9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Feuer und Schwert: ein faszinierendes Porträt der düsteren Wikingerzeit Herbst 969: Der Frieden im Norden ist in Gefahr. Harald Graufells Königreich ist nach der Niederlage gegen Hakon von Hladir zerschlagen. Der König sinnt auf Rache und schmiedet einen hinterlistigen Plan: Er lässt Hakons Tochter entführen und besetzt, während der Vater der Fährte folgt, sein Reich. Für Hakon gibt es nur einen einzigen Ausweg: Er muss sich mit dem Dänenkönig Harald Blauzahn verbünden, um sein Land von der grausamen Herrschaft zu befreien. Doch die Dänen sind Hakons Feinde. Und dann geht das Gerücht um, dass Graufell mit dem «Schwert der Götter» kämpft – einer Klinge, die ihren Träger unbesiegbar macht …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 819
Veröffentlichungsjahr: 2016
Axel S. Meyer
Das Schwert der Götter
Historischer Roman
Ihr Verlagsname
Feuer und Schwert: ein faszinierendes Porträt der düsteren Wikingerzeit
Herbst 969: Der Frieden im Norden ist in Gefahr. Harald Graufells Königreich ist nach der Niederlage gegen Hakon von Hladir zerschlagen. Der König sinnt auf Rache und schmiedet einen hinterlistigen Plan: Er lässt Hakons Tochter entführen und besetzt, während der Vater der Fährte folgt, sein Reich.
Für Hakon gibt es nur einen einzigen Ausweg: Er muss sich mit dem Dänenkönig Harald Blauzahn verbünden, um sein Land von der grausamen Herrschaft zu befreien. Doch die Dänen sind Hakons Feinde.
Und dann geht das Gerücht um, dass Graufell mit dem «Schwert der Götter» kämpft – einer Klinge, die ihren Träger unbesiegbar macht …
Axel S. Meyer, 1968 in Braunschweig geboren, studierte Germanistik und Geschichte. Heute lebt er in Rostock, wo er als Reporter und Redakteur der «Ostsee-Zeitung» tätig ist. Nach seinen erfolgreichen Romanen «Das Buch der Sünden», «Das Lied des Todes» und «Das weiße Gold des Nordens» folgt nun sein vierter Wikinger-Roman.
Für Birgit
Siegrunen schneide, wenn du Sieg haben willst.
Schneide sie auf des Schwertes Griff.
Auf die Seiten einige, andere auf das Stichblatt.
Und ruf zweimal zu Tyr.
Sigrdrifomal. Die Erweckung der Walküre
Nähere Erläuterungen zu den jeweiligen Ortsnamen finden Sie am Endes dieses Buches.
Ingelreht lief um sein Leben. Er rannte auf den Wald zu, tauchte ins Dunkle ein und schlug gleich hinter den ersten Bäumen einen Haken. Er stürmte dorthin, wo die Bäume dicht standen und Büsche und Sträucher die Sicht in der Dämmerung verdeckten. Unter seinen Füßen raschelte feuchtes Laub.
Er rang nach Luft. Das Laufen bereitete ihm Qualen, denn die regelmäßigen Mahlzeiten im Kloster hatten ihn träge werden lassen. Doch die Todesangst weckte ungeahnte Kräfte in ihm. Er war langsamer geworden, ja, aber noch immer körperliche Anstrengungen gewohnt, und zumindest seine Hände und Arme waren kräftig durch die Arbeit mit dem Schmiedehammer.
Aber ein Läufer war er nie gewesen.
Sein Herz raste, und sein Hals brannte wie Glut in einer Esse, als er durch Büsche und herabhängende Äste brach. Zweige und Dornen griffen nach ihm, peitschten sein Gesicht und zerrten an seiner Kutte. Er rannte tiefer in den Wald, der sich wenige Meilen vom Kloster entfernt in dem Land ausbreitete, in das er gekommen war, um sein Glück zu suchen. Um Einzigartiges zu vollbringen und Göttliches zu schaffen.
Er blieb kurz stehen und lauschte in die Walddunkelheit, während er stoßweise Luft pumpte und sein Atem in der kalten Luft helle Wölkchen bildete. Er lehnte sich gegen einen Baum, hörte das Blut in seinen Ohren rauschen und sein Herz pochen. Sonst nichts.
War er ihnen entkommen?
Dann hörte er wieder die Hunde bellen, und seine Hoffnungen erstarben. Er lief weiter.
Das alles hatte er sich selbst zuzuschreiben. Warum hatte er nicht genug bekommen können? Habsucht war eine Todsünde, vor der im Kloster gewarnt wurde. Vor wenigen Tagen erst hatte der Abt eindringlich auf die Folgen der Gier und auf die dafür drohenden Höllenstrafen hingewiesen. Obwohl Ingelreht sich mit dem Christenglauben schwertat, war er darüber entsetzt gewesen.
Und nun hatte er sich selbst vom Teufel verführen lassen.
Am Rand eines steilen Abhangs war seine Flucht jäh zu Ende. Beinahe wäre er hinabgestürzt, konnte sich aber gerade noch am Stamm einer krummen Lärche festhalten. Durch seinen keuchenden Atem hörte er das Bellen. Die Laute kamen näher. Sein Herz raste, und als er sich umdrehte, sah er zwischen den Bäumen huschende Schatten.
Sie waren dicht hinter ihm.
Er hatte zwei Möglichkeiten, nein, eigentlich waren es drei: Entweder versuchte er sich an den Bäumen den Hang hinunterzuhangeln; zwischen den Felsen wuchsen in unregelmäßigen Abständen kleine Kiefern und Birken. Oder er lief weiter, oben am Abhang entlang, um nach einem Pfad zu suchen, der ihn auf Umwegen zum Kloster zurückführte. Oder er gab auf.
Er entschied sich für die erste Möglichkeit und machte sich an den Abstieg.
Er ging in die Hocke und rutschte auf dem feuchten Laub ein Stück weit den Hang hinab, bis zu einer Felskante, wo eine Kiefer sich mit ihren Wurzeln an das Gestein krallte. Ingelreht griff nach der Kiefer, deren dünner Stamm sich knirschend unter seinem Gewicht bog. Langsam ließ er sich daran herunter, bis seine Füße auf einem Felsvorsprung Halt fanden.
So arbeitete er sich weiter nach unten und hatte bereits die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht, als neben ihm ein Stein aufschlug. Von oben hörte er die Hunde bellen. Schnell drückte er sich an den Felsen und schaute hinauf. Über der Abbruchkante tauchten die mit dunklen Mänteln bekleideten und mit Schwertern bewaffneten Männer auf. Graue Wolfshunde zerrten an den Stricken, mit denen sie gehalten wurden.
Er versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, wie viele Männer in der vergangenen Nacht bei ihm am Tisch in der Schenke gesessen hatten. Waren es vier? Oder fünf? Und dann war da noch der hagere, hochgewachsene Mann, der sich die meiste Zeit im Schatten gehalten hatte, während ein beleibter Mann mit dunklem Bart auf Ingelreht einredete. Erst als Ingelreht sich beharrlich weigerte, war der Hagere ins Licht gekommen, das Gesicht unter einer Kapuze verborgen. Er hatte die Kapuze auch nicht abgenommen, während er Ingelreht beschwor, für ihn zu arbeiten, und schließlich einen mit Münzen prallgefüllten Lederbeutel auf den Tisch gelegt hatte. Das war der Moment, in dem der Dämon der Habsucht sich in Ingelrehts Nacken festbiss. Er nahm das Geld – und damit den Auftrag an. Doch in der Nacht, die er auf einem Strohlager in der Schenke verbrachte, überkamen ihn Gewissensbisse.
Er hatte lange dafür gekämpft, in das Kloster aufgenommen zu werden. Hier wollte er etwas erschaffen, wovon er immer geträumt hatte. Das Kloster war für einzigartige Schmiedekunst bekannt und bot die Möglichkeit, mit reinstem Erz zu arbeiten. Dafür ließ Ingelreht sich taufen und versuchte, sich mit dem Christenglauben anzufreunden, auch wenn er nur halbherzig bei der Sache war.
Er wollte schmieden, und er wollte der beste Schmied werden!
Er hielt den Atem an. Hatten die Männer ihn gesehen? Hatten die Hunde ihn gewittert? Eine Weile war nur ihr Scharren und heiseres Kläffen zu hören. Dann – Ingelreht konnte es kaum glauben – wurden die Geräusche leiser.
Er versuchte, sich einzureden, dass er sich täuschte. Dass all das, was gerade mit ihm geschah, nur ein böser Traum war, aus dem er gleich erwachte. Gleich im Anschluss an die heruntergeleierten Psalmen zur Prim, der ersten Hore, würde er sich wieder in die Schmiede verziehen. Allein die Gedanken an den Geruch des Essefeuers, an Schwefel und glühendes Eisen, an sprühende Funken und die metallischen Klänge bereiteten ihm ein Wohlgefühl, das ihm in seiner misslichen Lage neue Kräfte verlieh.
Das Gebell war im Wald verklungen.
Doch waren die Männer wirklich fort? Hatten die Hunde seine Spur verloren?
Er harrte noch eine Weile in der unbequemen Stellung an den Felsen gedrückt aus, während er angestrengt lauschte. Die Vögel hoben zu neuen Gesängen an, und der Wind rauschte durch kahle Bäume unter ziehenden grauen Wolken.
