Das Spiel ist aus - Andreas Bock - E-Book

Das Spiel ist aus E-Book

Andreas Bock

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Beschreibung

True Crime im FußballWarum musste Lutz Eigendorf sterben? Wie wurde aus dem Schalker Willi Kraus ein Bankräuber? Wer entführte Barcelonas Topstürmer Quini? Und was, um alles in der Welt, war das »Mordkommando Bum-kun Cha«?11 FREUNDE-Redakteur Andreas Bock schreibt über die großen Kriminalfälle der Fußballgeschichte. Wahre Geschichten über Spieler, die auf die schiefe Bahn gerieten oder Opfer von Verbrechen wurden. Eine Reise auf die dunkle Seite des schönen Spiels. Es geht um Mörder, Drogenschmuggler, Betrüger, Krokodile, Zuhälter, Geldfälscher, Hinterzimmerzocker, Nazis, Pornohändler, Folterknechte, Schlägertypen – und Osama bin Laden.

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Andreas Bock, geboren 1977, ist Mitglied der Chefredaktion von 11Freunde. Er hat für das Dummy Magazin und Die Zeit geschrieben. Mit einer Reportage über indonesische Ultras war er für den Deutschen Reporterpreis nominiert, mit einer anderen über Amateurfans auf Europatour gewann er den Großen VDS-Preis in Bronze. Er hat (bislang) keine Spiele verschoben und keine WM verkauft. Nur einmal hat er etwas geklaut, und zwar die Hörspielkassette »Der Superpapagei« von den Drei Fragezeichen. 1985 bei Karstadt in Hamburg-Eppendorf war das. Seitdem hat er dort Hausverbot. Mutmaßlich.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage

Copyright © 2023 Verlag Die Werkstatt GmbH

Siekerwall 21, D-33602 Bielefeld

www.werkstatt-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Coverabbildung: IMAGO / Sebastian Wells

Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen

ISBN 978-3-7307-0648-0

INHALT

EINLEITUNG

DER FUSSBALL, DAS VERBRECHEN UND ICH

KAPITEL 1

DER FALL DES BARONS

Ralf von Diericke hat eine Spielothek und die Geschäftsstelle des Wuppertaler SV überfallen.

KAPITEL 2

DAS SPIEL SEINES LEBENS

Andrés Escobar schoss ein Eigentor – und wurde erschossen.

KAPITEL 3

KING OF QUEENS

Chuck Blazer war das Sinnbild einer verkommenen und korrupten FIFA.

KAPITEL 4

SCHLÄGERTYPEN

Bei Fußballern sitzt die Faust oft locker.

KAPITEL 5

IM FOLTERKELLER

Als ein Gefangener der Militärjunta César Menotti interviewte.

KAPITEL 6

WIR HOLEN DICH DA RAUS!

Frankfurts Urs Güntensperger saß wegen Trunkenheit am Steuer ein, Fans planten seinen Ausbruch.

KAPITEL 7

ES WAR EINMAL IN HOOLYWOOD

Troy Deeney saß im Knast – und schoss eines der spektakulärsten Tore der Fußballgeschichte.

KAPITEL 8

DAS GEHEIMNIS DES HEINZ BONN

Der ehemalige HSV-Profi wurde nach seiner Karriere mit 50 Messerstichen ermordet.

KAPITEL 9

VERBRECHEN AM FUSSBALL

Hässliche Trikots, Kommerzialisierung, miese Spiele und andere »Straftaten«

KAPITEL 10

DER TRITT

Éric Cantona streckte einen Rassisten nieder – und wurde verurteilt.

KAPITEL 11

MORDKOMMANDO BUM-KUN CHA

Nach einem Foul an Frankfurts Cha erhielt Jürgen Gelsdorf Morddrohungen.

KAPITEL 12

DER VERRÜCKTE MICKEY

Der Waliser Mickey Thomas spielte für Manchester United und Chelsea – berühmt wurde er aber als Fälscher.

KAPITEL 13

BITTE MELDE DICH!

Die sechs schrägsten Entführungen der Fußballgeschichte

KAPITEL 14

NIEMAND LACHT ZULETZT

Luciano Re Cecconi überfiel im Spaß einen Juwelier.

KAPITEL 15

SS MOHAMED

Alexandre Villaplane war Kapitän der französischen Nationalelf. Dann schloss er sich den Nazis an.

KAPITEL 16

KLEINE FISCHE

Zigarettenschmuggler, Trikotdiebe und Impfpassfälscher. Ein Best-of der Kleinkriminellen.

KAPITEL 17

ZWEI EIGENTORE

Nürnbergs Vlado Kasalo liebte Glücksspiel und Fußballwetten.

KAPITEL 18

DAS IST KEIN ÜBERFALL!

1990 saß Erwin Kostedde sechs Monate unschuldig im Gefängnis.

KAPITEL 19

MORD AM GARTENZAUN

Aston Villas Tommy Ball war der erste ermordete Fußballer.

KAPITEL 20

SONNENKÖNIGE

Drei besonders schräge Fußballpatriarchen

KAPITEL 21

DIE ENTFÜHRUNG DES HEXERS

1981 wurde Barcelonas Quini entführt – von Real-Fans oder politischen Aktivisten?

KAPITEL 22

TRUE STOREY

Arsenals Peter Storey fälschte Schmuck, führte ein Bordell und schmuggelte Pornofilme.

KAPITEL 23

DAS SPIEL BREIT MACHEN

Einige außergewöhnliche Fußball-Dealer

KAPITEL 24

DIE KUGEL IN SEINEM KOPF

Salvador Cabañas schoss Paraguay zur WM 2010 – dann schoss ihm ein Gangster in den Kopf.

KAPITEL 25

WAS ’NE PFEIFE!

Robert Hoyzer sorgte für den größten Wettskandal in der Geschichte des deutschen Fußballs.

KAPITEL 26

AUS DEM KNAST

Jamie Lawrence trainierte hinter Gittern, um Fußballprofi zu werden.

KAPITEL 27

KLEIN, KLEIN

Absurde Zitate, kuriose Zahlen, witzige Listen und der ganze Rest

KAPITEL 28

TRAININGSLAGER MIT DEM HSV

Stig Tøfting räumte gerne auf – auf dem Platz und in Kneipen.

KAPITEL 29

DER MYSTERIÖSE TOD DES TED ROBLEDO

Der Chilene Ted Robledo fuhr nach seiner Karriere auf See – und kehrte nie zurück.

KAPITEL 30

THE ITALIAN JOB

Über den Meister der Spielmanipulation: Luciano Moggi von Juventus Turin

KAPITEL 31

FALSCH ABGEBOGEN

Fußballer und Autos – eine komplizierte Beziehung

KAPITEL 32

THE GRANT SECRET

Ein mutmaßlicher Mörder auf dem Weg in die Premier League

KAPITEL 33

EIN SCHIFF WIRD KOMMEN

Kevin Hansen von Hansa Rostock und die 1,33 Tonnen Kokain aus Paraguay

KAPITEL 34

VERBLITZT

Wurde Lutz Eigendorf umgebracht?

KAPITEL 35

DER BUNDESTRAINER UND DAS KANINCHEN

Über die schauspielerischen Talente von Fußballern

KAPITEL 36

EIN RUMÄNISCHES MÄRCHEN

Helmut Duckadam wurde von der Securitate zum Invaliden geschlagen. Oder war alles ganz anders?

