Das Seidenbrokatsofa - Jenny Schon - E-Book

Das Seidenbrokatsofa E-Book

Jenny Schon

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Beschreibung

Der Geist der 70er Jahre Die Sinologie-Studentin Betty Pütz erlebt eine aufregende Zeit, und sie ist offen für neue politische Ideen, aber auch alternative Lebensformen und Beziehungen. Sie besucht Konzerte von Jimi Hendrix und Rio Reiser auf Fehmarn. In der Lüneburger Heide, der Heimat ihres Freundes John, wird das Leben in einer Kommune erprobt. Die von Diktatoren befreiten Länder Portugal und Griechenland bilden den Hintergrund für leidenschaftliche Liebschaften. In West-Berlin ist Betty Teil eines Buchladenkollektivs. Hier erlebt sie aus erster Hand, was es bedeutet, wenn politische Gruppierungen den Buchladen besetzen wollen – die Anfänge der RAF. Betty kann als erste Studentin nach der Kulturrevolution in die VR China reisen. Sie schreibt ein Buch und kehrt für Lesungen immer wieder in die Lüneburger Heide zurück. Johns Mutter, Gräfin genannt, stellt Betty ihr kostbares Seidenbrokatsofa zur Verfügung: Es wird zum Ausgangspunkt vieler Geschichten, die Betty ihr an langen Abenden erzählt. Ein Roman über ein schillerndes Jahrzehnt voller Umbrüche.

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Jenny Schon

Das Seidenbrokatsofa

Roman

Die Handlung des vorliegenden Werkes ist frei erfunden und Ausdruck der künstlerischen Freiheit der Autorin. Auch die Erwähnung real existierender Institutionen und Personen unterliegt der fiktionalen Gestaltung des Romans.

© Dittrich Verlag ist ein Imprint

der Velbrück GmbH, Weilerswist-Metternich 2021

Printed in Germany

ISBN 978-3-947373-67-3

eISBN 978-3-947373-81-9

Covergestaltung: Helmi Schwarz-Seibt, LeverkusenSatz: Gaja Busch, Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Meinen Heidschnucken in memoriam

Geschichtenerzählen alsKompensation von Modernisierungsschäden …nach Odo Marquard, Philosoph

Das Wort Sofa geht zurückauf Arabisch suffa, gepolsterte Ruhebank,ursprünglich auch: Kissen auf dem Kamelsattel

Inhalt

Die Frau will mein Wissen

Landleben

Die Wanderung

Nonnen

Die Geburtstagsfeier

Der erste Brief

Mit Jimi Hendrix auf Achse

WG-Geschichten

Opposition in der Opposition

Aufregungen

Mein erstes Buch

Keine Zähne zeigen – Frauen werden rebellisch

Stürmische Nacht mit Joy

Auf dem Sofa

Panta rhei

Ab jetzt: Sofa-Lesungen

Lesung: Der Tod der Puppen und die Wiedergeburt der Liebe

Die Antike mal anders

Das Jahr der Frau

Reise in die Vergangenheit

Lesung: Das Wu und meine Begegnung mit Václav Havel

Briefe über Briefe

Lesung: Frauen in China – eine Einführung

Es kommt Unruhe über die stille Heide

Den Schiet wüllt wie hier ok nich hebben

Lesung: Der neunschwänzige Drache

Ein deutscher Sommer in der Bretagne

1977 – Deutscher Herbst

Der Kampf geht weiter

Eine letzte Reise als Studentin

Die Insel ist eine Insel, Insel …

Lesung: Frauen in Chinas Philosophie

Eingeschneit

Rübezahl entdeckt Amerika

Eine Liebe im Lichtschatten

Ein Sommer mit Gipsbein

Lesung: Rübezahl und die unbegrenzten Möglichkeiten in Chicago

We don’t need no education

Endlich eine eigene Republik

Meine erste Kur

1981 – Ein neues Studium

Reformen in China – auch für Frauen?

Abschied

Lesung: Selbstbestimmt

Ein Sofa kommt nicht allein

Ein neuer Anfang?

Handelnde Figuren

Die Frau will mein Wissen

Die Fensterscheiben klirren, als wir das Haus über den Wintergarten betreten. In der Ferne donnern Kanonen, oder was ich dafür halte. Unterwegs habe ich auf Schildern gelesen, dass hier Panzer kreuzen, weil Manöver ist.

Henrik nimmt mich an die Hand. Leise, flüstert er. Wir schleichen an einem Ohrensessel vorbei, worin ein Wesen kauert, in eine Decke gehüllt. Der Bauch ist vorgewölbt, auf der Brust lagert ein Grauschopf. Das Gesicht ist nicht zu sehen. Was da in einem Korbsessel schlummert, sieht aus wie eine Skulptur von Henry Moore, gerundet, aus einer Bosse gehauen.

Ein Hund knurrt, schiebt seinen rotweißen Kopf aus dem Tuch. Seine spitzen Ohren zittern.

Pst, macht Henrik. Der Corgi erkennt ihn, springt vom Schoß und umtänzelt ihn. Das runde Wesen blinzelt: Du?, und sackt wieder weg.

Wir gehen durch die Glastür, der Corgi hinterher. Henrik schließt sie leise. Aus einer halb geöffneten Tür in der Halle tritt ein junger Mann.

Ach, sieh’ an, Cousin Henrik, ruft er. Es schallt. Endlich seid ihr da. Ihr seid vom Hof gekommen? Schläft meine Mutter noch?

Ja, hallo John, sagt Henrik, sie ist gleich wieder eingeschlafen, nachdem Oscar von ihrem Schoß gesprungen ist. Das ist Betty Pütz, Carlottas Freundin.

Kommt Carlotta noch? John umarmt mich herzlich.

Die kommt erst morgen mit dem Zug, ist in München bei ihrem Ex. Sie wollte Sie noch anrufen, sage ich.

Na schön. Und? Abi bestanden und jetzt ein Studium?

Sicher. Wozu sonst die Tortur, abends noch mal die Schulbank gedrückt zu haben.

Und was?

Sinologie.

Was ist denn das?

Was machst du für einen Krach, John, brummt mit tiefer Stimme die betuchte Frau, die plötzlich in der Tür steht. Wo ist Oscar?