Ingelreht tastete nach dem mit Münzen gefüllten Lederbeutel an seinem Gürtel. Als er überzeugt war, dass die Verfolger tatsächlich aufgegeben hatten, setzte er den Abstieg fort. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er den Boden erreichte. Er hauchte in seine klammen, von spröden Borken und scharfen Felskanten aufgerissenen Hände.
Er befand sich in einer Senke, in der die Buchen, Birken und Nadelbäume dicht an dicht standen. Um zu Atem zu kommen, lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Felswand, während er die Bäume im Blick behielt – und erstarrte.
Irgendwo zerbrach ein Zweig.
Sein Herz trommelte. Er redete sich ein, dass das Geräusch von einem Tier stammte, vielleicht von einem Wildschwein oder einem Hirsch.
Wieder knackte ein Ast, dieses Mal ganz in der Nähe.
Ingelreht versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Nur wenige Schritte von ihm entfernt trat eine Gestalt zwischen den Bäumen hervor. Der hagere Mann kam näher und streifte im Gehen die Kapuze ab. Ingelreht starrte in ein bartloses Gesicht mit harten Zügen. Der Mann sah gepflegt aus, sein dunkles Haar war mit einer Paste getränkt und streng nach hinten gekämmt. Beim Lächeln leuchteten seine ebenmäßigen Zähne. Der Mann sah aus wie ein Wolf. Wie ein kalt lächelnder Wolf, der seine Beute in die Enge getrieben hatte. Bei den Bäumen hob erneut Hundegebell an.
Für Ingelreht gab es kein Entrinnen.
«Komm mit uns», sagte der Mann freundlich und reichte ihm eine Hand.
Weit ist gespannt zum Waltode Webstuhls Wolke;
Wundtau regnet.
Nun hat an Geren grau sich erhoben Volksgewebe
der Freundinnen mit rotem Einschlag des Randwertöters.
Darraðarljóð. Das Walkürenlied
Als Ulfar beschloss, einen Menschen zu töten, prasselten dicke Regentropfen auf die Planken des Schiffs. Es war ein knörr, ein Handelsschiff, dem Ulfar den Namen Windhengst gegeben hatte, obwohl der Hengst so schwerfällig im Wasser lag wie ein trächtiger Ackergaul. Wellenschwein, unnsvin, wäre ein besserer Name gewesen.
An diesem Abend lag der Windhengst in einer von Felsen umgebenen Bucht bei der Landzunge von Lidandisnes vor Anker. Böiger Wind trieb dunkle Wolken vom Meer über die südliche Spitze des Nordwegs. Aber so plötzlich, wie der Regen angefangen hatte, hörte er wieder auf. Dann kamen die Möwen und kreisten über dem Mast, während sich ein glutroter Sonnenstrahl durch Wolkenfetzen bohrte wie eine göttliche Schwertklinge.
Ulfar war Däne. Er war ein Seemann, der es liebte, die Meere zu befahren, und niemals etwas anderes tun wollte. Sein Vater war Seefahrer gewesen, ebenso wie dessen Vater. Ulfar hatte viele Länder gesehen, sogar ein wenig schreiben und lesen gelernt, und nun musste er, den man den Klugen und Weitgereisten nannte, einen Mord begehen.
Sein Vater hatte ihn gelehrt, dass, wer lange leben wollte, bisweilen unangenehme Angelegenheiten erledigen musste. Dreckige, blutige Angelegenheiten. Ulfar wollte lange leben – und dafür musste er töten.
Sein Opfer war ein junger Mann, fast noch ein Knabe, vielleicht sechzehn Jahre alt. Er saß auf einer Kiste auf der Plattform vorn im Bug. Wenn er nicht gerade schlief, saß er dort eigentlich immer, anstatt der Mannschaft an den Riemen oder dem Segel zur Hand zu gehen.
Der Junge hatte mit Silbermünzen bezahlt, damit Ulfar ihn dorthin brachte, wohin er wollte. Doch nun hatte Ulfar entschieden, dass er das nicht tun würde. Es nicht tun konnte. Der Ort war ihm von Anfang an nicht geheuer gewesen, und der Junge war es auch nicht, so wie er da hockte, schweigend, mit diesem ausdruckslosen Gesicht, mit diesem kalten, irren Blick und dem roten Haar, das ihm regenfeucht vom Kopf abstand.
Er hatte seinen Namen nicht genannt, als er in Haithabu auf dem Windhengst aufgetaucht war. Eigentlich wollte Ulfar keinen weiteren Mann an Bord nehmen. Die Mannschaft bestand aus fünf Seeleuten. Acht seefeste Männer wären besser gewesen, denn der Knörr hatte ebenso viele Riemen. Aber Seeleute kosteten Geld. Und Geld hatte Ulfar nie genug. Natürlich wäre er gern reich, obwohl die Christen predigten, ein Reicher würde nur schwer in den Himmel kommen.
Durch die Taufe war Ulfar an den neuen Glauben gebunden, nachdem Harald Blauzahn Gormsson, der Dänenkönig, es selbst getan und allen Dänen befohlen hatte, nur noch den Christengott anzubeten. Ulfar war so eifrig in dem Glauben, dass er sich ein Kreuz auf seine Glatze hatte tätowieren lassen, das sich von der Nase bis hinauf zum Scheitelpunkt und von einem Ohr zum anderen erstreckte.
Der blassgesichtige Knabe hatte jedoch ein überzeugendes Argument gehabt: einen Lederbeutel, gefüllt mit Silbermünzen. Mehr Silber, als jeder andere für eine solche Fahrt bezahlte. Als der Junge Ulfar das Geld in die Hand drückte, hatte er nur ein einziges Wort gesagt. Nur einen Namen: Karmøy. Dabei hatte der Junge ihn mit einem irren Blick angestarrt. Und Ulfar hatte gedacht, soll er doch heißen, wie er will. Er brauchte das Geld.
Jetzt hätte er den Namen seines Opfers aber doch gern gekannt. Vielleicht aus Aberglauben.
Schon in Haithabu hätte er den Knaben vom Schiff jagen oder ins Hafenbecken werfen sollen. Ja, verdammt! Doch er hatte nur das Silber gesehen, all die herrlichen, klingenden Münzen, und dabei die Geschichten vergessen, die Seefahrer sich erzählten. Geschichten über diese Insel am Nordweg. Karmøy.
Der Junge wollte direkt in die Hölle gebracht werden.
Der Wind frischte auf und ließ Ulfar in seinen feuchten Kleidern frösteln.
Der Windhengst begann leicht zu schwanken, als Torfinn, einer der Seeleute, unter dem Segeltuch hervorkroch, unter dem die Mannschaft das Ende des Schauers abgewartet hatte. Torfinn schlurfte zu einem Eimer, ließ die Hose herunter, setzte sich und machte ein gequältes Gesicht, bis er fertig war. Dann schleppte er den Eimer hinauf zum Bug, wo er sich provozierend vor dem Jungen aufbaute und auf ihn herabschaute. Als der Junge den Blick nicht erwiderte, holte Torfinn aus und schüttete den Inhalt des Eimers dicht an ihm vorbei über Bord. Auch darauf reagierte der Junge nicht.
Als es allmählich dunkler wurde, schlief der Wind ein. Unter den Wolken blitzte das weiße Gefieder schreiender Möwen auf. Wellen plätscherten gegen den Rumpf und ließen den Knörr sanft schaukeln.
Ich bin ein Narr, dachte Ulfar und berührte mit der linken Hand das Christenkreuz auf seiner Glatze und mit der rechten Hand das Kruzifix, das an einem Lederband um seinen Hals hing. Mord ist eine Sünde, erinnerte er sich. Doch eigentlich war es kein Mord. Denn wenn sie am Leben bleiben wollten, musste der Junge sterben. Und manchmal musste man eben unangenehme Angelegenheiten erledigen. Musste sich die Hände schmutzig machen. Das würde der Herr Jesus schon verstehen. Denn Sünde hin oder her – der Junge war nicht normal, der stand doch mit dunklen Mächten im Bunde. Warum sonst wollte er nach Karmøy, zu dieser Hölleninsel? Und warum war die Fahrt vom Unglück verfolgt, seit der Junge an Bord war? Er hatte kaum Gepäck dabei, nur einen Leinenbeutel und eine Decke für die Nacht, und unter dem mit Fell besetzten Mantel trug er am Gürtel ein Kurzschwert in einer Lederscheide.
Und er hatte das Silber gehabt. Blendwerk.
Von Haithabu war der Windhengst nach Norden zum Handelsplatz Kaupang gesegelt. Zunächst verlief die Reise so gut, dass Ulfars anfängliche Bedenken wegen des Abstechers nach Karmøy bald vergessen waren. Karmøy lag zwar am Nordweg und somit nicht auf Ulfars geplanter Strecke, aber der Junge hatte im Voraus bezahlt. Hin und zurück würde der Umweg vier oder fünf Tage dauern, bei günstigem Fahrtwind vielleicht einen Tag weniger. Danach würde Ulfar seine eigentliche Reise fortführen: an der jütländischen Westküste südwärts nach Ribe und weiter durch das Wattenmeer vor der friesischen Küste und über das Nordmeer nach Lundene. In der Zwischenzeit würde er genug Geld eingenommen haben, um mit der Mannschaft in Lundene zu überwintern und Essen, Bier und Huren bezahlen zu können, während der Windhengst überholt und die von Würmern zerfressenen Planken erneuert wurden. Im nächsten Jahr wollte er dann bis ins Mittelländische Meer segeln, wo die Frauen dunkle Haut und schwarzes Haar hatten. Das war Ulfars Traum.