KAPITEL 37

DIE MACHT DER STARS

Ronaldo, Giggs, Boateng: Gewalt gegen Frauen

KAPITEL 38

OSAMA HITLER

Osama bin Laden war großer Fußballfan – und einige Fußballprofis waren große Osama-bin-Laden-Fans.

KAPITEL 39

SCHWEIZGELD

Die krummen Geschäfte des Willi Konrad

KAPITEL 40

CUP-COUPS

Nicht nur der WM-Pokal wurde gestohlen, auch andere Trophäen verschwanden auf mysteriöse Weise.

KAPITEL 41

STEHEN BLEIBEN, POLIZEI!

Wenn Fußballer nach der Karriere zur Kripo gehen

KAPITEL 42

WILLI WILL’S WISSEN

Auf dem Weg zum Training raubte Schalkes Willi Kraus Banken aus.

KAPITEL 43

MORD UND TOTSCHLAG

Achtung, es wird blutig. Ein Worst-of der mordenden und ermordeten Fußballer.

KAPITEL 44

DER PATE VON NEURUPPIN

Wie der Präsident eines Amateurklubs zum Kokskönig wurde

EINLEITUNG

DER FUSSBALL, DAS VERBRECHEN UND ICH

Im Frühjahr 1990 verlor der Fußball seine Unschuld. Na klar, er hatte vorher schon seine dunklen Seiten gehabt, er war durch Skandale erschüttert worden, er hatte Korruption, Manipulationen und Klüngeleien erlebt, Entführungen, Überfälle, Erpressungen, sogar Mord. Aber all das wusste ich damals noch nicht. Anfang 1990 war ich zwölf Jahre alt, und Fußballer waren für mich Magier. Ich hatte gesehen, wie Maradona übers Spielfeld schwebte und ein Tor mit Gottes Fuß und eines mit Gottes Hand erzielte. Ich saß staunend vor dem Fernseher, als Marco van Basten die Grenzen der Physik überwinden konnte. Und ich hatte mich gewundert, dass Sócrates »Doktor« genannt wurde und seine Elfmeter aus dem Stand schoss. Die meisten Fußballer sahen außerdem blendend aus, sie hatten stabile Oberlippenbärte und feste Waden. Sie sprangen, gut in Form und noch besser geföhnt, in ihre türkisfarbenen Kastencabrios, ohne dabei die Türen zu öffnen, und dann fuhren sie runter nach Mailand oder Rimini, um an einer Eisdiele zwei Kugeln Stracciatella mit Sahne zu bestellen.

Auch mein D-Jugendtrainer war so ein Typ. Er spielte zwar nur in der Hamburger Verbandsliga, aber er war immer drauf und dran, zu einem größeren Klub zu wechseln, zu Real Madrid, zu Juventus Turin oder zumindest zur zweiten Mannschaft des FC St. Pauli. Er hieß Christian, aber alle nannten ihn Zippen-Chrischi, denn er rauchte ununterbrochen; selbst wenn er Liegestütze machte oder die Abseitsfalle erklärte, klemmte eine Zigarette hinter seinem Ohr, immer bereit für den nächsten Zug. In meiner Erinnerung sah er auch exakt so aus wie Typen, die Zippen-Chrischi heißen. Seine Frisur kannte ich von Modern-Talking-Plattencovern. Sein Hemd war stets halb geöffnet, er trug keine Goldkette, aber er hätte eine tragen können. Er ging außerdem immer ein bisschen nach vorne gebeugt, als wollte er schon mal schauen, wie die Taktik der Zukunft aussieht. Er war, keine Frage, ein guter Trainer. Er nannte uns »Männer«, und er sagte, dass ich ein guter Libero sei.

Aber als ich eines Nachmittags zum Training kam, war Zippen-Chrischi nicht da. Die Kabinen waren abgeschlossen, und der Platzwart sagte, das Training fiele aus. Haste nicht gehört? Zippen-Chrischi hat die Vereinskasse leergeräumt! Die Bullen waren da! Ich weiß nicht, was Zippen-Chrischi damals angetrieben hat, vielleicht wollte er sich ein türkisfarbenes Kastencabrio kaufen und damit nach Mailand fahren, vielleicht hatte er Schulden, steckte tief in der Scheiße, was weiß ich. Etwas in mir brach damals zusammen. Es war das erste Mal, dass die Welt außerhalb meines Kinderzimmers feindlich auf mich wirkte, und der Fußball, der bis dahin so leicht ausgesehen hatte, war auf einmal schwer und düster geworden.

Ich sah den Platzwart an, nahm meinen Turnbeutel und ging nach Hause. Ich kam nie wieder.

Über 35 Jahre später, Anfang Dezember 2016, stand ich an einem Kiosk in Berlin-Neukölln und kaufte mir den neuesten »Spiegel«. Es war die »Football Leaks«-Ausgabe, vom Cover starrte mich Cristiano Ronaldo an. In einer beeindruckenden Recherche zeigten die Reporter auf, wie die besten und reichsten Fußballer der Welt ihre Millioneneinnahmen am Fiskus vorbeischleusten. Es ging um geheime Hinterzimmerdeals und Off-Shore-Firmen in der Karibik, und die Story zeigte, wie gierig und skrupellos der moderne Fußball geworden war. Der passende Untertitel lautete: »Die schmutzigen Geschäfte der Fußball-Superstars«. Ich blickte in die Augen von CR7, Schwarzgeld-Crischi, und dann dachte ich: Hatte wirklich jemand etwas anderes erwartet?

Ich glaube, es ging vielen so wie mir. Die Reportage, so gut sie war, stieß jedenfalls auf ein eher verhaltenes Echo, am Kiosk verkaufte sich die Ausgabe schlechter als andere. Offenbar hatten wir uns schon zu sehr an die Verkommenheit des Fußballs gewöhnt. Wir waren durch nichts mehr zu schocken.

Seitdem sind wieder sieben Jahre vergangen. Und es scheint noch schlimmer geworden zu sein, der heutige Fußball wirkt in einigen Ecken schmutziger als je zuvor. Alle paar Tage poppt ein neuer Skandal auf. Funktionäre, die für viel Geld Turniere und ihre Seelen verschachern. Vereine, die sich von Sonnenkönigen und Schurken lenken lassen. Spieler mit Gottkomplex, die ihre Macht missbrauchen.

Einige Fans stehen noch dagegen auf, sie protestieren Woche für Woche mit einer bemerkenswerten Ausdauer. Trotzdem macht sich in vielen Stadien, man kann es nicht anders sagen, eine gewisse Ohnmacht, Lethargie und auch Resignation breit. Es wirkt bei einigen so, als sei eh alles zu spät, der Zug mit der Moral schon vor Jahren abgefahren. Und wenn das so ist, kann man die Kohle ja auch mitnehmen. Der moderne Fußball hat den modernen Fußballfan mürbe gemacht.

2021 stieg der Staatsfond von Saudi-Arabien als neuer Eigentümer bei Newcastle United ein. Der Deal war ein neuer Sündenfall im Fußball, denn er verschob die rote Linie nicht, er wischte sie einfach weg. 2018 wurde der saudische Journalist Jamal Kashoggi ermordet, mutmaßlich im Auftrag des Kronprinzen Mohammed bin Salman. In dem Land steht außerdem Homosexualität unter Strafe, eine freie Presse gibt es nicht, einige Frauenrechtlerinnen sitzen für 40 Jahre im Gefängnis. Wie also passt dieser Eigentümer zu einem britischen Traditionsklub aus einer nordenglischen Arbeiterstadt? Wie kann ein Land wie Saudi-Arabien in einem Sport mitmischen, der sich immer wieder Anti-Rassismus und Anti-Homophobie auf die Fahnen schreibt?

