Das Seidenraupenzimmer - Sayaka Murata - E-Book
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Das Seidenraupenzimmer E-Book

Sayaka Murata

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Beschreibung

Der neue Roman von Japans Erfolgsautorin Sayaka Murata erzählt die Geschichte von Natsuki und ihrem Cousin Yu, die sich jung verlieben und gemeinsam gegen eine Welt verbünden, die ihnen beileibe nicht nur Gutes will. Im alten Farmhaus der Familie, in dem früher die Seidenraupen gezüchtet wurden, sind sie glücklich, denn sie sind beieinander. 20 Jahre später geht Natsuki an diesen Ort zurück ...

Die Magie dieses abgründigen Romans spinnt uns ein in einen irisierenden Kokon der Fremdheit und entlässt uns schließlich in eine Realität, in der alles möglich ist.

Sayaka Muratas Roman »Die Ladenhüterin« war eine literarische Sensation aus Japan, die auch die deutschen Leserinnen und Leser im Sturm erobert hat: Eine Außenseiterin findet als Angestellte eines 24-Stunden-Supermarkts ihre wahre Bestimmung. »Das Seidenraupenzimmer« erzählt die Geschichte von Außenseitern, die darum kämpfen, ihren Platz in der Welt zu finden, noch konsequenter: Wie Murata das Psychogramm eines Missbrauchsopfers überführt in eine gänzlich eigenständige Erzählung, die die Grenzen der Realität einreißt und neu bestimmt, ist beeindruckend – und die so überraschenden Wege der Freundschaft und Liebe, in der die Versehrten Zuflucht finden, sind umso tröstlicher und berührender.

»Sehr lustig, aufregend beunruhigend und vollkommen überraschend.« Sally Rooney über »Die Ladenhüterin«.

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Über Sayaka Murata

Sayaka Murata wurde 1979 in der Präfektur Chiba, Japan, geboren. Für ihre literarische Arbeit erhielt sie bereits mehrere Auszeichnungen. Ihr Roman »Die Ladenhüterin« gewann 2016 mit dem Akutagawa-Preis den renommiertesten Literaturpreis Japans und war in mehr als einem Dutzend Ländern ein großer Erfolg.

Ursula Gräfe hat Japanologie, Anglistik und Amerikanistik in Frankfurt am Main studiert. Seit 1989 arbeitet sie als Literaturübersetzerin aus dem Japanischen und Englischen und hat neben zahlreichen Werken Haruki Murakamis auch Autoren wie Yasushi Inoue und Hiromi Kawakami ins Deutsche übertragen.

Informationen zum Buch

Der neue Roman nach dem Bestseller »Die Ladenhüterin«

Der neue Roman von Japans Erfolgsautorin Sayaka Murata erzählt die Geschichte zweier Außenseiter, Yuki und ihr Cousin Yu, die sich jung verlieben und gemeinsam gegen eine Welt verbünden, die ihnen beileibe nicht nur Gutes will. Im alten Farmhaus der Familie, in dem früher die Seidenraupen ihren Dienst verrichteten, sind sie glücklich, denn sie sind beieinander. 20 Jahre später geht Yuki an diesen Ort zurück ... Die Magie dieses Romans spinnt uns ein in einen irisierenden Kokon der Fremdheit und entlässt uns schließlich in eine Realität, in der alles möglich ist.

»Sehr lustig, aufregend beunruhigend und vollkommen überraschend.« Sally Rooney über »Die Ladenhüterin«

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Sayaka Murata

Das Seidenraupenzimmer

Roman

Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe

Inhaltsübersicht

Über Sayaka Murata

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Impressum

1

Inmitten der hohen Berge von Akishina, wo meine Großeltern lebten, ließ die Nacht sogar am helllichten Tag noch ihre Splitter zurück.

Während wir die steile Gebirgsstraße hinaufkurvten, blickte ich aus dem Fenster in das dichte schwankende Blätterwerk, das die Äste bis zu ihren äußersten Spitzen bedeckte. Im Wald herrschte schwärzeste Dunkelheit. Wie immer verspürte ich den Drang, meine Hände hinaus in die Schwärze zu strecken, die wie die Farbe des Weltraums war.

Neben mir rieb meine Mutter meiner Schwester Kise den Rücken.

»Geht es denn, meine Kleine? Hach, das Kind verträgt diese Fahrerei durchs Gebirge einfach nicht. Hier in Nagano sind die Straßen auch besonders schlimm.«

Mein Vater hielt wortlos das Steuer umfasst und ging möglichst langsam und vorsichtig in die Kurven, während er ständig in den Rückspiegel nach meiner Schwester sah.

Ich war schon in der fünften Klasse, konnte mich also um mich selbst kümmern. Damit einem beim Autofahren nicht übel wurde, musste man auf eine Stelle vor dem Fenster starren. Seit ich das in der zweiten Klasse entdeckt hatte, wurde mir auf den gebirgigen Straßen in Nagano nicht mehr schlecht. Im Gegensatz zu mir benahm meine zwei Jahre ältere Schwester sich wie ein Kleinkind, und meine Mutter musste ihr auf der ganzen Fahrt durch die Berge den Rücken massieren.

In steilen Serpentinen führte die Straße bergauf, so dass ich am Druck auf meinen Ohren spürte, wie ich dem Himmel allmählich näher kam. Großmutters Haus lag fast im Weltraum.