Er war Seemann und Händler. Er kaufte in einem Hafen Waren – Kleider, Weizen, Honig, Wein oder Tongefäße –, um sie woanders weiterzuverkaufen, mit reichlich Gewinn, versteht sich. So wäre es auch dieses Mal gewesen, wenn er den rothaarigen Bettpisser nicht an Bord genommen hätte.
Das Unheil begann einige Seemeilen vor Kaupang, als ein Seemann, der Däne Busa Ranisson, plötzlich zusammenbrach. Er verdrehte die Augen und wälzte sich zuckend zwischen den Ruderbänken. Dabei japste er wie ein Dorsch, während aus seinem Mund eine gelbe, stinkende Flüssigkeit sickerte, bis er sich nicht mehr regte. In der Nacht übergaben sie Busas Leiche dem Meer und leerten, wie es unter Seeleuten Sitte war, in seinem Andenken einige Becher Met aus einem Fass, das Ulfar in Kaupang verkaufen wollte. Busa war ein guter Kerl gewesen, stark, fleißig, gehorsam und gesund, ohne ein Anzeichen von Krankheit. Bis zu jenem Abend.
Nun gut, hatte Ulfar damals gedacht, so ein plötzlicher Tod kam vor, selten, aber es geschah. Die Wege des Herrn waren unergründlich.
Doch die Geschäfte in Kaupang liefen so schlecht, dass sich Ulfars Vorahnungen verstärkten. Er hatte in Haithabu Tonwaren geladen, Schüsseln, Becher, Krüge, und gut dafür bezahlt, weil die Nordmänner für Keramik aus dem Slawen- oder Dänenland reichlich Silbermünzen springen ließen. In Kaupang feilschte und feilschte Ulfar, doch niemand interessierte sich für seine Tongefäße. So konnte er schließlich nur mit erheblichem Verlust ein paar Krüge und Becher loswerden. Für die Münzen des Jungen erstand er dann einige Kisten Speckstein und Elchgeweih und hoffte, wenigstens diese Waren später in Ribe mit Gewinn zu veräußern. Außerdem kaufte er Räucher- und Trockenfisch, etwas Getreide, Bier und Met.
Und vielleicht wäre die Reise weiterhin so verlaufen, wie Ulfar sie geplant hatte, wenn er nicht in einer Bierschenke in Kaupang mit anderen Schiffsführern und Händlern ins Gespräch gekommen wäre, die noch ganz andere Geschichten zu berichten wussten.
«Karmøy?», hatte ein Händler geraunt, dabei nervös seine Finger geknetet und Ulfar dann gefragt, ob er wahnsinnig geworden sei.
Dass die Insel zum Seeräubernest verkommen war, hatte Ulfar bereits gehört. Noch vor einigen Jahren war die Siedlung Ögvaldsnes sehr reich gewesen, was sie ihrer Lage am Inneren Seeweg verdankte. Die Insel war vom Festland nur durch einen schmalen Sund getrennt. Wer also über Karmøy herrschte, kontrollierte den Handel mit den Ländern am Nordweg, von Rogaland und Hördaland über Thrandheim bis hinauf ins Halogaland und noch weiter. Doch der Glanz von Ögvaldsnes war verblichen, nachdem der König eine große Schlacht und somit Ansehen und Herrschaft verloren hatte.
Jetzt, so erzählten die Händler, hausten auf der Insel keine Seeräuber mehr, sondern Geister und Dämonen. Ulfar erfuhr auch, dass der König, der einst über viele Nordländer herrschte, nun als Wiedergänger mit einem Heer ruheloser Untoter herumgeisterte.
«Als der König und seine Sippe noch am Leben waren», erzählte ein Mann in der Schenke, «haben sie zuerst ihr Vieh gegessen, bis zum letzten Schaf, und als alle Vorräte aufgebraucht waren, aßen sie Baumrinde und Seetang.» Der Mann holte Luft, bevor er fortfuhr: «Dann haben sie sich gegenseitig getötet. Sie haben sich geschlachtet und gefressen, bis nur noch der König und seine greise Mutter übrig waren, die dann auch gestorben sind.»
Die anderen Schiffsführer hatten andächtig genickt. Am Tisch war es still geworden, und die Trinkbecher blieben unangetastet.
«Man weiß nicht, was danach geschah», sagte der Händler. «Gewiss ist aber, dass ihre Geister als Wiedergänger über die Insel wandern und nach Schiffen Ausschau halten. Wenn sich eins dorthin verirrt, sei es durch Unwissenheit oder weil Seeleute sich im Nebel verirren, überfallen die Geister es und metzeln die Menschen nieder … alle … und sie weiden sie aus wie Schlachtvieh. Das ist die Sünde, das ist der Fluch, der Fluch der Menschenfresser.»
«Ja, und deswegen machen seither alle Seefahrer einen großen Bogen um Karmøy», ergänzte jemand, «und jeder, der nach Norden fährt, segelt so weit aufs Meer hinaus, bis man am Horizont nur noch die obere Hälfte der Berge sieht. Denn so weit reicht die Macht der Geister nicht.»
Diese Worte rief sich Ulfar an diesem Abend ins Gedächtnis, an dem der Windhengst in der Bucht bei Lidandisnes vor Anker lag, und je länger er darüber nachdachte, desto überzeugter war er, dass der Mord an dem Jungen keine Sünde war. Er musste sterben, weil er Unheil über die Mannschaft gebracht hatte und sie zu den Untoten nach Karmøy locken wollte.
Außerdem versteckte der Junge unter seinem Mantel bestimmt noch mehr Münzen, die Ulfar nach den verlustreichen Geschäften in Kaupang zustanden.
Die Nacht brach an.
Als Ulfar die Seeleute in seinen Plan eingeweiht hatte, hatte niemand dagegen Protest eingelegt. Sie dachten wie er. Schließlich waren sie dabei gewesen, als Busa so elend verreckt war wie vergiftetes Vieh.
Nun warteten Ulfar und seine Seeleute in der Dunkelheit, bis der Junge wie jeden Abend seine Decke ausbreitete und sich darin einrollte. Er hatte keine Ahnung, dass er ein Opfer war.
Natürlich konnten sie ihn auch morgen oder übermorgen draußen auf dem offenen Meer einfach ins Wasser werfen. Ganz schnell würde das gehen, ohne das Deck mit Blut zu besudeln. Der Junge war klein und schmächtig wie ein Mädchen. Obwohl er ein Schwert besaß, würde es Torfinn, den stärksten der Seeleute, nur ein Lächeln kosten, ihn zu packen und über Bord zu stoßen. Aber der Junge hatte etwas Unheimliches an sich, etwas Dunkles, das Ulfar zur Vorsicht mahnte.
Die Wolkendecke öffnete sich und ließ den Mond fahles Licht auf den Windhengst herunterschicken.
Leise erhoben sich die Seeleute von ihren Lagern. Ulfar nahm ein Messer in die rechte Hand. Nachdem sich die anderen Männer mit Beilen und Knüppeln bewaffnet hatten, stiegen sie durch die mit Kisten, Ballen und Fässern vollgestellte Ladefläche zum Bug. Planken knarrten unter ihren Füßen. Jemand stieß gegen einen Riemen. Doch der Junge schien die Geräusche nicht zu hören. Als Ulfar sich neben ihn hockte und sich über ihn beugte, schlief er tief und fest. Wie ein Kind sah er aus, wie ein unschuldiges Kind, das sich in die Decke gerollt und sie bis unter das Kinn hochgezogen hatte. Er lag auf dem Rücken, das Gesicht war Ulfar zugewandt. Friedlich sah er aus, gar nicht unheimlich, und bei dem Anblick meldeten sich wieder Ulfars Zweifel.
Machte er wirklich etwas Rechtes?
Sollte er den Jungen vielleicht lieber von einem der Seeleute töten lassen? Nein, er war der Schiffsführer, daher traf er die Entscheidungen. Der Junge hatte den Tod verdient. Oh ja, den hatte er verdammt noch mal verdient! Entweder starb der Junge jetzt, oder die ganze Mannschaft würde zugrunde gehen.
Die nächtliche Stille wurde von Möwengeschrei zerrissen.
Ulfar sah, wie die vollen roten Lippen des Jungen sich von dessen bleicher Haut abhoben. Der Mond schien jetzt so hell, dass auf den Wangen Sommersprossen und auf dem Kinn der Bartflaum zu erkennen waren.
Ulfar umklammerte das Messer und gab Torfinn das verabredete Zeichen, woraufhin der sich am Kopf des Jungen bereit machte. Torfinn war seit vielen Jahren in Ulfars Diensten. Er schätzte den grobschlächtigen Mann, auch wenn er etwas langsam im Denken war. Aber er war kräftig und sollte den Jungen festhalten, damit der sich nicht wehrte, wenn Ulfar ihm das Messer ins Herz stieß. Dann würden sie warten, bis der Tod kam, und Ballaststeine in seine Kleider stecken, um ihn in der Bucht zu versenken.