Ich war ein Jahr nach der Übernahme in Newcastle, um mit den Fans darüber zu sprechen. Aber vor Ort merkte ich schnell, dass die wenigsten Anhänger Interesse an dem Thema hatten. Bei ihnen herrschte große Freude über den neuen Eigentümer vor. Kritik konterten sie mit dem Fingerzeig auf andere. Schau mal zu Manchester City oder PSG, die bekommen doch auch Geld aus einem autokratischen Staat! Schau dir, verdammt noch mal, die britische Regierung an, die seit Jahren Waffen nach Saudi-Arabien liefert! Schau dir die korrupte WM-Vergaben an! Schau dir all die Superstars an, die ihre Steuern hinterziehen! Schau dir die Manipulationen im Fußball an! Überall Verbrecher, überall Verbrechen! Und jetzt sagst du uns, dass Newcastle United das ultimative Böse ist? Fuck you!

Man könnte entgegnen, stimmt alles, macht es die Sache aber irgendwie besser? Man könnte auch sagen, geht auf die Straße, boykottiert die Spiele, schafft doch wenigstens ein Bewusstsein für diese fragwürdige Allianz. Aber ein bisschen verstehe ich diese Fans mit ihrem Whataboutism sogar, denn wenn sich niemand an die Regeln hält, warum sollten sie es dann tun?

Als Karim Benzema Ende 2022 den Ballon d’or gewann, schrieben zahlreiche Medien, dass 2007 zuletzt ein nicht vorbestrafter Spieler Weltfußballer geworden war. Benzema, zur Erinnerung, wurde wegen Beihilfe zur versuchten Erpressung seines Nationalmannschaftskollegen Mathieu Valbuena verurteilt. Ein Jahr Haft auf Bewährung gab es. In den 15 Jahren zuvor holten sich im Wechsel Ronaldo und Messi die Trophäe, zwischendrin gewann einmal Luka Modrić. Alle drei haben sich illegal Geld in die Taschen gesteckt, aber ich will Sie nicht mit Details langweilen. Der eine stand außerdem wegen eines Vergewaltigungsvorwurfs vor Gericht. Mehr dazu später im Buch.

Jedenfalls, ich kam kurz ins Grübeln, als ich die Meldungen in der Presse las: War 2007 wirklich das letzte Jahr, in dem ein echter Sportsmann ohne Vorstrafenregister den Ballon d’Or gewinnen konnte? Nun, der Sieger hieß damals Kaká, und der Vollständigkeit halber sollte man erwähnen, dass die Justiz später auch gegen ihn ermittelte. 2008 wurde bekannt, dass er mehrere Millionen Euro an die damals inhaftierten Führer der evangelikalen Kirche »Igreja Renascer em Cristo« überwiesen hatte. Gehen wir also noch weiter zurück, vor Kaká waren Fabio Cannavaro und Ronaldinho Weltfußballer. Ersterer wurde einst des Dopings verdächtigt, aber freigesprochen. Ein anderes Mal ermittelten die Behörden wegen Steuerhinterziehung. Im Zuge dessen beschlagnahmten sie seine Villa, in die er kurz darauf einbrach. Er wurde zu zehn Monaten Haft verurteilt. Ronaldinho wiederum wurde 2020 mit einem gefälschten Pass bei der Einreise nach Paraguay verhaftet und saß einen Monat in Untersuchungshaft. Der Pass war ihm übrigens in seiner Heimat Brasilien entzogen worden, weil er Strafzahlungen in Höhe von 2,2 Millionen Euro nicht geleistet hatte. Er hatte mit seinem Bruder bei der Bebauung eines Grundstücks in Porto Alegre massive Umweltschäden verursacht.

Ich könnte ewig so weitermachen. Machen Sie sich selbst mal die Mühe und googeln Sie einen beliebigen Topfußballer und ergänzen den Suchbegriff »Gefängnis« oder »Strafe«. Fast jeder saß zumindest schon mal auf einer Anklagebank. (Außer Philipp Lahm.)

Was ist nur los? Macht der heutige Fußball die Welt gar nicht zu einem besseren Ort, wie Gianni Infantino uns stets weismachen will, sondern zu einem schlechteren? Verlieren Männer – ja, nur Männer unter den Tätern1 – in dieser glitzernden Megaindustrie, die sie auf Podeste hebt und zu unverwundbaren Superhelden stilisiert, irgendwann das Gespür für Richtig und Falsch? Oder konnte ihnen gar nie jemand die richtigen Werte vermitteln, weil sie schon mit neun oder zehn Jahren in von der Realität abgeschotteten Jugendakademien zu Superathleten geformt wurden? Und was bedeutet das dann eigentlich für die alte Weisheit von Albert Camus? Sie müsste heute eher heißen: »Nichts, was ich über Moral und Verpflichtungen weiß, verdanke ich dem Fußball.«

Wo viel Geld ist, ist Verbrechen nicht fern, das gilt für jeden Wirtschaftszweig. Vor allem der milliardenschwere Fußball bietet einen idealen Nährboden für Kriminelle jeder Art, heute mehr denn je. Doch auch früher war der Fußball nie nur das schöne Spiel. Die WM 1934 fand im faschistischen Italien statt und wurde von Mussolini zu Propagandazwecken missbraucht. Ähnlich war es 1978 in Argentinien, als die Militärjunta unweit der WM-Stadien Oppositionelle ermordete. Auch in den Siebzigern hinterzogen Superstars Steuern, auch in den Achtzigern machten Funktionäre krumme Geschäfte. Vielleicht konnte sich der Fußball früher nur besser tarnen, ziemlich sicher wurde er medial weniger ausgeleuchtet. Und wenn doch mal die Sprache auf Themen abseits des Spiels kam, relativierten die Akteure oder suchten Ausflüchte. »Argentinien ist ein Land, in dem Recht und Ordnung herrscht«, sagte etwa Berti Vogts nach der WM 1978. Alles stand unter der Prämisse, die heile Fußballwelt und die heile Fußballfamilie zu schützen. Der Soundtrack zu dieser Ära kam von den Spielern selbst. »Bin i Radi, bin i König, was andere Leute sagen, ist mir gleich, gleich, gleich«, sang 1860-Keeper Petar Radenković, und Bayerns Franz Beckenbauer säuselte: »Gute Freunde kann niemand trennen.« Vor allem dann nicht, wenn ihre Portemonnaies gut gefüllt sind.

Dieses Buch erzählt Geschichten vom Rand des Fußballidylls. Von Präsidenten, die den Fußball ausnahmen wie eine Weihnachtsgans. Von Superstars, die ihre Macht missbrauchten. Von einem Nationalmannschaftskapitän, der sich den Nazis anschloss, und einem anderen, der Osama bin Laden folgte. Aber es erzählt auch von all den strauchelnden Kickern, die ohne die ordnenden Linien des Spielfeldes den Halt im Leben verloren. Von kleinen Trickbetrügern, die nach ihren Karrieren ein paar Mark dazuverdienen wollten. Von Spielern, die Banken oder Tabakläden überfielen, weil sie Schulden plagten.