In dem Rucksack, den ich auf der Brust trug, hatte ich einen aus Origamipapier gefalteten Zauberstab und eine verzauberte Puderdose. Ganz oben saß mein Freund Pyut, von dem ich diese magischen Gegenstände bekommen hatte. Das Syndikat des Bösen hatte Pyut mit einem Bann belegt, deshalb konnte er die menschliche Sprache nicht sprechen, aber er schützte mich vor Reisekrankheit.

Niemand in meiner Familie wusste davon, aber ich war ein Magical Girl. In dem Jahr, als ich in die Schule gekommen war, war ich Pyut im Supermarkt am Bahnhof begegnet. Er lag am Rand eines Stands mit Stofftieren, und ich kaufte ihn als Neujahrsgeschenk. Als ich mit ihm nach Hause kam, gab er mir zu verstehen, er wolle, dass ich ein Magical Girl würde, und gab mir die Zaubersachen. Pyut kam vom Planeten Pohapipinpopopia, wo sie wussten, dass die Erde in großer Gefahr war, und Pyut war von der Zauberpolizei seines Sterns mit dem Auftrag, die Menschen zu retten, zur Erde geschickt worden. Seither beschützte ich als Magical Girl mit ihm unseren Planeten.

Der Einzige, der mein Geheimnis kannte, war mein Cousin Yu, und ich konnte es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Denn wir kamen nur einmal im Jahr zu Obon – zum Ahnenfest – zusammen.

Ich trug mein bestes T-Shirt, es war dunkelblau mit Sternenmuster. Ich hatte es extra für heute von meinem Neujahrsgeld gekauft und sorgfältig noch mit dem Preisschild im Schrank aufbewahrt, um es heute zum ersten Mal zu tragen.

»Achtung, jetzt geht es noch mal besonders stark um die Kurve«, kündigte mein Vater die vor uns liegende enge Biegung an, die wir auch sogleich im Wageninneren spürten.

Meine Schwester bedeckte stöhnend ihren Mund und beugte sich nach vorn.

»Mach die Fenster auf, damit Luft reinkommt«, befahl meine Mutter. Mein Vater gehorchte sofort, und das Fenster vor mir fuhr herunter. Ein feuchtwarmer Wind strich mir übers Gesicht, und der Duft von Blättern strömte in den Wagen.

»Geht’s, Kind?«, jammerte meine Mutter.

Ohne etwas zu sagen, schaltete mein Vater die Klimaanlage aus. »Die nächste Kurve ist die letzte.«

Bei dieser Ankündigung betastete ich unwillkürlich meine Brust unter dem T-Shirt und spürte durch den BH die kleine Erhebung, die es dort im letzten Jahr noch nicht gegeben hatte.

Ob ich mich seit der vierten Klasse verändert hatte? Yu war genauso alt wie ich. Wie würde er mich finden, wenn wir uns wiedersahen?

Gleich würden wir bei meiner Großmutter ankommen, wo mein Geliebter auf mich wartete. Mir wurde heiß, und meine Haut prickelte, weshalb ich mein Gesicht in den Fahrtwind hielt.

Yu war mein Cousin und mein Geliebter.

Seit wann ich so empfand, wusste ich nicht. Ich hatte Yu geliebt, lange bevor er mein Geliebter wurde. Jeden Sommer sahen wir uns zu Obon bei den Großeltern und waren beste Freunde. Und auch wenn Yu nach dem Ahnenfest wieder nach Yamagata und ich nach Chiba zurückmussten, vergaß ich nie, dass es ihn gab. So etwas wie sein Schatten blieb mir stark und dunkel im Gedächtnis, und ich sehnte mich das ganze Jahr nach ihm. Ein richtiges Liebespaar waren wir aber erst seit der dritten Klasse.

Unsere Verwandten hatten das Flüsschen, das durch die Reisfelder floss, mit einigen Steinen gestaut, so dass wir Kinder darin planschen konnten. Die Strömung war recht stark, so dass sie mir einmal die Beine wegzog und ich rücklings ins Wasser fiel.

»Natsuki! Du musst aufpassen! Die Strömung ist in der Mitte doch viel stärker als am Rand«, hatte Yu gerufen und mir aus dem Wasser geholfen. Das hatte ich auch in der Schule gelernt, aber nicht bedacht, dass es genauso für kleine Wasserläufe wie diesen galt.

»Hier ist es zu reißend. Lass uns woanders spielen.«

Ich stieg aus dem Bach, nahm mein Handtäschchen, das ich sorgfältig auf den Steinen abgelegt hatte, schlüpfte in meine Badeschlappen und machte mich noch im Badeanzug auf den Weg zum Haus. Die kleine Tasche, die sich in der Sonne erwärmt hatte, fühlte sich an wie etwas Lebendiges. Während ich am Reisfeld entlangschlappte, hörte ich Yus Schritte hinter mir.

»Natsuki, warte doch.«

»Lass mich!« Komischerweise war ich in dem Moment irgendwie gereizt. Yu lief zu mir und riss eine kleine Pflanze aus dem Boden, die er sich zu meiner Bestürzung in den Mund steckte.

»Yu, das kannst du doch nicht essen! Du kriegst Bauchweh!«

»Keine Angst. Das ist Knöterich, den kann man essen. Hat mir Onkel Teruyoshi beigebracht.«

Vorsichtig schob ich mir das Blatt, das Yu mir reichte, in den Mund.