Ulfar berührte das Christenkreuz, holte Luft und wechselte einen Blick mit Torfinn. Die anderen Seeleute atmeten schwer. Wie Blei lag ihre Anspannung in der frischen Nachtluft.
Sie waren bereit, einen Menschen zu töten.
Ulfar senkte den Blick – und sein Herz setzte einen Schlag aus, als er direkt in zwei weit geöffnete, funkelnde Augen schaute. Ehe Ulfar oder Torfinn reagieren konnten, rollte der Junge sich aus der Decke und kam auf die Füße. In derselben schnellen Bewegung blitzte die Schwertklinge auf.
Vor Schreck entglitt Ulfar das Messer, als der Junge das Schwert auf ihn richtete.
Die Seeleute polterten aufgeregt umher, als Torfinn mit einem Mal einen gurgelnden Laut ausstieß. Plötzlich war da Blut, viel Blut. Es strömte aus einer klaffenden Wunde in Torfinns Hals und ergoss sich wie ein Sturzbach über sein graues Leinenhemd. Torfinn wankte und torkelte, bevor er auf die Planken krachte.
«Er hat ihm die Kehle durchgeschnitten», rief jemand.
Die Klinge war noch immer auf Ulfar gerichtet. Als er aus den Augenwinkeln sah, wie die anderen Seeleute mit ihren Waffen näher kamen, hob er die rechte Hand, um sie zurückzuhalten. Innerhalb weniger Tage waren jetzt zwei Männer gestorben. Ulfar begriff, dass ein Fluch auf dem Windhengst lag. Und dass er selbst den Teufel an Bord geholt hatte.
Der Junge stand wie ein lauerndes Raubtier mit leicht gebeugten Knien vor Ulfar. Niemals zuvor war er jemandem begegnet, der so schnell mit dem Schwert war. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Junge sich regte. Aber nicht um Ulfar den Todesstoß zu versetzen, sondern nur um sein Gewicht vom linken auf das rechte Bein zu verlagern. Dann bewegten sich seine Lippen und formten ein Wort, nur ein einziges Wort. Der Name der Hölleninsel.
Karmøy.
Sobald die Morgendämmerung einsetzte, glitt der Windhengst aus der Bucht. Der Knörr war gebaut, um Lasten zu transportieren, und mit jedem Mann weniger wurde das Manövrieren anstrengender. Das Schiff war zum Segeln ausgelegt und hatte lediglich Riemen auf den erhöhten Decks vorn und achtern. Doch nun bestand die Besatzung nur noch aus den drei Seeleuten Ragi, Vali und Arinbjörn, während Ulfar das Ruder bediente. Er musste neue Männer anheuern, die Torfinns und Busas Plätze einnahmen. Ja, das würde er tun müssen, irgendwann, wenn diese ungeplante Reise überstanden war.
In der Nacht hatten sie Torfinn mit den Ballaststeinen beschwert, die für den Jungen vorgesehen waren, bevor sie den Seemann dem Meer übergeben hatten. Die anderen Seeleute standen unter Schock, während der Junge einfach die mit Torfinns Blut besudelte Decke auf die andere Seite gewendet und sich darauf ausgestreckt hatte, als wäre nichts geschehen. Als hätte er nicht kurz zuvor einen Mann getötet. Nachdem Torfinns Leiche im schwarzen Wasser versunken war, saßen die Seeleute zusammen, tranken Met und ehrten den Toten. Dabei war zwischen ihnen kein einziges Wort gefallen. Auch jetzt, am Morgen danach, an dem der frische Himmel blau schimmerte und der Fahrtwind günstig war, war ihre Furcht vor dem Jungen allgegenwärtig.
Und was machte diese Schlangenbrut? Saß auf der Kiste und starrte ins schaumgekrönte Nirgendwo.
Als sie das offene Wasser erreichten, half Ulfar, das Rahsegel zu setzen, bevor er wieder seinen Platz am Ruder einnahm und den Windhengst die Küste des Landes Agdir hinaufsteuerte, die sich zunächst nach Nordwesten und dann nach Norden erstreckte. Auf einen Lotsen war Ulfar nicht angewiesen, da er den Nordweg schon einige Male bereist hatte.
An Steuerbord zogen hoch aufsteigende Felsenküsten vorbei, bis sich am zweiten Tag der Hafrsfjord öffnete. In der Mündung hatte einst König Harald Harfagri, Schönhaar, einen legendären Sieg errungen. Es war eine erbitterte Schlacht gewesen, von der die Skalden sangen, dass Hunderte Männer gefallen waren. Von den wenigen Kriegern, die überlebt hatten, war kaum einer unverletzt geblieben. Nach dem Sieg wagte niemand mehr, sich Harald Schönhaar entgegenzustellen, als er die Herrschaft über die Länder am Nordweg an sich riss. Skalden dichteten ihre Drapas, die Preislieder, auf Harald Schönhaar und priesen ihn noch heute als den ersten Gesamtherrscher über die Nordländer, die er mit harter Hand regierte.
Die alte Geschichte kam Ulfar in den Sinn, weil Karmøy nur noch wenige Meilen entfernt war und weil es König Schönhaar gewesen war, der auf Karmøy den Palas Ögvaldsnes errichtet hatte. Außerdem stammte der Geist von Harald Graufell, der jetzt über die Insel wanderte, vom alten König ab: Graufell war der Sohn von Eirik Blutaxt und der Enkel von Harald Schönhaar.
Über dem Hafrsfjord zeigte der Himmel sich blau und nahezu wolkenlos. Kein Wind kräuselte die Wasseroberfläche, sodass das Segel schlaff von der Rah hing, als der Knörr im Gezeitenstrom an einer felsigen Insel vorbeitrieb. Über der Insel sah Ulfar dünne Rauchfahnen in den Himmel steigen, was ihm merkwürdig vorkam. Er hatte nicht damit gerechnet, in dieser Gegend noch Spuren menschlichen Lebens vorzufinden. Es war unwahrscheinlich, dass Wiedergänger Feuer entzündeten. Ein lebender Toter, ein draugr, brauchte weder Essen noch ein wärmendes Feuer. Ein Draugr tötete, bis man die böse Macht überwand, indem man ihm den Kopf abschlug, den Schädel auf sein Gesäß legte und den Kadaver verbrannte.
Auf der nördlichen Seite der Fjordmündung tauchten die dunklen Umrisse von Karmøy wie eine böse Vorahnung auf.
Während der Knörr an der kleinen Insel vorbeiglitt, sah Ulfar mit einem Mal ein kleines Ruderboot auftauchen. In dem Kahn saßen zwei Männer, ob alt oder jung, war auf die Entfernung nicht zu erkennen. Aber sie wirkten äußerst lebendig, wie sie mit ihren Langleinen hantierten, und wurden noch lebendiger, als sie den Windhengst bemerkten. Hastig holten sie die Leinen aus dem Wasser und legten die Riemen ein. Während Ulfars Knörr nach Norden abtrieb, flohen die Fischer zwischen die Schären und verschwanden.
Bald darauf näherte der Windhengst sich der Meerenge, wo der Innere Seeweg zwischen der Insel Karmøy und dem Festland hindurchführte und das Fahrwasser schmaler wurde.
In Ulfars Ohren rauschte das Blut. Niemand an Bord sprach ein Wort.
Der Junge war aufgestanden, an den Vorsteven gegangen und richtete den Blick auf Karmøy. Den Mantel hatte er hinter die Lederscheide mit dem Kurzschwert zurückgeschlagen.
Ulfar griff nach dem Kruzifix und hielt es mit der linken Hand fest, während er mit der rechten Hand das Ruder ausrichtete. Seine Glatze juckte, als der Knörr Kurs auf eine unter Bäumen im Schatten liegende Bucht am Fuß einer Landzunge nahm, die wie ein mahnender Finger ins Wasser ragte. In der Bucht gab es mehrere Landebrücken, hinter denen auf einer leicht ansteigenden Wiese eine Schiffshalle stand.
Ulfar hoffte, dass die Wiedergänger die Helligkeit des Tages scheuten und nur in der Dunkelheit hervorkamen. So hieß es zumindest in den Geschichten, aber nicht alle Geschichten entsprachen der Wahrheit.
Einer der Seeleute kam zu ihm an den Steuerstand. «Was wird uns auf der Insel erwarten?», fragte Ragi mit Blick auf Karmøy.
«Nichts», sagte Ulfar leise und ließ das Kruzifix los. «Gar nichts erwartet uns dort. Wir legen an, lassen den Jungen von Bord gehen, und dann legen wir wieder ab.»
Er bemühte sich, dies so zu sagen, als habe er alles im Griff. Wenn er seine Angst zeigte, wäre er ein schlechter Anführer.
Ragi zupfte sich am Ohrläppchen. «Was der Junge hier wohl will?»
«Geh doch hin und frag ihn», erwiderte Ulfar. Dann gab er das Kommando, das Schiff zum Anlegen bereit zu machen.
Das Segel wurde eingeholt, die Riemen ausgelegt, und der Windhengst glitt in die von Felsen gesäumte Bucht. Beim Näherkommen erkannte Ulfar, in welch schlechtem Zustand die Hafenanlage war. Auf den Landebrücken fehlten Planken, einige Stützpfeiler waren eingeknickt, und die Wände der Schiffshalle auf der von Gräsern und Brennnesseln überwucherten Wiese waren marode.
«Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache», sagte Ragi.
Ulfar rieb sich den Nacken, bevor er den Männern zurief, sie sollten das Rudern einstellen. Der Klang seiner Stimme hallte durch die Bucht.
Der Knörr glitt über das Wasser, auf dem sich das Sonnenlicht gleißend hell spiegelte, sodass es Ulfar blendete. Als er mit einem Mal glaubte, zwischen den Bäumen oberhalb der Wiese eine Bewegung gesehen zu haben, kniff er die Augen fest zusammen. Da hatte sich doch etwas bewegt! Oder hatte er sich das nur eingebildet? Er beschattete seine Augen mit der Hand. Nein, bei den Bäumen regte sich nichts.
Damit das Schiff zum Stehen kam, wurden die Riemen wieder ins Wasser getaucht. Doch als es an einer Landebrücke hielt, stellte sich heraus, dass die Brücke nicht zu betreten war. Die Planken waren so morsch, dass jeder Mann sofort hindurchbrechen würde. Also mussten sie näher ans Ufer heran. Die Riemen wurden durchgezogen, und Ulfar steuerte auf eine Stelle zu, an der das Ufer flach ins Wasser auslief. Dort hoffte er, den Kiel aufsetzen zu können, ohne gegen scharfkantige Steine zu stoßen.
Ein harter Ruck fuhr durch den Rumpf, als der Kiel des Windhengsts aufsetzte.
Ulfars Herzschlag beschleunigte sich. Eigentlich hatte er vermeiden wollen, dem Ufer zu nah zu kommen, doch nun mussten sie die Insel betreten, um das Schiff ins tiefere Wasser zurückzuschieben.
Als der Knörr stillstand, warf der Junge sein Gepäck, die blutverschmierte Decke und den Leinenbeutel, an Land und sprang hinterher.
«Nimm Vali und Arinbjörn mit», sagte Ulfar zu Ragi. «Ihr müsst das Schiff schnell wieder freibekommen.»
Die Planken erbebten unter den Füßen der Seeleute, die zum Bug liefen und an Land sprangen. Der Junge war inzwischen einige Schritte die Wiese hinaufgegangen, von wo aus er die Baumreihe beobachtete.
Da setzte Ulfars Herz einen Schlag aus. Er hatte sich vorhin nicht getäuscht, nein, verdammt, zwischen den Bäumen huschten Schatten umher.
«Beeilt euch», rief er.
Dann sah er etwa ein Dutzend Männer aus dem Wald kommen. Obwohl er niemals zuvor Untote gesehen hatte, war er überzeugt, dass diese Gestalten aus Fleisch und Blut waren. Sie sahen zwar heruntergekommen aus, wirkten aber äußerst lebendig und waren mit Schwertern, Äxten und Bögen bewaffnet.
Wie hungrige Raubtiere liefen die Wilden durchs Brennnesselgestrüpp. Ihre Kleider waren dreckig und zerschlissen, die Haare fettig und strähnig und die Gesichter von Wundmalen gezeichnet.
Ulfar spürte den Knörr unter seinen Füßen rucken, als die Seeleute sich gegen den Rumpf stemmten. Schnell schickte er ein Stoßgebet zum Himmel und flehte den Herrgott an, damit der ihnen half, das Schiff freizubekommen.
Noch waren die Angreifer dreißig, vierzig Schritt entfernt, als Ulfar sah, wie zwei von ihnen stehen blieben, Pfeile einlegten und die Bögen spannten. Instinktiv zog Ulfar den Kopf ein. Hatten Ragi und die anderen die Angreifer noch nicht bemerkt? Warum beeilten sie sich nicht? So fest konnte der Kiel doch nicht aufsitzen.
Wieder ruckte das Schiff, dieses Mal kräftiger, war aber noch immer nicht frei. Ulfar fluchte. Hatte der Kiel sich unter der Oberfläche zwischen Steinen festgekeilt?
«Pfeile», rief er und ruderte mit den Armen. «Sie haben Pfeile!»
Erst jetzt drehten die Seeleute sich um. Doch es war zu spät. Die Pfeile zischten durch die Luft, und einer bohrte sich in Valis Hals.
Bei den Bäumen tauchten weitere Wilde auf, darunter noch mehr Bogenschützen, die den Hang hinunterstürmten. Wieder flogen Pfeile. Ragi stemmte sich gegen den Bug, doch er war jetzt allein, denn Arinbjörn floh aufs Deck.
«Zurück mit dir», brüllte Ulfar. «Hilf Ragi, du verdammter Hohlkopf.»
Arinbjörn drehte sich zu Ragi um. Doch als wieder Pfeile flogen, sprang er in den Laderaum und versteckte sich hinter Kisten und Ballen. Dieser dumme, feige Mistkerl!
Als die Wilden Ragi erreichten, wollte der sich ergeben, doch eine zerlumpte Gestalt sprang vor und hieb ihm eine Axt in den Hals. Inzwischen waren an die zwei Dutzend Männer am Ufer. Sie reckten die Waffen und zeigten jubelnd auf das Schiff, ihre Beute. Nein, das waren wirklich keine Untoten, das waren Krieger. Hungrige Krieger.
Da fiel Ulfar der Junge wieder ein, dem er das alles zu verdanken hatte. Der Kerl stand scheinbar ungerührt von dem Überfall etwas abseits. Den Beutel und die Decke hatte er vor sich ins Gras gelegt. Als ein hochgewachsener Mann mit dichtem, schwarzem Bart auf das Kurzschwert zeigte, legte der Junge es nicht ab, sondern zog stattdessen etwas unter seinem Mantel hervor, das wie ein eingerolltes Pergament aussah. Er reichte es dem Schwarzbart, der einen Blick darauf warf und es dann hinter seinen Gürtel steckte.
Auf dem Knörr zogen sich Ulfar und Arinbjörn zum Steuerstand zurück, während mehrere Angreifer an Bord kletterten und sich wie eine Meute ausgehungerter Hunde näherten.
Ulfar wurde klar, dass er Lundene in diesem Herbst nicht erreichen würde, und auch im nächsten Herbst nicht mehr.
«Hoch mit deinem dreckigen Hintern, Seefahrer!»
Ulfar bekam einen Stoß gegen die Schulter und blinzelte ins Halbdunkel. Sofort begannen sich wütende Schmerzen in seinem Kopf zu regen. Das Letzte, an das er sich erinnerte, war, wie er und Arinbjörn von den zähnefletschenden Wilden an den Hintersteven gedrängt wurden. Ulfar hatte zu dem Zeitpunkt mit seinem Leben abgeschlossen und fieberhaft überlegt, wie er sich am schnellsten selbst töten konnte, bevor ihn die Bestien bei lebendigem Leib zerfleischten. Wahrscheinlich wäre es genauso gekommen, wäre der Schwarzbart nicht aufgetaucht und hätte die Krieger zurückgerufen. Dann hatte er Ulfar eine Keule über den Schädel gezogen, und er hatte das Bewusstsein verloren. Bis jetzt.
Neben ihm kauerte Arinbjörn, der grauenvoll zugerichtet war. Sein Gesicht war mit Schnittwunden überzogen, seine Augen waren zugeschwollen.
«Hoch mit dir», knurrte jemand.
Wasser klatschte in Ulfars Gesicht. Er erschrak und musste husten, woraufhin die Schmerzen in seinem Kopf heftiger wüteten. Dann richtete er den Blick auf den vor ihm knienden Mann. Es war der Schwarzbart, der wie ein Aussätziger stank, der wochenlang kein Waschwasser gesehen hatte.
«Bist du der Anführer?», fragte er.
Ulfar nickte, und der Schwarzbart zog ihn auf die Füße und stieß ihn vor sich her in eine stickige Halle. Für einen Moment dachte Ulfar, dass der Ort der Vorstellung, die er sich von der Hölle machte, nahekam: Es stank nach Kot, Urin und Fäulnis. In der von Feuern erhellten Halle hockten Menschen wie Vieh zusammengepfercht am Boden und schlangen Essen herunter. Überall lagen Sachen vom Windhengst verstreut zwischen rülpsenden und furzenden Menschen herum: Kisten, Ballen, Körbe und Fässer. Den anderen Waren – den Elchgeweihen, Specksteinen und dem Tongeschirr, davon vieles zerbrochen – schenkten die Leute keine Beachtung. Sie hatten den Knörr geplündert und die Ladung in ihr Dreckloch gebracht, wo sie sich nun um die Vorräte stritten: Zwiebeln, schrumplige Äpfel, Brot, Hartkäse und Grütze, die sie aus Ulfars Gerste angerührt hatten. Und um sein Bier und seinen Met.
Der Schwarzbart schob ihn durch die schmatzende Menge zum anderen Ende der Halle, wo hinter einem Tisch ein gebeugtes Weib saß und Grütze aus einer Holzschale löffelte. Das graue Haar hing der Alten wie Spinnweben vom Kopf, der mit Schorf überzogen und an einigen Stellen kahl gekratzt war. Ihr Gesicht war faltig wie ein alter Apfel. Die Lippen und das borstige Kinn waren mit Grütze beschmiert.
Als sie zu Ulfar aufblickte, war ihr Blick glasig, aber auch hart und zornig.
