Das Schweigen meiner Freundin - Giulia Baldelli - E-Book

Das Schweigen meiner Freundin E-Book

Giulia Baldelli

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Beschreibung

In einem Sommer lernen Giulia und Cristina sich als Kinder kennen. Die pragmatische und rationale Giulia ist schnell fasziniert von Cristi, die fragil wirkt und kaum redet. Das jüngere Mädchen löst in ihr Gefühle aus, von denen sie nichts ahnte. Umso entsetzter ist sie, als ein fremder Junge, Mattia, Cristis Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ebenso eifersüchtig wie verzweifelt beobachtet sie die Annäherung zwischen den beiden. Die Beziehung zu Cristi bleibt ein Balanceakt. Auch als junge Frau verschwindet sie immer wieder aus Giulias Leben – und schweigt. Längst weiß Giulia, dass ihre Freundin die größere Verbundenheit zu Mattia empfindet. Um sie nicht ganz zu verlieren, lässt sie zu, dass Cristi in einer bedrohlichen Situation eine ebenso einsame wie fatale Entscheidung fällt. Erst Jahre später, als alle in dem Ort ihrer Kindheit wieder aufeinandertreffen, erkennt Giulia ihren Fehler.

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Seitenzahl: 585

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Giulia Baldelli, 1979 in Fano an der Adria geboren, arbeitet als Dozentin für Chemie und als Freelancerin im Bereich Risikomanagement und Lebensmittelsicherheit. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Bologna. ›Das Schweigen meiner Freundin‹ ist ihr erster Roman.

Elisa Harnischmacher hat Literaturübersetzen (Italienisch/Englisch) in Düsseldorf studiert. Sie hat u.a. Luca Di Fulvio und Giovanna Giordano ins Deutsche übertragen. Für ihre Übersetzung von ›Das Schweigen meiner Freundin‹ hat sie ein Arbeitsstipendium des Deutschen Übersetzerfonds erhalten.

GIULIA BALDELLI

Das Schweigenmeiner Freundin

Roman

Aus dem Italienischenvon Elisa Harnischmacher

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Die Übersetzung dieses Buch erfolgte mit finanzieller Unterstützung des italienischen Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten und Internationale Zusammenarbeit.Questo libro è stato tradotto grazie a un contributo per la traduzione assegnato dal Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale italiano.

Die italienische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel ›L’estate che resta‹ bei Guanda, Mailand.

© 2022 by Giulia Baldelli, published in Italy by Ugo Guanda Editore, Milano; German edition published by arrangement with Literarische Agentur Michael Gaeb, Berlin, in conjunction with Walkabout Literary Agency, Roma

E-Book 2024

© 2024 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Elisa Harnischmacher

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © Petra Eriksson

Satz: Fagott, Ffm

E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book 978-3-7558-1065-0

www.dumont-buchverlag.de

PROLOG

Seit zwei Stunden warte ich auf dich und weiß, du kommst nicht. Mir ist kalt. Niemand ahnt, dass ich hier bin, hier sitze, allein auf einem eiskalten Stein. Über der Lichtung liegt nächtliches Dämmerlicht. In der Mitte ein nebelverhangener Tümpel. Schilf flüstert im Wasser, der Wald ringsum ist jedoch still, verwoben mit der Dunkelheit.

Auch in dem kleinen Ort unserer längst vergangenen Sommer sind die Nächte gefährlich geworden. Im Wald treiben sich Streuner herum, Kriminelle, die unberechenbarer sind als wilde Tiere. Doch ich habe keine Angst. Und mag es auch verrückt sein, hier als Sechzigjährige im finsteren Wald auf dich zu warten, ist dies der einzige Ort, an dem ich mich dir anvertrauen kann.

Ich habe mein Handy dabei, es ist ausgeschaltet. Etwas Kleingeld. Und einige Seiten Papier, viel zu viele. Ich habe sie einmal gelesen und kann sie auswendig. Lange komplizierte Worte, ganz wie ich sie mag und du nicht. Dichte Sätze, in denen steht, dass mein Blut krank ist und mir nur noch drei Monate bleiben. Das, ja, das macht mir Angst. Was macht man, Dottore, wenn einem nur noch so wenig Zeit bleibt? Man versucht, es weitmöglichst hinauszuzögern, die Schmerzen zu lindern. Ja, aber ich, was kann ich tun, Dottore? Er hat gelächelt, behutsam meine Hand gedrückt, Signora, ordnen Sie Ihre Angelegenheiten.

Dein Name lag mir auf der Zunge. Doch ich habe ihn wieder hinuntergeschluckt. Sie, habe ich nur geflüstert, aber der Arzt hat natürlich nichts begriffen.

Ich bin Anwältin und weiß, was in einem solchen Fall zu tun ist. Vermächtnisse, Versicherungen, Testament. Vom Krankenhaus bin ich direkt zur Kanzlei gegangen, habe die Sekretärin nach Hause geschickt und den restlichen Morgen damit verbracht, meine persönlichen Unterlagen zu sichten, und mich dann im Spiegel betrachtet. Was tue ich hier eigentlich?, habe ich mich gefragt. Geld, Konten und Besitz; alles geregelt. Nur noch eine Sache muss ich klären, und um die ins Reine zu bringen, braucht es weder Papiere noch Unterschriften.

Anschließend bin ich nach Hause zurückgekehrt. Habe vornehme Kleidung in einen Koffer gepackt und zu Pierluigi gesagt, ich müsse wegfahren, zu einem unvorhergesehen Arbeitstermin. Er hat mir geglaubt. Von Schwindelgefühlen und Arztbesuchen ahnt er nichts, und an eine Affäre verschwendet er nach dreißig Jahren Ehe keinen Gedanken.

Mit Arianna war es nicht so einfach. Was sagt denn Papà dazu?, meinte sie. Ich habe ein Lächeln versucht. Sie hat eine tief sitzende Angst, verlassen zu werden, und wenn es so weit ist, wird es für sie keinen Trost geben, obgleich sie schon längst erwachsen ist. Dann werde ich ihr nicht mehr gut zureden können, so wie in ihren Kindertagen, ihr nicht versprechen können: Es ist alles gut, ich bleibe bei dir, was auch geschieht. Ich habe in ihr besorgtes Gesicht geblickt und die Tränen zurückgehalten. Ihr gesagt, in ein paar Tagen sei ich wieder da.

Den Koffer mitsamt der unnützen Kleidung habe ich in der Gepäckaufbewahrung im Bahnhof abgegeben. Langsam ist das Schild »Bologna Centrale« im Nebel verschwunden. Zwei Stunden mit dem Zug, mit dem Taxi bis in den Ort und dann zu Fuß über die gewundenen Straßen hinauf in die Altstadt.

Um das Haus, in dem ich aufwuchs, habe ich einen Bogen gemacht, ohnehin ist es seit Jahren verlassen, und meinen Aprikosenbaum im Garten gibt es nicht mehr. Vor dem Haus von Nonna Ida, deiner Großmutter, habe ich den Blick gesenkt. Damit ich die Zypressenreihen nicht anschauen musste, wo wir Mattia kennenlernten. Erst beim Uhrenturm habe ich wieder aufgeblickt. Und den schwarzen Streifen gesucht, zu dem der Fluss, an dem wir immer spielten, von hier oben wird. Er ist noch da, wirkt im Mondlicht noch immer wie in Stein gemeißelt.

Auch dem Fluss habe ich gesagt: Ich komme wieder. Dann habe ich mich in den Wald geschlagen. Zwischen den Büschen hindurch, und als ich die Lichtung und den Tümpel erreichte, in den du als Kind den Kopf tauchtest, ohne mich, habe ich laut deinen Namen ausgesprochen. Schon seit Jahren habe ich das nicht mehr getan, und meine Stimme versagte dabei. Noch einmal, lauter: Cristi. Das Schilfgeflüster hat mir geantwortet, die knirschende Erde, vielleicht auch ein Nachtvogel. Du nicht. Also habe ich mich gesetzt und begriffen, dass das Warten noch nicht vorüber ist.

Ich weiß, was du sagen würdest, wenn du hier wärst. Mittlerweile ist mir dein Verschwundensein vertraut, und ich kann deine Gedanken erahnen. Du würdest sagen, ich solle Pierluigi anrufen, zu ihm und Arianna zurückkehren, anstatt hier in der Kälte zu sitzen. Und dass du ohnehin schon alles weißt.

Aber so ist es nicht, Cristi. Du irrst dich. Das, was ich dir sagen will, trage ich schon lange mit mir herum, seit unseren schulfreien Vormittagen, seit den Nächten unserer Unizeit, die wir eng umschlungen in einer Mietwohnung verbrachten. Ich könnte es eine Beichte nennen, aber das Wort trifft es nicht ganz.

Erklärungen haben dich nie interessiert, mich hingegen schon. Ich brauche sie, sie geben mir Halt. Und was ich dir zu sagen habe, ist weder eine Beichte noch ein Geständnis. Sondern die reine Wahrheit, meine Wahrheit. Die ich dir verschweige seit dem Tag im Juni vor fünfzig Jahren, als man dich in einem alten Haus hier in der Nähe in meine Obhut gab. Die Wahrheit, die darauf wartete, dass du sie aus ihrer Sprachlosigkeit befreist, du, mit deinem einzigartigen Gespür.

