war sogar beleuchtet. Ein blaues Schild an einer der alten Fachwerkfassaden. Sie sah auf die Uhr. Die Zeit stimmte genau. Langsam, erleichtert ging sie hinüber. Mit so vielen Schwierigkeiten hatte sie nicht gerechnet. Ausgerechnet an diesem Tag zur Polizei. Wie leicht hätte sie zu spät kommen können.

Sie sah die beiden Dämonenfratzen nicht, die aus einer Seitengasse glitten. Sich umsahen, einander zunickten, losliefen. Das schnelle Tappen der Turnschuhe hinter ihr und das Klingeln der Schellen schreckte sie erst auf, als der eine bereits die Hände nach ihr ausstreckte. Sie warf sich herum, aber da hatten sie sie schon gepackt.

Sie schrie. Eines der beiden fellbehangenen Monster nahm sie einfach um die Hüften, trotz ihres Zappelns. Der andere hielt ihr die Hände fest, mit einem schmerzhaften Griff, als sie versuchte, auf den Nacken des Mannes einzuschlagen, der sie sich über die Schulter geworfen hatte wie ein Stück Wild. Ihre Schreie gellten schrill über den Kirchplatz, der durch den Vorhang des dicht herunterfallenden Schnees kaum noch zu erkennen war. Die beiden Dämonen grölten laut im Chor, schwenkten die Arme, verwandelten unter Bocksprüngen das aufbegehrende Schreien ihrer Beute in eine tollpatschige finstere Komödie.

So trabten sie schneebedeckt, von leisem Klingeln begleitet, unter dem blauen Schild hindurch, das wie eine dezente Reklame durch den fallenden Schnee leuchtete. Die Fenster darunter waren dunkel.

Ein paar Sekunden später war der Kirchplatz leer.

Nur der Schnee fiel lautlos weiter und bedeckte mit seinem weißen Pelz die frischen Spuren der beiden Maskenträger, die in eine Seitengasse abgebogen waren.

2

Es hatte zu schneien begonnen. Sailer schaltete den Scheibenwischer erst ein, als die feuchten Flocken die Windschutzscheibe mit einem hellgrauen Filz belegt hatten, der allmählich mit dem ebenso grauen Horizont verschmolz.

Vor Kurzem hatte man noch die Berge erkennen können, die breite Tafel der Alb. Eine alte, von Holzwürmern zerfressene Truhe, in die flache Landschaft hineingestellt. Die Autobahn, ein dünnes Band zwischen den Hügeln, auf dem jetzt Lichterketten unterwegs waren, leitete ihn darauf zu.

Er hatte den Schnee schon an der Raststätte, beim Einsteigen in den Wagen, gerochen. Bei Pforzheim waren die ersten Flocken an ihm vorbeigetrieben, kleine Eisschüppchen vorerst, winzige Fingernägel, die einen ungeduldigen Wirbel an die Scheibe trommelten, wenn ein Lastwagen sie aus dem Randstreifen hochsaugte, wo sie sich im braunen Wintergras versteckt hielten. Vorboten, die erkundeten, ob die Erde bereit war für das, was auf der Alb aufgetürmt war. Schmutzig graue Federbetten, schwer vom kalten Schnee, schoben sich da heran.

Ein mit den Scheibenwischern rudernder Bus kam ihm entgegen, für Sekunden verwandelten seine Scheinwerfer das Schneegestöber in Funkenflug, dann summte er, das Motorengeräusch hinter sich herschleppend, vorbei, wurde vom Schnee verschluckt. Immer dunkler wurde es. Sailer wünschte sich, bald anzukommen. Die Klinik war hoffentlich ausgeschildert.

Er brauchte noch eine Stunde, bis er sein Ziel erreichte. Der Verkehr kroch über die Dörfer, als hätten alle Leute plötzlich Zeit. Frau Holle, die daran schuld war, hatte ihre Federn auf die Giebeldächer, die Obstbäume, das Gitterwerk der Telegrafenmasten und auf jeden Straßenbegrenzungspfosten geschüttelt. Auch das Erbacher Ortsschild hatte sie nicht vergessen. Eine kleine Mütze für den Pfosten, ein weißer Rand aus Daunen entlang der gelb lackierten Kante.

Kein Hinweisschild für die Klinik. Man konnte jemanden fragen. Genügend Leute waren ja unterwegs. Sailer beugte sich vor und spähte durch die Sektoren, die ihm die Scheibenwischer freizuhalten versuchten.

Immer mehr Menschen bewegten sich um ihn herum. Merkwürdig angezogen. Ein Fußballklub? Hooligans?

Er hatte Mühe, keinen von ihnen umzufahren. Zum Teil liefen die Leute mitten auf der Straße. Durch die schlierige Scheibe sahen sie aus wie bunte Fische in einem schlecht geputzten Aquarium.

Ein rot-weiß gestreiftes Band tauchte auf, daran hing ein Schild: »Achtung…« Den Rest konnte er im dichten Schneegestöber nicht erkennen. Vorsichtig kurvte er um das Hindernis herum.

Sailer schob seinen Kopf dicht an die Scheibe. Ein großes, faltiges Gesicht mit riesiger Zigarre und zwei winkende Arme daneben tauchten vor dem Wagen auf. Das Gesicht kam ihm bekannt vor. Der Altbundeskanzler wollte ihn zum Anhalten auffordern. Dicht hintereinander bumsten zwei Schneebälle auf das Autodach. Hinter dem Kanzler, der sich jetzt lamentierend am linken Kotflügel vorbeischob, tauchten noch zwei prominente Plastikgesichter auf.

Sailer erkannte das Vogelgesicht des Ministerpräsidenten und das Mondantlitz der Kanzlerin, beide bewegten ihre Arme synchron mit seinen Scheibenwischern, einen Moment lang sah es so aus, als würde ein monströses Ballett für Politiker und Maschinen gegeben. Keine schlechte Idee, dachte Sailer und nahm den Fuß vom Gas.

Er verstand nicht, was sie sagten, hörte aber schwäbischen Tonfall heraus und fühlte sich einen Herzschlag lang heimisch, beinahe gerührt.

Den Plan, weiterzufahren, gab er in dem Moment auf, als ein Polizist an sein Seitenfenster klopfte. Seufzend zog er die Handbremse an und kurbelte das Fenster herunter.

Der Polizist war echt. Er trug einen grauen Plastikumhang, der geschnitten war wie ein mexikanischer Poncho, mit einer orangefarbenen Bauchbinde, auf die mit heller Leuchtfarbe »Polizei« aufgedruckt war. Ein paar Schneeflocken wirbelten herein und schmolzen sofort auf Sailers Stirn, als er seinen Stoppelschädel ein paar Zentimeter dem Schutzmann entgegenreckte.

»Da geht nix mehr«, sagte der mit erhobener Stimme, um den Lärm der Menge draußen zu übertönen, und hob schwunglos die Kelle, die er in der linken Hand hielt. In deren Zentrum brannte eine kleine rote Lampe wie ein ewiges Licht auf dem Friedhof.