Sie griff zu einem Becher, leerte ihn und hielt ihn dann hoch, bis eine dunkelhäutige Frau herbeieilte. Das Gesicht der nicht mehr ganz jungen Frau war so schwarz, dass Ulfar in dem schummrigen Licht zunächst nur das Weiße in den Augen sah. Als sie näher kam, sah er, dass sie schön war. Ulfar hatte Menschen mit so dunkler Haut auf Sklavenmärkten gesehen, wo sie gute Preise erzielten. Die Frau nahm der Alten den Becher ab und füllte ihn an einem Fässchen mit Ulfars Met.
Neben der Alten saß in einem Hochstuhl ein Mann, dessen Gesicht im Schatten verborgen war. Er bewegte sich nicht, aber Ulfar spürte den starrenden Blick.
«Nenn mir deinen Namen, Seefahrer», nuschelte die Alte. Ihr zahnloser Mund war mit Grütze gefüllt.
«Ulfar … Ulfar Thormodsson.»
Die Alte häufte Grütze auf den Löffel. Doch statt sie zu essen, schleuderte sie Ulfar die Grütze ins Gesicht. «Herrin! Ich bin eine Herrin, Seemann!»
«Ja, Herrin», erwiderte Ulfar.
«Er behauptet, der Anführer der Seefahrer zu sein», erklärte der Schwarzbart.
«Ulfar Thormodsson», wiederholte die Alte. «Den Namen habe ich noch nie gehört. War Thormod auch so ein undankbarer Ziegenfurz wie du?»
«Undankbar? Ich verstehe nicht, Herrin?»
Die Alte spuckte einen Klumpen aus Schleim und Grütze vor Ulfars Füße. «Wäre dein Vater Thormod genauso unverschämt gewesen wie du? Hätte er auch versucht, die Hafengebühr zu prellen? Dann pisse ich auf den Bastard, der dich gezeugt hat, so wie ich auf dich pisse.»
Sie hob die rechte Hand und streckte einen von Gicht gekrümmten Zeigefinger in Ulfars Richtung. «Weißt du, wer ich bin?»
«Ich denke … ja.»
«Dann sollte dir auch klar sein, dass ich dir den Kopf abschlagen und auf einen Pfahl spießen werde, damit dir die Möwen und Krähen die Augen aushacken.»
Der Mann neben der Alten beugte sich vor und berührte sie leicht am Arm, woraufhin sie sich etwas zu beruhigen schien. Ulfar kannte viele Geschichten über diese Leute. Die letzten Geschichten hatte er in Kaupang gehört, und darin hieß es, die Königsmutter Gunnhild sei tot, ebenso wie ihr Sohn, König Harald Eiriksson, den man gráfeldr, Graufell, nannte. Die Alte mochte stinken wie verwesendes Fleisch, aber tot war sie nicht, ebenso wenig wie ihr Sohn, der sich jetzt an Ulfar wandte.
«Nur aus einem einzigen Grund lebst du noch, Schiffsführer.»
Ulfar vermied es, dem König in die Augen zu schauen. Er hatte gehört, dass Graufell jeden Mann, der ihn unaufgefordert ansah, mit glühendem Eisen blendete.
«Kennst du den Grund?»
Ulfar schüttelte den Kopf. «Nein, Herr.»
«Schau mich an, Schiffsführer!»
Ulfar zwang sich, den Blick auf das vom Feuerschein erhellte und von Hunger und Krankheit gezeichnete Gesicht zu heben, das von fettigem Haar und einem struppigen Bart umrahmt wurde. Vorsichtig hob Ulfar den Blick weiter zu Graufells Augen. Sie waren hell und stahlhart. Der Zorn der ganzen Welt schien darin zu liegen.
«Der Grund sitzt hinter dir», sagte er.
Ulfar drehte sich um und sah den Jungen. Der rothaarige Bursche saß auf einem Schemel inmitten der Wilden und starrte auf irgendeinen Punkt in der Ferne.
Ulfar wandte sich wieder zum Tisch.
«Sag mir, wer er ist», forderte ihn der König auf.
«Ich … weiß es nicht.»
Die rechte Faust des Königs krachte so hart auf die Tischplatte, dass aus der Holzschüssel Grütze auf den Tisch schwappte, was die Alte mit einem meckernden Laut kommentierte.
«Lüg mich nicht an, Seefahrer», donnerte der König. «Er war auf deinem Schiff.»
Ulfar hob abwehrend die Hände. «Er spricht nicht, Herr. Ich habe ihn in Haithabu an Bord genommen, aber das Einzige, was er gesagt hat, war der Name Eurer Insel. Er hat für die Fahrt mit Silber bezahlt, daher habe ich ihn mitgenommen …»
Das Silber! Ulfar hätte es beinahe vergessen. Er tastete an seinem Gürtel nach dem Beutel.
«Suchst du das hier?» Der König zog Ulfars Beutel hervor, öffnete ihn und ließ Münzen auf den Tisch fallen.
«Ja, Herr.»
«Und das soll ich dir glauben? Dass du den weiten Weg von Haithabu bis hierher fährst, um einen Knaben herzubringen, dessen Namen du nicht kennst und von dem du nicht weißt, was er hier will? Obwohl sich die halbe Welt das Maul über mich zerreißt? Oder machen die Hurensöhne das etwa nicht?»
Ulfar schluckte gegen den Kloß in seinem Hals an.
«Rede!»
«Ja … Herr. Man erzählt sich Geschichten über Euch.»
«Geschichten?» Der König verzog das Gesicht. «Ich liebe Geschichten – und vor allem liebe ich Lügengeschichten. Berichte mir, was die Nichtsnutze und Speichellecker sich über Harald Eiriksson erzählen. Was sie sich über den König erzählen, der seinen Schmuck verkaufen musste, obwohl er von den mächtigsten Männern abstammt, die jemals am Nordweg geherrscht haben: von Halfdan dem Schwarzen und von dessen Sohn Harald Harfagri und von dessen Sohn Eirik Blutaxt, dessen rechtmäßiger Erbe ich bin. Das Erbe ist der Thron über alle Länder am Nordweg, und nur ein Mann hat ein Anrecht darauf – nur ein einziger Mann.»
Der Kloß in Ulfars Hals fühlte sich an, als sei er auf die Größe einer Männerfaust angewachsen, weswegen er befürchtete, nur ein Krächzen hervorzubringen. Was sollte er dem König sagen? Die Wahrheit? Oder ihm eine Lüge auftischen?
Ulfar spürte den bohrenden Blick, und ihm war klar, dass der König eine Lüge sofort durchschauen würde. Also entschied er sich für die Wahrheit. Was hatte er denn noch zu verlieren? Seinen Kopf? Den würden sie ihm sowieso abschlagen.
Auch die Alte starrte ihn an, während sie den Metbecher umklammerte und Flüssigkeit aus ihren Mundwinkeln sickerte.
«Man sagt … Ihr überfallt Schiffe, die Karmøy zu nahe kommen, Herr», begann Ulfar. «Dass Ihr die Schiffe plündert und die Seeleute tötet. Deswegen wagen sich die Schiffsführer nicht mehr in diese Gegend. Und es gibt Geschichten, dass Ihr gar nicht mehr am Leben seid. Dass Euer Geist ruhelos über die Insel streift und Ihr mit anderen Untoten über die Schiffe herfallt. Und es heißt, Ihr wärt besiegt worden und seid nun ein gefallener König, ein König ohne Reich …»
Da stieß die Alte einen Schrei aus und sprang auf. «Ich verfluche ihn! Ich verfluche den Jarl, der das Unglück über unsere Sippe gebracht hat. Ich verfluche ihn! Verfluche ihn!»
Dann sank sie so kraftlos auf den Stuhl zurück, als sei das Leben aus ihrem Körper gewichen. In der Halle wurde es still. Die Wilden kamen näher. Gunnhild griff nach dem Becher und trank.
«Das erzählt man sich also über mich», sagte der König. An seinen Fäusten traten die Knöchel weiß hervor. Er lachte freudlos. «Ja, es ist durchaus etwas dran an den Geschichten, Seefahrer.»
«Bring ihn um», knurrte Gunnhild, nachdem ihr von der schwarzen Sklavin Met nachgeschenkt worden war.
«Noch nicht», sagte der König, während seine Finger mit Ulfars Silbermünzen spielten. «Wir überfallen Schiffe, Seefahrer, weil wir es tun müssen. Schau uns an. Sag mir, welche Geschichte du über den König und seine Sippe erzählen würdest, wenn wir dich laufen ließen.»
«Ich würde sagen, dass Ihr Hunger habt, Herr.»
«Hunger? Und was noch?»
«Dass Ihr keine … Macht mehr habt.»
«Deine Offenheit gefällt mir. Komm her!»
Ulfar trat an den Tisch, über den der König sich nach vorn beugte.
«Riechst du das?», fragte er. «Riechst du, dass meine Kleider wie Marderpisse stinken? Mein Kettenhemd hat Rost angesetzt, meine Schwertklinge ist stumpf geworden, und in meinem Helm nisten Mäuse. Die Geschichten sind wahr, Seefahrer: Ich bin ein sabbernder Krüppel. Riechst du, dass die Scheiße an meinen Beinen herunterrinnt? Siehst du, dass ich bereits tot bin?»