Und natürlich erzählt das Buch auch von den großen Tragödien und Opfern der Fußballgeschichte. Von der Entführung des Barça-Stürmers Quini, von der Ermordung des Kolumbianers Andrés Escobar oder von dem bis heute ungeklärten Tod des DDR-Nationalspielers Lutz Eigendorf. Ungeklärt? Ja, denn der finale Beweis für einen Mordkomplott der Stasi fehlt. Sollten Sie wichtige Informationen diesbezüglich haben, wenden Sie sich bitte an die nächste Polizeidienststelle.

1 Okay, kleine Korrektur, ich bin auf zwei Fußballerinnen gestoßen, die sich bislang vor Gericht verantworten mussten. Zwei! Die eine Spielerin ist die ehemalige US-Nationaltorhüterin Hope Solo, die 2022 wegen Alkohol am Steuer zu einer 30-tägigen Haftstrafe sowie zu 24 Monaten auf Bewährung verurteilt wurde. Die andere ist Aminata Diallo von PSG, die unter Verdacht steht, einen gewalttätigen Angriff gegen ihre Mitspielerin Kheira Hamraoui in Auftrag gegeben zu haben. Sie wurde wenige Tage vor Beendigung dieses Buchs zum zweiten Mal verhaftet.

KAPITEL 1

DER FALL DES BARONS

Ralf von Diericke überfiel die Geschäftsstelle seines eigenen Klubs und musste für mehrere Jahre ins Gefängnis. Fußball spielte er weiterhin – als erster Profi durfte er aus dem Knast zu Spielen anreisen.

Es war ein Kinderspiel, in der Theorie. Sie zogen blaue Skimützen mit Sehschlitzen übers Gesicht, einer hielt die Kunden mit der ungeladenen Gaspistole in Schach, »Hände hoch, Geld her!«, dann der schnelle Griff zur Geldkassette, raus und weg. So hatten sie den Überfall im Wohnzimmer geübt. Aber in der Praxis, frei nach Sartre, verkomplizierte sich alles durch die Anwesenheit des Gegners – und die eigene Tollpatschigkeit. Ralf von Diericke musste jedenfalls erkennen, dass er ein ziemlich talentloser Räuber war. Als er am 13. Februar 1985 mit seinem Komplizen in die Spielhalle in Wuppertal-Barnem stürmte, zog er die Skimütze schief auf den Kopf, der Schlitz hing halb über der Wange, halb auf der Stirn. Er sah so gut wie nichts, und so stolperte er bei der Flucht über seine eigenen Beine, die Kassette fiel runter, Scheine und Münzen verteilten sich über den Boden. Auf allen vieren sammelte er das Geld wieder ein. Eine Zeitung schrieb, dass der Überfall an »Drehbuchpassagen aus einer Hallervorden-Klamotte« erinnerte.

Was da noch niemand wusste: Ralf von Diericke, einer der Täter, war eigentlich Fußballprofi. Ein Stürmer, 23 Jahre alt. Er hatte in der Bundesliga für Fortuna Düsseldorf gespielt und lief nun für den Zweitligisten Wuppertaler SV auf. Aber Anfang 1985 war er knapp bei Kasse, und dann kam ihm die Idee, erst diese Spielhalle und dann die Geschäftsstelle des eigenen Klubs zu überfallen. Sechs Jahre gab’s dafür. Im Gefängnis spielte er weiter Fußball, erst mit anderen Insassen, dann sogar wieder in der 2. Bundesliga. Er wurde zum ersten Profi, der als Freigänger aus der Zelle zu Spielen anreisen durfte. Aber so richtig kam er nie wieder auf einen grünen Zweig, die Vergangenheit verfolgt ihn bis heute.

Im Mai 2022, mehr als 37 Jahre nach den Überfällen, sitzt Diericke auf dem Balkon seiner Zweizimmerwohnung in Kleve, ein Städtchen an der deutsch-niederländischen Grenze. In der Ferne sieht man die Rheinbrücke Emmerich, die längste Hängebrücke Deutschlands. Was sofort auffällt: Diericke mag es ordentlich. Seine Wohnung besticht durch ein Farbkonzept, überall wiederholt sich die Farbe Rot, vom Tischdeckchen über die Gardinen bis zu den Rosen auf dem Balkon. Er trägt ein weit ausgeschnittenes T-Shirt, eine Jeans, Turnschuhe. Er ist mittlerweile 60, aber wenn man vom lichten Haar und den grauen Strähnen absieht, sieht er immer noch so aus, als könnte er gleich 90 Minuten Bundesliga spielen. Am meisten erstaunt aber, dass er seine Vergangenheit fast minutiös nacherzählen kann, und das tut er ohne Umschweife.

»Mir geht’s nicht gut«, muss er zu Beginn des Gesprächs klarstellen. Er habe nicht viel Geld und werde nur wenig Rente bekommen. Sobald er sich auf eine Stelle bewerbe, käme irgendwann die Sprache auf die Überfälle. »Dabei bin ich seit 1985 nicht einmal mehr bei Rot über die Ampel gegangen, aber das interessiert niemanden.« Er hat gerade einen Job in einer Gärtnerei, aber er kann die Tätigkeit wegen eines Bandscheibenvorfalls nicht ausüben. Eigentlich möchte er wieder als Versicherungskaufmann arbeiten, wie früher. Bloß er kommt nicht mehr rein in diese Branche, in der es, zumindest nach außen, um Vertrauen und Seriosität geht. Einige Male hatte er Vorstellungsgespräche, ein Licht am Ende des Tunnels, aber dann war es doch nur eine optische Täuschung. »Das Internet vergisst nicht«, sagt er. Einmal besuchte ihn der Bereichsleiter einer Versicherungsagentur, er hatte Diericke eine Anstellung in Aussicht gestellt. Sie unterhielten sich gut, stundenlang, tranken Kaffee, genossen die Sonne auf dem Balkon. Am Ende sagte der Bereichsleiter: »Einstellen kann ich Sie natürlich nicht. Mit Ihrer Vergangenheit.« Auf Dierickes Frage, warum er dann überhaupt gekommen sei, sagte der Mann: »Ich habe Ihre verrückte Biografie auf Wikipedia gelesen und wollte Sie mal persönlich kennenlernen.« Diericke bat ihn zur Tür und sagte, er sollte sich lieber die Affen im Zoo angucken.

Es ist also ziemlich vertrackt gerade. Aber verstecken möchte Diericke sich auch nicht, sagt er. Sein Name taucht eh ständig in irgendeiner Zeitung auf. Zum Beispiel vor ein paar Jahren bei der Berichterstattung über den ehemaligen Bayern-Spieler Breno, der wegen schwerer Brandstiftung im Gefängnis saß und später als Freigänger im Nachwuchsleistungszentrum des Klubs arbeitete. Damals riefen ihn sogar die Anwälte von Breno an, Diericke war schließlich der Pionier der Fußball-Freigänger. Auch Daniel Keita-Ruel, der ebenfalls für Wuppertal spielte und wegen vier Raubüberfällen ins Gefängnis musste, schloss sich während seines offenen Vollzugs wieder einem Verein an. »Damals berichtete die Sportschau, er sei der erste Fußball spielende Freigänger gewesen. Hab dann sofort bei der Redaktion angerufen, denn das stimmt ja nicht, der Erste war ich«, sagt Diericke. »Und deshalb hängt mir diese Geschichte so nach.«

Diese Geschichte, seine Geschichte, beginnt im Osnabrück der sechziger Jahre. Ralf von Diericke wächst im Arbeiterstadtteil Schinkel auf. Der Vater Maler und Lackierer, die Mutter Justizfachangestellte, ausgerechnet. Der junge Ralf lernt das Fußballspielen, wie die meisten Kinder seiner Generation, auf der Straße. Dort kickt er auch mit den Pistorius-Brüdern. Der eine, Boris Pistorius, wird Bürgermeister von Osnabrück, dann Innenminister von Niedersachsen, und seit Anfang 2023 ist er deutscher Verteidigungsminister. Der andere, Harald Pistorius, macht sich als Sportreporter bei der »Neuen Osnabrücker Zeitung« einen Namen. »Die beiden haben’s echt geschafft«, sagt Diericke. »Und sie waren mein erster richtiger Kontakt zum Vereinsfußball.« Denn ihr Vater, Ludwig Pistorius, trainiert damals die Jugend des Stadtteilklubs Schinkel 04. Er überredet den jungen Diericke, mit zum Training zu kommen. Am Anfang steht er im Tor, aber dort langweilt er sich, denn die Mannschaft gewinnt regelmäßig zweistellig, für den Keeper gibt es nichts zu tun. Er wechselt in den Sturm.