Und da ich weiß, dass du weder in dieser noch in einer anderen der wenigen Nächte kommst, die mir noch bleiben, mache ich es auf meine Art. Ich vertraue mich der Finsternis an, werde mich über das schwärzeste Stück Erde beugen und sie bitten, sich unserer Geschichte anzunehmen. Und wenn ich ihr alles erzählt habe, bitte ich das feuchte Schilf, meine Worte in den Wald zu tragen. In die Straßen hinaus, auf den Grund des Wassers und in den Himmel. Damit sie dich erreichen mögen, Cristi, wo auch immer du bist.

ERSTER TEIL

1991–

1

Zum ersten Mal begegne ich Cristi in der Küche ihrer Großmutter, Nonna Ida. Es ist Sommer, anders kann es nicht sein, denn wir werden uns viele Jahre lang ausschließlich in den heißen Sommermonaten sehen. Ich mustere sie im Dämmerlicht, und als Erstes fällt mir auf, wie unterschiedlich wir sind. Als zehnjähriges Kind in einem kleinen Ort ist es einfach zu wissen, was man nicht ist. Nicht hat. Außerdem ähnelt mir das Mädchen kein bisschen, das erkenne ich sofort. Sie ist zierlich, ihre blonde Haarmähne schulterlang, und besonders gesprächig scheint sie auch nicht zu sein.

»Ciao«, murmle ich. »Ich heiße Giulia.«

Keine Antwort. Sie isst einen Pfirsich und hebt die freie Hand zu einer Art Gruß.

Ich schäle mein Obst immer. Sie ist wirklich niemandem ähnlich, den ich kenne, denke ich, erwidere ihre Geste und werfe meiner Mutter einen genervten Blick zu. Doch sie dreht mir den Rücken zu und redet mit Ida.

»Es ist kein Problem für Giulia«, wiederholt sie.

»Seid ihr sicher?«, vergewissert sich Ida.

Meine Mutter ist sich sicher, ich nicht. Und eigentlich sollte ich ihr antworten, da ich diejenige bin, die das kleinere Mädchen den Sommer über unter ihre Fittiche nehmen soll. Nimm Cristi ein wenig unter deine Fittiche, meinte meine Mutter am Vorabend. Behalte sie im Auge, mein Vater. Und ich murrte: Fittiche, Auge, sonst noch was?

Ida reicht mir einen Korb mit frischen Eiern und frisch gebackenem Brot.

»Genau das Richtige«, seufzt meine Mutter, dann bedeutet sie Ida, ihr in den Nebenraum zu folgen. Ich spitze die Ohren, höre die beiden wispern. Sie tuscheln darüber, dass Lilli, Cristis Mutter, es immer eilig hat, wieder wegzukommen. Über Cristis schlechtes Zeugnis. Über ein gerahmtes Foto, das Ida auf das Nachttischchen stellen musste.

»Wenn es nach mir ginge, würde es im Kamin landen«, bemerkt Ida.

Obwohl ich angestrengt lausche, verstehe ich nicht, was meine Mutter darauf sagt.

Inzwischen hat Cristi den Pfirsich aufgegessen und den Kern in die Hosentasche gesteckt. Ich werfe ihr einen angewiderten Blick zu, aber sie bemerkt ihn nicht. Meine Mutter und Ida reden über die violetten Augenringe von Cristi und darüber, wie mager sie ist. Über meine vollen Arme und mein rundes Gesicht verlieren sie kein Wort.

Ungeduldig schaue ich mich um. Ich bin noch nie zuvor in diesem Haus gewesen. Der Putz blättert von den Wänden, am Tisch stehen zwei Stühle, ein grüner und ein weißer.

Im Spülstein liegt ein gehäutetes Kaninchen. Ich gehe näher heran. Cristi folgt mir leichtfüßig. Ich spüre sie an meiner Seite, sie ist fast so groß wie ich. Wir werfen einen schnellen Blick auf das bläuliche Tier, dann sehen wir uns an. Das Entsetzen muss mir im Gesicht stehen, so nennt Cristi es Jahre später, sie wagt sich weiter vor und legt mir eine Hand auf die Schulter. Eine zarte Berührung. Ich nehme einen wundervollen Duft wahr, nicht den von frisch gebackenem Brot und auch keinen aus einem Fläschchen. Er muss von ihrer Haut ausgehen.

Dass Haut einen eigenen Geruch hat, eine Persönlichkeit, ist das Erste, was ich von Cristi lerne. Ich will ihr ein Lächeln schenken, doch sie kommt mir zuvor, und erst da fällt mir auf, dass sie trotz des ausgewaschenen Shirts, des verfilzten Haars und der spitzen Schulterblätter wunderschön ist.

Und plötzlich möchte ich nur noch weg. Möchte die Tür hinter mir zuwerfen, von der die Farbe abblättert, und so hohes Fieber bekommen, dass ich mich nicht um dieses Mädchen kümmern muss.

»Mamma!«, rufe ich.

Cristi lässt meine Schulter los. Meine Mutter kommt in die Küche und wirft mir einen vernichtenden Blick zu.

»Wir müssen jetzt gehen«, verkündet sie und streicht dem Kind, das keine Regung zeigt, über den Kopf.

Ich seufze erleichtert. Das war es fürs Erste. Ich muss dem Mädchen nicht in ihr Zimmer folgen, das eigentlich das der Nonna ist, muss nicht so tun, als würden mich ihre Spiele interessieren, falls sie überhaupt welche hat.

Ida begleitet uns in den Hof, hier im Licht fällt mir zum ersten Mal das feine Faltennetz in ihrem Gesicht und ihr fahles graues Haar auf. Zwei Mauersegler stoßen auf dem Dach des alten Hauses schrille Rufe aus. Als sie still sind, ergreift meine Mutter das Wort, sagt entschieden: »Es wird schon gut gehen«, dann drückt sie der Alten die Hände, und wir machen uns endlich auf den Weg.

Cristis Nonna wohnt ganz oben in der Altstadt des Ortes, wo eine Handvoll Häuser wie durch ein Wunder rings um den Uhrenturm stehen geblieben sind. Als wir auf unserem Nachhauseweg die Stufen hinuntergehen, hält meine Mutter plötzlich inne.

»Wir tun das für Ida. Sie ist eine anständige Frau«, erklärt sie.

Ich nicke.

»Und für das Kind«, fügt sie hinzu.

Und für Lilli tun wir nichts?, möchte ich fragen. Doch ich halte mich zurück. Meine Mutter heftet reglos den Blick auf mich. Ich weiß immer genau, was sie von mir erwartet. Und jetzt muss ich so tun, als interessierte ich mich für eine Großmutter und deren Enkelkind, sonst wird sie sich von hier nicht mehr wegbewegen.

»Brauchen sie denn unsere Hilfe?«, frage ich also betroffen.

»Und ob«, seufzt meine Mutter.

Das wundert mich nicht. Oben in dem verfallenen Ortsteil wohnen nur noch ein paar sonderbare Familien. Meine Mutter und andere Signore bringen ihnen im Winter gut erhaltene Kleidung. Und im Dunkeln manchmal einen Karton voller Lebensmittel. Nein, diese Familien sind nicht sonderbar, sie haben nur einige Probleme, hat mein Vater mir erklärt.

»Haben Ida und Cristi Probleme?«, frage ich, damit sie weitergeht.

Endlich macht meine Mutter einen Schritt vorwärts. »Ziemlich viele«, antwortet sie.

Welche denn, möchte ich fragen, aber dann könnte es sein, dass wir am späten Abend noch hier stehen. Außerdem weiß ich über Ida, was man sich im Ort erzählt. Ich weiß, dass Ida Witwe ist. Wenig Geld hat und ein schwaches Herz, seitdem ihre Tochter Lilli mit achtzehn ein Kind bekommen hat. Und seit eben weiß ich, dass sie ein seltsames Enkelkind hat.

»Du kannst tun, was du sonst auch tust, aber behalte das Mädchen im Auge, kümmere dich um sie.« Ich antworte nicht.

»Ein wenig wie eine Schwester«, fährt meine Mutter fort.

Zum ersten Mal höre ich das Wort »Schwester« aus ihrem Mund, und ich habe den Eindruck, dass sie ein bisschen rot wird. »Den ganzen Tag?«

»Nein, nur vormittags.«

Der Ton meiner Mutter ist ebenso bestimmt, wie wenn ich mit ihr zur Messe gehen soll. Ich habe keine Wahl und verspreche es ihr.

»Wusste ich es doch«, freut sie sich.

»Und das Foto?«, murmle ich. Im Juni ein Foto im Kamin verbrennen, was hat es damit auf sich?

Doch meine Mutter ist bereits weitergegangen. Vor der Kirche der heiligen Lucia bekreuzigt sie sich, und ich klettere auf ein Mäuerchen. Sei vorsichtig, mahnt sie mich und hält meine Hand. Springen, Klettern und Laufen sind nicht meine Stärken. Etwas unsicher stelle ich mich auf die Zehenspitzen. So kann ich unser Haus sehen. Mein Vater ist im Garten, lehnt gerade die Leiter an den Aprikosenbaum.