»Heile, heile, Gänsche, es wird ja wieder gut…«, sangen die Leute. Erst jetzt hörte Sailer die Musik, eine Blechkapelle, die sich ein paar Straßenzüge weiter befand. Mit wummernden Pauken, schrägen Fanfarenstößen und scheppernden Becken näherte sich die Kapelle wie ein Trupp Kürassiere. Allerdings passte die Musik der Bläser überhaupt nicht zu dem, was die Leute sangen. Deren Begleitung kam aus den Lautsprechern vom Band. Sailer konnte einen öligen Tenor mit rheinischem Tonfall auf gemischter Orchesterbeilage ausmachen.

An der Nase des Polizisten nahm er einen kleinen, klaren Tropfen wahr, der eben im Begriff war, der Schwerkraft nachzugeben.

»Es Kätzche hat e Schwänzche, es wird ja wieder gut…!«, brüllten zwei betrunkene Stenze und hielten ihre Bierdosen einen Moment lang über den gebeugten Rücken des Ordnungshüters. Budweiser, las Sailer geistesabwesend. Mit erhobenen Augenbrauen sah er zu dem Polizisten auf, nickte zustimmend und verwandelte sein Gesicht in eine Frage.

»Sie müsset das Auto stehe lasse.« Der Polizist hielt sich mit seiner behandschuhten Rechten am Wagendach fest, um von den vorbeidrängelnden Leuten, über sich einen Wald von Schirmen, nicht umgeworfen zu werden.

Entweder setzte sich die Blaskapelle gegen den öligen Sänger durch, oder der Wind hatte gedreht. Der Narhalla-Marsch näherte sich. Einige der Passanten unter den Schirmen nahmen den Schunkelrhythmus der Kapelle auf.

»Der Umzug hat schon angefangen. Parken Sie da vorn in der Adlerstraße«, sagte der Schutzmann. Die Hand mit der Kelle schwang sich zwischen zwei Schirmen in die Höhe und wies, für Sailer nun unsichtbar, über das Wagendach in eine imaginäre Richtung. »Die nächste rechts«, ergänzte der Polizist.

Eine gelbe Papierschlange sauste durch das offene Fenster herein und ringelte sich um die Speichen des Lenkrads.

Sailer bedankte sich und sah noch, wie der Schutzmann an seine Mütze tippte, da tutete es betäubend an seinem linken Ohr, als hätte er es an eine Autohupe gehalten. Er fuhr zurück wie von einer Wespe gestochen und wischte mit der Hand die Papiertröte mit dem Federchen beiseite, die ihn an den Hals stupste, als das höllische Geräusch bereits verklungen war. Wie die Zunge eines Chamäleons rollte sich das Ding wieder ein und verschwand in dem roten, runzligen Gesicht Satans, der mit hohlen Augen, krummer Nase und Bockshörnern ausgestattet in sein Auto hineinstarrte.

Eine Sekunde später stieß der Teufel ein helles Kinderkichern aus und verschwand vom Wagenfenster, das Sailer im Begriff war, wieder hochzukurbeln, wobei er die Luftschlange einklemmte.

Die Strophe »Heile, heile, Mausespeck, in hundert Jahr ist alles weg« wurde kurz vor dem letzten Wort von dem inzwischen geschlossenen Fenster gedämpft.

Sailer legte den ersten Gang ein und fuhr langsam weiter. Die Luftschlange zerriss. Unter dem Beschuss von Schneebällen hielt er Ausschau nach der Adlerstraße. Schulter an Schulter standen die Leute am Straßenrand, versperrten ihm die Sicht.

Die Dämonen zeigten ihm den Weg. Eine Reihe Leute am Straßenrand wurde von hinten jäh durchbrochen, drei, vier Schirmträger setzten sich in den Schnee. Zwischen ihnen rutschte eine Hexe auf ihrem großen Reiserbesen in die Straße hinein, geschoben von zwei mit Fuchsschwänzen behängten Gestalten in roten Anzügen, die Holzmasken mit großen Eberzähnen trugen. Alle drei stießen ein lautes Gebrüll aus, während ihre Opfer schimpfend in den Schnee rollten. Die Roten hieben mit Stecken auf die Gestürzten ein, an den Stecken hing eine Art Luftballon. Schweinsblasen, erinnerte sich Sailer bei dem lauten Klatschen, mit dem die widerstandsfähigen Instrumente auf die Köpfe der Passanten knallten.

Die Hexe ritt derweil auf ihrem Besen allein weiter über die Straße und gestaltete mit dem Stiel eine naheliegende obszöne Pantomime, die von den Umstehenden johlend erkannt und begrüßt wurde.

Die ganze Szene dauerte nur Sekunden. Die drei Masken sprinteten schon wieder davon, auf die gegenüberliegende Menschenkette zu, als die Gestürzten noch nicht wieder auf den Beinen waren. Sailer sah noch, wie die Schweinsblasen durch die Luft sausten und sich die Schirme auf der Gegenseite zu einer Gasse öffneten, dann waren die drei Übeltäter verschwunden.

Die Hexe tauchte mitten in der Menschenmenge nochmals auf, hob sich, ihren Besen als Reckpfosten benutzend, in die Höhe und machte einen Felgumschwung; die beiden Dämonen dienten als Pfosten. Der Abschwung ließ die Röcke der Hexe fliegen und enthüllte eine weiße Spitzenunterhose mit zwei schlanken Beinen, die in rot-weiß geringelten Strumpfhosen und Turnschuhen steckten.

Sailer fuhr im Schritt auf die Stelle des Überfalls zu, wo er in der Lücke, die die Gestürzten freigegeben hatten, eine Einfahrt gesehen hatte.

Er wusste, dass Hexen und Dämonen die sportlichsten Masken der Fasnet waren. Ihre Träger hatten den Anspruch, artistische Leistungen zu vollbringen, und brauchten sich nicht an die Ordnung des Umzuges zu halten. Vielmehr rotteten sie sich zu Gruppen zwischen den Wagen und Musikkapellen zusammen, um sich von den Leuten anfeuern zu lassen und sich zu neuen Schandtaten untereinander abzusprechen.

Eine Hexe musste in der Lage sein, über die Dachrinne und die Balkone durch die Fenster einzudringen, aus denen die Leute dem Umzug zusahen. Wer nichts anzubieten hatte, wenn sich die Hexe vom Fensterbrett ins Wohnzimmer schwang, dem ging es schlecht. Mädchen, zumal hübsche, mussten gewärtig sein, durchs Treppenhaus hinunter und die Haustür hinaus in den Hexenwagen geschleppt zu werden, wo sie hinter Gittern als Beute dem Zug zu folgen hatten, jedenfalls war das so gewesen, als Sailer noch ein Junge war.

Er kurbelte das Fenster wieder herunter. »So ein Tag, so wunderschön wie heute«, sangen die Leute draußen.

»Adlerstraße?«, schrie er dem Nächststehenden zu.

»Narri!«, antwortete der, schunkelnd bei seinen Nachbarn eingehakt.