Oscar ist in den Vorgarten gerannt und knurrt am Gartenzaun Spaziergänger an.

In Ordnung, Mom, ich hole ihn. Oscar, ruft John, bei Fuß!

Und wer sind Sie?, fragt mich die Frau.

Das ist Frau Pütz, sagt Henrik, sie will mit Carlotta eine Heidewanderung machen. Das hat sie dir doch geschrieben, Tante Fenne, oder? Carlotta kommt aber erst morgen.

Kann diese Frau Pütz nicht selbst reden, knurrt die Tante. Ich kann keine schweigsamen Leute gebrauchen. Wer sich hierher verirrt, muss mir schon was berichten von der Welt. Wir haben nämlich einen sehr schlechten Fernsehempfang hier draußen. Sonst kann sie gleich wieder gehen.

Ich wusste also Bescheid.

Landleben

Die große Kastanie knarrt, ihre Äste schlagen gegen den Terrassenbalken, der mit meinem Fensterrahmen verbunden ist. Alles ist aus altem Holz, ich schnuppere vor dem Schlafengehen daran, sehe die Käfer den Balken entlang rennen, rauf und runter. Lange noch schnüffele ich aus dem Fenster, den Duft des Landlebens einsaugend.

Ich lasse das Fenster offen, als ich mich ins Bett lege. In Westberlin wohne ich in Kurfürstendammnähe und atme nur Auspuffluft ein.

Die Sprungfeder quietscht, der Bettrahmen knarrt, meine Matratze tanzt unter meinem Hintern, obwohl ich still liege. Warmer Atem über meinem Gesicht, Umarmung, dass mir der Kopf schmerzt. Hilfe, ich ersticke, hauche ich. Meine Worte werden von dem Fleisch, das auf mir liegt, erdrückt. Das Licht geht an.

Du bist ja gar nicht Jeff, blökt eine mittelalte Frau, deren Haare im Ansatz grau sind und verwuschelt. Du bist ja eine Frau, prustet sie, das ist mir auch noch nicht passiert. Bis gestern lag hier Jeff. Sie lacht laut und heftig. Wer bist du?

Betty, sage ich, man hat mir das Zimmer …

Ach, lass, unterbricht sie mich, komm, wir rauchen eine zusammen. Erzähl mir was aus deinem Leben …

Nach einer durchquatschten Nacht, Umma hatte eine Flasche Rotwein besorgt, komme ich kurz nach Neun an den Frühstückstisch, wo schon alle sitzen, neben mir die auch recht zerknitterte Umma.

Hier wird pünktlich gefrühstückt!, maßregelt die Hausherrin.

Nun sei nicht so streng. Umma gibt Fenne einen Kuss, die neben ihr sitzt. Wenn du mir schon so eine interessante Frau in Jeffs Bett legst, dann musst du auch großzügig sein.

Seit wann bist du lesbisch?, fragt Fenne.

Du weißt doch, meine Gutske, ich nehm alles mit.

Sprich nicht so falsch, das tut mir weh.

Und wo hast du Jeff hingeschickt, meine Gutske?

Nach Hannover, das weißt du doch, zu meinen Verwandten, das Sofa abholen.

Wie Sofa abholen, Mom?, fragt ein junger Mann, der hereingehumpelt kommt.

Das von Onkel Willem, Lars, das haben wir alles schon mal besprochen, mein Gutsker, sagt nun auch Fenne, Umma imitierend.

Ich wär aber gern mitgefahren, das wisst ihr doch.

Ja, neuen Stoff zu besorgen, das wissen wir, mischt sich nun auch John ein.

Du musst ihn ja nicht bezahlen, Bruderherz, giftet Lars.

In meinem Haus wird kein Haschisch geraucht oder wie ihr das nennt.

Ich wohn ja nicht in deinem Haus, Mom, ich wohne hinter dem Pferdestall.

Du bist ja auch ein Pferd, gackert Umma, mit deiner gebrochenen Mauke.

Ha, ha, ha … Lars setzt sich neben mich.

Ja, sind Sie denn ein Pferd?, frage ich, ich meine, nach dem chinesischen Kalender …

Chinesischer Kalender? Fenne verschluckt sich am Kaffee. Sie, Sie kennen sich aus? Ich spiele nämlich Tarot und andere Karten, da kommt manchmal der chinesische Kalender vor.

Ja, stell dir vor, Mama, Frau Pütz studiert Sinologie, sagt John.

Hat diese Frau Pütz auch einen Vornamen?

Ja, sicher, meine liebe Fenne, ereifert sich Umma, ich habe sie heute Nacht Jeff getauft …

Mit ’ner Flasche Wein, wie ich dich kenne …

Ja, liebe Fenne, du kennst mich richtig, mit einer Flasche Rotwein aus deinem Keller.

Und wie heißt die Frau wirklich?

Betty, antworte ich artig wie ein Schulmädchen.

Und der Wein hat Ihnen geschmeckt?

Ja, ich komme aus dem Rheinland …

Aber Sie wohnen in Berlin?

Ja, sage ich, Ihre Nichte Carlotta und ich haben gemeinsam das Abitur gemacht.

John, hol doch mal den Schampus aus dem Kühlschrank, darauf müssen wir anstoßen.

Mom, können wir nicht warten, bis Carlotta da ist?

Ne, eh die da ist … die trödelt mir zu lange.

Wir stoßen an.

Und dass Sie mir schöne Geschichten von Ihrer Wanderung mitbringen. Wissen Sie, hier langweilt man sich ohne Geschichten …

Die Wanderung

Ich habe meinen Rucksack an die aus roten Ziegeln gemauerte Wand gestellt und öffne die Tür. John kommt mit dem Volvo angefahren.

Lars humpelt mir entgegen. Entschuldigen Sie, sagt er, ich komme mit nach Suderburg, da nehm ich den Zug nach Uelzen.

Wir gehen gemeinsam zu Johns Auto, er nimmt mir meinen Rucksack ab. Ich setze mich hinten auf die Bank, Lars setzt sich neben seinen Bruder.