»Papà!«, rufe ich. Er winkt. »Wir kommen.«

Ich liebe meinen Vater. Obwohl er tagaus, tagein Lastwagen fährt, wird er nie wütend. Ich liebe auch unser Haus. Es hat glatte Mauern, zwei Badezimmer, einen großen unkrautfreien Garten, in dem keine verrostete Schaukel steht. Es ist das letzte Gebäude vor der Altstadt. Und auch wenn meine Mutter ziemlich nervig sein kann, weil sie ständig anderen helfen will und gute Schulnoten für das Wichtigste überhaupt hält, ist unser Haus das letzte im Ort mit einer ganz normalen Familie.

2

Seit vier Jahren schon lässt Lilli Cristi den ganzen Sommer über in ihrem Heimatort zurück. Wenn es wieder so weit ist, steigt sie mitten in der Nacht aus dem Taxi, ruft nach Ida, während Elmo, der einzige Taxifahrer im Ort, einen zerschlissenen Beutel und das spindeldürre Kind ins baufällige Haus bringt. Immer ist es Ida, die Lilli umarmt, niemals andersherum. Was sie ihr zuflüstert, wenn sie sie an sich drückt, versteht Elmo nicht, denn Lilli macht einen Heidenlärm. Sie lässt sich über Schulen und schlechte Zeugnisse aus. Über fehlendes Geld und wichtige Dinge, die sie mit Cristi am Rockzipfel nicht erledigen kann. Wenn Ida dann den Kopf schüttelt, verstummt Lilli, macht auf den hohen Absätzen kehrt und gibt dem Taxifahrer die Anweisung, sofort zum Busbahnhof zurückzukehren. Ohne sich von dem Kind zu verabschieden, das schwört er in der Bar auf dem Corso, und wer Idas Tochter kennt, weiß, dass er die Wahrheit sagt.

Als Lilli sich zum ersten Mal im Sommer vor vier Jahren Cristi vom Hals schafft, ist das Kind gerade einmal sieben Jahre alt, drei Jahre jünger als ich. Sie ist mit der ersten Klasse fertig und hat Ida nur zweimal gesehen; am Tag ihrer Geburt und einmal an Weihnachten in Bologna, in einer Bar am Bahnhof. Die Nachbarn hören sie nie reden, aber, wie sie meiner Mutter versichern, auch nicht streiten. Sie ist überaus neugierig, genau wie ich.

Wenn wir zusammen sind, ist Cristi nahezu stumm, und alles, was ich in diesen ersten Tagen seit ihrer Ankunft über sie weiß, weiß ich von meinem Vater oder verdanke ich meiner außergewöhnlichen Fähigkeit, die Gespräche meiner Mutter zu belauschen.

»Ida kann sich doch gar nicht um das Kind kümmern«, flüstert unsere Nachbarin eines Abends hinter vorgehaltener Hand.

»Doch, kann sie«, entgegnet meine Mutter gereizt.

»Eine Frau, die in einer heruntergekommenen Hütte haust und im Gefängnis kocht?«

Ich lausche gespannt. Meine Mutter erschaudert normalerweise beim bloßen Anblick des alten Gefängnisses am Flussufer. »Sie ist Köchin, und das ist eine Arbeit wie jede andere auch«, gibt sie jedoch gelassen zurück.

»Außerdem ist sie so gut wie Analphabetin«, fährt die Nachbarin fort. Aber meine Mutter ändert ihre Meinung nicht, weder an jenem Abend noch an einem der folgenden. Für sie ist Ida eine anständige Frau und wird Cristi guttun. Auch wenn sie ein schwaches Herz hat und weder lesen noch schreiben kann. Ein Segen sei sie, meint meine Mutter gar, weil sie nichts auf Lillis Schreierei gegeben hat, als diese ihre Tochter samt dem armseligen Beutel bei ihr abgesetzt hat.

»Was für eine Schreierei?«, will ich von meinem Vater wissen, als wir eines Nachmittags allein zu Hause sind. Er lächelt und erklärt, dass Lilli besorgt sei über Cristis Schulnoten. Ich werfe ihm einen verwunderten Blick zu. Meine Mutter will auch immer, dass ich gute Noten habe, warum sollte Lilli nicht das Gleiche von ihrer Tochter erwarten? Mein Vater lächelt, versteht mich wortlos. »Nun, bei anderen Dingen ist sie auch nicht so besorgt«, meint er. Ida hingegen verschwendet keinen Gedanken an die Schule, das ahne sogar ich. Ihr bereitet einzig Kopfzerbrechen, dass die Enkelin so mager ist. Dass sie Ringe unter den Augen hat, die sich je nach Stimmung grau oder grün färben. Sie arbeitet jeden Morgen, um Cristi frisches Fleisch kaufen zu können, sucht die Berge nach Kräutern ab, als Heilmittel gegen Augenringe.

Die ersten Wochen mit Cristi verlaufen eintönig. Ida bringt sie jeden Morgen zu uns, dann macht meine Mutter Frühstück. Ich murmle Cristi einen Gruß zu, gebe meiner Mutter einen Kuss und blicke ihr nach, während sie geschminkt und adrett gekleidet zur Arbeit geht. Mein Vater ist in jenem Sommer wochenlang unterwegs, und so sind Cristi und ich an den Vormittagen allein. Sie trinkt einen Schluck Milch, knabbert ein bisschen an ihrem Marmeladenbrot, und ich muss mich zusammenreißen, um ihre Portion nicht auch noch zu verputzen. Dann sehen wir im Wohnzimmer ein wenig fern. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich sie beobachte, wenn sie im Schneidersitz auf dem Teppich sitzt. Gerader Rücken, schmale Füße, den Blick nie auf den Fernseher gerichtet. Das macht mich nervös, ich schalte das Gerät aus und sage ihr, sie soll sich kämmen. Oder mir beim Abräumen helfen. Ja, murmelt sie immer nur und gehorcht augenblicklich. Sie ist es gewohnt, sich zu fügen, Anweisungen zu befolgen. Wir gehen jetzt raus, sage ich jeden Morgen um Punkt zehn Uhr und laufe rasch zu meinen Freundinnen vor der Kirche. Ohne einen Mucks rennt sie hinter mir her.

Cristi ist die Kleinste in unserer Gruppe, und sie ist die Schönste von allen. Über ihr Alter und ihre Kleidung tuscheln wir, doch über ihre Schönheit verlieren wir kein Wort. Allein ihr Anblick reicht, um sie nicht leiden zu können. Ihr Schweigen nutzen wir, um sie auf Abstand zu halten. Sie beschwert sich nie, grüßt immer alle, setzt sich mit ihren langen weißen Beinen auf den Boden und sieht uns beim Spielen zu. Ich gebe nur acht, dass sie ihre grässliche Baseballkappe nicht abnimmt. Meine Mutter hat mich tausendmal ermahnt, sie hat viel hellere Haut als du und verträgt die Sonne nicht. Milchig weiß, flüstern gehässig meine Freundinnen. Ich muss eher an den Mond denken, wie er in unseren Schulbüchern abgebildet ist, oder das Licht, in das der Vollmond unseren Ort taucht. Aber das sage ich ihr natürlich nicht.

In der sommerlichen Hitze konzentriere ich mich auf Monopoly oder auf unsere Spiele mit Straßenkreide, und wenn eines der Mädchen laut darüber lacht, dass Cristi in einer Tour aufsteht und sich wieder setzt, tue ich, als würde ich es nicht mitkriegen. Ob sie mitkriegt, was die anderen sagen, oder nicht, geht mich nichts an. Ich soll sie im Auge behalten, und das tue ich, sage ich mir immer wieder, um mein Gewissen zu beruhigen. Doch ich weiß sehr wohl, dass ich mehr tun könnte, bin ruhelos in diesem ersten Juni und jedes Mal erleichtert, wenn ich Cristi mittags wieder bei ihrer Großmutter abliefere. Ida erwartet uns normalerweise im Hof, und auf dem Gasherd brutzelt und duftet es immer verführerisch. Doch ich nehme ihre Essenseinladung nie an, und am Nachmittag lasse ich mich auch nicht mehr blicken.

Zu Hause warte ich auf meine Mutter und gehe dann raus zu Genny, unserer Anführerin, die toughste meiner Freundinnen. Wir sind die Klassenbesten, und sonst reden wir meistens über die Schule. Doch jetzt reden wir nur über Cristi. Gennys Neugier kennt keine Grenzen, und ich plaudere alles aus, was ich weiß.

Ich beschreibe Idas Haus, die rissigen Wände, das Bad, das aussieht wie ein Kellerloch, den Wassertank im Hof für die Dusche. Stimmt es, dass Cristi nur eine Hose hat? Ja, ihre Nonna wäscht sie jeden Abend.

Über die Ida, die in den Wäldern nach Heilkräutern für Cristi sucht, Cristi liebevoll anlächelt und sich für sie halb tot schuftet, verliere ich kein Wort. Vor dem Einschlafen habe ich manchmal ein schlechtes Gewissen. Ich sage mir wieder und wieder, dass ich Genny zum Teufel schicken werde. Doch bei der nächsten Gelegenheit lasse ich mich wieder auf die Spielchen ein. Spioniere herum. Wenn der Postbote kommt, unterschreibt Ida mit einem X, sage ich, und meine Stimme zittert vor Bösartigkeit.

Eines Sonntagmorgens kommt mein Vater pfeifend in mein Zimmer. Er öffnet die Fensterläden und setzt sich aufs Bett.