»Boah, ist das sauer!«

»Sauer, aber lecker.«

»Wo hast du das gefunden?«

»Knöterich wächst hier überall.«

Wir grasten nun den ganzen Hang hinter dem Haus nach dem Knöterich ab, den wir dann einträchtig nebeneinandersitzend verzehrten.

Mein nasser Badeanzug klebte unangenehm auf der Haut, aber der Knöterich schmeckte unheimlich lecker.

»Zum Dank, dass du mir den gezeigt hast, verrate ich dir jetzt ein Geheimnis«, sagte ich, nun wieder bester Laune.

»Was denn für ein Geheimnis?«

»Ich bin in Wirklichkeit ein Magical Girl und kann mit meiner verzauberten Puderdose und meinem Zauberstab zaubern.«

»Was denn zaubern?«

»Alles Mögliche! Das Coolste ist der Zauber gegen die Feinde.«

»Was für Feinde?«

»Normale Leute können die nicht sehen, aber es gibt viele davon. Böse Hexen oder Gespenster, die mache ich fertig und beschütze so die Erde.«

Ich holte Pyut aus meinem Täschchen, das ich mir über den Badeanzug geschlungen hatte, und erzählte Yu, dass Pyut zwar mit gewöhnlichen Augen gesehen nur eine weiße Plüschmaus sei, in Wirklichkeit jedoch ein Abgesandter der Polizei von Pohapipinpopopia. Und ich den Stab und die Puderdose von ihm hätte.

»Natsuki, du bist toll«, sagte Yu ernst, nachdem ich ihm alles erzählt hatte. »Nur weil du die Erde beschützt, können wir hier in Frieden leben.«

»Genau.«

»Und was ist dieses Pohapipindingsbums für ein Stern?«

»Das weiß ich auch nicht. Es ist vertraulich, meint Pyut.«

»Ach so.«

Yu sah mich neugierig an. Der fremde Planet schien ihn mehr zu interessieren als meine Zauberkünste.

»Was guckst du denn so?«

»Also … das erzähle ich jetzt auch nur dir: Ich bin wahrscheinlich ein Außerirdischer.«

»Was!?«, rief ich bestürzt.

»Ja«, fuhr Yu mit ernster Miene fort. »Mitsuko sagt immer: Yu, du bist ein Außerirdischer. Ein Raumschiff hat dich hier in Akishina ausgesetzt.«

»Wirklich?«

Mitsuko war Yus Mutter. Sie war eine hübsche Frau, die jüngste Schwester meines Vaters und damit meine Tante. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine erwachsene Frau, die ähnlich scheu war wie Yu, bei so etwas log oder Witze darüber machte.

»Außerdem liegt in meiner Schublade ein Stein, den ich nicht selbst gefunden und hineingetan habe. Er ist pechschwarz, flach und glänzend und hat eine Form, die ich noch nie gesehen habe. Also frage ich mich, ob es nicht ein Stein aus meiner Heimat sein könnte.«

»Also bin ich ein Magical Girl, und du bist ein Außerirdischer? Wahnsinn!«

»Aber ich habe keinen richtigen Beweis so wie du, Natsuki …«

»Doch, du hast bestimmt recht. Vielleicht ist deine Heimat ja der Planet Pohapipinpopopia? Wie cool, dann wärst du ja vom selben Stern wie Pyut!« Aufgeregt beugte ich mich vor.

»Wenn das wirklich stimmt, möchte ich irgendwann dorthin zurück.«

Yus Ankündigung erschreckte mich so sehr, dass mir beinahe die magische Puderdose aus der Hand fiel.

»Du willst also zurück …?«

»Immer wenn wir zu Obon herkommen, halte ich heimlich Ausschau nach dem Raumschiff. Aber ich habe noch nie eine Spur davon entdeckt. Vielleicht kann ich Pyut bitten, meinen Leuten auszurichten, dass sie mich holen sollen?«

»Nein, so was kann Pyut nicht.« Ich war den Tränen nah. Unfassbar, wenn Yu fort wäre! »Wirst du irgendwann nicht mehr hier sein, Yu?«

»Für Mitsuko wäre es auch besser, glaube ich. Ich bin ja nur ein ausgesetzter Außerirdischer, also ist sie nicht meine richtige Mutter.«

Ich brach in Tränen aus. Erschrocken strich Yu mir über den Rücken. »Aber Natsuki, wein doch nicht.«

»Ich hab dich so lieb, Yu. Ich will nicht, dass du weggehst.«

»Aber irgendwann werde ich bestimmt abgeholt. Ich warte schon so lange darauf«, sagte er, und ich musste nur noch mehr weinen.

»Tut mir leid, Natsuki, dass ich das gesagt habe. Ich tue alles für dich, solange ich hier auf der Erde bin. Bei Oma im Haus fühle ich mich auch immer total wohl. Vielleicht weil ich hier meiner Heimat so nahe bin. Und bestimmt auch wegen dir.«

»Dann will ich, dass wir ein Liebespaar sind, bis du auf deinen Planeten zurückkehrst. Also – wenn du auch willst«, bat ich.