Du studierst also Chinesisch, hab ich das richtig verstanden? Er dreht sich zu mir nach hinten, er stinkt fürchterlich nach Qualm, und reicht mir die Hand. Wenn du zurückkommst, musst du unbedingt in meinen Pferdestall kommen und mir von China erzählen.

Abgemacht, und ich gebe ihm meine.

Bahnt sich da etwa was an?, witzelt John.

Draußen flitzt die Heidelandschaft vorbei, ein paar Wacholderbüsche sind zu erkennen. John fährt mir zu schnell, sicher hundert auf der Landstraße, obwohl nur achtzig erlaubt sind und auch Schilder darauf hinweisen, dass hier Panzer verkehren.

Ist das alles Bundeswehrgebiet, oder sind hier auch andere Nato-Verbände?, schreie ich, weil das Fenster ein wenig geöffnet ist.

Bundeswehr, manchmal kommt die Nato, wie jetzt bei den Herbstmanövern.

Hat ganz schön geballert gestern, sage ich.

Am Bahnhof haben wir noch ein wenig Zeit, Lars kauft sich eine Fahrkarte.

Wir sitzen auf der Bank und rauchen, dann kommt der Zug angepfiffen.

Mit einem Tuch winkt Carlotta, steigt aus und fällt ihrem Cousin John um den Hals.

Und ich? Mich kennst du wohl gar nicht mehr, mosert Lars.

Du hast mich ja auch noch nie in Berlin besucht! Sie umarmt ihn.

Ne, noch bin ich ein freier Geist, von den Sowjets lass ich mich nicht kontrollieren! Da hat schon mein Vater vor gewarnt. Berlin, das ist Sibirien.

Lars steigt in den Zug. Du kommst mich im Pferdestall besuchen, nicht Betty?

Ich nicke, ja.

Wo wollt ihr denn losstiefeln?, fragt John. Ich fahr euch dahin.

In Richtung Hösseringen, sage ich, da werden wir dann übernachten und von dort nach Ebstorf ins Kloster, wenn wir es schaffen, bis Lüneburg, je nach Wetter, sonst mit dem Zug oder Bus. Sonntag wollen wir wieder zurück sein.

An einem schönen Waldparkplatz setzt uns John ab. Von hier sind es noch acht bis zehn Kilometer nach Hösseringen, sagt er. Das Museumsdorf ist aber noch nicht fertig.

Ich weiß, so was wird ja nie fertig. Ich habe mal eins in Bayern gesehen mit den ortstypischen Häusern, da werden auch immer wieder neue Häuser angeliefert, wenn ein Hof aufgelöst wird, so stelle ich mir das hier auch vor.

Schön, dass du dich so für meine Heimat interessierst, danke. Er umarmt mich, dann drückt er Carlotta, geht zurück zum Volvo und Heidesand wirbelt auf, als er losbraust.

Er fährt zu schnell, sage ich zu Carlotta, dann fällt eine Weile kein Wort zwischen uns. Das Summen über der blühenden Heide ist wie eine Symphonie. Im September sind die meisten Vögel schon schweigsam, aber die Bienen sind noch unterwegs.

Ein einsamer Hof mit Ställen, um die herum Schafe blöken.

Das sind andere Schafe als anderswo?, frage ich Carlotta irgendwann.

Ja, Heidschnucken.

Was gab es in München?

Schlechtes Wetter, murmelt sie. Sie hat keine Lust zu reden, wie es scheint. Wir gehen weiter. Ein paar Bienenstöcke, umschwirrt von emsigen Bienen, sind als einziges zu hören neben einem feinen Rauschen des Windes im Geäst der Birken.

Warum ich auf Carlottas Vorschlag eingegangen bin, ein paar Tage zu ihren Verwandten in die Heide zu fahren, weiß ich nicht mehr. Ich hatte letztes Jahr bei unserer gemeinsamen England-Tour keine guten Erfahrungen gemacht, als sie mit einem Typen verschwand und mich in meinem Zelt allein zurückließ.

Sie brauche das, hatte sie sich gerechtfertigt. Mit dir lerne ich ja kein Englisch, ich hab ’ne drei, ich muss besser werden. Und schon war sie in dem schicken englischen Bentley verschwunden.

Ich habe dann mein Zelt allein zum Hafen geschleppt … na ja, im Pub habe ich auch einen Typen gefunden, der mir half, aber er sprach ein schreckliches Cockney-Englisch, das mir auch nichts nützte. Also ist bei mir die vier in Englisch auf dem Abi-Zeugnis geblieben.

Nonnen

Auf dem Weg nach Ebstorf ist Carlotta ein wenig redseliger.

Warum willst du eigentlich zu den Nonnen, obwohl du evangelisch bist?, fragt sie mich.

Immerhin haben sie schon im Mittelalter eine Weltkarte geschaffen. Das war mein Thema in meinem Wahlfach Geographie/Kartografie.

Wow!

Was hattest du denn für ein Wahlfach?

Na, Englisch, das weißte doch.

Ne. Wir waren doch das letzte Jahr nicht mehr in einer Klasse. Du gingst ja in den Leistungskurs.

Ich hatte mit Roy Kontakt gehalten. Er sprach exzellentes Oxford-Englisch, da konnte ich punkten.

Ich erinnere mich nur an sein Auto und wie ihr weggesprintet seid, entgegne ich.

Wie bist du denn auf Geographie gekommen?

Das war ja immer mein Lieblingsfach, ich hab als Kind gerne Stadt, Land, Fluss gespielt …

Kenne ich nicht. Hatten wir in Berlin nicht.

Ich mag Landschaften. In Westberlin ist man eingesperrt, da gibt es keine Landschaft. Da musste erst immer 200 Kilometer bis hinter die Grenze fahren …

Ich bin immer zu Tante Fenne aufs Land gefahren in den Schulferien, da hatte ich Landschaft. Aber ich habe nie eine Wanderung gemacht à la Hermann Löns …

Jetzt machen wir eine. Ich hab ja gleich zugesagt, als du mich gefragt hast, ob ich mitkomme, in der Heide wandern.

Also am Mittelalter kann mich gar nichts reizen … ich wollte eigentlich nur Wolken sehen, kein Mittelalter.