»Weißt du, was heute für ein Tag ist?«

»Nein«, brumme ich.

»Der zweite Juli.«

»Das Fest am Fluss«, nuschle ich verschlafen. »Gehen wir zusammen hin?«

»Ich muss gleich wieder weg«, antwortet er sanft. Er macht eine Pause. »Ich dachte, du und deine Freundinnen, ihr könntet doch Cristi mitnehmen.«

»Es ist Sonntag, Papà«, maule ich. Es ist mein freier Tag ohne die Fremde, so nennen die netteren Mädchen Cristi, ohne die Stumme, sagen die gemeinen.

»Vielleicht überlegst du es dir ja noch anders«, gibt er nur zurück.

Ich weiß nicht, was der Grund ist oder ob ich einfach nur ein bisschen gefühlsselig bin, weil mein Vater zehn Tage fortbleiben wird, jedenfalls bitte ich meine Mutter, mir zwei zusätzliche Panini zu machen, für Cristi.

»Das ist sehr nett von dir«, sagt sie, bevor sie mir tausend Ermahnungen mit auf den Weg gibt. Nicht nach dem Essen schwimmen, immer bei den Freundinnen bleiben, mit Cristi nicht zu nah ans Wasser gehen und ein Auge auf sie haben. »Bestimmt kann sie nicht einmal schwimmen.«

»Warum nicht einmal?«

»Ach«, sagt meine Mutter mit einem genervten Stöhnen, »jetzt beeil dich, sonst wird es zu spät.«

Mit Sicherheit kann sie nicht schwimmen, denke ich, während ich die Treppe zur Altstadt hochsteige. Und wer weiß, was sie sonst noch nicht kann. Es ist heiß, meine Arme sind braun gebrannt, und die Sonne glüht. Das bedeutet für mich Sommersprossen noch und nöcher. Auf der Brust, an den Beinen und ganz besonders viele im Gesicht. Ich bin neidisch auf die Haut von Cristi, die duftet und keinerlei Farbe annimmt. Sie wird ein wenig rot, dann aber gleich wieder weiß. Wer weiß, vielleicht ist der Fluss zu kalt für sie. Möchte ich das Kind aus Bologna mit zum Fluss nehmen, damit sie darin ertrinkt? Nein, das nicht, sage ich mir und erschaudere.

Ich denke oft an diese Episode zurück, und jedes Mal habe ich eine andere Version im Kopf. Ich hole sie ab, weil sie mir leidtut. Weil ich vor meinem Vater gut dastehen möchte, weil ich will, dass ihre Haut im eisigen Wasser blau und hässlich wird. Jedes Mal, wenn ich mich an den Tag erinnere, an dem sich alles ändert, an dem alles anfängt, ist die jeweilige Erklärung plausibel, aber keine ist ausreichend für das, was dann kommt.

Bei dem Wort »Fluss« reißt Cristi am Sonntag die Augen auf. Geh schon, sagt Ida lächelnd. Sie hält sich nicht mit Ermahnungen an das Kind auf, bittet mich nicht, darauf zu achten, dass Cristi nicht ins Wasser springt. Während sich Cristi im Zimmer fertig macht, dankt mir Ida überschwänglich und gibt mir bergeweise Schinken und Gurken mit.

Als Cristi wieder in die Küche kommt, bemerke ich gleich den Badeanzug unter dem weißen Shirt. Kurz verfluche ich mich. Ich sehe schon, wie ich sie aus dem tieferen Wasser ziehen, jemanden rufen muss, der mir hilft, sie ans Ufer zu bringen. Ich sollte sie am besten gleich fragen, ob sie schwimmen kann, und wenn sie Nein sagt, ihr verbieten, ins Wasser zu gehen. Aber ich verabschiede mich nur von ihrer Großmutter und renne die Stufen zum Ort hinunter. Cristi ist genauso schnell wie ich.

»Hast du schon mit deinen Aufgaben für die Schule angefangen?«, frage ich sie.

Sie schüttelt den Kopf und blickt zu Boden. Ich betrachte ihre Augen, die jetzt genauso grau sind wie der Asphalt, auf den sie blicken.

»Machst du lieber alles in letzter Minute?«, will ich wissen.

Cristi hebt die Schultern. Diese stummen Gesten machen mich wahnsinnig. Wütend will ich einen Stein wegtreten, aber sie kommt mir zuvor, der Stein trifft ein geparktes Auto.

»Pass doch auf, die Scheibe hätte kaputtgehen können!«, schimpfe ich.

»Tut mir leid.«

Ich mustere den Kratzer auf der Tür, sehe mich um. Keine Menschenseele.

»Du spinnst echt«, murmle ich zwischen zusammengebissenen Zähnen und laufe los. Ich sehe mich nicht um, höre aber ein leises Rascheln hinter mir und weiß, dass Cristi mir mit gesenktem Kopf folgt.

Als wir den Fluss erreichen, werde ich langsamer. Die örtliche Blaskapelle hat schon angefangen zu spielen, an beiden Ufern wimmelt es vor Menschen. Ich nehme Cristi in dem Getümmel am Arm, und wir laufen so lange hin und her, bis wir meine Freundinnen finden. Sie können es gar nicht abwarten, endlich zu schwimmen.

»Wir gehen baden«, erkläre ich Cristi. »Du musst hierbleiben, beweg dich bloß nicht vom Fleck.«

Ich warte nicht ihre Antwort ab – in diesem ganzen Monat hat sie sich kein einziges Mal von mir entfernt. Warum sollte sie es jetzt tun? Ich suche einen glatten Felsen, einen Abschnitt, wo es nicht zu tief ist, halte die Nase zu und springe. Ich berühre mit den Füßen den Boden, streckte den Kopf aus dem Wasser. Ich kann schwimmen, aber eine Nixe bin ich nicht gerade, obgleich ich gerne eine wäre.

Meine Freundinnen bevorzugen das flache Wasser, und wir spritzen uns gegenseitig nass. Wir bleiben länger als sonst im Fluss, vielleicht weil ich Cristi gerne warten lasse. Irgendwann merke ich jedoch, dass ich es übertreibe, schließlich habe ich sie mitgenommen. Eine Aufgabe übernehmen ist mit Verantwortung verbunden, das ist das Motto meiner Mutter, und ich schlage vor, ans Ufer zurückzukehren.

»Nein, lass uns noch bleiben«, maulen die anderen. Aber ich lasse nicht locker. »Mir ist kalt, lasst uns rausgehen.«

»Wenn du es wegen deiner Freundin so eilig hast, spar dir die Mühe«, flüstert Genny.

Ich komme nicht dazu, ihr zu sagen, dass Cristi nicht meine Freundin ist, denn Genny zeigt auf einen Punkt im Wasser. Ein goldener Punkt, der sich im Wellengang hebt und senkt. Weit von allen anderen Kindern entfernt, von den hohen Felsen und auch vom Ufer. Weder mache ich mir große Sorgen, noch rufe ich Hilfe. Ich kann keine Gefahr erkennen, auch wenn ich es vielleicht sollte. Ein spindeldürres siebenjähriges Kind aus der Stadt schwimmt hier in unserem Fluss wie ein Fisch im Wasser.

Dennoch werfe ich einem Signore einen bittenden Blick zu, und der springt ins Wasser und bringt sie zurück. Ich beobachte, wie sie nebeneinanderher zum Ufer schwimmen, dann renne ich zu ihr.

Sie ist weder außer Atem noch rot und blau angelaufen auch nicht. Ich sollte ihr ordentlich den Kopf waschen. Wenn ich eine Art Schwester wäre, wie meine Mutter es vorgeschlagen hat, dann könnte ich ihr vielleicht sogar eine Ohrfeige verpassen. Doch ich schaue nur ihre Beine an, von denen das Wasser aufs Gras tropft, dann rutscht mir heraus: »Wenn es dir am Fluss so gut gefällt, dann kommen wir ab jetzt öfter her.«

3

Schwimmen macht ihr Spaß. Genauso, wie sie gern auf den abgelegeneren Pfaden oberhalb der Altstadt herumläuft und auf Feigenbäume klettert. Oder in verlassenen Gärten nach Obstbäumen sucht, Löcher in den Schlamm buddelt und mühelos über wackelige Holzbrücken balanciert.

Nach der Episode am Fluss nehme ich sie überallhin mit. Jeden Tag das gleiche Programm: Frühstück, fernsehen und dann ab nach draußen. Wir reden nicht viel, aber etwas hat sich verändert. Jeden Morgen denke ich mir gegenüber den anderen einen neuen Vorwand aus, um mit ihr zum Fluss oder in die Wälder zu gehen, und Cristi sitzt jetzt nicht mehr still da und wartet auf mich. Sie zieht die Schuhe aus, schaukelt an einem Ast, füllt sich die Taschen mit Obst, das sie isst, ohne es zu waschen. Währenddessen beobachte ich sie ständig aus den Augenwinkeln. Bei Vier gewinnt verliere ich, Monopoly finde ich langweilig. Mein Tagebuch, das ich den anderen vorlesen soll, liegt zurzeit brach, denn das eigentliche Geheimnis ist, dass ich nicht anders kann, als Cristi anzusehen. Zu beobachten, wie sie die stärksten Äste im Feigenbaum aussucht, um sich bäuchlings darauf auszustrecken, oder wie sie mit ihren milchweißen Füßen an den tiefsten Stellen in den eisigen Fluss watet. Mit jedem weiteren Tag erweitert sie mit ihren selbstgenügsamen Spielen ihren Radius, und unter dem Vorwand, mich vergewissern zu müssen, ob sie auch ihre Baseballkappe noch aufhat, sich nicht wehgetan oder auch wirklich keinen Durst hat, bin ich ihr ständig auf den Fersen.