Yu nickte kurz. »Ja, einverstanden.«

»Wirklich? Du willst?«

»Ja. Ich hab dich doch auch lieb, Natsuki.«

Yu und ich schworen einander ewige Treue, indem wir unsere kleinen Finger ineinander verhakten. Außerdem gehörten folgende drei Punkte zu unserem Schwur.

Wir schwören, niemandem zu verraten, dass Natsuki ein Magical Girl ist.

Wir schwören, niemandem zu verraten, dass Yu ein Außerirdischer ist.

Wir schwören, auch nach den Sommerferien niemand anderen zu lieben.

Auf einmal hörten wir Schritte. Hastig stopfte ich Pyut und die Puderdose in meine kleine Handtasche.

Es war Onkel Teruyoshi.

»Ach, hier seid ihr. Ich dachte schon, der Bach hätte euch weggeschwemmt.« Unser Onkel war immer gut gelaunt. Er mochte Kinder und beschäftigte sich gern mit uns.

»Entschuldige, Onkel Teruyoshi.«

Er lachte und zauste Yu das Haar.

»Oho, ihr esst Knöterich. Mögt ihr den? Schmeckt gut, was, auch wenn er ein bisschen sauer ist?«

»Stimmt.«

»Bist halt ein echtes Kind der Berge, Natsuki. Wir hier mögen Knöterich. Kommt mit, Oma hat Pfirsiche für euch aufgeschnitten.«

Zusammen gingen wir zum Haus.

Ich spürte noch, wie Yu seinen kleinen Finger um meinen geschlungen hatte. Und damit niemand meine glühenden Wangen sah, lief ich rasch in den dunklen Flur. Yu ging es wohl ähnlich, denn auch er rannte mit gesenktem Kopf ins Haus.

Seither waren Yu und ich ein Liebespaar. Und ich, das Magical Girl, würde seine Freundin bleiben, bis er auf seinen Heimatstern zurückkehrte.

»Hallo, wir sind da«, rief meine Mutter ziemlich schrill. Mein Vater sagte nichts.

Immer wieder staunte ich über die geräumige Diele in Großmutters Haus, die so groß war wie mein Zimmer in Chiba.

In den Duft nach Pfirsichen und Weintrauben mischte sich ein leichter Tiergeruch, angeblich weil die Nachbarn Rinder hielten, aber ihr Hof lag so weit weg, dass es vielleicht doch die Menschen im Haus waren, die so rochen.

»Ah, da seid ihr ja, kommt rein. Es ist ganz schön heiß, was?«

Die ältere Frau, die jetzt in der Schiebetür erschien, hatte ich vielleicht schon einmal gesehen, ich war mir nicht sicher. Weil wir nur einmal im Jahr herkamen, konnte ich die Gesichter der Erwachsenen nie so richtig auseinanderhalten.

»Kise, Natsuki, nein, was seid ihr groß geworden!«

Und:

»Oh, vielen Dank! Ihr sollt doch nicht immer so viele Geschenke mitbringen, aber wir freuen uns natürlich!«

Und:

»Natsuko kriegt die Hüfte gemacht, deshalb kommt sie dieses Jahr nicht.«

Die mittelalten Frauen, von denen die meisten mir vage bekannt vorkamen, verfielen in lebhaftes Gezwitscher, während meine Mutter jede einzeln begrüßte. Es dauerte ewig, und ich seufzte verstohlen. Die Tanten und meine Mutter hatten sich unter unaufhörlichen Verbeugungen auf dem Boden niedergelassen. Mein Vater stand wie bestellt und nicht abgeholt herum.

Oma und Opa wurden, gestützt von einem ebenfalls mittelalten Mann, aus dem Wohnzimmer geführt.

»So eine weite Fahrt! Ihr müsst doch müde sein«, rief Oma und verbeugte sich. Opa musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. »Misako ist aber groß geworden.« Worauf eine der Tanten ihm auf den Rücken klopfte. »Ach Schwiegervater! Das ist doch Natsuki.«

»Ihr kommt spät. Ihr seid in einen Stau geraten, was?«, fragte Onkel Teruyoshi meinen Vater aufgeräumt. An ihn konnte ich mich immer erinnern, weil er so viel mit uns spielte.

»Oho! Da sind ja auch Kise und Natsuki!«

Er rief nach seinen drei Söhnen, unseren Cousins, die alljährlich von den Erwachsenen als freche Bengel beschimpft wurden. Yota, der älteste, war zwei Jahre jünger als ich und musste inzwischen in der dritten Klasse sein.

Schüchtern beäugten sie meine Schwester und mich. Sie waren mir vertraut, obwohl sie anders aussahen als in meiner Erinnerung. Ihre Gesichter hatten sich irgendwie verbreitert, als wären die einzelnen Teile von der Mitte zum Rand gewandert. Ihre Nasen waren gewachsen, und alle drei waren insgesamt größer und kräftiger.

Meinen geliebten Yu hatte ich noch nie vergessen, kein einziges Mal, aber bei den vielen anderen Kindern war ich mir jedes Mal unsicher. Wir verbrachten zwar immer einen Teil der Sommerferien mit unseren Cousins und wurden gute Freunde, aber im nächsten Jahr waren wir uns wieder fremd. Und jedes Mal nervten die Erwachsenen mit irgendwelchen peinlichen Bemerkungen. »Ihr braucht euch doch nicht zu genieren, weil eure Cousinen so hübsche junge Damen geworden sind«, sagte jemand, woraufhin Yota und die anderen Jungen sich noch mehr genierten und sich am liebsten sofort verkrümelt hätten.