Mit 19 dann der erste richtige Vertrag beim VfL Osnabrück, damals zweite Liga. Nebenher beginnt Diericke eine Ausbildung als Großhandelskaufmann, aber er bricht sie ab, als es mit dem Fußball ernster wird. Sein erstes Profispiel macht er am 15. August 1980 gegen Wattenscheid. 12.000 Zuschauer sind an der Bremer Brücke, das Spiel endet 3:3. Trainer Werner Biskup setzt das Nachwuchstalent noch sieben weitere Male in der Saison ein. Ein solider Start für einen Teenager, aber Diericke reicht das nicht, er will spielen, sich für Bundesligaklubs empfehlen. Dafür macht er erst mal einen Schritt zurück und wechselt zum Wuppertaler SV in die drittklassige Oberliga. Dort wird er Torschützenkönig und der Held der Stadt. Der Klub spendiert ihm einen Porsche 924, für ein Fotoshooting lässt er sich mit Frack und Zylinder ablichten. Wegen des adligen »von« im Namen nennen die Fans und Mitspieler ihn »Baron«, und es gefällt ihm. »Ich hob ab, keine Frage«, sagt er. »Es gab Tage, da lag ich mit Zigarre im Whirlpool und goss mir Champagner nach. Und im Autokino fuhr ich mit meinem Porsche einfach an der Schlange vorbei. Ich war doch der Baron.«

Aber sein Plan scheint aufzugehen, er taucht auf dem Radar der Scouts auf. Drei Bundesligateams machen ihm vor der Saison 1983/84 Angebote: Uerdingen, Leverkusen und Düsseldorf. Er entscheidet sich für die Fortuna, die 1983 top besetzt ist. Im Tor steht Wolfgang Kleff, davor dirigiert Gerd Zewe, die Tore schießen Rudi Bommer und Atli Edvaldsson. In der Hinrunde spielt die Mannschaft furios, sie gewinnt gegen die Bayern und Gladbach jeweils 4:1. Diericke steht aber nur zweimal in der Startelf. Heute gibt er Trainer Willibert Kremer die Schuld: »Der meinte, ich verdiene zu wenig, und er könnte mich keinem Topstar vor die Nase setzen.« Nach der Saison wechselt der Baron zurück nach Wuppertal in die Oberliga – und dann geht die Scheiße los.

»Warten Sie mal«, sagt Ralf von Diericke nun auf seinem Balkon in Kleve. Er verschwindet kurz in seinem Schlafzimmer und kommt mit einem Schuhkarton zurück, darin sein halbes Leben, Briefe, Zeitungsberichte, Fotos, der Haftbefehl, die Anklageschrift, das Urteil. Wahllos zieht er Schriftstücke raus, über einem »Bild«-Artikel steht in großen Buchstaben: »Baron will die Fortuna beklauen.« Daneben ein Foto des damals 39 Jahre alten Diericke, der zu der Zeit als Amateur für den VfB Kleve spielte und im DFB-Pokal das große Los Fortuna Düsseldorf gezogen hatte. Über zehn Jahre war er da schon wieder draußen. Der Artikel schließt mit dem Satz: »Eine Straftat würde der Baron heute noch begehen: Fortuna den Sieg klauen.« In diesem Duktus sind auch die anderen Berichte gehalten: Der Baron, der Ex-Knacki, der Spielhallenräuber a. D. Diericke war nie nur ein Fußballer, er war immer der Bundesligaspieler, der zum Kriminellen wurde. Breaking Bad.

Alles beginnt, so sieht Diericke die Sache, mit einer besonderen Klausel im damaligen DFB-Regelwerk. Sie besagte, dass Spieler, die sich reamateurisieren lassen, für drei Monate gesperrt werden. Geschieht diese Reamateurisierung in beiderseitigem Einvernehmen, musste der Spieler sogar sechs Monate pausieren. Die Oberliga gilt in den Achtzigern als Nettoliga, viel wird unter der Hand gezahlt, die meisten Spieler leben von den Prämien. Weil aber Neu-Amateur Diericke bei seiner Rückkehr nach Wuppertal zunächst nicht spielen darf, bekommt er dieses Extrageld nicht. Er einigt sich mit dem Vorstand daher per Handschlag auf einen speziellen Deal, der drei Zahlungen vorsieht: 10.000 Mark zu Beginn seines Engagements, 15.000 Mark am 1. Januar 1985 und 10.000 Mark am Ende der Saison. Die erste Zahlung erhält Diericke, aber die zweite Rate bleibt aus, und das ist für den Spieler ein Problem, denn er steckt Anfang Januar 1985 knietief im Dispo. Er ist in den vergangenen Monaten und Jahren nie besonders verantwortungsvoll mit Geld umgegangen. Bauherrenmodelle und ein Parfümgeschäft verbrennen einen Großteil seiner Ersparnisse, in Bars und Edeldiskos verprasst er sein Gehalt. »Im Sam’s in Düsseldorf waren schnell mal 400 Mark weg«, sagt er. »Und da warst du nicht mal betrunken.« Nun, Anfang 1985, hat er mehrere Tausend Mark Miese, und jeden Tag werden es mehr. Diericke fordert vom WSV also vehement das versprochene Geld. Aber Klubmäzen Dieter Buchmüller wedelt ihn weg. »Diericke? Hat nicht gespielt, bekommt kein Geld!«, soll er über seine Sekretärin ausgerichtet haben.

Ende Januar, kurz vor seinem ersten Saisoneinsatz, scheint sich doch alles zu klären, ein Anruf vom WSV, das Geld sei nun da. Diericke fährt voller Hoffnung zur Geschäftsstelle – und bekommt von der Sekretärin einen 50-Mark-Schein überreicht. »Damit Sie etwas Warmes zu essen haben und am Wochenende fit sind«, sagt sie. Nun drehen bei Diericke die Sicherungen durch. Er trinkt und flucht und trifft seinen Kumpel Olaf W.