Manchmal versuche ich, sie zurückzuhalten, rufe sie von Weitem, tue gleichgültig, doch wenn sie die Böschung entlangrennt oder an den aufgeheizten Mauern Handstand macht, bin ich ihre Zuschauerin. Ihre Hüterin. Bewunderin. Noch heute, fünfzig Jahre später, weiß ich nicht, was ich war, was ich hätte sein wollen.

Ich weiß nur noch, wie ich in unserem ersten gemeinsamen Sommer Cristi überallhin folge, während sie barfuß durch die Gegend hüpft. Sie kämpft sich durch Brombeerbüsche, und ich bete, dass sie nicht zu viele Kratzer davonträgt. Sie lächelt mir zu, und ich winke. Die anderen beobachten uns stumm, rümpfen die Nase, sind unleidig. Ich weiß, was sie denken, ich bin doch eigentlich eine von ihnen. Was soll dieses Theater? Das Mädchen gehört nicht zu uns, sie ist eine Fremde in zerschlissener Kleidung, unerwünscht, und auch ich sollte sie nicht beachten.

Doch diese Sommervormittage vergehen wie im Flug, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Die allseitige Anspannung steigt, hinter meinem Rücken wird getuschelt. Die drückende Augusthitze tut ihr Übriges, wir schwitzen, nörgeln und zanken ohne Grund. Noch hat keine offen auf Cristi gedeutet, aber ich spüre, dass die anderen sie verachten. Und Cristi, und das macht mich sprachlos, sagt, alles ist prima, als Ida uns fragt, wie es so geht.

Eines Morgens jedoch passiert es. Wir sind am Fluss, es herrscht eine drückende Schwüle, das Wasser ist eine zähe Brühe. Wir wollen nur kurz zur Erfrischung reinspringen, nur ein Mal, ermahne ich Cristi leise. Was heißen soll, schwimm bloß nicht weit raus, die anderen Mädchen laufen uns heute sonst davon. Außerdem könntest du ertrinken. Sie nickt und hebt einen Finger. Einmal reinspringen, bekräftige ich, bin jedoch unruhig. Ich sehe zu, wie sie auf einen hohen Felsen klettert, die anderen und ich springen von einem viel niedrigeren. Als ich wieder auftauche, krault Cristi schon in weiter Ferne durch die schmutzig braunen Wellen.

»Komm zurück!«, rufe ich. »Wir müssen uns beeilen.« Auch wenn sie keine Angst vor den Strudeln hat, ist das Wasser im August schlammschwer, und Cristi wiegt gerade einmal um die zwanzig Kilo.

»Cristi!«, schreie ich lauter.

»Mein Hemd!«, ruft sie und schwenkt in der Strömung ein weißes Stoffstück.

Ich drehe mich zu den anderen um. Alle stehen mit gesenktem Kopf da. »Das war ein übler Scherz!«, knurre ich, und um nicht sehen zu müssen, wie sie meinen Vorwurf aufnehmen, laufe ich schnell zu Cristi, die aus dem Wasser steigt. Sand klebt an ihren Schultern, Zweige und Blätter haben sich in ihrem Haar verfangen, jede andere sähe in diesem Zustand einfach nur lächerlich aus. Sie nicht, denke ich und bin selbst überrascht. Ich nehme ihr das Hemd ab und wringe es aus. »Wir gehen jetzt«, sage ich kurz angebunden. Sie nickt, wirkt ein bisschen erschöpft, jedoch nicht wütend. Ich möchte jetzt nur noch nach Hause. Darauf warten, dass mein Vater anruft, und mit ihm darüber sprechen, ob es normal ist, alle alten Freundinnen zum Teufel zu wünschen, ob es normal ist, dass ein drei Jahre jüngeres Kind plötzlich das Allerwichtigste für mich ist.

Langsam gehe ich los, Cristi folgt mir im Abstand von ungefähr zehn Schritten, und ich höre die anderen, die sich ebenfalls auf den Nachhauseweg gemacht haben. Mein Gesicht glüht, und ich atme flach. Ich spüre Gennys Blick im Rücken.

»Alles in Ordnung?«, frage ich Cristi in möglichst unbeteiligtem Ton.

»Ja«, antwortet sie leise.

Ich bin hundemüde, am liebsten würde ich dem Biest, das Cristis Hemd in den Fluss geworfen hat, eine runterhauen, außerdem möchte ich, dass Bologna das Kind wieder zu sich nimmt.

Vor dem Rathaus stupst Genny mich an. »Sag der Wilden, sie soll sich das Hemd anziehen.«

Ich drehe mich um. Cristi läuft mit nacktem Oberkörper über den Corso.

»Ihr Hemd ist nass«, stammele ich.

»Immerzu verteidigst du sie.«

»Ja, genau«, pflichten die anderen ihr bei.

»Ich muss mich schließlich um sie kümmern, was kann ich dafür?«, entgegne ich.

Cristi biegt in eine Seitengasse ab.

»Jetzt ist sie weggelaufen«, sage ich zerknirscht.

»Ist doch egal«, meint Genny herausfordernd.

Ich gehe nicht darauf ein, überlegte, ob das Kind allein zu ihrer Nonna zurückfindet. Ich bin erst zehn, aber ich habe bereits begriffen, dass keine Menschenseele außer Ida auf Cristi wartet, in ihrem armseligen Haus ohne Dusche.

»Alle wissen doch, wer ihre Mutter ist«, sagt eine. Die anderen kichern.

Genny bedeutet ihnen zu schweigen und wirft mir einen eisigen Blick zu. »In Wahrheit bist du lieber mit einer halb Zurückgebliebenen zusammen als mit uns, so siehts aus.«

In Wahrheit langweilt mich die Clique mit ihren Regeln, seitdem ich Cristi kenne. Mehr noch, sie widern mich an.

»Ich gehe nach Hause«, sage ich leise.

Niemand hält mich auf, und sobald ich außer Sichtweite bin, fange ich an zu rennen.

Mit klopfendem Herzen laufe ich die Stufen zur Altstadt hoch. Das Haus von Cristis Nonna steht noch, denke ich erleichtert. Die Tür ist angelehnt, ich hole Luft und stoße sie auf. Ida sitzt in der Küche.

»Sie ist im Zimmer«, sagt sie nur, und ich wende mich mit gesenktem Blick der Schlafkammer zu.

Cristi liegt auf dem Bett. Ihre Fußsohlen sind schwarz, an den blonden Härchen an ihren Oberschenkeln hängen Schlammtropfen. Sie schläft, nur in Unterhose bekleidet, auf dem Rücken, die Beine leicht angewinkelt. Auf einem Nachttischchen steht ein Blumenstrauß, auf dem anderen das Foto eines Mannes. Das Foto, das Ida am liebsten in den Kamin werfen würde. Ich nehme es in die Hand, betrachte es. Es sieht aus, als hätte jemand Cristis Augen auf ein Gesicht mit Schnurrbart geklebt, ein trauriger Anblick.

Ich beuge mich zu ihr hinunter. »Ich bins«, flüstere ich. Genau wie ich gehofft habe, bewegt sie sich nicht. Wir sind uns noch nie so nahe gewesen. Ich fahre mit der Nasenspitze über ihre Wange – und tatsächlich: Das schlammige, schmutzige Flusswasser, die dumme Boshaftigkeit meiner gekränkten Freundinnen, meine Unschlüssigkeit, all das konnte Cristis Duft nicht von ihrer Haut vertreiben.

4

Nachmittags meide ich Genny. Dabei tue ich, als ob nichts wäre, als wäre die Sache mit dem Hemd nicht passiert.

»Ich würde wirklich gern was mit dir machen, aber ich habe etwas vor«, sage ich lächelnd.

»Was denn?« Sie ist misstrauisch.

»Ich sammle Spenden für die Armen.«

Das ist eine halbe Lüge, es stimmt zwar, dass ich mit einigen anderen Gemeindemitgliedern von Haus zu Haus gehe und um Spenden für die Pfarrgemeinde bitte, doch ich tue es nicht für die Armen.

Ich tue es, weil ich unbedingt alles über Cristi erfahren will. Und unter den frommen Kirchenfrauen ist eine, Licia, die über alles und jeden im Ort Bescheid weiß. Und die auch gerne redet.

Vor der Kirche bilden wir Zweiergruppen. Meine Mutter verteilt die Spendenkörbchen. Schnell hefte ich mich an Licia und weiche ihr nicht mehr von der Seite. Sei vorsichtig, denke ich, wenn du etwas aus Lilli herauskriegen willst, musst du es schlau anstellen. Ich bemühe mich, einen guten Eindruck zu machen, biete an, das Körbchen zu tragen, erzähle Licia von der Schule, wie sehr mir der Katechismus gefällt. Und wenn jemand mir persönlich eine Münze gibt, lasse ich sie unter ihren zufriedenen Blicken in das Spendenkörbchen fallen.