Erst als ich zuerst »Hallo« sagte, grüßten sie verlegen zurück.

»Yu ist auch schon da. Er hat gesagt, er fühlt sich einsam ohne dich, Natsuki«, erklärte Onkel Teruyoshi, und der Rucksack auf meinem Rücken machte unwillkürlich einen Hüpfer.

»Wirklich? Wo ist er denn?«, sagte ich betont cool.

»Bis eben saß er noch da drüben und hat Hausaufgaben gemacht.«

»Er ist sicher oben auf dem Dachboden. Dort gefällt es ihm doch immer so«, sagte meine hochgewachsene ältere Cousine Saki, die ein Baby auf dem Arm hatte. Sie war die älteste der drei Töchter von Tante Ritsuko, der großen Schwester meines Vaters. Alle drei waren schon verheiratet.

Das Baby sah ich zum ersten Mal. Es kam mir seltsam vor, dass es jetzt einen Menschen gab, der im vorigen Jahr noch nicht existiert hatte. Das kleine Mädchen zu Sakis Füßen musste Miwa sein, ich kannte sie vom letzten Jahr. Aber ich konnte mir ja nicht einmal die Kinder in meinem Alter merken, wie sollte ich dann wissen, welche meiner Cousinen welches Baby hatte. Das musste ich jedes Jahr neu lernen. Also tat ich es meiner Mutter nach und verbeugte mich einfach, sooft jemand Neues auftauchte.

»Wo ist denn Mitsuko?«

»In der Küche.«

»Und Yu? Vielleicht vertreibt er sich die Zeit, bis seine Natsuki kommt, mit einem Schläfchen?«, sagte Tante Ritsuko, und Onkel Teruyoshi lachte.

»Yu klebt ja regelrecht an Natsuki.«

Dieses Gerede wiederholte sich auch jedes Jahr, aber seit Yu und ich ein Liebespaar waren, war es mir erst richtig peinlich, und ich senkte stumm den Kopf.

»Wirklich, die beiden könnten Zwillinge sein«, sagte eine andere Tante.

Tatsächlich sah ich weder meinen Eltern noch meiner Schwester besonders ähnlich, aber aus irgendeinem Grund waren Yu und ich einander wie aus dem Gesicht geschnitten. Zumindest sagten das alle.

»Jetzt steht doch nicht ewig hier im Flur herum. Kise, Natsuki, kommt rein. Ihr seid doch sicher müde«, sagte eine rundliche Tante und klatschte in die Hände.

»Ja, genau«, pflichtete mein Vater ihr bei.

»Euer Gepäck bringt ihr in den ersten Stock. Ganz hinten ist noch Platz. Yamagata bekommt das vordere Zimmer. Im hinteren ist schon Fukuoka, aber für eine Nacht könnt ihr es teilen, ja?«

»Na klar, danke«, erwiderte mein Vater und zog sich die Schuhe aus. Hastig tat ich es ihm nach.

Sämtliche Zimmer in Großmutters Haus und die Verwandten, die darin unterkamen, wurden nach den Orten benannt, aus denen sie stammten, wahrscheinlich der Hauptgrund dafür, dass ich mir die Namen von den ganzen mittelalten Männern und Frauen nie merken konnte. Warum redete man sie nicht mit ihren Namen an, wo sie doch welche hatten?

»Kise, Natsuki, kommt erst mal die Ahnen begrüßen«, sagte unser Vater, und meine Schwester und ich folgten ihm brav in den Raum mit dem Hausaltar zwischen Wohnzimmer und Küche. Yu und ich nannten ihn »Altarzimmer«. Der Flur in Großmutters Haus führte nur zum Bad, alle anderen Räume im Erdgeschoss – Wohnzimmer, zwei Empfangszimmer und Küche – gingen ineinander über und waren nur durch verschiebbare Wände getrennt. Das Altarzimmer hatte sechs Tatami – also fast zehn Quadratmeter – wie mein Zimmer in unserem Haus in der Neubausiedlung in Chiba. Yota redete immer von der »Geisterkammer«, um seinen kleinen Brüdern Angst zu machen, aber ich fühlte mich darin besonders geborgen. Vielleicht weil mich dort die Ahnen beschützten.

Meine Eltern, Kise und ich zündeten Räucherstäbchen an. Wir hatten zu Hause keinen Altar, und bei meinen Freundinnen hatte ich auch noch nie einen gesehen. Durch den Duft der Räucherstäbchen kam ich mir vor wie in einem Tempel. Ich mochte diesen Geruch.

»Kise? Was ist? Ist dir wieder schlecht?«

Nachdem meine Schwester ihr Räucherstäbchen angezündet hatte, kauerte sie jetzt mit hängendem Kopf auf dem Boden.

»Kise, was ist denn?«

»Mir ist noch so übel von der Fahrt.«

»Ach du meine Güte.«

»Das Kind ist die Kurven einfach nicht gewohnt.«

Die Tanten, ein paar Cousinen waren wohl auch dabei, kicherten hinter vorgehaltenen Händen. Wir hatten allein väterlicherseits zehn Cousinen, wie sollte man sich da auskennen? Es wäre bestimmt niemandem aufgefallen, wenn noch eine Außerirdische dabei gewesen wäre.