Der Hof van der Lerken stammt aus dem Mittelalter, und dann ist natürlich das Mittelalter die Zeit, in der hier im freien Germanien …

Wie hier im freien Germanien?

Nun, so nannten sich die Germanen, die nicht unter der römischen Knute leben mussten …

Du erzählst ja Sachen … willst wohl meinen adligen Verwandten imponieren.

Adel … van der ist kein Adel, widerspreche ich.

Aber die Fenne und meine Mutter sind Cousinen, die sind vom Hannover-Adel, und die Oma war sogar eine aus England.

Wenn du meinst … inzwischen hatten wir aber die Weimarer Republik, entgegne ich.

Und die Nazis. Unsere Familie war im Widerstand, wie fast der ganze Adel.

Ich schweige, es ist sinnlos. Diesen Knall hatte sie in Berlin nicht. Ich wusste gar nicht, dass da adlige Vorfahren sind. Als die Abi-Klassen getrennt wurden, hatten wir auch nur noch wenig Kontakt miteinander.

Vor Ebstorf gehen wir in einen Gasthof.

Du musst nicht ins Kloster mitkommen, wenn dir das nicht passt. Wir wollten heute Nachmittag den Bus nach Bad Bevensen nehmen und dort übernachten. Und morgen zum Wilseder Berg. Das Wetter soll weiter schön bleiben und wir haben dann eine herrliche Aussicht über die Norddeutsche Tiefebene.

Du mit deiner Geographie, grummelt sie. Ich komm schon mit.

Das Kloster ist sehr schön gelegen und wird trotz der Reformation von Damen geführt und bewohnt, ganz ungewöhnlich für die evangelische Kirche. Der Landadel hatte die Heideklöster für seine Töchter erhalten und reserviert.

In Berlin war ich mal mit einem Freund, der Architektur studierte, in der Kirche Maria Regina Martyrum, einer katholischen, erbaut zur Erinnerung an die Hinrichtungsstätte der Nazis in Plötzensee. Da soll auch ein Kloster angeschlossen sein, aber sonst … Ich weiß wirklich nicht, wann ich mal in einer Kirche war, in einem Kloster schon gar nicht.

Ich bremse die Nonne in ihrem Eifer und frage: Und die Weltkarte …?

Die Weltkarte, ja …

Die interessiert mich sehr. Ist sie im Haus?

Das interessiert Sie hier am meisten?

Sie hat einen Geographietick, wirft Carlotta ein. Morgen will sie auf den Wilseder Berg und in die Norddeutsche Tiefebene sehen …

Also die Karte ist nicht im Haus?, unterbreche ich.

Doch, doch, aber nicht das Original, das wurde in der Landesbibliothek in Hannover bei den Bombenangriffen zerstört. Aber man hatte schon vorher Kopien gemacht, davon haben wir eine.

Kopie ist auch gut, mich interessiert das damalige Weltbild. Als ich in Prag war, habe ich eine Karte aus dem 16. Jahrhundert gesehen, da wurde Europa als Jungfrau dargestellt und ihre Kette war der Rhein, Böhmen das Medaillon. Mein Vater ist Rheinländer, meine Mutter Böhmin …

Ja, das ist die Karte Europa Regina, die ist bekannt. Und wegen solcher Bezüge sind Sie an historischen Karten interessiert?

Wir gehen in einen Raum, Carlotta setzt sich auf einen Stuhl. An der Wand hängt diese Radkarte, die älteste und größte ihrer Art.

Ich trete näher, sehe die Gestalt Christi, Rom, riesengroß, und Jerusalem, also ganz anders als die Karte in Prag, die in der Renaissance entstand.

Die Nonne tritt hinter mich.

Ja, da ist die Erde noch als Scheibe dargestellt.

Alles Quatsch, ruft Carlotta, religiös erzwungen.

Ich erkläre der Nonne, dass es seit den ersten Darstellungen der Welt eine Schule gegeben habe, die die Scheibengestalt, und eine, die die Kugel vertrat, so z.B. Hildegard von Bingen, aber auch Meister Eckhart und andere Theologen des Mittelalters.

Im Bus nach Bad Bevensen meint Carlotta, dass sie sowas alles nicht interessiere, sie sei zum Wandern mit mir unterwegs.

Aber gerade das Kloster Ebstorf dürfte für deine Familie interessant sein, entgegne ich. Das Dorf deiner Familie und viele andere gehörten dem Kloster. Habe ich zumindest gelesen.

Die van der Lerkens sind nicht meine Familie, das sagte ich schon, nur Tante Fenne und ihre Kinder. Übrigens, John hat am Sonntag Geburtstag. Ich bleibe bis Montag, du auch?

Ich bin nicht eingeladen, habe gesagt, dass ich Sonntag fahre …

Die Geburtstagsfeier

Als wir aus dem Fenster gucken, ist der Horizont verschwunden. Es regnet ziemlich stark, also nichts mit Wilseder Berg.

Ach, das tut mir aber leid, nun kannste keine Norddeutsche Tiefebene sehen, witzelt Carlotta.

Statt Witze zu machen, sollten wir uns lieber nach einer Rückfahrmöglichkeit erkundigen und John anrufen, ob er uns am Bahnhof abholen kann …

Oder Henrik, der hat ja auch ein Auto.

Fährt der eigentlich mit uns zurück nach Berlin?

Ne, der will doch hier bleiben, in Hannover studieren. Ihm stinkt Berlin. Ich werde wahrscheinlich auch nach München gehen.

Zu deinem Ex-Mann?

Wer weiß? Der hat ja ein Haus mit viel Platz …

Ich denk, er hat auch ne neue Frau?

Na ja, die sind aber nicht verheiratet, da lässt sich vielleicht was machen.

Wolltest du nicht nach England gehen zu Roy?

Ist doch schön, wenn man die Wahl hat, oder?

Wir finden ein Telefonhäuschen und rufen John an. Er kann erst heute Nachmittag, er holt uns in Suderburg ab. In Uelzen müssen wir umsteigen. Wir trinken einen Kaffee am Bahnhof. Um in die Stadt zu laufen, ist es zu nass.