Als wir uns kurz am Park ausruhen, taste ich mich behutsam vor.

»Eine Freundin von mir könnte das Geld hier gut brauchen.«

»Wirklich?« Ich nicke ernst. »Kenne ich sie?«, erkundigt sie sich.

Jetzt habe ich sie gleich, das spüre ich. »Ich glaube nicht. Sie kommt aus Bologna.«

Licia grinst, über ihrer Oberlippe wächst ein widerlicher Flaum. »Die Enkelin von Ida, oder?«, meint sie vielsagend.

»Genau!« Ich tue verwundert, sehe mich um. Meine Mutter ist nicht in der Nähe. Sie mag nicht, dass ich so neugierig bin, denn sie weiß, das habe ich von ihr. Nur dass ich redegewandter bin als sie. Jetzt aber achtet sie nicht auf mich, sie sieht in der Liste nach, welche Straßen für den Spendenrundgang noch fehlen.

Wir setzen uns derweil auf eine Parkbank. Ich senke die Stimme, rutsche näher zu Licia. »Ich mache mir Sorgen um sie, denn sie macht sich ständig Gedanken über ihre Mutter«, flüstere ich.

»Diese Schlampe!«, stößt Licia hervor. Ich halte dem Blick ihrer zu Schlitzen verengten Augen stand. Du würdest auch einen Vogel zum Sprechen bringen, sagt mein Vater immer. Und er hat recht. Nach einem langen Seufzer, den Licia mir direkt ins Gesicht stößt, purzelt die Geschichte nur so unter ihrem Oberlippenflaum hervor.

Dank meiner Fähigkeit, alles und jeden zum Reden zu bringen, erfahre ich also in jenem ersten Sommer auf einer öffentlichen Parkbank, dass Lilli auf die Welt kam, als Ida schon recht alt war und bereits einige Kinder verloren hatte.

Lilli wurde geboren, und Idas Mann starb. Gott nimmt, und Gott gibt, erklärt Licia, die sich das Maul noch lieber zerreißt, wenn es eine Moral dazu gibt. Aber Lilli wurde seltsam. Ein Blondschopf, hübsch, doch mit zu vielen Flausen im Kopf. Bis dahin komme ich noch mit. Für die Schule tat sie kaum etwas. Aber sie mochte Geld, das Ida nicht hatte, und um sich schön einzukleiden, war sie für jedes Amüsement zu haben. Hier werfe ich Licia einen verständnislosen Blick zu. Na ja, sie macht Liebe mit jedem, der ein paar Scheinchen springen lässt, erklärt sie geradeheraus.

Abends suchte Ida sie in den Bars, am Morgen im Park, und wenn sie sie fand, schimpfte sie nicht, sondern nahm sie engelsgeduldig mit nach Hause. In das heruntergekommene Haus oben in der Altstadt, das Lilli lieber heute als morgen verlassen wollte.

Als sie achtzehn war, blieb sie am Fest des Schutzheiligen zwei Nächte lang weg. Ida rief nicht die Polizei an, das macht man hier im Ort nicht, sondern wartete in der Kirche. Während draußen das Fest seinen Lauf nahm, betete sie, und der Geruch von frischem Knoblauch, den man in Bündeln feilbot, hielt sie wach. Am dritten Morgen kam die Tochter heim, das erste Gebet wurde also erhört. Das zweite nicht. Denn Lilli war schwanger. Von einem aus der Emilia, einem Vierzigjährigen, Vertreter von was auch immer. Musikinstrumenten, Likör, Autos. Jedenfalls war sie schwanger von einem, der Mädchen ziemlich viele Geldscheine zusteckte, mehr, als er eigentlich hatte. Ida begegnete ihm nur ein Mal, nicht zu Hause, sondern in einer Bar, denn Lilli meinte, dass ihr Essen nichts für ihn sei. Auch Kinder mochte er nicht, das begriff Ida, noch bevor sie ihren Kaffee getrunken hatte. Behalt das Kind, aber bleib hier bei mir, rät sie Lilli. Das Mädchen jedoch wollte nicht in der Provinz bleiben, nun, da sie ein Kind vom richtigen Mann erwartete. Einem, der Geschenke machte, der seine Hemden mit seinen Initialen schmücken ließ und der noch nie so heruntergekommene Häuser gesehen hatte, wie sie in der Altstadt stehen. Einer, der gut für sie sorgen werde. Da wäre ich nicht so sicher, meint Ida. Sie stritten sich. Ida wurde laut, worauf Lilli aufs Hausdach kletterte. Der bucklige Gino, der in der Straße unter ihnen wohnt und der Ida noch nie so laut hat schreien hören, holte sie wieder herunter.

Am nächsten Tag fuhr Lilli nach Bologna, wo ihr Mann wohnt, wo ihr von den Ausdünstungen des Kühlschranks nicht mehr übel wurde. Übergeben musste sie sich jetzt jedoch jeden Morgen wegen des Kindes in ihrem Bauch, der unter den schicken Designerklamotten wuchs und wuchs. Das unerwünschte Kind, das sie erwartete. Das sie nur behielt, um den Vater an sich zu binden. Um auf Partys in irgendwelchen Villen zu gehen und in Restaurants mit Panoramablick. Ein paar Monate noch konnte sie das alles genießen, doch dann war es damit vorbei. Denn in einer Vollmondnacht verließ das Kind den Bauch und lag derweil zu Hause in der Wiege. Von nun an hieß es Fläschchen wärmen, ewig nach dem Schnuller suchen, und dazu das Geschrei, das nie aufhörte. Und plötzlich arbeitete der Mann viel mehr als vorher. Bis spätabends war er außer Haus, manchmal sogar bis tief in die Nacht, und wenn Lilli ihm eine Szene machte, bis zum nächsten Morgen.

In Bologna gibt es keine Arbeit mehr für mich, sagte er eines Abends. Es gab auch keine Partys mehr, dafür immer mehr Dienstreisen, nur das Geld für Milchpulver wurde immer knapper. Nach drei Monaten war er weg. Und Lilli allein.

»Mutterseelenallein«, sagt Licia. »Genau, wie Ida es vorhergesehen hatte«, fügt sie hinzu und verzieht den Flaum über ihrer Oberlippe zu einer zufriedenen Grimasse.

»Aber das stimmt nicht«, stammle ich, »sie ist doch gar nicht allein.«

Licia sieht mich verwirrt an. Soeben habe ich eine Regel gebrochen: Widerspreche niemals dem, der dir erzählt, was du nicht weißt. Ich versuche, es wiedergutzumachen. »Ich meine, das Kind ist doch bei ihr.«

»Sicher, das Kind«, sagt Licia, froh, dass sie weitererzählen kann, »aber Lilli war nicht besonders erpicht darauf, es großzuziehen.«

Lilli hatte keine Lust, zu kochen, einzukaufen und ihre Tochter anständig zu kleiden. Stifte und Hefte zu kaufen. Sie dachte nur daran, wieder mit den Absätzen der Schuhe zu klappern, die er ihr geschenkt hatte, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten. Aber ganz bestimmt nicht daran, sich mal wieder in ihrem Heimatort blicken zu lassen oder ihre Mutter für ein paar Tage nach Bologna einzuladen.

»Ein Herz aus Stein«, murmle ich.

Licia wirft mir einen Blick zu, dann verschränkt sie die faltigen Hände vor der Brust. »Idas Herz ist zum Glück aus einem anderen Holz geschnitzt«, sagt sie seufzend und erzählt weiter.

Und weil sie ein so großes Herz hat, nahm sich Ida nach sieben Jahren des Kindes an, das Lilli eines Nachts und ohne Vorankündigung bei ihr absetzte, und schwor der Tochter, das Foto des Lackaffen die ganze Zeit auf dem Nachttischchen stehen zu lassen. Eine Woche, einen Monat, ein Jahr lang, wer kann schon sagen, was Lilli im Kopf herumschwirrt.

»Aber wo ist sie dann hingegangen?«, frage ich ungeduldig.

Die Alte hebt den Blick gen Himmel. »Das weiß nur der Allmächtige.«

Woher Licia wiederum von dem Foto weiß und wie es die Klatschmäuler des Ortes geschafft haben, sogar in Idas Schlafkammer zu spähen, ist ein Geheimnis, das zu lüften mir nicht die Zeit bleibt, denn meine Mutter bedeutet uns, dass es weitergeht mit dem Spendensammeln.

Später beim Abendessen sind wir beide wie so oft allein. Ich frage sie, ob ich zu Ida und Cristi gehen darf, doch sie sagt Nein. »Da oben wird es früh dunkel.« Dann fügt sie hinzu: »Aber es freut mich, dass ihr euch gut versteht, du und das Kind.«

Ich bemühe mich zu lächeln, obgleich ich weiß, dass ihr die Geschichte von dem Hemd und Lilli mit nacktem Oberkörper auf dem Corso keineswegs gefallen würde. Deswegen traue ich mich nicht, es ihr zu erzählen. Vielleicht würde ich es tun, wenn mein Vater da wäre. Ich vermisse ihn. Auch meine Mutter vermisst ihn. Doch dieses Gefühl bringt uns einander nicht näher, im Gegenteil, die Tage ohne ihn sind schwer zu ertragen. Wir essen schnell, gehen früh schlafen, streiten nicht, tun alles, um die Zeit reibungslos und rasch verstreichen zu lassen.