»Kise, was ist?«

Meine Mutter, die Kise wieder den Rücken gerieben hatte, presste ihr hastig die Hand auf den Mund.

»Vielleicht würde es besser, wenn sie mal brechen könnte?«, sagte eine Tante.

Meine Mutter legte den Arm um Kise und brachte sie, sich unentwegt entschuldigend, zur Toilette.

»Die vielen Kurven sind schlimm, nicht?«

»Ich fühle mich so schwach.« Kise warf meinem Vater einen Blick zu.

»Vielleicht solltest du auch mitgehen«, sagte ich zu ihm.

Im Gegensatz zu meiner Schwester hatte ich ja Pyut, also sollten sich ruhig unsere beiden Eltern um die Arme kümmern.

»Nein, ist schon gut«, sagte mein Vater, aber als er meine Schwester leise weinen hörte, eilte er den beiden doch nach.

Ich war erleichtert, dass meine Eltern jetzt bei Kise waren.

In einem Buch aus der Schulbücherei hatte ich einmal den Ausdruck »im engsten Familienkreis« gelesen, der sich mir aus irgendeinem Grund besonders eingeprägt hatte. Wenn ich meine Eltern und meine Schwester zusammen sah, musste ich immer an ihn denken. Ohne mich gaben die drei das Bild einer vollkommenen Familie ab. Deshalb wünschte ich mir, dass sie ab und zu Zeit nur in diesem engsten Kreis verbringen konnten.

Als Magical Girl hatte ich gelernt, mich »wegzuzaubern«. Was nicht hieß, dass ich wirklich verschwand, sondern dass ich mich ganz still verhielt, bis ich quasi nicht mehr anwesend war. Sobald ich mich »wegzauberte«, wurden die drei zum Inbegriff einer Familie, so glücklich wirkten sie, wenn sie beieinander waren. Um ihretwillen bemühte ich mich, diesen Zauber so oft wie möglich anzuwenden.

»Natsuki gefällt es bei ihrer Großmutter«, pflegte meine Mutter zu betonen. »Aber ihre Schwester fährt viel lieber ans Meer als in die Berge, genau wie ich.« Weil sie Oma nicht mochte, ärgerte es sie, dass ich mich in Akishina so wohlfühlte. Zu Hause in Chiba steckten meine Schwester und meine Mutter dann die Köpfe zusammen und lästerten über Akishina. Klar, dass Kise der Liebling meiner Mutter war.

Voller Vorfreude, weil Yu im ersten Stock auf mich wartete, schulterte ich mein Gepäck, um es die Treppe hochzutragen. »Schaffst du’s allein, Natsuki?«

»Ja, klar«, sagte ich und stieg mit dem Rucksack in den ersten Stock.

Die Treppe bei Oma war anders als die in unserem Haus in Chiba. Eigentlich war sie eher eine Leiter, und man brauchte die Hände, um hinaufzuklettern. Wie eine Katze, dachte ich jedes Jahr.

»Sei vorsichtig!«, mahnte eine Tante oder Cousine hinter mir.

»Jaa«, antwortete ich, ohne mich umzudrehen.

Im ersten Stock roch es nach Tatami und Staub. Ich stellte das Gepäck im hintersten Zimmer ab, in dem laut Onkel Teruyoshi früher Seidenraupen in Bambuskörben gezüchtet worden waren. Anfangs seien nur die Raupen in diesem Zimmer gewesen und hätten ihre Kokons gesponnen. Doch irgendwann seien die Seidenspinner geschlüpft und hätten sich im ganzen ersten Stock ausgebreitet. Am Ende sei das ganze Haus voll von ihnen gewesen. In einem Bildband aus der Schulbücherei hatte ich ein Foto von einem großen weißen Seidenspinner gesehen. Er war schöner als jeder Schmetterling, den ich kannte. Von den Kokons wickelte man die Fäden ab, hatte mein Onkel mir erklärt, aber wie genau, wusste ich nicht, und auch nicht, was dann aus der Seidenraupe wurde. Es musste phantastisch gewesen sein, als die weißen Falter im ganzen Haus herumflatterten. Wie im Märchen. Ich liebte den Raum, in dem früher die Seidenraupenbabys zur Welt gekommen waren.

Als ich das Seidenraupenzimmer verließ, hörte ich gegenüber die Dielen knarren.

Da war jemand.

Ich schlich zum Dachboden, der eigentlich nur so hieß, denn er war ja nicht unterm Dach, sondern im ersten Stock, und schob die Tür auf. Dort lagerten alte Spielsachen, die früher meinem Vater, meinen Onkeln und Tanten gehört hatten, und Bücher, die jemand gesammelt hatte. Für uns Kinder gab es hier immer neue Schätze zu entdecken.

»Yu?«, rief ich ins Dämmerlicht. Wir wurden immer ermahnt, nur in Sandalen auf den Dachboden zu gehen, weil unsere Füße sonst so schwarz würden, aber ich konnte nicht warten, also zog ich einfach meine Strümpfe aus und betrat barfuß den von einer funzligen Glühbirne nur schwach erhellten Raum.

»Yu? Bist du hier?« Ich ging auf die Glühbirne zu. Auch am Tag war es ziemlich dunkel hier.