»Ist das die Adlerstraße?«, schrie Sailer nochmals und erhielt zur Antwort ein informierend-warnendes: »Umzug, Umzug.« Darin stimmten immer mehr lachend ein.

Da wurde es ihm zu dumm, und er fuhr mit seinem Wagen langsam durch die Leute hindurch, die ihm schließlich Platz machten, nicht ohne einen Trommelwirbel auf dem Dach zu veranstalten.

Drei Jungen in Astronautenkostümen wiesen ihn in die Adlerstraße ein. Sogar bis zu einem Parkplatz, der sich zwar vor einer Ausfahrt befand, die Buben versicherten Sailer aber, der sich erschöpft aus dem Auto ins Freie begeben hatte, dass da »die nächschte zwei Schtund koiner nausfährt«.

»Also gut«, sagte Sailer und gab den Buben je einen Euro. Dann holte er seinen Hut und die Handschuhe aus dem Wagen. Wenn er schon da war, konnte er sich genauso gut auch den Umzug ansehen.

Als er sich zwischen die Zuschauer zwängte, die am Ausgang der Adlerstraße standen, marschierte vorn auf der Hauptstraße die erste Kapelle vorbei, blies einen flotten Marsch. Wenn die Blechbläser schwiegen, haute der Mann an der Trommel den Takt weiter auf das Fell, damit man nicht aus dem Tritt kam. Bumm, bumm. Bumm, bumm, bumm.

Ordentlich verteilt marschierten sie vorbei. Männer im schneebestäubten Dreispitz und schwarzen Gehrock, das Revers mit Münzen behängt. Bundhosen, Kniestrümpfe, alles stilecht, auf der Weste diverse Orden. Links die Reihe der Frauen, wie früher in der Kirche. Trachtenröcke, Flechtmieder, auf dem Kopf ein storchennestartiger Putz.

Der Schnee ließ alles noch authentischer erscheinen. Die modernen Brillen, die die historischen Erbacher trugen, die hervorblitzenden Armbanduhren, sie störten gar nicht so sehr. Die Vorausabteilung fing wieder an, den Marsch zu schmettern, Tschingdara, Tschingdara, Tschingdarassabumm.

Das ging den Erbachern in die Beine, die Männer richteten sich auf, und die Frauen hielten den Tritt, wobei sie das Kunststück fertigbrachten, aus dem Korb, den sie am Arm trugen, taktgerecht Bonbons in die Menge zu werfen.

»Feuer?«

Sailer schüttelte den Kopf. »Rauche nicht.«

»Jesses«, war die genervte Antwort. Schon wurde dem verständnislosen Frager ein Feuerzeug über die Köpfe zugereicht.

Nicht dass es Sailer keinen Spaß gemacht hätte, hier eine Zigarre in die Winterluft zu paffen. Wenn man aber vor einem knappen halben Jahr einen Herzinfarkt überstanden hatte, überlegte man sich das mit dem Rauchen zweimal. Nicht nur, dass er die Zigarren, die er in seinem Leben noch rauchen sollte, gut würde zählen können, vieles mehr würde sich ändern. Die Kur, die er hier antreten würde, stellte er sich wie einen gesunden Urlaub vor. Vernünftiges Essen, keinen Alkohol im Haus, den Haushalt gemacht bekommen. Für einen allein lebenden Mann mit ungesunden Gewohnheiten ein wesentlicher Faktor.

Einen Infarkt sollte man ernst nehmen. Auch mit achtundfünfzig fand er sich dafür noch zu jung. Fast wäre es ganz vorbei gewesen mit ihm.

»Geh mal weg, Sebastian«, hatte Karin gesagt, ihr kluges, schmales Gesicht mit den langen graublonden Haaren schräg gelegt, während sie ihn beobachtete, in der Hand, zum Teufel, ja, eine Zigarette. »Steig mal auf einen Berg und sieh dir alles von oben an. Wie der Weg weitergehen soll.«

Nun, das hier war sein Berg. Man würde sehen. Wenn es nichts war, konnte er gehen, jederzeit.

Das Johlen um ihn nahm zu. Ein aufgetakelter Traktor tuckerte vorbei, auf der Ladefläche des Anhängers standen Männer in Brokatmänteln und bezipfelten Narrenkappen, die Fliegen umgebunden hatten, sie winkten leutselig in die Menge hinein. Der Elferrat also. Üblicherweise die Großkopfeten am Ort.

»Narri«, riefen die Herren.

»Narro!«, brüllte das Volk loyal zurück, nur ein Halbwüchsiger schrie ein paar Meter neben Sailer: »Arschlöcher, blöde!«

Niemand kümmerte sich um ihn. Sailer hielt ihn beim flüchtigen Hinsehen für kostümiert. Der zweite Blick, den er auf den Jungen warf, zeigte einen Punker in voller Alltagsmontur mit roter Bürste, schwarz bemaltem Totenkopfgesicht und Lederjacke, an der allerlei klingelndes Charivari befestigt war. Der Kälte wegen hatte der Junge den sonst sicher halbnackten Oberkörper mit einem speckigen Pullover verhüllt. Er hatte eine Bierdose in der Hand und hob sie hoch mit der augenscheinlichen Absicht, sie den Honoratioren in den Wagen zu werfen, da reckte sich eine Hand unter den Schirmdächern hervor und nahm ihm die Dose ganz undramatisch ab. Kein Wort wurde gewechselt, der überraschte Junge begann zu fluchen und schob sich durch die Menge weg.

Hinter dem weitertuckernden Elferrat erschien eine kostümierte Gruppe, die Sailer erkannte. Grettenweiber, die darstellten, wie einst der Sage nach die Weinsberger Frauen ihre Männer während der Belagerung gerettet haben sollen. Sie wollten ihr Liebstes aus der Stadt bringen, hatten sie sich ausbedungen. Nur was sie tragen konnten, war die Antwort des feindlichen Obersten gewesen. Was dabei herausgekommen war, sah man jetzt unter dem Gelächter der Menge die Straße entlangkommen. Im Gretten, dem großen Tragekorb, schienen die dicken Männer zu sitzen, jeder hatte einen Stock in der Hand, mit dem er sein armes Weib antrieb, dessen ausgestopften Oberkörper er sich komplett mit Holzmaske und Kopftuch vor den Bauch gebunden hatte. Die Illusion war perfekt, die Wirkung verblüffend. Es reizte einfach zum Lachen, wie die dicken Männer den Stock schwenkten und mit Trippelschritten das Gestolper der schwer schleppenden Hälften darzustellen suchten.

Ob Karin darüber auch so unbefangen gelacht hätte wie die beiden Mädchen vor ihm, dachte Sailer. Sicher hätte sie ihm zugeflüstert, den beiden werde das Lachen auch noch vergehen. Vielleicht kam sie mal auf ein Wochenende?