Am Bahnsteig läuft John auf und ab. Carlotta springt aus dem Zug, umarmt ihn und schießt gleich los: Wir waren in einem evangelischen Kloster, stell dir das mal vor. Und die hatten eine Weltkarte aus dem Mittelalter. Na, das hätte dich auch interessiert. Was machste denn am Wochenende, wir sind ja nun mal früher da. Feiern wir deinen Geburtstag?

Wäre schön, deine Freundin könnte auch dabei sein, er wendet sich an mich.

Bisher bin ich noch nicht zu Wort gekommen. Ich nicke. Ja, wär schön, ich kann noch einen Tag bleiben.

Jens-Uwe, Ole und Jörn, die Freunde von John, haben am Samstagnachmittag im Schafstall geübt. Später kommt noch Fokko aus Bispingen, er ist der Verstärker. Das dröhnt recht gut. Die Gruppe nennt sich Graue Heidschnucken … ja, schnuckelig sehen einige davon aus.

Jens-Uwe hat eine schöne dunkle Stimme und singt Joe Cockers With a Little Help from My Friends. Ich könnte schmelzen. Später liege ich in Johns Armen, der gekifft hat und sich an mich drückt. Oh, Betty, dann schmilzt er.

Am Morgen finde ich mich in seinem Bett wieder, schaue aus dem Fenster und sehe über den Hof die Hühner laufen, hinter ihnen her die Hunde, die sich einen Spaß daraus machen und bellen, wenn die Hühner aufgescheucht unter die Holztreppe flüchten.

Ein bisschen viel gekifft, oder?, frage ich John.

Ich? Er lacht herzlich. Er sieht jetzt nicht mehr so verkniffen aus wie manchmal, wenn er unbeobachtet ist, so als habe er Sorgen.

Und du hast zu tief ins Glas geschaut, meine Liebe. Er küsst mich.

Und, bereust du es?

Warum sollte ich? Wenn du mir nicht gleich ein Kind unterschiebst, war es doch recht angenehm, oder?

Oho, daher weht der Wind. Ich bin gewarnt.

Nach dem Frühstück fragt er, ob ich mitkäme auf die Heide hinter dem Hof, den Horizont sehen.

Beim Schafstall sitzen Carlotta und Jens-Uwe auf einer Bank und knutschen.

Lasst euch nicht stören, ruft John.

Those were the days, my friend, singe ich. John nimmt mich an die Hand und beide singen wir weiter, we thought they’d never end, we’d sing and dance forever and a day …

John lässt mich los, nimmt einen Stock und schmeißt Freddy den Stock zu. Der springt in die Luft, überschlägt sich, verliert den Stock. Ich nehme ihn und werfe, er knurrt und springt vor Freude und der Sabber schlappert ihm um die Ohren.

So einen möchte ich auch! Mein Chef vor vielen, vielen Jahren hatte auch einen gestromten Boxer, Bobby. Der kam in der Mittagspause mit mir aufs Sofa und schnarchte … Und aus meiner WG von einem die Mutter hat auch einen, den Max. Der mag mich, auch wenn ich die Zimtzicke von Mutter nicht leiden kann.

Und ich springe mit Hund Freddy, und die Colliehündin Rose, englisch ausgesprochen, bellt und bellt und umtänzelt uns vor Freude.

Am Nachmittag sind wir alle zu Fenne in den Salon eingeladen, nicht nur, um Johns Geburtstag zu feiern, sondern auch, um das neue Sofa einzuweihen.

Ein Stück Heimat, sagt sie, wehe, Sie setzen sich drauf. Das ist nur für meinen Corgi Oscar, British only.

Ich gehe trotzdem in seine Nähe und streiche über den Seidenbrokat.

Den müssen Sie aber schützen, sage ich, vor den Krallen. Der ist echt.

Bei mir ist alles echt, was soll das, murrt sie.

Es ist historischer Seidenbrokat, der ist empfindlich, sage ich.

Na, guck mal, erst sagt sie gar nichts und dann so kluge Sachen.

Das Sofa ist aus meiner hannoverschen Familie, da gibt es nur Historisches!

Nun ja, jahrtausendelang haben chinesische Kaiser das Geheimnis der Seidenherstellung bewahrt, insistiere ich, und hier soll so eine Kostbarkeit innerhalb eines Hundelebens zerstört werden.

Der Corgi guckt mich an, ich weiß, ich habe einen Feind mehr. Er knurrt und kauert sich dann zusammen auf dem schönsten Brokat, den ich je gesehen habe. Ihr könnt mich mal.

Wir genießen den englischen Cake und trinken pechschwarzen Tee.

In China schwimmen nur ein paar Teeblätter im Tee, er ist und bleibt hell, selbst wenn es schwarzer Tee ist. Wie kommen die Engländer nur darauf, den Tee so schwarz zu machen.

Nicht nur die Engländer, die Friesen ja auch, mischt sich nun Lars ein. Siehst du, Mom, ich hab dir immer gesagt, das ist nicht die feine chinesische Art.

Ja, zum Donnerwetter, sind wir hier im Hannoverschen …, sie verschluckt sich an dem schwarzen Gebräu.

… also im vornehmen Englischen, ergänzt John.

… oder in China, fährt sie fort, verdammt noch mal. Sie bringen aber eine Unruhe ins Haus.

Das willst du doch, Mutter, sagt John streng. Du hast ja selbst gesagt, wenn Betty nichts zu erzählen hat, braucht sie erst gar nicht zu dir zu kommen. Und du hast sie eingeladen, damit sie dich unterhält, und das tut sie gut.

Ja, endlich Frische hier im Gespräch, stimmt Lars seinem Bruder zu.

Na ja, Betty, wollen Sie eine Friedenspfeife mit mir rauchen?, fragt Fenne versöhnlich. Gebt mir bitte meine Zigaretten. John holt das Silberetui und gibt es ihr.

Hier, nehmen Sie eine Nil, wenn wir schon mal so international sind. Ägypten ist auf dem halben Weg nach China, oder?

Am Abend gehe ich mit Lars zu ihm in den Pferdestall.

Ich hab es versprochen, sage ich, morgen fahre ich nach Berlin. Was hat es nun mit deinem Pferdestall auf sich?