W., so sagt Diericke, sei ein guter Typ gewesen. Herz am rechten Fleck und so weiter. Aber er hat auch eine Vergangenheit, von der Diericke kaum etwas weiß. Mehrmals musste sich W. wegen häuslicher Gewalt vor Gericht verantworten. Diericke lernt ihn im Umfeld des Wuppertaler Stadions am Zoo kennen, W. ist Fan und sitzt oft im Publikum. »Wir waren gerne in Kneipen unterwegs, aber er war auch der beste Kunde in der Spielhalle«, sagt Diericke. W. soll Anfang 1985 ebenfalls Geldprobleme gehabt haben, Wasser und Strom waren ihm bereits abgestellt worden. Und so kommt eines zum anderen, so wird aus einer Schnapsidee ein Plan. Bloß, wen sollen sie überfallen? Wer hat genug Geld im Tresor? Diericke fällt irgendwann die Geschäftsstelle des WSV ein. Er weiß, wann die Gehälter gezahlt werden – am Dienstag, den 19. Februar, natürlich in bar. Er sagt zu W.: »Wenn der Verein mir das versprochene Geld nicht gibt, dann hol ich es mir einfach!« Und wo sie schon dabei sind, können sie doch vorher, an Altweiber, noch eine Spielhalle überfallen. So sind sie flüssig für das bevorstehende Karnevalswochenende.

Auch wenn die Maske schief sitzt und Diericke wie Didi Hallervorden durch die Spielhalle stolpert, scheint der Plan zunächst aufzugehen. Die beiden Männer fliehen in Dierickes BMW 528i, unerkannt, so glauben sie. Die leere Geldkassette werfen sie in die Wupper, zu Hause zählen sie die Beute, 2000 Mark, weniger als erhofft zwar, am Wochenende lassen sie es trotzdem krachen. Wuppertal Helau. Dann kommt der Dienstag, der Tag der Abrechnung. Die beiden Männer fahren zur Geschäftsstelle. W. geht alleine hinein, schlägt die leitende Geschäftsführerin nieder und schließt sie in eine Toilette ein. Dann schnappt er sich die Briefumschläge und rennt raus. Diericke, der im Auto Schmiere stand, drückt aufs Gaspedal. Sie erbeuten 15.000 Mark, gerechnet hatten sie mit 150.000.

Am Nachmittag ist Training. Diericke geht mit flauem Gefühl hin. Das schaffst du, immer locker bleiben! Er macht sich selbst Mut. Auf dem Weg zur Umkleidekabine kommt ihm Stürmer Detlef Szimanek entgegen. »Schon gehört, Baron? Wir wurden ausgeraubt«, sagt der. Diericke lacht und sagt: »Was wollen die sich noch ausdenken, damit sie unsere Gehälter nicht zahlen müssen.« Na also, klappt doch noch mit den flotten Sprüchen! Dann aber steht die Geschäftsführerin vor ihm: »Ach, Herr von Diericke, das hätten Sie erleben müssen. Der Mistkerl hat mich sogar niedergeschlagen!«, sagt sie. Diericke weiß nichts zu sagen und lächelt verlegen, und dann erklärt der Trainer auch noch, dass in den nächsten Tagen die Polizei vorbeikommt und jeden einzelnen Spieler verhören wird. Der oder die Täter, so die einhellige Meinung, müssten aus dem Umfeld des Klubs kommen, denn sie wussten, wann die Gehälter gezahlt werden. Diericke schluckt.

Aber es vergehen Tage, dann Wochen. Niemand taucht auf, keine BKA-Mitarbeiter, kein Kommissar, nicht mal ein Streifenpolizist, und irgendwann atmet Diericke durch, die Sache scheint erledigt. »Ich hatte das alles fast vergessen, als plötzlich, nach einem Monat, zwei Kripo-Beamte am Trainingsplatz standen. Ihre Gesichter habe ich bis heute vor mir«, sagt er. Die Spieler werden nacheinander in einen Raum gebeten, ein bis zwei Minuten dauern die Verhöre, außer das von Ralf von Diericke – das dauert zehn Minuten. Er ahnt: Die haben eine Spur. In den nächsten Wochen verfolgt das Kripo-Duo den Spieler auf Schritt und Tritt. Sogar im Urlaub spazieren die Polizisten auf einmal neben ihm und seiner Freundin her. Der Zugriff erfolgt schließlich in seiner alten Heimat. Diericke hat mit der Bundeswehrnationalmannschaft in Osnabrück gespielt. Nach dem Abpfiff geht die Kabinentür auf – die Kripo-Männer. Olaf Thon und Michael Frontzeck, die neben Diericke sitzen, schauen die Beamten verdutzt an. Auch Diericke tut so, als wüsste er nicht, was vor sich geht. Aber die Polizisten zeigen auf ihn: »Herr von Diericke, man muss einsehen, wenn man ein Spiel verloren hat.« Diericke kontert wie immer erst mal locker: »Wir haben eben 10:0 gewonnen.« In der U-Haft vergeht ihm aber das Lachen, denn es gibt einen Zeugen, der Dierickes Auto zum Tatzeitpunkt in der Nähe der Geschäftsstelle gesehen hat. Das Kennzeichen lässt darauf schließen, dass der oder die Täter tatsächlich Spieler oder Mitarbeiter des Vereins sind: W-SV. Selbst sein Verteidiger wird später sagen: »Das war so blöd, das konnte ich gar nicht glauben.«

Im September 1985 findet der Prozess vor der 3. Großen Strafkammer des Landgerichts Wuppertal statt. Der Saal 105 platzt aus allen Nähten. Diericke wird wegen schweren Raubs zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt; sein Komplize Olaf W. bekommt sechseinhalb Jahre wegen zusätzlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung der Geschäftsführerin. In der Urteilsverkündung heißt es: »Zu Lasten des Angeklagten Ralf von Diericke muss berücksichtigt werden, dass die kriminelle Energie erheblich war.« Diericke selbst glaubt an einen Schauprozess: »Ich war ein prominenter Fußballer, die wollten es mir zeigen, ein Exempel statuieren.«

Das Leben hinter Gittern setzt dem 24 Jahre alten Fußballer zu. In den Nachbarzellen sitzen Mörder, Zuhälter und Schutzgelderpresser. Diericke verharrt ein Jahr in seiner Zelle und nimmt fast 30 Kilo zu. Dann aber rappelt er sich auf, er fängt an zu lesen, ein Job in der Gefängnisbibliothek gibt ihm einen Sinn. Und da ist ja noch der Fußballplatz. Er geht raus und spielt, natürlich ist er der Beste hier. Bei der ersten Platzwahl lernt er eine Größe aus dem Hagener Rotlichtmilieu kennen. »Wenn du mich als Erstes wählst, bekommst du hier keine Probleme, ich besorge dir alles«, sagt der, und Diericke hält sich dran. Die Knastmannschaft spielt auch gegen Teams von draußen, reisen darf sie aber nicht, jedes Spiel ist ein Heimspiel. Eine andere Besonderheit ist der Platz, ein Aschefeld, das 90 mal 45 Meter misst, weshalb die Mannschaften nur mit acht Spielern auflaufen. Aber das Knastteam hat ein gutes Image, es gilt als verbindend und resozialisierend. Der Vollzugleiter Walter Nowak erklärt in einer Tageszeitung die Vorteile einer Gefängnismannschaft: »Wenn Sport ist, herrscht Ruhe im Knast. Mannschaftssport fördert den Gemeinsinn und hilft, Aggressionen abzubauen.« In den Jahren zuvor haben sich ähnliche Teams auch andernorts in Deutschland gegründet, einer der bekannten Knastklubs ist Eintracht Fuhlsbüttel, gegründet 1976 in der Hamburger Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel, im Volksmund Santa-Fu. Auch die Eintracht tritt nur zu Hause an, spielt außer Konkurrenz und darf nicht aus Kreisklasse aufsteigen.