Sailer wusste sehr gut, dass es auf dem Berg, auf den er sich begab, nicht nur um die Entscheidung gehen würde, was er künftig aß und trank. Da war auch eine Frage offen geblieben zwischen ihnen, ohne dass sie je ausgesprochen worden wäre. Sailer hob seinen Hut, um sich den Hinterkopf zu kratzen. Das ließ sich alles noch eine Weile hinausschieben.

Amüsiert beobachtete er einen Meister der Pantomime, der gerade in die Knie gebrochen war und nun seinen siamesischen Ehezwilling mit Schlägen und hilflosen, an die Menge gerichteten Gesten scheinbar wieder auf die Beine zu bringen versuchte. »Hau ruck!«, schrien die Leute vergnügt. »Hau ruck!«

Ganz offensichtlich verstand der dicke Weinsberger den Doppelsinn des »Hau« und verausgabte sich schier mit seiner Patsche, bis das Weiblein wieder auf den Beinen war und hinter den anderen hertrottete.

»Chauvinistisch-patriarchalische Angstbewältigung«, so etwa würde Karins Kommentar lauten. »Je mehr Angst Männer vor Frauen haben, desto brutaler werden sie.«

Wie um diese Deutung zu bestätigen, tauchte eine Hexe zwischen den Marschierenden auf. Sie stützte sich einen Moment lang auf ihren Besen wie ein Eishockeytorwart auf seinen Schläger. Mit schief gehaltener Maske fixierte sie die Weinsberger, dann starrte sie das Publikum an. Ihr faltiges dunkelbraunes Holzgesicht wurde von den weißen Glotzaugen beherrscht, die wie zwei Scheinwerfer in der Fratze saßen. Eine mächtige Hakennase und zwei weiße Hauer, die ihr aus dem Mund stachen, machten sie nicht schöner. Eingerahmt wurde das Ganze von einem eckig ausgestellten roten Kopftuch, das bis auf die Schultern der karierten Bluse reichte. Die Schultern schienen ausgestopft wie bei einer Rugbykluft. Mit einem Ruck schwang der Besen nach vorn, und die Hexe rannte los, den Besen schiebend, als wäre er ein Staubsauger. Flink war sie auf der Höhe der letzten Weinsberger angelangt, stieß den Besen auf den Boden und flog wie ein Hochspringer über den Stiel zwischen die zwei letzten Grettenmänner, dass sie in den Schnee purzelten.

Auf die drohend geschüttelten Fäuste antwortete die Hexe mit einem hohlen Geheul, während sie ihr Werk mit schief gehaltenem Kopf beäugte.

Noch bevor einer der Gestürzten ihr an die Beine greifen konnte, war sie wieder außer Reichweite und wirbelte den Lachern, die sie auf ihrer Seite hatte, mit kreisendem Besen den frisch gefallenen Schnee ins Gesicht.

Dann kam sie auf ihn zu. Sailer erschrak und amüsierte sich zugleich. Er griff sicherheitshalber nach seinem Hut, um ihn zu retten.

Aber die Hexe hatte es nicht auf ihn abgesehen. Die beiden Mädchen vor ihm kreischten laut, als die eine, die hübschere, wie Sailer bereits festgestellt hatte, gepackt und auf die Straße gezerrt wurde. Sie wehrte sich, aber nicht zu sehr. Die Leute schrien vor Vergnügen, und sie beschränkte sich aufs Strampeln und Kreischen, als die Hexe sie wie ein geschulter Sanitäter auf den Rücken schwang und davonschleppte, den Besen triumphierend in die Luft gestreckt. Phallisch, würde Karin sagen.

Merkwürdig gepflegte Hände hatte die Hexe gehabt, vor allem die Fingernägel. Schmale Finger waren es gewesen, die Sailer flüchtig auf der Schulter des Opfers hatte liegen sehen, bevor die Hexe richtig zugepackt hatte. Er wusste, dass in der Narrenzunft auch Mädchen zugelassen waren, wenn sie sportlich genug waren.

Sailer bekam kalte Füße. Außerdem hatte er genug gesehen. Der Hexenwagen, in dem ihm die geraubte kastanienbraune Schöne wiederbegegnen würde, kam in der Regel ganz am Schluss des Zuges. Zwei Nachdrängende füllten die Lücke, die er hinterließ, nachdem er sich rückwärts aus der Zuschauerreihe hinausgeschoben hatte. In der Adlerstraße hatte er ein Wirtshaus gesehen, da konnte er warten, bis der Zug vorbei war.

Sein Auto war bereits von einer fingerdicken Schneeschicht überzogen, es schien hier niemanden zu stören. Trotzdem holte er einen Zettel aus der Manteltasche und schrieb mit klammen Fingern darauf: »Bin im ›Hirschen‹«.

Er klemmte den Zettel unter den Scheibenwischer und stieg die Treppe zum Eingang hinauf. Im Windfang klopfte er sich den Schnee von Hut und Mantel, hauchte seine Brille an, damit sie nicht beschlug, putzte sie und ging hinein.

Als er die Tür zur Gaststube öffnete, empfing ihn eine Wand aus Rauch und Bierdunst. Hut und Mantel quetschte er in die überquellende Garderobe, dann wandte er sich um und versuchte, Übersicht zu gewinnen. Das Wirtshaus war gerammelt voll, alle Tische besetzt mit rauchenden, trinkenden, meistens kostümierten Leuten.

»Heilandsack, Tanja, kommscht du jetzt her!«

Die angesprochene Fünfjährige quäkte eine Antwort, die Sailer nicht verstand. Eine Schar Kinder, zu denen Tanja gehörte, versuchte, sich an ihm vorbei Richtung Ausgang zu drücken. Darunter war ein Junge mit breitrandigem Hut und gekreuzten Patronengurten, der mit dem Fastnachtsrevolver mehrmals auf Sailers Bauch schoss, ohne mit ihm Blickkontakt aufzunehmen.

Der Pulverdampf reicherte die abgestandene Luft um eine weitere ungesunde Komponente an.

Direkt vor Sailer, am Tresen, lehnte ein großgewachsener Dämon, behängt mit Fuchsschwänzen, und trank eine Halbe Bier, indem er jedes Mal, wenn er den Steinkrug ansetzte, die Maske ein Stück nach oben schob. Ihm gegenüber stand ein Narr mit Fleckleshäs und Schellenkappe.

Sailer schob sich an den beiden vorbei und steuerte auf einen Ecktisch zu, an dem noch ein Platz frei war.

»Ist's erlaubt?«

Ein älterer Herr mit einer Pappnase und einem winzigen Tirolerhütchen lächelte ihm zu und rutschte auf der Bank ein Stück weg.

»Narri«, sagte Sailer und setzte sich.

»Der hot der Theres die Wies glatt abgschwätzt, Fritz«, wandte sich Sailers Tischnachbar wieder seinem schnauzbärtigen Gegenüber zu, der, schon ziemlich betrunken, auf seinem Sitz hin und her schwankte wie ein Kutscher bei einer gemütlichen Fahrt oben auf dem Bock. »Um den Preis hätt der die normal nie kriegt, verschtescht mich?«

Der Alte streifte Sailer mit einem Blick und hob seine Halbe. »Aber mit de alte Leit ka ma's halt mache.« Der Halbkreis, mit dem der Krug in die Höhe wanderte, bekam einen leichten angedeuteten Ausschlag in Sailers Richtung: »Zum Wohl!«

»Prosit«, antwortete Sailer.