«Was redest du da?», fuhr die Alte dazwischen. «Du lebst, aber der da ist tot. Lass mich ihn umbringen. Ich schlachte ihn und pisse auf seine dänischen Eingeweide …»
Ohne darauf einzugehen, zog der König etwas unter seinem Umhang hervor. Es war ein Pergament, vermutlich das, welches der Junge dabeigehabt hatte. Das rote Wachssiegel war gebrochen. Als der König das Pergament auseinanderrollte, sah Ulfar die lateinischen Schriftzeichen.
«Der andere Seemann, der von deiner Mannschaft noch übrig ist, hat behauptet, man würde dich den Klugen nennen, weil du lesen kannst», sagte der König. «Nun kennst du den Grund, warum dein Kopf noch auf deinem Hals steckt statt auf einem Pfahl.»
Er reichte das Pergament über den Tisch an Ulfar weiter, der es aufnahm. Seine Finger zitterten, und er betete im Stillen, dass ihm nach all den Jahren die Bedeutung der Schriftzeichen wieder einfallen würde.
Der dunkle Mann stand wenige Schritte von ihr entfernt. Den Kopf tief in den Nacken gelegt, schaute er in den Nachthimmel, auf dem sich ein grün leuchtendes Band von den Bergen über den Fjord und bis über das Nordmeer zog. Die kantige Gestalt des Mannes verschmolz beinahe mit der Dunkelheit, in der die Sterne funkelten und sich auf dem Fjord widerspiegelten.
Auf ihrer Haut spürte Malina den Hauch einer vom Wasser heraufwehenden Böe und sah, wie der Wind sich in seinem offenen Haar fing und im Gefieder des Raben auf seiner Schulter.
Es war eine Nacht der Götter.
Malinas Herz pochte hart. Sie kauerte hinter dem Karren, der mit Pfählen beladen war, mit denen die Männer morgen einen Zaun ausbessern wollten. Sie wusste, dass sie nicht hier sein durfte. Dass sie ihn nicht belauern durfte wie eine Diebin, die seine Geheimnisse stahl. Geheimnisse, an denen sie nicht teilhaben durfte.
Dennoch war sie ihm gefolgt, als er vorhin im Jarlshaus aus dem Bett gestiegen, in Hose, Hemd und Stiefel geschlüpft war und das Haus verlassen hatte. Es war mitten in der Nacht, und sie hatte gewusst, wohin er ging.
Sie hörte eine Stimme durch die Nacht dringen. Eine Stimme, die Worte sang, die Malina nicht verstand und die klangen wie raue Tierlaute.
Der Mann, den Malina liebte, bewegte sich etwas, als er sein Gewicht von einem Bein aufs andere verlagerte und sich der Stimme zuwandte. Sie kam von dem mit Gras bewachsenen Dach einer Hütte am Rande des Jarlshofs. Zu sehen war die Sängerin nicht, aber bei dem Gesang zog sich Malinas Magen zusammen.
Der Rabe plusterte das Gefieder auf. Sein Kopf zuckte aufgeregt.
Malina betrachtete das am Nachthimmel pulsierende, grüne Licht, während der Gesang anschwoll. Vor Aufregung biss sie auf die Knöchel ihrer rechten Hand. Ihr Herz schlug schneller, weil sie wusste, was gleich geschehen würde und was sie nicht verhindern konnte. Weil sie es nicht verhindern durfte. Weil sie selbst es gewesen war, die ihn gebeten hatte, die Zauberin zu rufen.
Der Mann straffte den Rücken, und Malina spürte die Tränen kommen. Sie senkte den Blick. Liebte er sie wirklich? Er behauptete das, aber war es auch die Wahrheit? Vielleicht tat sie ihm unrecht, doch in diesem Moment hatte sie das Gefühl, niemals ganz zu seinem Herzen vorgedrungen zu sein. Ihn niemals wirklich verstanden zu haben. Was dachte er? Was fühlte er? Was plante er?
«Du beobachtest mich?» Das war seine Stimme, ganz nah.
Malina zuckte zusammen, als habe sie sich an kochendem Wasser verbrüht. Sie war doch vorsichtig gewesen. Nun war es ihr ausgesprochen peinlich, dass er sie entdeckt hatte. In diesem Augenblick hatte sie Angst vor dem Mann, vor ihrem Mann.
Die dunklen Augen funkelten wie die des Raben auf seiner Schulter. Malina fühlte sich elend, als habe er sie einer Lüge überführt. Er hatte ihr niemals verboten, ihm zu folgen, wenn sie auf dem Hof war, aber es war ein unausgesprochenes Gesetz: Nur er durfte sie besuchen. Nur er.
«Warum beobachtest du mich?», fragte er kalt.
Das Haar hing ihm strähnig ins Gesicht. Die Lippen in dem dunklen, kurz geschnittenen Bart waren zu einem grimmigen Strich zusammengepresst.
Sollte sie eine Ausrede erfinden? Irgendeine dumme Geschichte, warum sie hier war und nicht im Bett? Nein, er würde sie durchschauen, weil er genau wusste, warum sie hier war.
«Du kannst deine Eifersucht nicht ablegen», sagte er.
Sie schüttelte heftig den Kopf, aber natürlich glaubte er ihr nicht.
«Ich bin aufgewacht, als du aufgestanden bist, und war neugierig, wohin du gehen würdest, mitten in der Nacht», versuchte sie es mit der halben Wahrheit und deutete zum Himmel. «Dann habe ich die Lichter gesehen. Sie sind so schön, so geheimnisvoll. Ich konnte mich nicht von ihrem Anblick trennen.»
Das war nicht einmal gelogen. Vielleicht wäre sie tatsächlich längst wieder ins Haus gegangen, wenn der hellgrüne Himmelsschleier sie nicht in den Bann gezogen hätte.
Hakon schaute zum Himmel.
«Die valkyrjar rücken aus», sagte er. «Sie sammeln erschlagene Krieger von den Schlachtfeldern. Die Valkyrjar sind die Schlachtengöttinnen. Das Licht spiegelt sich auf ihren Rüstungen, auf Helmen, Brünnen und Waffen und scheint vom Halsschmuck der Göttin Freyja wider. Wenn die Göttinnen ausziehen, gibt es Krieg. Irgendwo gibt es immer Krieg.»
Er hatte ihr von den Totendämonen erzählt, die wie hungrige Wölfe über Schlachtfelder zogen, um Krieger für Walhall auszuwählen. Die Vorstellung, dass die Valkyrjar am Nachthimmel auszogen, ließ Malina erschauern.
«Wo wird die Schlacht geschlagen?», fragte sie. Es war eine naive Frage, aber Malina war erleichtert, dass Hakon von dem Himmelsleuchten abgelenkt wurde. Sie hoffte, dem Gespräch eine andere Richtung geben zu können, erhob sich und kam hinter dem Karren hervor.
Der Gesang der Seherin war verstummt.
«Das weiß ich nicht», erwiderte Hakon.
«Befürchtest du, die Valkyrjar könnten zu den Throendern kommen, weil ihr wieder in eine Schlacht ziehen müsst?»
«Das befürchte ich jeden Tag und jede Nacht.»
«Gibt es einen Grund für deine Sorgen? Es geht uns doch gut. Nach der reichen Ernte sind die Vorratskammern gefüllt. Wir haben Getreide, Bohnen und Zwiebeln, Rauchfleisch und Trockenfisch, Käse und …»
«Es war die beste Ernte seit langem», schnitt er ihr das Wort ab. «Wir haben den Odinsbecher für den Sieg über unsere Feinde geleert und die Becher für die Götter Njörd und Frey für gute Ernte und Frieden.»
«Dennoch bist du beunruhigt.»
Er schien zu überlegen, ob er weiterreden sollte. Dann sagte er: «Ich habe mich mit unseren Verbündeten aus den Ostlanden getroffen, mit den Königen Tryggvi Olavsson und Gudröd Björnsson. Wir haben uns Freundschaft und Treue geschworen und werden uns beistehen im Kampf gegen die Gunnhildssöhne. Doch Graufell verhält sich schon zu lange still.»
«Aber wir haben den Hafen ausgebaut», entgegnete Malina. «Wir haben die Palisaden verstärkt, und nach allem, was wir wissen, hat Graufell seine Macht eingebüßt. Du selbst hast gesagt, er habe weder ein Reich noch ein Volk oder Krieger.»
Hakon wischte eine Strähne aus seiner Stirn. «Das habe ich gesagt, aber die Götter spielen ihre Spiele. Es ist kaum vorhersehbar, was sie im Schilde führen.»
«Kann sie das nicht sehen?» Kaum hatte sie die Frage ausgesprochen, ärgerte sie sich darüber, die Seherin wieder ins Gespräch gebracht zu haben.
«Manchmal», erwiderte er. «Manchmal kann sie es sehen.»
«Weiß sie auch, dass du hier stehst und sie beobachtest?»
«Ja.»
«Und dass ich hier bin, obwohl ich nicht hier sein darf?»
Er nickte, und der Rabe ließ einige seiner merkwürdigen Klopflaute hören. Der Vogel war ungeduldig, als könne er nicht erwarten, zu der Hütte zu fliegen, wo sie wartete. Als Malina hinüberschaute, sah sie die Seherin auf dem Dach stehen. Sie hatte nichts an, obwohl es kühl war. Das helle Haar fiel ihr über den nackten Rücken. Ihr Blick war in den Himmel gerichtet. Die Arme waren ausgestreckt zu den grün schimmernden Lichtstreifen.