In der Wuppertaler Justizvollzugsanstalt Simonshöfchen mausert sich Diericke zum Vorzeigehäftling. Anfang 1987 bescheinigt ein psychologisches Gutachten, dass er keinerlei »kriminelle Energie« mehr hat. Diericke wird in den offenen Vollzug der JVA Remscheid verlegt, und am 9. März 1987 vermeldet eine Lokalzeitung: »Oberligist VfB Remscheid betreibt Resozialisierung mit einer spektakulären Verpflichtung.« Seine neuen Mitspieler wissen natürlich längst Bescheid. VfB-Kapitän Jürgen Berghaus sagt vor Dierickes Rückkehr in den Profifußball: »Als Mensch müssen wir ihm die Chance geben, wieder in der Gesellschaft Fuß zu fassen.« Diericke hatte auch angeboten, drei Jahre umsonst beim Wuppertaler SV zu spielen, aber sein alter Klub lehnte ab. Die Wunden seien noch nicht verheilt, viele Spieler, Fans und Mitarbeiter hätten ihm nicht verziehen.

Was das bedeutet, merkt Diericke gleich im ersten Spiel für Remscheid, denn der Gegner heißt Wuppertal. Er ist noch nicht mal auf dem Platz, da pfeifen ihn die WSV-Fans schon aus und rufen dem Linienrichter zu: »Pass auf deine Fahne auf, sonst klaut sie dir der Diericke!« Als der Stadionsprecher die Mannschaftsaufstellung verliest, überspringt er die Nummer 10 – die Nummer von Ralf von Diericke. Aber wie das so ist: Der Fußballgott hat eine witzige Pointe in petto, denn das Tor zum Ausgleich schießt, na klar, Diericke. Nach dem Spiel wird er mit Polizeischutz in die Kabine begleitet.

Diericke hält sich als Fußball-Freigänger an alle Regeln. Er lässt sich nach den Spielen stets direkt zum Gefängnis bringen, er trinkt nicht mal ein Bier mit den Mitspielern. »Wenn die Gefängniswärter Alkohol gerochen hätten, wäre ich sofort wieder in den Geschlossenen gekommen«, sagt er. Die Disziplin zahlt sich aus, 1988 wechselt er zu Union Solingen in die 2. Bundesliga und schult auf Manndecker um. Die Position scheint ihm zu liegen, gegen Saarbrücken meldet er sogar Tony Yeboah ab, gegen Wattenscheid legt er Maurice Banach an die Kette.

Dierickes Story begeistert und empört die Fans gleichermaßen. Als die Sportschau einen Beitrag sendet, bekommt er tonnenweise Fanpost. In Wuppertal ist er aber auch nach seiner Haftzeit eine Persona non grata, in Restaurants kann er auf seinen Namen keinen Tisch bestellen, in Kneipen wird er nicht bedient. Mehrmals schlagen ihn WSV-Fans zusammen. »Wenn Sie eine Frau wären, würde ich Ihnen raten, den Mädchennamen wieder anzunehmen«, sagt sein Anwalt. »Der Mensch wird nicht im Gefängnis gebrochen, sondern erst danach«, sagt Diericke.

In den folgenden Jahren spielt er in verschiedenen Amateurvereinen, unter anderem für Preußen Krefeld oder für den SV Straelen an der Seite von Jos Luhukay. Er trainiert bei einigen Vereinen im Rheinland, auch Jugendmannschaften. Er eröffnet sogar sein eigenes Versicherungsbüro, bis es sein Arbeitgeber schließt. Er hat drei gescheiterte Ehen hinter sich. Eine Privatinsolvenz. Er hat Probleme mit der Schufa. Er macht Hilfsarbeiten, einige Zeit fährt er Taxi. Einmal bewirbt er sich sogar auf eine Stelle in einer Spielhalle. Beim Bewerbungsgespräch wird er gefragt, ob er schon mal in einer war. »Ja, einmal«, sagt er.

Was wäre alles möglich gewesen, Ralf von Diericke? Der Ex-Profi und Ex-Knacki geht durch seine Wohnung. Er zeigt seine Küche. Präsentiert sein Wohnzimmer. Als sei er Kandidat in einer Reality-Show über resozialisierte Straftäter. Schaut doch: Ich habe nichts zu verbergen, ich lebe redlich, ich habe es ordentlich. Oft noch denkt er an die Überfälle, die Spielhalle, die Geschäftsstelle. Wie er so blöd sein konnte. So naiv. Er sagt, er würde gerne seine Eltern besuchen, das Grab in Osnabrück. Aber die Bahnfahrt ist zu teuer, und die Spritpreise steigen täglich. Also bleibt er in Kleve. Fügt in seiner Wohnung hier und da rote Farbtupfer hinzu. Sitzt auf seinem Balkon. Blickt auf die Rheinbrücke Emmerich. Geht raus in die Stadt. Sie kennen ihn alle. Beim Bäcker, beim Frisör, in der Buchhandlung. Sie wissen, was er im Frühjahr 1985 getan hat. Sie sagen, Baron, Schwamm drüber.

Wenn’s nur so einfach wäre.

KAPITEL 2

DAS SPIEL SEINES LEBENS

Zur WM 1994 reiste Kolumbien als Favorit. Dann schoss Verteidiger Andrés Escobar ein Eigentor – neun Tage später wurde er erschossen.

Sie bekamen keine Luft mehr. Die Angst, so sagten sie später, hätte ihnen die Kehle zugeschnürt. Denn es ging nicht um viel, es ging um alles, um Leben und Tod. Das erste Vorrundenspiel gegen Rumänien hatten sie verloren. Nun mussten sie vor 90.000 Zuschauern den WM-Gastgeber USA schlagen, um noch eine Chance aufs Achtelfinale zu haben. Und dann passierte es. In der 35. Minute schätzte Kolumbiens Verteidiger Andrés Escobar eine Flanke falsch ein und lenkte den Ball ins eigene Tor. Alles brach in diesem Moment auseinander, und in einem Spielfilm würde man zwei Szenen in einem Splitscreen sehen: Auf dem Rasen Escobars Blick ins Leere; irgendwo in Medellín sein Neffe, der vor dem Fernseher saß: »Mama, sie werden ihn töten!« Die Mutter, die antwortete: »Nein, mein Schatz. Leute werden nicht wegen Fehler getötet. Alle Kolumbianer lieben Andrés.«

Zehn Tage später war Andrés Escobar tot. Erschossen auf offener Straße. Der Täter soll sechsmal abgedrückt haben und bei jedem Schuss »Goooool« gerufen haben.

Die Ermordung von Andrés Escobar machte sprachlos und wütend. Warum er, der sich immer ferngehalten hatte vor den Verbrechern und dem Milieu? Sie nannten ihn »El Caballero del Futbol«, den Gentleman des Fußballs. Er hatte wirklich daran geglaubt, dass der Fußball Kolumbien zum Guten verändern könnte. Seine Geschichte, so wird sich zeigen, ist eine tragische Was-wärewenn-Story. Sie verläuft entlang von Jahrhundertspielen und der blutigen Spur des kolumbianischen Drogenkriegs. Sie begann vor über 40 Jahren. Und sie ist immer noch nicht zu Ende erzählt.

Andrés Escobar spielte Ende der Achtziger für Atlético Nacional, ein großer Klub aus Medellín, der bis dahin nicht viel gewonnen hatte, vier nationale Meisterschaften seit Vereinsgründung im Jahr 1947, das war’s im Grunde. 1989 durfte das Team immerhin als Vizemeister an der Copa Libertadores teilnehmen. Im Viertelfinale kam es zum brisanten Duell gegen Millonarios aus Bogotá. Nach einem 1:0 im Hinspiel schaffte Nacional ein 1:1 im Rückspiel. Noch heute behaupten Fans der Millonarios, der Schiedsrichter sei bestochen gewesen. Zumindest ahnte er wohl, dass man es sich besser nicht mit dem Besitzer von Nacional verscherzen sollte – Pablo Escobar.