Hinter dem Pferdestall ist ein kleines Holzhäuschen, das sehr gemütlich aussieht. Er zündet mehrere Kerzen an.

Willst du einen Joint?, fragt er.

Nein, sage ich, bekommt mir nicht. Ein Glas Wein, wenn du hast, sonst Wasser.

Er stellt mir ein Glas Wasser hin. Shit und Alkohol vertragen sich nicht, sagt er. Ich meditiere. Weißt du darüber was?

Ne, ich hab in Berlin gerade die Studentenrevolte hinter mir, da war wenig Zeit zum Meditieren. Ich weiß aber, dass es jetzt in manchen WGs gemacht wird und auch in einigen Psychogruppen. Das ist aber eher indisch, wo die Beatles waren.

Hast du evtl. Bücher in deinem Buchladen darüber?

Ne, wir verkaufen Adorno, Marx und Mao.

Er zieht mächtig an seinem Joint. Da hab ich mich schon den ganzen Tag drauf gefreut. Haben nicht neulich Emanzen auf den Adorno ein Busenattentat verübt?

Wenn du das so nennst, bitte. Emanze finde ich kein schönes Wort …

Jedenfalls wäre ich froh, wenn eine Frau das mit mir machen würde. Da würde ich nicht gleich sterben wollen, aber ein bisschen schon … Willst du dich zu mir legen?

Ne, sage ich, ich sitze recht bequem.

Magst mich nicht, weil ich hinke.

Wie kommst du denn darauf? Ich hab doch mein Versprechen eingehalten.

Die meisten Mädchen stört das.

Und woher hast du es?

Kinderlähmung …

Ja, ich erinnere mich, in den Fünfzigerjahren … der jüngste Sohn von unserem Pfarrer ist sogar dran gestorben und wir durften nicht schwimmen gehen, die Bäder wurden geschlossen, wegen der Ansteckungsgefahr. Das war ein trauriger Sommer. Tut mir leid für dich.

Ach ne, ich kenn mich ja nicht anders, sagt er schon recht schläfrig. Ich hätt halt auch gern mal ein Mädchen … du gefällst mir.

Der erste Brief

Ich falle gleich mit der Tür ins Haus, liebe Betty, schreibt John, kaum, dass ich wieder in Berlin bin.

Das mit dem Kind war ein bisschen schroff und direkt, so sind wir hier in der Heide eben, das will ich nicht entschuldigen. Ich möchte so gerne mit dir befreundet sein, aber nicht gebunden – ist das möglich, so eine Freundschaft? Wenn ich dich verlieren würde, wär’s mir traurig ums Herz. Verstehst du das? Ich würde dich gerne wieder sehen, zu Silvester, da spielen meine Heidschnucken wieder dein geliebtes »With a Little Help from My Friends«. Kommst Du?

PS. Übrigens auch auf ausdrücklichen Wunsch meiner Mutter. Die fand dich sehr mutig und echt. Das Sofa hat jetzt eine dicke Decke, um es zu schützen.

Meine Antwort folgt postwendend: Ja! Betty.

Einen Tag vor Silvester holt mich John am Bahnhof ab. Es ist neblig. Fahr bitte vorsichtig, sage ich, ich bin schnelles Fahren in Berlin nicht gewohnt.

Er hält auf dem Heideparkplatz und schaltet das Licht aus. Nebelschwaden schleppen sich um unseren mit Wacholderbüschen bewachsenen Parkplatz und scheinen sich mit ihnen paaren zu wollen. John umarmt mich heftig. Schon lange, fast zu lange habe ich gewartet, dich wieder berühren zu dürfen, liebe, liebe Betty. Er dringt in mich, heiß und sehnsüchtig und ich genieße, genieße diese Wärme, trinke seinen rauchigen Atem, und nochmal diese Wärme in mir. Ich bin atemlos. Auch er atmet stark. Dann sagt er: Ich habe deinen Rotwein wieder besorgt. Lass uns hier schlafen, fernab von all den Sorgen, die mich auf dem Hof erdrücken. Er hat, von mir angeregt, einen großen Flokati im Auto. Wir wickeln uns ein und wir trinken und rauchen und lieben uns, als wäre am nächsten Tag Weltuntergang. Als wir aufstehen, sind die Scheiben gefroren, wir müssen kratzen, innen und außen. Wir hatten den ersten Nachtfrost.

Am Abend spielen die Jungs wieder im Schafstall, und weil offenes Feuer auf dem Hof verboten ist, fahren wir alle zum Truppenübungsplatz, wo die Bundeswehr ein großes Feuerwerk macht. Ole hat seine Trompete mitgebracht und er trompetet um Mitternacht Das Lied an die Freude.

Sei immer willkommen im Land meiner Vorfahren, flüstert ganz feierlich John.

Als wir zurückkommen, ist bei Fenne noch Licht und wir klopfen.

Prosit Neujahr, sage ich, und gebe ihr die Hand. Schön, dass Sie den Seidenbrokat schützen, aber noch besser wäre es, Oscar davon zu überzeugen, dass das nicht sein Platz ist, und dass die Schönheit für die Menschen da ist.

Nun, hör dir das an, John, eine Preußin will einem Engländer was vorschreiben!

Ich bin keine Preußin, ich nicht, jubele ich, ich komme aus dem Rheinland.

Ihr seid doch nicht betrunken Autogefahren?

Ach, Mutter, wenn Betty da ist, bin ich immer betrunken, ob mit oder ohne Alkohol.

Wir öffnen eine Flasche Sekt und stoßen mit Fenne an.

Mal sehen, was das neue Jahr bringt, sagt sie schläfrig.

Mal sehen. Auf das neue Jahrzehnt der 70er, Frau van der Lerken!, sage ich.

Ach, nennen Sie mich Fenne, wie alle hier. Sie umarmt mich.

Oder Gräfin, auch John umarmt seine Mutter.

In der Nacht schlafen John und ich in seinem neuen breiteren Bett.

Aha, denke ich, ist das der Abschied von seinem Junggesellendasein?

Zum Frühstück, das heute ein Brunch ist, kommt auch die Schwester aus Hamburg.