Da stellte Malina die Frage, die ihr nicht aus dem Kopf ging, obwohl sie wusste, dass es sie nichts angehen durfte: «Warum gehst du heute Nacht zu ihr?»
«Weil ich erfahren muss, was die Götter vorhaben.»
Malina schluckte gegen einen Widerstand in ihrem Hals an. «Wirst du mit ihr auch über mich reden? Werdet ihr darüber sprechen, worum ich dich gebeten habe?»
Er wandte sich ihr so abrupt zu, dass sie einen Schritt zurückwich. Sein Blick hatte sich verändert, war dunkler und härter geworden. «Es steht mir nicht zu, darüber zu entscheiden. Sie wird es tun, wenn sie es für richtig hält. Du wirst davon erfahren, und jetzt geh schlafen.»
Malina nickte verkrampft. Sie brachte keinen Ton mehr heraus. Es hatte sie große Überwindung gekostet, Hakon noch einmal auf das leidige Thema anzusprechen. Er behauptete, sich längst damit abgefunden zu haben, dass sie kein Kind von ihm bekam. Eigentlich hatte auch sie das irgendwie akzeptiert. Hatte sie zumindest gehofft.
Dennoch schwelte tief in ihr der Wunsch nach eigenen Kindern. Der Wunsch war wieder gewachsen, ohne dass sie das wollte. Immer größer war ihr Verlangen in den vergangenen Wochen geworden, je stiller Hakon wurde und je weiter er sich von ihr und allen anderen zurückzog, als laste etwas Schweres auf seiner Seele. Dabei ging es ihm und seiner Sippe, so wie überhaupt allen Throendern, so gut wie selten zuvor, seit Malina in Hladir lebte. Der Feind hatte sich verkrochen, es herrschte Frieden, die Fische füllten die Netze, und das Vieh war fett und kräftig. Ja, es schien, der Schatten über Hakons Seele wurde düsterer, je besser es den Menschen ging, die ihn zu ihrem Jarl gewählt hatten.
Glaubte Malina wirklich, sie könne ihn glücklicher machen, wenn sie ihm ein Kind schenkte? Oder dachte sie dabei nur an sich? War die Schwangerschaft nicht ihr ureigener Wunsch? Er hatte zwei Kinder von anderen Frauen, betonte aber immer, es seien auch Malinas Kinder.
Sie hatte keine Antwort auf ihre Fragen. Sie wusste nur, dass sie ein Kind haben wollte. Haben musste. Daher hatte sie vor einigen Tagen ihren Mut zusammengenommen und ihn gebeten, die Seherin um Hilfe zu bitten. Es war nicht das erste Mal, dass die Seherin die Götter für Malina mit einem Ritual umzustimmen versuchte. Doch es sollte das letzte Mal sein. Malina hatte sich vorgenommen, sich endgültig damit abzufinden, wenn die Götter sie erneut nicht schwanger werden ließen.
Sie nickte, weniger, um seine Worte als vielmehr ihre eigenen Gedanken zu bestätigen.
Der Rabe krächzte heiser, bevor er sich von Hakons Schulter erhob, die Flügel durchschlug und zur Hütte davonflog. Die Seherin war vom Dach verschwunden.
Hakon wandte sich von Malina ab und folgte dem Raben in die Dunkelheit. Die Himmelslichter, dieser schimmernde Glanz der Schlachtengöttinnen, leuchteten heller als je zuvor in dieser Nacht.
Signy stampfte durch die Halle, stieß erst einen Tonkrug vom Tisch, der scheppernd zerbrach, und dann eine Holzschüssel, die über den Boden rollte, bis sie vor den Füßen ihres Vaters Steinolf liegen blieb. Der alte Mann kochte vor Wut, genauso wie seine hitzköpfige Tochter.
In der Halle war es still geworden. Mägde und Knechte verzogen sich wie vor einem nahenden Gewitter. Nur das unterdrückte Kichern von Bödvar war zu hören, der mit Fafnir am Tisch saß. Die beiden waren Signys ältere Brüder.
«Den Krug wirst du ersetzen», fuhr Steinolf sie an. «Räum die Scherben weg und hör auf, Ärger zu machen. Du musst ihn heiraten!»
Steinolfs dunkle Augen funkelten. Signy, die dicht vor ihm stand, stemmte die Fäuste in die Hüften und wich dem finsteren Blick ihres Vaters nicht aus.
Sie war ein zartes, schlankes Mädchen. Das strohblonde Haar trug sie noch offen, ihre Haut war sehr hell, aber ihre Augen waren dunkel wie die ihres Vaters, der jetzt die rechte Hand hob.
«Schlag mich doch», fauchte sie.
Bei jeder anderen Gelegenheit hätte er es wohl getan, so wie jeder Vater seine Kinder mit Schlägen zum Gehorsam erzog. Aber dieses Mal würde er das nicht wagen, nicht jetzt, kurz vor der verfluchten Hochzeit. Er würde nicht riskieren, seine Tochter mit blauem Auge oder geschwollener Wange zum Hochzeitsfest ziehen zu lassen.
Signy war sechzehn Jahre alt, also längst im heiratsfähigen Alter, und genau das hatte ihr Vater vor: Er wollte sie verheiraten – mit Ljot, dem Sohn des alten Konal vom Buvikahof, der einen halben Tagesmarsch von Steinolfs Brimillhof entfernt lag. Signy hasste Ljot, und weil ihr Vater sich nicht erweichen ließ, hasste sie auch ihn.
Steinolfs Nasenflügel bebten, und sein Bart zitterte, als er die Hand wieder sinken ließ und zu Bödvar und Fafnir herumfuhr. «Haltet eure Mäuler! Hier gibt es nichts zu lachen, wenn eure Schwester sich meinem Willen nicht beugt.»
«Ich habe doch gar nicht gelacht», protestierte Fafnir, während Bödvar schnell wegsah.
Steinolf kreuzte einen weiteren Blick mit Signy, bevor er sich umdrehte und vor sich hingrummelnd durch die Halle in den hinteren Bereich stapfte, wo die Pferde und Ziegen in Ställen untergebracht waren.
Signy bückte sich nach den Tonscherben und begann, sie einzusammeln. Tränen traten ihr in die Augen.
«Also ich freue mich schon auf das Gelage», sagte Bödvar, hämisch grinsend. «Ljot und Konal werden jede Menge gutes Essen und Bier auftischen. Sie mögen verrotzte Schafsköpfe sein – wie alle vom Buvikahof –, aber sie sind nicht halb so geizig wie Steinolf …»
«Untersteh dich, so über deinen Vater zu reden, Bödvar.»
Signys Mutter Herdis war in die Halle gekommen, in der rechten Hand das Brautkleid, eine blau gefärbte, weite Tunika, die mit Stickereien versehen war, an denen sie lange gearbeitet hatte. In der anderen Hand hielt sie den Schleier aus feingewebtem Leinen, den Signy während der Hochzeitszeremonie tragen würde.
Signy trug die Scherben zum Tisch und ließ sie vor Bödvar fallen. Unwillkürlich zog er den Kopf ein. Seine Schwester war mit zwei Brüdern aufgewachsen und hatte gelernt, sich durchzusetzen.
«Du denkst nur ans Essen und Saufen», zischte sie. «Dass ich gezwungen werde, Ljot zu heiraten, ist euch allen egal.»
«Stell dich nicht so an», entgegnete Bödvar. «Du hättest es schlechter treffen können. Ljot ist ein gesunder Mann, groß und stark und …»
«Und gewalttätig und brutal. Ihr lasst zu, dass ich so einem Unmenschen zu Willen sein muss. Er wird mich schlagen und sich an mir vergehen.»
«Wahrscheinlich wird er das tun, aber nur, wenn du ihm einen Grund dafür gibst. Was erwartest du, Signy? Eine Frau hat dem Mann zu dienen, so war es schon immer, und so wird es immer sein.»
Ihr Herz trommelte vor Aufregung. Bödvar redete genauso einen Unsinn wie Steinolf.
Hilfesuchend schaute sie zu Fafnir, dem jüngeren ihrer beiden Brüder. Sie mochte Fafnir, der anders war als die meisten Männer. Doch er wich ihrem Blick aus.
«Es tut mir leid», sagte er nur, kehrte die Scherben mit den Händen vom Tisch und erhob sich, um sie wegzubringen.
Signy seufzte tief. Warum stand ihr niemand bei? Warum ließen alle zu, dass sie mit diesem Mistkerl verheiratet wurde? Einmal hatte sie mit ansehen müssen, wie Ljot einen Knecht verprügelte, der einen Korb mit Vogeleiern fallen gelassen hatte. Wie von Sinnen hatte Ljot auf den Knecht eingeschlagen und hätte ihn vermutlich totgetreten, wenn Ljots Vater Konal nicht dazwischengegangen wäre. Damals war Ljot dreizehn Jahre alt.
Auch wenn Signy sich damit nicht abfinden konnte, war die Hochzeit längst abgemacht. Im vergangenen Winter hatte Steinolf rechtmäßig die Zeugen benannt. Als man das Brautgeld, mundr, ausgehandelt hatte, hatte Steinolf sich wie gewohnt knauserig gezeigt. Zusätzlich zur angemessenen Menge Silber hatte er zähneknirschend zugestimmt, der Mitgift eines seiner beiden Mastschweine beizusteuern.