»Hundertzwanzg Euro der Quadratmeter, hab ich geschtern in der Zeitung gläse.« Der Alte beugte sich so heftig über den Tisch, dass sein Gegenüber zurückschwankte, als hätten die Pferde plötzlich angezogen.

»Hundertzwanzg Euro!«, setzte der Alte nach. Damit war ein Punkt erreicht, der einen Kommentar seines Zuhörers erforderte.

»Des muscht du net so eng sehe, Sepp. Der…«, die Worte machten dem Schnauzbärtigen erhebliche Mühe, »…kennt sich halt aus.« Er schwankte nach vorn und starrte in seinen Bierkrug. »Knitz ischt er, der Kächele. Knitz. Emmer scho gwäse.« Mit dieser abschließenden Aussage schien Fritz' Kapazität erschöpft, und er ließ resignierend den Kopf sinken.

»Sie send net von hier?«, wandte sich der Alte Sailer zu, anscheinend hatte er die Hoffnung aufgegeben, dass der Schnauzbärtige ansprechbar bleiben würde.

»Nein.«

»Was derf ich Ihnen bringen?«, fragte die Bedienung dazwischen.

»Einen heißen Tee bitte.«

»Ohne was?«

»Ohne was«, antwortete Sailer, »bloß Tee.«

Der Alte hatte die Augenbrauen angehoben. »Von der Klinik obe?«, fragte er.

»Ja, richtig.« Sailer nahm sich vor, geduldig zu bleiben. »Ich bin grad angekommen.«

»Grad recht zur Fasnet, gell?«, lachte der Alte. »Ja, hoffentlich gfallts Ihnen bei uns«, setzte er hinzu.

Bevor Sailer antworten konnte, entstand eine Bewegung an der Tür. Eine Hexe schob sich herein, stieß mit dem Besenstiel einen Gruß an die Decke und wurde mit Hallo von den beiden Maskenträgern am Tresen begrüßt. Sailer sah seinen Hut von der Garderobe fallen und war rasch auf den Beinen, um ihn zu retten. Aber die Hexe hatte ihn schon auf dem Kopf, als er heran war. Er schaute in die hölzerne Fratze.

»Meinen Hut, schönes Kind«, bat er. Er hatte sie wiedererkannt, oder er hätte sich sehr täuschen müssen. Es war die, deren Kunststücken er vorhin zugesehen hatte.

»Des ischt also dein Deckel«, lispelte die Hexe mit verstellter Stimme. »Da muscht was springen lassen, Dicker.«

»Sicher«, antwortete Sailer ergeben. »Was trinkst du?«

»Des lass ich mer gfalle«, anwortete die Hexe kichernd, halb zu den lachenden Spezeln am Tresen gewandt. »An Campari Orange, woischt, der hot so a scheene Farb«, kreischte sie und fasste Sailer unter das Kinn.

Sailer spürte deutlich, dass es Frauenhände waren. »Also, einen Campari.«

Die Hexe schob ihn vor sich her. »Wo sitzt denn der spendable Herr, vielleicht setz ich mich a bissle auf dein Schoß, woischt!« Die ganze Wirtsstube brüllte vor Lachen.

Sailer ging es jetzt wie der Kastanienbraunen drunten auf der Straße. Gute Miene machen, sagte auch er sich. Außerdem war er neugierig, wer sich unter der Larve verstecken mochte. Sie war fast so groß wie er, drahtig, das hatte er vorhin gesehen. Nach dem ersten Schluck Campari würde er mehr wissen.

Als hätte sie seine Gedanken erraten, sagte die Hexe zum Tresen hin: »An Strohhalm gibst mir noch, Hans. Sonscht sieht der arme Kerle, dass i a richtige Hex bin. Au unter dera Maske, gell.«

Dazu fiel Sailer nichts mehr ein. Seinen Hut nahm er lieber mit. Die Hexe schob ihn in die Bank hinein.

»Kaum do und scho so a charmante Bekanntschaft gmacht!« Der Alte nickte ihm grinsend zu. Sailer merkte, dass die Hexe trotz kräftiger Tuchfühlung mit ihrem Ellbogen dafür sorgte, dass er ihr nicht zu nahe kam.

»Prost dem Spender«, kicherte seine neue Tischnachbarin und ließ den Campari mit dem Strohhalm gluckern. »Wie heischt eigentlich?«

»Sebastian.«

»Ja so, also prost, Baschte, so saget mir.«

»Und du?« Sailer versuchte, trotz der Enge seinen Tee mit großer Geste zu heben. »Wie heißt du?«

Die Hexe legte den Kopf schief. »Wenn du's errätscht, derfscht unter mein Kopftuch gucke.«

»Aber bloß unters Kopftuch!«, griente der Alte und schüttelte drohend seinen Zeigefinger. Er schien sich, ebenso wie die anderen Gäste, bei der Vorführung gut zu amüsieren.

Sailer kratzte sich den Schädel. Während er überlegte, sah er in die beiden kleinen Löcher im Zentrum der schrecklichen weißen Glotzaugen, durch die seine Tischdame ihn beobachtete, wohlgeschützt vor seinen Blicken.

»Ja kennscht du koi Hex?«, fragte sie ihn kreischend und ergänzte mit Fistelstimme: »So siehscht du gar net aus. AMann wie du ka doch net bloß mit Engel verkehre, oder?«

Jetzt lachte Sailer herzlich. »Doch. Ich kenn eine. Vielleicht heißt du auch so. Noch einen?«, fügte er hinzu, weil er sah, dass sie den Campari ausgetrunken hatte.

»Sicher, mit dir alleweil«, lachte die Runzlige. »Also, wie heißt deine Hex?«

Das allgemeine Interesse an Sailers komischem Auftritt ließ in dem Augenblick nach, als er die Situation zu meistern begann.

»Karin«, sagte er.

»Ja so ebbes«, war die Antwort. »Jetzt hasch mich glatt verwischt, Herr Nachbar.« Danach ein Hexenkichern.

»Dann ist eigentlich ein Kuss fällig«, sagte Sailer, sich in der Offensive am sichersten fühlend, »wenn's wirklich wahr ist. So will es der Brauch, Frau Nachbarin.«

»Eigentlich. Wenn's wirklich wahr ist, schon«, sagte die amüsiert mit ihrer richtigen Stimme und beugte sich über den Tisch nach vorn, um der Bedienung den Campari abzunehmen.