Um ihr eine Freude zu bereiten, wasche ich an diesem Abend ab. Ich höre meine Freundinnen auf der Piazza vor der Kirche spielen, gehe aber nicht zu ihnen. In meinem Zimmer lehne ich die Fensterläden an, es ist der erste Abend, an dem ich mich frage, was Großmutter und Enkelin wohl tun dort oben, wo es so wenige Laternen gibt und in der Dunkelheit die Nachtvögel herrschen.

»Ida geht nicht in die Messe, oder?«, frage ich meine Mutter beim Gutenachtsagen.

»Nein, geht sie nicht.«

Ich nehme die Verlegenheit in ihrer Stimme wahr und bohre weiter: »Aber das ist doch nicht richtig, oder?«

»Na ja, sie hat viel durchgemacht.«

Meine Mutter hat auch viel durchgemacht, als ich geboren wurde. Das hat mir mein Vater erzählt. Die Geburt war schwierig, und danach haben sie ihr alles herausgenommen. Was dieses alles bedeutet, weiß ich nicht, ich weiß nur, dass ich weder Brüder noch Schwestern bekommen und ihre einzige Tochter bleiben werde. Und doch hat meine Mutter nicht aufgehört, in die Kirche zu gehen.

»Das verstehe ich nicht«, sage ich.

»Irgendwann wirst du es schon verstehen«, entgegnet meine Mutter.

Sie deckt mich gut zu und gibt mir einen ihrer eigentümlichen Küsse; zu trocken, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Wäre ich nicht den ganzen Nachmittag im Ort unterwegs gewesen, würde ich vielleicht weiterfragen, würde versuchen, besser zu verstehen, auf welcher Seite der Welt Cristi steht. Auf Lillis oder Idas, die nicht in die Kirche geht, aber laut meiner Mutter trotzdem anständig ist.

Doch dazu bin ich zu müde und denke nur, dass so wunderschöne Wesen vielleicht zu keiner Seite gehören. Also schließe ich die Augen, und im Geiste raunt mir Licia zu, behalte bloß das Kind im Auge, man weiß ja, wie es ist: Wie die Mutter so die Tochter, und dabei hebt und senkt sich ihr Lippenflaum.

5

Am nächsten Morgen erwähnt Cristi mit keinem Wort, was am Fluss geschehen ist. Während wir die Tassen abräumen, fängt es an zu regnen. Der Regen fällt schnurgerade herab, ohne gegen die Scheiben zu trommeln. Ich öffne die Fenster, und der Geruch nasser Erde und blank gewaschener Früchte dringt ins Haus. Ich lasse den Fernseher aus, lege mich auf das Sofa und lausche dem laubgedämpften Tropfen. Jeder Baum, jeder Strauch hat seinen ganz eigenen Klang. Cristi kommt zu mir, und ich mache ihr Platz, spüre, wie sich ihr Haar neben mir ausbreitet.

»Regnet es oft hier?«, fragt sie nach einer Weile.

»Im August schon.«

»Warum?«

Ich entspanne mich. »Da geht der Sommer zu Ende.«

Cristi zuckt zusammen. Sie springt auf und blickt mich entgeistert an. Dann stellt sie sich ans Fenster. Ich habe keine Ahnung, was daran so schlimm ist, würde aber alles geben, um das Gesagte zurücknehmen zu können.

Der Sommer ist zu Ende, wiederholt sie und starrt auf den regennassen Aprikosenbaum.

Es muss mit Lilli und dem Signore auf dem Foto zu tun haben. Rasch gehe ich in mein Zimmer und komme gleich darauf wieder zurück.

»Schau mal«, sage ich.

Keine Reaktion.

Ich wiederhole meine Aufforderung, und sie dreht sich langsam um. Mit leicht zitternder Hand reiche ich ihr ein Blatt Papier. Es ist ein Gedicht, das ich am Morgen für sie geschrieben habe. Während ich darauf warte, dass Cristi das Blatt nimmt, sage ich es auswendig auf.

Von einer besonderen Freundin weiß ich

Dass Stille nicht still ist

Und Haut duftet

Ich weiß nicht, seit wann es so ist

Aber die restliche Welt hab ich seitdem nicht vermisst

Ihr Haar ist gebündelter Sonnenstrahl

Unsere Spiele Veilchenduft und Laterna magica

»Hier, das ist für dich«, flüstere ich.

Reglos blickt Cristi auf das Papier.

»Ich bin früh aufgewacht und wusste nicht, was ich sonst machen sollte«, sage ich, als müsste ich mich rechtfertigen, meine Hand zittert immer noch.

Endlich nimmt sie das Gedicht, ebenfalls mit zitternder Hand, und lässt den Blick mehrfach ungläubig darüber gleiten.

Ich lege mich wieder hin. »Gefällt es dir?«, frage ich zaghaft.

Sie nickt.

»Wirklich?«

Sie zieht ein seltsames Gesicht, faltet das Blatt doppelt und steckt es in die Gesäßtasche ihrer Jeans. Dann legt auch sie sich wieder hin und schmiegt ihr Ohr an meinen Rücken, ohne etwas hinzuzufügen.

In den nächsten Tagen schüttet es wie aus Eimern. Nur in den Nächten hört es manchmal auf, dann tropft das Wasser von Dächern und Bäumen. Ich bekomme es allerdings nicht mit. Cristi hat es mir erzählt.

»Schläfst du nachts nicht?«, wundere ich mich.

»Doch.«

»Und woher weißt du dann, dass es aufhört zu regnen?«

»Ich spüre es.«

Meint sie damit, sie hört es oder nimmt es auf irgendeine andere Art wahr? Ich hake nicht nach. Wenn man sie ausfragt, sagt Cristi überhaupt nichts mehr.

Nach der ersten Regenwoche tauchen meine Freundinnen wieder auf. Entweder fällt ihnen nichts Besseres ein, oder sie haben mir wieder verziehen, denke ich gleichgültig und bitte sie herein. Wir sehen fern, spielen Schminken, und eines Morgens hole ich vor lauter Langeweile einige Puppen hervor. Meine Mutter hat mich ermahnt, Cristi mitspielen zu lassen. »Gib acht, dass sie keinen Blödsinn macht«, hat sie noch nachdenklich hinzugefügt. Irgendwer muss ihr von der Sache am Fluss erzählt haben. Ich kann es förmlich hören. Die Kleine, die aus Bologna, ist halb nackt durch den halben Ort gelaufen.

Cristi macht keinen Blödsinn, sie macht überhaupt nichts. Steht nur am Fenster. So reglos und stumm, dass die anderen sie wortlos dulden. Ihr Gleichmut macht mir Kummer. Wie lange bleibt sie noch?, will ich jeden Abend von meinen Eltern wissen. Sie seufzen. Das kann niemand wissen, meint mein Vater. Auch Cristi nicht, die in diesen Tagen immerzu in den Regen hinausstarrt. Auch der Aprikosenbaum interessiert sie nicht mehr, ihr Blick geht ins Leere, und laut Ida hat sie vollkommen den Appetit verloren.

Manchmal gehe ich zu ihr. »Spiel doch was mit uns!«

Sie schüttelt den Kopf, rührt sich stundenlang nicht, und wenn ich sie mittags zum Essen nach Hause bringe, nutzt sie jede Gelegenheit, um dem Schutz des Regenschirms zu entkommen. Ida seufzt, meine Mutter sagt, irgendwas müsse man doch tun, vor allem wegen der Schule, den schlechten Noten, was mir momentan das kleinste Problem zu sein scheint.

Am 29.August, an das Datum erinnere ich mich genau, denn daraufhin verfluche ich sie den ganzen Winter lang, sitzen wir älteren Mädchen auf dem Boden und spielen. Cristi lehnt mit der Stirn gegen die Fensterscheibe, das Haar feucht vom Kondenswasser. Ich gehe zu ihr.

»Komm«, wispere ich, »mach doch mit.«

Sie wirft einen gleichmütigen Blick auf das Buchstabenspiel und schüttelt den Kopf.

»Nur kurz«, versuche ich es noch einmal.

Sie schlägt die Augen nieder, ich versuche, sie am Arm zu ziehen.

»Lass mich in Ruhe«, fleht sie.

»Nein, du setzt dich jetzt zu uns!«, schreie ich, als mich plötzlich die Wut packt.

Bestürzt nimmt Cristi Reißaus. Vor lauter Schreck läuft sie gegen die geschlossene Terrassentür, die, wie ihre Kinderseele, um ein Haar in tausend Stücke zerspringt.

Ich laufe ihr nicht nach, verstehe nicht, was los ist. Gerade als ich die anderen bitten möchte zu gehen, bricht Genny in höhnisches Gelächter aus. »Hast du es immer noch nicht kapiert? Dass sie nicht lesen kann?«

Wie auf ein Startsignal hin ziehen jetzt auch die anderen vom Leder. Verhaltensgestört sei sie, nicht ganz richtig im Kopf, asozial. Sie ist Legasthenikerin, erklärt mein Vater mir abends am Telefon. In meinen Abendgebeten vor dem Schlafen danke ich dafür, dass er mich versteht und mir immer wieder neue Worte beibringt. Dann bitte ich um Vergebung, dass ich Cristi gedemütigt habe, dass ich nicht verstanden habe, was ihr Problem ist. Und ich verspreche, es wiedergutzumachen.