Es raschelte, und ich hätte beinahe aufgeschrien.

»Wer ist da?«, flüsterte es leise.

»Ich bin’s, Natsuki!«, rief ich in Richtung der Stimme, woraufhin sich eine kleine helle Gestalt aus den Schatten löste.

»Natsuki! Endlich!«

Yu stand jetzt im trüben Schein der Birne.

Hastig lief ich zu ihm. »Yu! Ich hatte solche Sehnsucht nach dir!«

»Pscht!« Yu legte mir erschrocken die Hand auf den Mund.

Ob er so wenig gewachsen war, weil er ein Außerirdischer war? Er schien sich seit letztem Jahr überhaupt nicht verändert zu haben.

»Wenn die Tanten und Yota uns hören!«

»Stimmt. Unsere Liebe ist ein Geheimnis«, flüsterte ich, und Yu machte ein verlegenes Gesicht.

Auch im Zwielicht erkannte ich seine hellbraunen Augen und seinen schmalen Hals. Mein Yu.

»Endlich sehen wir uns wieder …«

»Ein Jahr ist es her. Du hast mir so gefehlt, Natsuki. Onkel Teruyoshi hat mir erzählt, dass ihr heute kommt, also bin ich extra früh aufgestanden und habe gewartet. Aber dann hat er gesagt, ihr kommt später, weil Stau ist.«

»Bist du deshalb allein hier oben?«

»Ja, mir war langweilig.«

Plötzlich kam es mir vor, als wäre Yu nicht nur im Wachstum stehengeblieben, sondern womöglich kleiner geworden, ganz im Gegensatz zu Yota, der seit dem vergangenen Jahr richtig zugelegt hatte. Dagegen wirkten Yus Hals und Handgelenke zarter denn je. Vielleicht sah es auch nur so aus, weil ich so groß geworden war? Der Gedanke beunruhigte mich.

Ich griff nach dem Saum von Yus weißem T-Shirt und spürte seine Körpertemperatur. Ob sie sich so niedrig anfühlte, weil er ein Außerirdischer war? Er legte seine kühle Hand in meine heiße.

»Bleibt ihr dieses Jahr auch bis zum Abschiedsfeuer?« Ich drückte seine kalte Hand. Er nickte.

»Ja. Mitsuko hat dieses Jahr länger Urlaub, deshalb bleiben wir die ganze Zeit.«

»Juhu!«

Yu nannte seine Mutter beim Vornamen, das wollte sie so. Tante Mitsuko war die jüngste Schwester meines Vaters. Nachdem sie sich vor drei Jahren hatte scheiden lassen, behandelte sie Yu beinahe wie einen Liebhaber. Er hatte mir erzählt, er müsse sie jeden Abend vor dem Schlafengehen auf die Wange küssen, worauf ich sagte, der »echte Kuss« sei aber für mich.

»Und ihr, Natsuki?«

»Wir bleiben auch die ganzen Feiertage.«

»Dann können wir zusammen zum Feuerwerk. Onkel Teruyoshi hat eine Menge Böller und Raketen gekauft. Die brennen wir am letzten Tag beim Abschiedsfeuer alle zusammen ab.«

»Juhu! Super! Ich freu mich so! Ich will Wunderkerzen!«

Yu lachte ein bisschen, weil ich so begeistert war.

»Suchen wir dieses Jahr wieder dein Raumschiff?«

»Klar, wenn wir Zeit haben.«

»Aber du fliegst nicht gleich zurück?«

Yu schüttelte den Kopf. »Ich verspreche es. Auch wenn ich das Raumschiff finde, würde ich nie abfliegen, ohne dir Bescheid zu sagen.«

Ich seufzte erleichtert.

Yu hatte gesagt, wenn er sein Raumschiff fände, würde er nach Hause fliegen. Ich bettelte immer wieder, auch mitkommen zu dürfen, aber er bestand darauf, mich später nachzuholen. Yu war zwar sanftmütig, aber willensstark.

Mir war, als könnte er jederzeit verschwinden. Ich wäre auch gern eine Außerirdische geworden und beneidete Yu darum, dass er einen Ort besaß, an den er heimkehren konnte.

»Yota hat gesagt, er würde nachher heimlich die Abdeckung vom Brunnen nehmen.«

»Was? Vom verschlossenen Brunnen? Das will ich sehen!«

»Wir gehen zusammen. Außerdem hat Onkel Teruyoshi versprochen, uns Glühwürmchen zu zeigen.«

»Super!«

Yu war ein wissbegieriger Junge, sobald er etwas Neues entdeckte, wollte er alles darüber erfahren. Und Onkel Teruyoshi erzählte für sein Leben gern Geschichten über das alte Haus und das Dorf, weshalb er Yu mit Vorliebe unter seine Fittiche nahm.

»Yu, Natsuki! Kommt runter, es gibt kalte Wassermelone!«, hörten wir eine Tante von unten rufen.

»Komm, wir gehen.«

Hand in Hand verließen Yu und ich den Dachboden.

»Später spielen wir ganz in Ruhe zusammen«, sagte Yu.

»Ja, genau«, pflichtete ich ihm bei und spürte, wie ich vor Freude rot wurde. Ich konnte nicht anders, so glücklich war ich, auch in diesem Jahr meinen Geliebten wiederzusehen.