Sailer nutzte die Situation und schob das rote Kopftuch zur Seite. Bevor ihm die Hexe auf die Finger klopfen konnte, warf er einen Blick hinter das Tuch. Er sah eine Fülle blonder Haare und einen schlanken Hals. Die oberen Blusenknöpfe standen offen, der Hexe war beim Turnen warm geworden. Weil er so viel wie möglich zu sehen bekommen wollte, guckte er ihr in den Ausschnitt, etwas, was er sonst nicht unbedingt von sich erwarten würde. Sie trug ein goldenes Kettchen mit einem Anhänger. Er sah aus wie ein Skorpion. Doch bevor er ihn erkennen konnte, bekam er den strafenden Schlag auf die Hand.

»Aber hallo, Herr Nachbar!« Sie fistelte wieder. »Geht ma so mit einer Dame um?«

Sailer zuckte die Schultern. »Ich steh halt auf Hexen. Du hast es ja erraten, oder?«

Die Hexe lachte und stellte ihr Glas auf den Tisch. »Wenn du so einer bischt, dann muscht aufpassen, Baschte. Bei uns gibt's noch mehr Hexen.« Sie erhob sich und drohte ihm mit dem Finger. »In deinem Alter kann das gfährlich werde, wenn mr so neugierig ischt.«

Der Tisch, allen voran der Alte, hatte wieder was zu lachen.

»So ein Fetz, gell, die Herren«, kreischte die Hexe. Sie hob ihren Rock auf Hüfthöhe, was ein lautes Hallo aus der Umgebung zur Folge hatte, selbst Fritz war mit von der Partie und versuchte seine Hand nach den wohlgeformten rot geringelten Beinen auszustrecken, die unter der weißen Riesenunterhose zu sehen waren; dazu musste er sich an der Tischkante festhalten.

Die Hexe wedelte mit dem Rock. »Ziehet nur eure Finger schnell wieder weg. Sonst gibt's eins drauf.« Sie warf Sailer ein Kusshändchen zu.

»Narro«, sagte Sailer, als sie sich umwandte und ihren Besen von der Garderobe nahm, an die sie ihn gelehnt hatte. Einen feinen Duft hatte er gerochen unter dem Kopftuch, ein wenig Parfum, ein wenig Frau, eine Sekunde lang nur.

Er atmete tief durch. Genoss die Wärme in der Stube, obwohl er seine Lungen wieder mit dem Kneipendunst füllen musste, der den feinen Duft, der noch in der Luft lag, sofort unter sich begrub.

Er war noch am Leben.

»Zahlen, bitte!«, rief er.

***

Das Mädchen beruhigte sich allmählich. Sie hielt sich mit einer Hand am Maschendraht fest, um nicht zu fallen. Mit der anderen Hand schloss sie den Mantelkragen um den Hals. Zum Glück hatte sie Handschuhe angezogen.

Der merkwürdige Wagen mit den hohen Maschendrahtgittern, gezogen von einem mit Luftschlangen und Luftballons geschmückten Traktor, schwankte am Ende des Umzugs durch das Schneetreiben. Zwei Dutzend Mädchen und Frauen standen darin. Die meisten schienen sich zu kennen. Sie lachten und schwatzten miteinander.

Ein Brauch. Es gehörte anscheinend zu diesem Spiel, dass Frauen eingefangen und in einen Wagen gesperrt wurden. Man würde sie hier wieder herauslassen, genauso wie die anderen. Natürlich.

Sie bemühte die ganze Zeit ihren Verstand, um sich das klarzumachen. Aber ihr Inneres war angespannt wie eine Saite. Ihre Hände zitterten. Die Angst saß noch immer ganz oben in der Brust und in den Schultern, presste ihr den Atem weg.

Nicht auffallen. Wo Menschen sich sammeln, lauert Gefahr.

Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Masken überall in den Straßen junge Frauen einfingen. Sie hätte das Heim ja überhaupt nicht verlassen, wäre da nicht dieser Anruf gewesen: Ob sie Amide Aslan sei? Sie müsse sich heute um fünfzehn Uhr in der Polizeistation melden. Man musste sich dauernd irgendwo melden. Aber sie hatte ihr Ziel nicht erreicht.

Die beiden Männer in dem schrecklichen Kostüm hatten sie direkt vor dem Polizeiposten einfach hochgehoben und weggetragen, trotz ihrer Schreie. Sie hatte sie gebeten, gebettelt, sie loszulassen, wieder und wieder um Hilfe geschrien. Natürlich verstanden sie kein Kurdisch. Und die Passanten hatten gelacht. Gejohlt.

Auch die anderen Mädchen hatten geschrien, als man sie in den Wagen brachte. Aber das war eine andere Art Schreien gewesen. Sie konnte den Ton genau unterscheiden. Jede Frau kann auseinanderhalten, was echte Not und was nur vergnügtes Kreischen ist.

An der Außenseite des Hexenwagens sprangen immer wieder Leute mit Masken auf und fuhren ein Stück mit. Einige waren betrunken.

Die Masken mit den Reißzähnen und den Tierfellen über dem roten Trikot erschienen ihr wie Wesen, von denen die abergläubischen Bauern zu Hause glaubten, dass sie in den Bergen leben. Wolfsmenschen. Halb Mensch, halb Tier, Wesen, die eine abseitige Natur besitzen, blutrünstig Schafe reißen, die Hirten ermorden.

Wie konnte man so etwas zum Spaß darstellen, sich daran freuen?

Sie hätte sich nie träumen lassen, dass sie nach zwei Wochen in der Fremde in einem verschlafenen kleinen Städtchen in einen solchen Hexenkessel geraten würde.

Ein Regen aus Konfetti rieselte auf sie herunter. Sie wischte sie weg. Trotzdem blieben welche auf ihrem Gesicht und im Haar hängen, wo das Kopftuch es nicht bedeckte.

Du bist das nicht gewohnt. Du bist in der Fremde. Die Leute sind anders hier. Das alles sagte sie sich. Und: Du bist erst neunzehn Jahre alt. Du durftest gehen, bevor die Soldaten wiederkamen, und die anderen, die für dich das Geld gesammelt haben, mussten bleiben.

Ein paar von den Mädchen schienen die Männer zu kennen, die sich unter den Masken verbargen. Sie unterhielten sich mit den Roten, die sich außen am Gitter festhielten, lachten, rauchten Zigaretten.

Die Gesichter der Frauen waren gerötet, sie kicherten ständig miteinander. Unschwer zu erraten, dass ihnen das Ganze Spaß machte. Einige waren verkleidet, unter ihren Mänteln trugen sie ausgeschnittene Kleider.

Keine nahm mit ihr Blickkontakt auf. Es war ihr auch lieber so. Sie hätte ein Lächeln nicht erwidert. Sie hatte hier nichts zu suchen. Diese Leute sollten ihre groben Späße ohne sie machen. Sie wandte ihren Blick ab. Niemanden ansehen, nicht bemerkt werden war das Beste.

Ab und zu trafen Schneebälle den Wagen, zerspritzten am Gitter, und der Schnee regnete in den Wagen hinein.

Sie schob ihre Haare unter das Kopftuch zurück und hielt den Mantelkragen fest geschlossen. Als sie aufblickte, schrak sie zusammen.