Doch dieses Versprechen kann ich nicht halten. In Tränen aufgelöst, erkläre ich es Gott am nächsten Abend. Es ist nicht meine Schuld, es ist Lillis Schuld, sage ich. Ohne vorher Bescheid zu sagen, ist plötzlich Lilli aufgetaucht und hat Cristi im Morgengrauen wieder mitgenommen. Noch ganz verschlafen war sie und hatte noch nichts im Bauch, erzählt uns Ida mit zitternder Stimme.

6

Hätte ich gewusst, dass Cristi wiederkommen würde, ich hätte mich nicht bis zum Schulanfang zu Hause abgeschottet. Hätte den Winter nicht damit verbracht, ganze Schubladen mit Briefen zu füllen. Cristi kann ohnehin nicht lesen. Außerdem hat Lilli weder Adresse noch Telefonnummer dagelassen. Es ist ihr so lieber, hat uns ihre Nonna mit tränenfeuchten Augen erzählt. Über Ida denke ich in all diesen Monaten wenig nach. Meine guten Noten interessieren mich nicht, ebenso wenig das Lob meiner Mutter und auch nicht Genny, die wieder meine Nähe sucht und sagt, es tue ihr leid – eine Entschuldigung, die ich annehme.

Die Zeit, ob zu Hause, in der Schule, der Kirche, kriecht dahin. Ich bin wütend, weil ich meine Sehnsucht übertrieben finde. Verwirrt, denn sosehr ich mich auch bemühe, einen Makel an Cristi zu finden, bekomme ich ihr Bild nicht aus dem Kopf. Ich versinke in Selbstmitleid, weil mir mein Leiden unnormal vorkommt. Es gibt keine Medizin dafür, keinen Arzt, das denke ich mit meinen zehn Jahren. Für manches gibt es kein Heilmittel, das weiß ich jetzt mit sechzig Jahren ganz sicher.

Wo ist meine Freundin, frage ich mich unaufhörlich in dieser Zeit. Ich glaube, sie ist in Bologna, sagt mein Vater manchmal ungefragt.

»Warst du da schon mal?«, will ich wissen.

»Ja.«

»Ist es schön da?«

»Hm, keine Ahnung«, sagt er nachdenklich, »meistens ist es dort neblig.«

Oft rede ich mit ihr. Wenn ich das gewusst hätte! Aber ich kann es dir beibringen. Lass dir beim Lesen- und Schreibenlernen helfen, wiederhole ich vor dem Spiegel, bis er beschlägt. Cristi im Nebel, wispere ich und drücke die Lippen auf das Glas.

Als Ida an einem Montag im Juni an unsere Tür klopft und ich nicht nur ihr, sondern auch unserem zweiten Sommer öffne, steht Cristi wahrhaftig auf der Schwelle, und mir bleiben die Worte im Hals stecken. Meine Mutter umarmt Großmutter und Enkelin. Ich kann das nicht. Da bist du ja wieder, sagt mein Blick. Ich erinnere mich nicht an ihren, auch nicht daran, was wir anschließend machen werden, nur dass alles wieder beginnt.

Ida versichert mir, das Kind ist gewachsen, sie kommt auch allein zurecht. Doch ich gehe ständig zu ihr. Mit den anderen unternehmen wir nichts mehr, ich brauche sie nicht. Da ich die Beste der einzigen Schule im Ort bin, bin ich unangreifbar und habe die freie Wahl, und ich wähle Cristi.

Wir laufen über die Pfade oberhalb der Altstadt, lassen den Uhrenturm hinter uns und erreichen den Wald. Im Schatten der Tannen folge ich ihrer blonden Mähne, die noch länger, noch immer verfilzt ist. Wenn ich mich setze, tut sie es auch, wenn ich mir Kopfhörer überziehe, starrt sie auf das sich drehende Kassettenband im Walkman.

Wenn wir genug vom Schatten der dichten Bäume haben, laufen wir wieder hinunter in die Altstadt. Ich beobachte, wie sie an den Trockenmauern hochklettert und Kapern pflückt, ganz nah an die Bienenstöcke heranrückt. Ich erkläre ihr den Unterschied zwischen Bienen und Wespen, die einen stechen und sterben dann, die anderen stechen nur.

Einmal, kurz nach Cristis Ankunft, helfen meine Mutter und ich Ida, Marmelade einzukochen. Ein großer Topf blubbert im Hof des alten Hauses. Rote Spritzer schießen wie Pfeile daraus hervor.

»Geht nicht zu nah ran«, ermahnt Ida uns.

Wir laufen ins Haus. Die Frauen reden miteinander. »Das ist das Einzige, was Lilli interessiert«, brummt die Nonna. »Das Zeugnis.«

Ich schaue Cristi an, ihre Augen sind flaschengrün.

»Schule ist wichtig«, meint meine Mutter. »Schreiben zu können ist heutzutage unerlässlich.« Ich kann das Gesicht meiner Mutter nicht sehen, es mir aber gut vorstellen: Die Lippen fest aufeinandergepresst, die Nase weist leicht aufwärts, der gleiche Ausdruck, wie wenn ich etwas anderes sage, als sie erwartet. Oder in der Messe gähne, ein Stück Kuchen zu viel esse. Cristis Gesicht hingegen sehe ich. Sie hat Angst.

Lilli denkt an das schlechte Zeugnis, und Cristi denkt daran, dass sich Lilli Sorgen macht wegen der Kommentare der Lehrerin, aber keine Skrupel hat, das Kind für wer weiß wie lange bei der Nonna abzuladen. Der Duft gekochter Erdbeeren breitet sich aus. Fieberhaft suche ich nach einem Ausweg, und meine Freundin blickt auf den rissigen Boden im Haus ihrer Nonna.

Einen Nachmittag in der Woche treffe ich Genny. Wir machen Sachen für Große, wie in der Bar an einem der Tische Limonade zu bestellen. Über Cristi wird nicht geredet, das habe ich zur Bedingung gemacht. Und da Genny im nächsten Schuljahr auf der Mittelschule neben mir, der Klassenbesten, sitzen möchte, hält sie sich tatsächlich zurück. Außer einmal.

»Wie geht es der Auswärtigen?«, fragt sie säuerlich.

»Gut.«

»Und was ist mit ihrem Problemchen?«, stichelt sie weiter.

Ich lache. »Hat sich inzwischen geregelt.« Dann bestelle ich noch eine Limo.

Ihr Problemchen hat sich kein bisschen geregelt, doch Cristi und ich reden nicht darüber. Bei unseren Spielen lassen wir Bücher, Alben und Zeitschriften außen vor. Oder Buchstaben, Schilder und Uhren. Vor dem Schlafengehen, wieder allein, mache ich mich über meine Bücher her. Ganze Stapel von Romanen mit glänzendem Einband, die ich gierig verschlinge. Ihre in geordneten Bahnen verlaufenden Handlungen wiegen mich sanft in den Schlaf, sind eine Ruhepause von Cristis verfilztem Haarchaos, das mich jeden Morgen erwartet.

An heißen Tagen gehen wir zum Fluss, zu der durch große Eukalyptusbäume geschützten Bucht hinter dem alten Gefängnis. Sie: mager in ihrem Kinderbadeanzug, ich: eingezwängt in meinem zu engen Badeanzug. Wir schwimmen gemeinsam, und wenn die Strömung nicht zu stark ist, wage ich mich so weit hinaus, bis ich nur noch Cristis Hände berühre.

Eines Morgens, nachdem es die ganze Nacht durchgeregnet hat, ist der Fluss aufgewühlt. In Badesachen setzen wir uns auf einen Felsen und lassen die Füße im Wasser baumeln. Es ist windig, die Blätter der Eukalyptusbäume streifen das Wasser.

»Vermisst du den Fluss, wenn du in Bologna bist?«, frage ich sie.

»Nein.«

Die Röte schießt mir ins Gesicht. Ich zupfe mir ein Blatt aus dem Haar, eigentlich hätte ich ein »Ja« erwartet. Nicht ein einfaches »Ja«, sondern ein bedrücktes.

Einige Sekunden lang schaut Cristi meine roten Wangen an.

»Aber dich, dich vermisse ich sehr«, sagt sie schließlich.

Und im selben Moment, da ich diese Worte höre, spüre ich ihre feuchten Lippen sanft über meine streifen.

Das Tosen des Flusses ist nichts im Vergleich zu dem Tumult, der in meiner Brust ausbricht. Cristi streckt sich auf dem feuchten Gras aus. Das Wasser sprudelt zwischen meinen Zehen, ein Ästchen verfängt sich an den Waden, ich schleudere es weg.

»Warum hast du das gemacht?«, stammle ich.

Cristi antwortet nicht.

Ich blicke auf sie hinab, ihre geschlossenen Augen, die flache, von der feuchten Erde kühle Brust. Rasch ziehe ich mich an. Bestimmt hat sie das nur getan, weil ihr die richtigen Worte fehlen, denke ich. Und in diesem verwirrten Moment bin ich der Wahrheit näher, als ich es je sein werde.