Mein Vater hatte sechs Geschwister, die zu Obon zusammenkamen, weshalb es sehr lebhaft zuging. Und weil nicht alle im Esszimmer Platz fanden, wurden die Papierwände herausgenommen und sämtliche Sitzgelegenheiten herbeigeschafft, damit wir gemeinsam an einem langen Tisch essen konnten.

Es gab massenhaft Insekten im Haus, aber kaum jemand störte sich daran. Bei uns in Chiba wurde bei jeder kleinen Fliege ein Riesenaufstand veranstaltet, aber hier bei Oma machten nicht einmal meine Mutter und meine Schwester viel Aufhebens von den Krabbeltieren. Die Jungen zerklatschten zwar die Fliegen und andere Insekten, dennoch trieb sich noch immer viel mir unbekanntes Getier im Haus herum.

Die Mädchen, die alt genug waren, halfen in der Küche bei den Vorbereitungen fürs Abendessen. Sogar meine Schwester schälte brav Kartoffeln.

Ich hatte die Aufgabe, den Reis aus zwei nebeneinanderstehenden Reiskochern auf Schalen zu verteilen. Anschließend balancierte die kleine Ami, die in der ersten Klasse war, sie auf einem Tablett ins Zimmer, und Mari half ihr dabei.

»Hier kommt die erste Ladung Reis! Bitte, weitergeben.«

Mari schob die Tür auf und ging mit Ami am Altar vorbei zu dem Tisch, an dem schon die Onkel warteten.

»He, du Transuse, Beeilung gefälligst!«, schnauzte meine Mutter mich an.

»Immer mit der Ruhe, Natsuki macht es schon richtig«, verteidigte mich Oma, die gerade festes, stark duftendes Rotalgengelee in Scheiben schnitt.

»Dieses Mädchen ist einfach zu nichts zu gebrauchen, egal was man ihr zu tun gibt, sie kann es nicht. Allein ihr zuzusehen ermüdet mich. Yuri ist so geschickt im Vergleich zu ihr. Sie ist jetzt in der Mittelschule, nicht?«

Ich war es gewohnt, dass meine Mutter sagte, ich sei zu nichts zu gebrauchen. Tatsächlich war ich in den meisten Dingen eine Null, und es war auch keine Meisterleistung, wie ich den Reis verteilte.

»Wie schlampig und lahm du das wieder machst. Tausch mal mit Yuri. Du bist einfach zu ungeschickt.« Meine Mutter seufzte theatralisch.

»Ach, das stimmt doch nicht. Sie macht es ganz ordentlich«, sprang Oma mir zur Seite.

Ich wollte es unbedingt schaffen, den ganzen Reis zu verteilen, um möglichst nicht als Totalversagerin dazustehen.

»Die rote Schale ist für Onkel Teruyoshi, dem kannst du viel geben«, sagte Oma, und ich machte die Schale ganz voll.

»Es ist schon dunkel. Allmählich sollten wir die Ahnen abholen.«

»Es wird Zeit für das Willkommensfeuer«, hörte ich Oma sagen.

Jetzt musste ich mich beeilen und griff hastig nach der nächsten Schale.

»Es geht los, wir gehen sie abholen!«, rief Onkel Teruyoshi aus dem Flur.

»Natsuki, es reicht, komm schon.«

»Ich komme.«

Ich gab den Reisspatel an eine Tante weiter.

Draußen zirpten wie verrückt die Grillen. Es war schon ganz dunkel, und vor dem Küchenfenster herrschte die Farbe des Weltalls.

Alle Kinder gingen mit Onkel Teruyoshi zum Fluss, um das Willkommensfeuer zu machen. Yu trug einen Lampion aus Papier, der aber noch nicht brannte. Ich bekam eine Taschenlampe.

Die Berge von Akishina waren dunkel, und der Fluss verschmolz mit der nächtlichen Schwärze. Am Ufer türmten wir Strohbündel aufeinander und zündeten sie an. Unsere Gesichter leuchteten orangefarben im Schein der lodernden Flammen. Dem Feuer zugewandt, sprachen wir unserem Onkel nach:

»Ahnen, liebe Ahnen, kommt und seht unser Feuer.«

»Ahnen, liebe Ahnen, kommt und seht unser Feuer!«, wiederholten wir im Chor.

Sonst war nur das Rauschen des Baches in der Dunkelheit zu hören.

Wir blickten in die brennenden Strohballen.

»Gut«, sagte der Onkel. »Allmählich müssten sie da sein. Yota, zünde deinen Lampion an.«

»Hallo, Ahnen!«, schrie die kleine Ami, weil sie ja jetzt da waren.

»Nicht so laut«, sagte Onkel Teruyoshi. »Die Ahnen erschrecken sich ja.«

Ich musste schlucken.

Der Lampion wurde behutsam am Feuer angezündet. »Pass auf, dass die Flamme nicht ausgeht«, sagte der Onkel, während Yota das flackernde Licht vorsichtig in Richtung Haus trug.

»Onkel, sind die Ahnen in der Flamme?«, fragte ich, und mein Onkel nickte.

»Genau. Die Flamme weist ihnen den Weg.«

Die Tanten nahmen Yota in Empfang, als er mit dem Lampion über die Veranda das Empfangszimmer betrat.

»Immer schön langsam!«

»Lass sie nicht ausgehen.«