Der Maskierte, der gerade am gegenüberliegenden Wagenbord hochgeklettert war, war einer von den beiden, die sie verschleppt hatten. An den Handschuhen erkannte sie ihn. Rote Skihandschuhe mit weißen und blauen Streifen, wie die französische Flagge. Die Dämonenfratze mit den Eberzähnen wandte sich ihr zu. Wieder schoss die Angst in ihr hoch. Sie drehte ihr Gesicht weg. Am liebsten hätte sie wieder geschrien.

Es ist nur eine Spielerei, lass dich nicht gehen! Nimm dich zusammen!

Sie bot alle ihre Kräfte auf. Versuchte, langsam weiterzuatmen, kein Geräusch zu verursachen, obwohl ihr das Schreien ganz dicht hinter der Kehle saß.

In einer Stunde würde sie in der Unterkunft sein und alles hinter sich haben. Vielleicht schon früher.

Sie dachte an den hohen Zaun, der die Wohncontainer umgab. An die Türen, die man abschließen konnte. In der Unterkunft war sie sicher. Dort waren ihre Sachen, ihr Koffer mit den Briefen und Fotos darin. Ihr Zuhause. Ein Zuhause, das in einem Schuhkarton Platz gefunden hätte.

An die Bilder denken. Vielleicht half es. An den Vater mit seinem Schnurrbart. Er trug eine Krawatte, hatte sich fein gemacht für den Fotografen. An ihren Bruder Yasin, ihren Lieblingsbruder, der nicht hatte mitkommen können. Ganz fest dachte sie mit geschlossenen Augen an ihn. Yasin, dachte sie, du wirst nachkommen, dafür bete ich. Lange hielt sie die Augen geschlossen.

Als sie sie wieder öffnete und aus dem Wagen sah, standen keine Menschen mehr neben der Straße. Der Lärm hatte nachgelassen, die Musik klang von ferne, vom Schnee gedämpft, herüber. In der Dämmerung tauchten ein paar Leute mit Regenschirmen auf, die eilig vorbeiliefen. Man schien am Ortsrand angekommen zu sein. Auf ihrem Mantel und auf dem Kopf war Schnee. Sie rührte sich nicht.

Sie würde niemanden ansprechen. Notfalls würde sie einfach um den ganzen Ort herumlaufen, bis sie sich orientiert hatte. Der Schnee machte ihr keine Angst. Der Schnee am allerwenigsten.

Sie zwang sich, nach dem Mann zu sehen. Er war noch da. Aber zu ihrer Erleichterung sah er nicht mehr in ihre Richtung. Er telefonierte.

Mit einer rot-weiß-blau behandschuhten Hand hielt er sich am Gitter fest, mit der anderen drückte er ein Handy an den Rand seiner Maske, wo sein Ohr war.

Was er tat, wirkte merkwürdig beruhigend auf sie. Das Telefonieren verwandelte dieses dämonische Werwolfwesen wieder in einen Menschen. Vielleicht ein Ordner, der für den Ablauf des Zuges verantwortlich war; und sie bereiteten den Abschluss vor. Man würde sie jetzt gleich gehen lassen.

Es dauerte tatsächlich keine fünf Minuten mehr. Der Traktor hielt am Straßenrand an. Während der Motor weiter vor sich hintuckerte, wurde das Vorhängeschloss an der schweren Kette aufgeschlossen, und die Frauen drängelten kichernd durch die offenen Türen hinaus. Ein paar wurden von den Roten heruntergehoben. Es gab viel Gejohle und Gelächter.

Sie sprang vom Wagen auf die Erde. Niemand fasste sie an. Alle blieben in einem schwatzenden Haufen stehen. Es schien darum zu gehen, was man als Nächstes unternehmen könnte. Man beachtete sie nicht.

Sie ging los. Weg von den Leuten. Immer wieder brach die Gruppe in Lachen aus. Das Lachen galt nicht ihr.

Noch immer herrschte dichtes Schneetreiben. Ein paar Häuser, ein Stück verschneite Felder, soweit der fallende Schnee den Blick erlaubte. Sie würde einfach auf die Häuser zumarschieren, sich nicht umsehen.

Zur Polizei konnte sie morgen gehen. Dafür, dass sie den Termin versäumt hatte, konnte sie nichts.

Sie schob die langen, schwarzen Strähnen in das Kopftuch hinein. In der feuchten Luft wurde ihr Haar widerspenstig, ringelte sich zu Locken zusammen.

Der Schnee machte knarrende Geräusche unter ihren Schuhen. Unberührter, frisch gefallener Schnee. Der gleiche Schnee wie zu Hause. Wie eine freundliche Geste empfand sie ihn. Der Schnee war ein Geschenk, ein Vorhang, der sie vor den Blicken verbarg, ein Teppich, der die Geräusche dämpfte.

Sie hörte kaum noch die Stimmen der Leute, die beim Wagen standen. Bald würde sie außer Sicht sein.

Sie atmete tief durch. Die Winterluft machte sie klar und stark.

An der nächsten Ecke blieb sie stehen und blickte sich um. Der Wagen war nicht mehr zu sehen. Nur noch die dicht herabschwebenden Flocken.

Sie war allein. Niemand folgte ihr. Sie beschleunigte ihren Schritt, bis sie jenseits der letzten Häuser war.

Den schweren Geländewagen mit der verschneiten Autonummer, der mit ausgeschalteten Scheinwerfern hinter ihr auf den Feldweg einbog, nahm sie nicht wahr. Sie hörte den Motor und die Reifen auf dem Schnee genau in dem Augenblick, als die hintere Wagentür geöffnet wurde und man sie hineinzerrte.

Diesmal hatte sie keine Zeit gehabt zu schreien.

3

»Sailer, sagen Sie? Einen Moment bitte.« Die Dame an der Anmeldung nahm das Blatt entgegen, das er ihr durch den Schalter reichte, und lächelte ihm routiniert zu. »Ich rufe Ihr Team an.«

Während sie telefonierte, sah Sailer in der spiegelnden Scheibe der Schalterverglasung, dass sich etwas hinter seinem Rücken tat, und wandte sich um. Der hagere Vollbärtige, der hinter ihm stand, zeichnete gerade den letzten Strich eines Vierecks in die Luft, riss die Augen auf und machte Mundbewegungen, als wolle er Rauchringe vor sich hinblasen.

Die hübsche Dunkelhaarige hinter dem Schalter sprach weiter in den Hörer. »Bei Frau Meier-Hülsgen, ja?« Dabei lächelte sie links an Sailer vorbei den Bärtigen an und schüttelte den Kopf. »Sie kommt selbst. Ich sag's ihm. Danke.« Sie legte auf. »Leider keine Post, Herr Kügler«, sagte sie zu dem Bärtigen in einem Ton, in dem man einem Kind erklärt, dass es heute keinen Pudding zum Nachtisch gibt.

Der Bärtige reagierte darauf, indem er stumm die Schultern hochzog, bis sie fast seine Ohren berührten, und sie dann erschöpft fallen ließ. Anschließend machte er eine tänzerische Wendung auf dem Absatz und streckte die Arme entsagungsvoll von sich. So ging er wie ein Kranich in die Eingangshalle, in der drei Tische, mit Patienten besetzt, zwischen Hydrokulturbäumen standen.