Du bist also Betty, Umma hat mir von dir erzählt. Ich bin Freya. Ihr habt gestern Abend schön gefeiert? Wir waren in Hamburg in der Oper und haben bei Umma übernachtet, weil wir weiter draußen wohnen und getrunken hatten.

Ein Mann kommt rein.

Das ist Kurt, sagt sie, der Vater meiner Kinder.

Und noch Ehemann, auch wenn ich nicht mit durfte in die Fledermaus.

Du wolltest ja nicht, zum hundertsten Mal …

Die Fledermaus … überall der Krach. Ich wollte meditieren, ging nicht. Lars ist genervt.

Freya überhört das Klagen ihres Bruders. Du bist … ich sage einfach du, du gehörst ja jetzt zur Familie … Buchhändlerin gewesen, bevor du studiert hast?, fragt sie mich.

Oh, ich bin immer noch Buchhändlerin. Ich habe mit Genossinnen einen Studentenbuchladen.

Freya guckt verdutzt.

Ich meine einen genossenschaftlichen Buchladen mit vier gleichberechtigten Besitzerinnen.

Ach so. Ich würde, jetzt, wo meine Kinder groß sind, auch gerne eine Buchhändlerlehre machen. Dauert das lange?

Na ja, drei Jahre musst du schon rechnen. Und Buchhändlerinnen verdienen nicht viel, da muss man schon mehr Idealismus als Geschäftssinn mitbringen. Ich meine, Bücher sind Kulturgut …

Was Sie so alles wissen! Fenne ist das Zuhören satt und wendet sich an Umma, die gerade zur Tür hereinkommt. Wer hat denn in der Oper gesungen? Zum Beispiel Prinz Orlofsky?

Kann ich dir nicht sagen, Fenne. Umma gibt ihrer Freundin ein Küsschen.

In Hamburg, wende ich mich an Freya, ist auch eine Studentenbuchhandlung. Es muss aber immer eine ausgebildete Buchhändlerin vorhanden sein, sonst dürfen keine Lehrlinge angenommen werden. Frag mal, ob Brigitte Klein noch da ist, die kann dir weiterhelfen.

Oh, danke, da geh ich nächste Woche mal hin.

Und was sagt dein Mann dazu, wenn du arbeiten gehst? Du hast doch eine Familie.

Aber Mom, die Kinder sind groß und gehen in die Schule. Der Kurt ist oft auf Dienstreisen, nicht Kurt? Ich langweile mich zu Hause und du weißt, wie ich als Kind Bücher verschlungen habe …

Ja, das stimmt, an einem Tag ein Buch. Die war gar nicht mehr wegzulocken.

Doch, Mom, wenn du Apple Pie gemacht hast.

Jetzt, denke ich, frag mal: Ihr habt einen Hang zum Englischen, oder?

Wie, das weißt du nicht? Lars starrt mich an. Du gehörst zur Familie und weißt nicht, dass die Mutter von Mom eine Englische ist …

Ja, unsere Oma ist mit England verwandt, sagt John, hier in Niedersachsen ist jeder zweite Engländer.

Du meinst wegen der Alliierten nach ’45? Ich schaue John an. Er weicht meinem Blick aus.

Ne, so ist das nicht gemeint. Das Hannover’sche Herrscherhaus und die unteren Stände waren oft Engländer oder mit ihnen verwandt und verschwägert, wie bei uns über unsere Mutter, sagt Freya. Unsere sind aber alle schon lange tot und durch den Krieg waren die uns auch nicht mehr so wohlgesonnen.

Stimmt gar nicht, Freya, was erzählst du, empört sich Fenne. Meine Mutter war 1948, kurz vor ihrem Tod, noch mal hier, und hat uns bedauert, dass wir so viele Ostflüchtlinge aufnehmen mussten. Es war ja alles voll. Alle kleinen Häuser, die Dienstbotenhäuser und in den Ställen waren auch noch Notunterkünfte, selbst bei uns im Haupthaus waren welche, obwohl noch die Schwiegereltern bei uns lebten und ich jedes Jahr schwanger war und wegen der Aufregungen zwei Fehlgeburten hatte.

Ja, sagt Kurt, auch bei uns in Hermannsburg waren viele. In der Heide hatte man wirklich viele aus der Zone, die war ja nicht so weit, schon bei Salzwedel war die Zone, und sie schwammen durch die Elbe.

Na, du erzählst Sachen. Freya schubst ihren Mann.

War jemand von Ihnen schon hier, als noch Krieg war?, frage ich.

Ne, warum? John schaut mich erstaunt an, wir sind alle nach dem Krieg geboren und Mutter, du bist doch auch erst mit dem Treck aus Königsberg gekommen?

So kann man das nicht sagen. Ich habe ja in Königsberg an der Uni gearbeitet, wir hatten einen eigenen Treck, schon 1944, als es sich abzeichnete, dass wir verlieren werden, aber das durfte man nicht sagen … wir wollten ja nach Berlin. Mit den dortigen Kollegen hatten wir die ganze Zeit Kontakt, solange es halt ging … aber da war kein Durchkommen an der Oder, also zogen wir südwärts über Sachsen, Nordböhmen nach Thüringen, da trafen wir auf Amerikaner. Als Medizinerin war ich gefragt und hatte nichts zu befürchten … nun ja, das wisst ihr ja. Im Lazarett habe ich dann euren verletzten Vater kennengelernt.

Alles schweigt. Der Corgi stöhnt auf dem Sofa, an der Tür kratzen die beiden anderen Hunde, die dürfen aber nicht rein. John öffnet die Tür einen Spalt und schreit: Verschwindet! Dann setzt er sich.

Ach übrigens, ich fahre nächste Woche nach England, zu Cousin Frank. Der Berliner Kollege Knut kommt mit bzw. ich begleite ihn auf seine Kosten. Er will englische Furnitures einkaufen, was jetzt in Berlin beliebt ist. Offensichtlich siedelt dort wieder eine Schicht von Wohlhabenden, nachdem sich die Studenten eingekriegt haben. John guckt mich herausfordernd an.

Du meinst seit der Politik des Wandels durch Annäherung, korrigiere ich ihn.

Ja, da kommt einiges in Gang, bei der Ost-West-Beziehung, da kann man gespannt sein, besonders ich als Jurist, sagt Kurt.