Zwei Flure, mit hellgrauem Teppichboden belegt, erstreckten sich, von grünen Topfpflanzeninseln geschmackvoll ihrer Strenge beraubt, in entgegengesetzte Richtungen. Zu den »Funktionsabteilungen« wies ein Schild in die eine, zur »Bäderabteilung« in die andere Richtung.

Eine Treppe, getragen von einem Edelstahlgerüst, schwang sich in die oberen Stockwerke, tropische Pflanzen auf einer Plattform ließen einen Blättervorhang herunterhängen. Unter der Plattform murmelte ein Brunnen. Ein Dutzend Riesenkiesel in einem kleinen Bachbett, von einem dünnen Wasserfilm überzogen, der sich im Licht der Punktstrahler ständig irisierend wandelte.

Unwillkürlich erwarteten Sailers Ohren das schrille Piepsen der winzigen bunten Vögelchen, die in zoologischen Gärten in den Abteilungen gehalten wurden, die so aussahen wie das Foyer, in dem er sich befand. Früher, fiel ihm ein, stand an solchen Stellen in Kliniken höchstens ein Aquarium.

»Sie sind im Team vier«. Die Dame am Empfang holte Sailer aus seinen Betrachtungen. »Frau Meier-Hülsgen kommt gleich und nimmt Sie mit nach oben. Das Abendessen fängt um halb sechs an. Wollen Sie Vollwert oder streng vegetarisch?« Lächelnd fügte sie hinzu: »Den endgültigen Speiseplan wird Ihre Teamleiterin, Frau Meier-Hülsgen, festlegen. Das ist jetzt nur für heute Abend.«

»Äh, Vollwert bitte«, sagte Sailer. Gute Miene machen. Er würde seinen Vorsatz gebrauchen können. Während die Dame hinter dem Schalter einen Eintrag machte, warf er einen weiteren Blick in die Halle. Dort war der Bärtige gerade dabei, eine Gruppe von Leuten zu umarmen, die, in dicke Wintermäntel gehüllt, von draußen hereingekommen waren.

»Barbara!«, rief er. Dann: »Stefan!« und »Lisa!« Vor einem der drei Angerufenen stand er gerade mit schiefgehaltenem Kopf und herzlichem Gesichtsausdruck. Die Arme wieder waagrecht von sich gestreckt, hielt er einen Moment inne, bevor er in die anstehende Umarmung verfiel. Sailer wandte sich ab. Es graute ihm.

Durch die verglaste Vorderfront der Klinik sah man das Schneetreiben im Licht der Laternen, die den Aufgang beleuchteten. Die Klinik lag auf einer Anhöhe, nochmals zwei-, dreihundert Meter oberhalb von Erbach. Sailer war froh, dass er die Auffahrt zum Parkplatz noch geschafft hatte. Er schätzte, dass gute zwanzig Zentimeter Neuschnee gefallen waren. Er sah auf die große Uhr, deren Minutenzeiger gerade einen Ruck gemacht hatte. Viertel nach sieben.

»Ach, da ist ja Frau Meier-Hülsgen. Das ist Herr Sailer«, sagte die Dunkelhaarige hinter ihrem Schalter hervor. Ihr Ton war dabei so verbindlich, als wäre sie die Gastgeberin einer Dinner-Party und stellte zwei Gäste einander vor. Leider begann das Telefon im gleichen Moment zu klingeln und störte die Intimität der Szene.

Die Frau streckte ihm die Hand entgegen. Er hatte sie gar nicht kommen sehen. Sie sah so jung aus, dass er sie für eine Studentin oder Schwesternschülerin gehalten hätte. Passierte ihm immer wieder. Je älter er wurde, desto jünger kamen ihm die anderen vor.

»Guten Abend. Meier-Hülsgen«, sagte sie. »Ich bin Ärztin in Team vier. Ihre Teamleiterin«, fügte sie erklärend hinzu.

»Sailer«, stellte er sich vor. »Angenehm.«

Ärztin also, dachte er und streifte die junge Frau, die fast noch wie ein Mädchen wirkte, mit einem Blick, während sie einen Schritt vor ihm die Treppe hochging. Natürlich trugen die Ärzte hier keine weißen Kittel, es hätte in dieser Halle, die besser in ein Hotel als in eine Klinik gepasst hätte, auch lächerlich gewirkt. Sie trug Jeans, die mit einer kompliziert aussehenden Stickerei auf der rechten Gesäßtasche versehen waren.

Sailer wusste, regelmäßig beraten durch weibliche Bekannte, dass Jeans nicht mehr die Nonkonformistenuniform seiner Jugend darstellten, sondern sehr schick und teuer sein konnten, abgesehen davon, dass sie Schlankheit voraussetzten und insofern nicht zu Sailers Ausstattung gehörten. Dicke sahen in Jeans lächerlich aus.

Frau Meier-Hülsgen standen sie gut, sie füllte die auf weibliche Proportionen zugeschnittenen Hosen angenehm aus, wie Sailer feststellte, während er hinter ihr die Treppen hinaufstieg. Ein hellgrauer Wollpullover und eine Lederweste vervollständigten ihre Garderobe. Die Haare hatte sie zu einem schlichten Pferdeschwanz zusammengebunden.

»Wir machen heute Abend noch die Aufnahmeuntersuchung, Herr Sailer. Die Befunde hat uns Ihr Hausarzt ja bereits geschickt.« Sie wandte sich zu ihm um und verlangsamte ihren Schritt auf eine diskret fürsorgliche Weise, er sah den Anflug von Bedauern in ihrem Gesicht. »Bin ich zu schnell?«

»Es geht schon«, sagte er. Sailer hatte keine Probleme mit der Treppe, er war lediglich in sein übliches Schlendertempo verfallen, als die Anspannung, die ihn an der Pforte befallen hatte, nachließ. Zumindest diese junge Ärztin schien keine besonderen Allüren zu haben.

Walther Marquardt, sein Freund und Hausarzt, hatte ihm auszureden versucht, inkognito in die Schlossbergklinik zu gehen.

»Das ist nicht fair, Sebastian. Ich würde es selbst auch wissen wollen, wenn ein Kollege zu mir in Behandlung kommt.«

Sailer aber war standhaft geblieben. Er hatte es damit begründet, dass Ärzte von anderen Ärzten mit viel zu viel Rücksicht behandelt würden. Das Ergebnis sei, dass bei ihnen die schlimmsten Behandlungsfehler gemacht würden und sie bei Operationen starben. Ganz abgesehen davon, dass er das besondere Misstrauen seiner Kollegen gegenüber seiner psychiatrischen Tätigkeit kenne und satthabe. Er sei schließlich hier, um sich zu erholen. Das könne er am besten inkognito.

»Was soll ich dann als Beruf angeben?«

Restaurator, selbstständig, hatte er Walther aufgetragen.