Mein Gott, seid ihr alle klug, mault Fenne. John, mach die Sektflasche auf, endlich haben wir einen Grund zu prosten.

Mit Jimi Hendrix auf Achse

Im Frühjahr kommt John nach Berlin, er will Knut in seinem Antiquitätenladen helfen. Er wohnt bei ihm in Schöneberg.

Ich wohne nicht weit weg. Er klingelt, Frieda macht auf. Ich öffne meine Zimmertür und sehe, wie sie ihn mit ihren Schlangenbewegungen umzingelt, ihr Unterleib wölbt sich wie bei der Zeichnung vom kleinen Prinzen, wo die Schlange einen Elefanten verschlingt.

Hallo John, komm rein, locke ich ihn von der Gefahr weg, du wolltest doch mal mein Bett sehen.

Als ich ihn in meinem Zimmer habe, umarme ich ihn und sage: Wenn wir es jetzt treiben, lauscht sie an der Tür.

Ist doch interessant, eine Lauscherin, das kann ich dir in Drei Lärchen nicht bieten. Aber ich glaube, es käme mir zu schnell und das magst du ja nicht.

Ich reibe mich trotzdem an ihm und stelle es mir vor, wie sie da draußen mit nasser Möse durchs Schlüsselloch guckt. Ich stöhne extra laut.

Wir beschließen, in den Wald zu fahren, bis raus in den Tegeler Forst. Ich nehme mein Kofferradio mit, es gibt nämlich neuerdings auch Beatmusik im Radio und nicht nur Heino-Schlager. Ich greife nach meiner letzten Flasche Rotwein, die ich Ostern von Zuhause aus dem Weinkeller von Onkel Schäng mitgebracht hatte.

Der See glitzert im Sonnenlicht, die Kastanien um den Parkplatz duften und das Lied der Hummeln versucht unsere Musik im Radio zu übertönen.

Wir legen uns auf die Wiese. John raucht einen Joint, ich nuckele an der Flasche.

Willst du?, fragt er.

Nein danke, ich habe leckeren Rotwein aus Frankreich … Aus dem Radio kommt Gebrumm. Was ist das denn? Ich lausche.

Hufeschlagen, denke ich, oder? Pferde vielleicht.

Ein Sprecher kommentiert: Unglaublich der Anblick, Abertausende Gnus rasen durch die trockene Savanne, Sand spritzt auf, eine Staubwolke verfolgt die Herde und das ohrenbetäubende Getrampel ihrer Hufe ist weit ins Tal zu hören.

John zieht den Rauch tief ein, er hustet, dann lacht er herzhaft und prustet. Er zieht mich an sich und drückt mich.

Ist das nicht herrlich? Bekifft und so ein Getrampel im Radio und vor uns die Havel …

In dieser Nacht haben wir wieder in seinem Auto geschlafen, wie zu Silvester. Nur brauchten wir diesmal nicht den Flokati, es war schon heiß genug in unserem Rausch …

Als ich nach Hause komme und Radio höre, bin ich platt. Andreas Baader ist in Dahlem entführt worden, ein Angestellter schwer verletzt.

In den nächsten Tagen erfahre ich im Buchladen mehr. Ulrike Meinhof, auch beteiligt, war mit Katjas Ehemann Adam und seiner Schwester Anna befreundet und wohnte früher auch manchmal bei ihr, wenn sie in Berlin zu Besuch war. Ihre Zwillinge hatte ich bei einem dieser Besuche kennengelernt.

Wir hatten auch zusammen Ulrikes Film Bambule gesehen, Adam war Filmer und hatte ein Vorführgerät. Der Film befasst sich mit sogenannten schwererziehbaren Mädchen. Meine Cousine war auch in einem dieser Erziehungsheime, wo die Mädchen gequält und ausgebeutet wurden. Sie war dort, weil sie mit 15 ein Kind bekam.

Katja hatte sich aber dennoch über den Film aufgeregt. Es ginge nicht an, diese Mädchen zu Hauptakteuren der revolutionären Bewegung zu machen. Sie sollten gerecht behandelt, gewiss, aber nicht in den Himmel gelobt werden. Schließlich sei ihr Tun nicht rechtens, wenn sie Diebinnen sind oder Prostituierte. Katja und Ulrike stritten heftig über den Film.

Katja war dabei, sich von unserem Buchladen zu verabschieden, weil sie auf die Pädagogische Hochschule und Lehrerin werden wollte.

Der Film sollte im Mai gesendet werden, wurde aber abgesetzt. Die beiden Mitbewohner von Katja und Adam, Jan, den ich aus der Kommune kannte, und Erika, seine Freundin, sind mittlerweile verschwunden.

In den nächsten Wochen durchsucht die Polizei auch unseren Laden, weil wohl bekannt ist, wer mit wem in Beziehung steht.

Auch wegen der Zeitschrift 883 war die Polizei immer wieder mal da. Am 5. Juni 1970 erschien hier als erste öffentliche programmatische Erklärung der Gruppe um Baader, Ensslin und Meinhof der Text RAF, Die Rote Armee aufbauen! Die vorhandenen Exemplare wurden beschlagnahmt.

Ich bin völlig in Aufruhr wegen unseres Buchladens, da ruft John an: Ob ich mitkomme in den Woodstock-Film. Ja, sicher, ist doch auch Joe Cocker dabei!

Ich kann ein wenig Entspannung gebrauchen, sage ich. Wir verabreden uns.

Ich erzähle ihm, dass ich im Winter Easy Rider gesehen habe … Born to be wiiiiiiiild, singt John. Er hat gar keine schlechte Stimme. Manchmal singt er bei seinen Heidschnucken mit, hat aber leider zu wenig Zeit, um zu üben, meint er.

Wann kommt Easy Rider noch mal? Ich wollte ihn in Uelzen sehen, kam aber zu spät.

Nun gut, sage ich, wird schon nochmal eine Gelegenheit geben.

Wir gehen also in Woodstock. Umarmt genießen wir drei Stunden die wunderbare Musik und zerfließen. John hat wieder gekifft, ich bin nüchtern. Die Musik turnt mich genug an.