In den achtziger Jahren hatten die Drogenkartelle große Macht in Kolumbien gewonnen. Escobars Medellín-Kartell bestimmte das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben, es schmierte wichtige Politiker, Journalisten, Staatsanwälte, und es war verantwortlich für die Ermordung von Tausenden, die sich widersetzten. Escobar ließ sogar ein Personenflugzeug abschießen und eine Bombe vor einem Regierungsgebäude hochgehen.

Das Jahrzehnt war auch die Ära des Narco2-Fußballs. Fast jeder Kartellchef hielt sich einen Verein. Francisco Maturana, National- und Nacionaltrainer in Personalunion, gab später zu: »Das Drogengeld ermöglichte uns, Spieler einzukaufen und unsere besten Spieler zu halten.« Im Umfeld der Spiele konnten die Unterweltgrößen ihr Geld waschen, auch das Wettgeschäft und Spielmanipulationen florierten. Die Narco-Mäzene wurden fast überall mit Kusshand empfangen. Miguel Rodríguez vom Cali-Kartell übernahm América de Cali. Der Drogenmilliardär José Gonzalo Rodríguez Gacha, den sie in Kolumbien wegen seiner dunklen Hautfarbe den »El Mexicano« nannten, tauchte 1982 mit fingerdicker Goldkette und tief ins Gesicht gezogenem Strohhut bei einer Hauptversammlung von Millonarios auf. Er sei bereit, die 250 Millionen Pesos Schulden des Vereins aus eigener Tasche zu bezahlen. Außerdem wollte er dem bisherigen Eigner die Anteile abkaufen – für dreimal so viel, wie sie eigentlich wert waren. Herzlich willkommen!

Aber der Mächtigste von allen blieb Pablo Escobar, und er meinte es ernst. Er besaß neben Nacional noch den Klub Independiente Medellín. Als ein Schiedsrichter eines seiner Teams verpfiff, ließ Escobar ihn ermorden. Ansonsten trat er gerne als Fan und moderner Robin Hood auf. Im Land baute er zahlreiche Fußballplätze, um die Jungen für das Spiel zu begeistern. Viele Spieler, die später für Kolumbien bei den Weltmeisterschaften aufliefen, begannen auf solchen Plätzen ihre Karrieren.

Bei der Copa 1989 erreichte Escobars Team Nacional das Finale und traf dort auf Olimpia aus Paraguay. Es kam zum Elfmeterschießen, in dem Nacionals Torhüter René Higuita vier Elfmeter hielt und einen selbst verwandelte. Weil hinterher herauskam, dass Mitglieder des Medellín-Kartells tatsächlich Schiedsrichter bedroht hatten, sperrte der südamerikanische Fußballverband CONMEBOL alle kolumbianischen Vereine für die kommende Saison. Nacional durfte als Titelverteidiger teilnehmen, musste aber seine Heimspiele in Chile austragen.

In Kolumbien interessierte das kaum jemanden. Auf den Straßen von Medellín feierten sie ein rauschendes Fest. Higuita, der verrückte Torhüter, der Bälle mit einem Überschlag abwehren konnte, wurde nach dem Titelgewinn mit Grundstücken beschenkt und mit Werbeverträgen überhäuft. Auch sein Freund Andrés Escobar galt nun als einer der besten Spieler des Landes. Sie schwammen auf einer Welle des Erfolgs. Gemeinsam mit dem genialen Mittelfeldspieler Carlos Valderrama führten sie Kolumbien 1990 zur ersten WM-Teilnahme seit 28 Jahren. »Wir waren nicht länger Medellín oder Cali, wir waren Kolumbien«, sagt Trainer Maturana in dem Film »The Two Escobars«. »Wir spielten, um unser Land zu verteidigen.« Die Mannschaft erreichte das Achtelfinale.

Im Jahr darauf verschlechterte sich die Situation für Pablo Escobar. Die Regierung verstärkte die Jagd auf die Kartelle und drohte dem Drogenbaron mit der Auslieferung an die USA. Also schlug Escobar einen Deal vor: Er würde freiwillig in ein Gefängnis gehen, wenn er es selbst errichten dürfte. So entstand La Catedral in der Nähe seiner Heimatstadt Envigado. Das Areal glich eher einer privaten Ranch als einem Knast. Es hatte einen Privatzoo mit exotischen Tieren, eine Stierkampfarena, ein Schwimmbad, ein Theater, Diskotheken, Tennisplätze und natürlich einen Fußballplatz. Auf diesem größenwahnsinnigen Landsitz ließ Escobar weiterhin unliebsame Rivalen ermorden – oder empfing namhafte Fußballer der Nationalmannschaft. Einige mussten sogar Showspiele untereinander austragen, immerhin wurden sie fürstlich entlohnt. Als die Presse davon Wind bekam, regte sich in der Öffentlichkeit Kritik. »Aber was hätten wir machen sollen?«, sagte Nationaltrainer Maturana. »Wenn Don Vito Corleone mich zu einem Teller Pasta in ein Restaurant einlädt, gehe ich natürlich hin.«

Auch Escobar, der Spieler, war öfter zu Gast bei Escobar, dem Drogenboss. Aber er mochte diese Besuche nicht. Seiner Schwester soll er mal gesagt haben: »Ich möchte nicht dorthin, aber ich habe keine Wahl.« Er war ein ruhiger und gläubiger Mensch. Jeden Tag las er in der Bibel, seine Lesezeichen waren zwei Fotos, eins von seiner verstorbenen Mutter und eins von seiner Verlobten. Seine Liebe zum Fußball erklärte er so: »Anders als beim Stierkampf gibt es bei uns keinen Tod. Im Fußball stirbt keiner, niemand wird umgebracht. Es geht mehr um den Spaß, um das Genießen.«

René Higuita, der Torhüter, war ganz anders. Er verkehrte gerne im kriminellen Milieu. Als ihn Reporter fragten, warum er bei Pablo Escobar ein und aus gehe, sagte er: »Pablito ist ein Freund aus Jugendtagen.« Vielleicht rettete ihn das vor Konsequenzen aus der Unterwelt – schließlich patzte er 1990 im Achtelfinale, als er sich bei einem waghalsigen Dribbling weit vor seinem Tor von Kameruns Roger Milla den Ball abluchsen ließ.

Am 14. Juni 1993 kam es aber zum Eklat. Higuita wurde verhaftet, weil er in einen Entführungsfall verwickelt war. So jedenfalls geht die offizielle Version, die auch Higuita erzählte: Die Tochter eines Freundes war von Pablo Escobar entführt worden. Der Freund bat Higuita daraufhin, die Lösegeldsumme von rund 300.000 Dollar zu überbringen. Higuita tat das, und der Freund schenkte ihm dafür 64.000 Dollar. Weil der Fußballer das Geld annahm, statt die Polizei zu informieren, musste er für sieben Monate ins Gefängnis. Wahrscheinlicher ist, dass Higuita inhaftiert wurde, weil er ein bisschen zu freundschaftlich mit Amerikas Staatsfeind Nummer eins verbunden war. So einer, da waren sich die meisten einig, würde nicht gerade der Publikumsliebling in den USA werden.

Es war ein Schock für den Torhüter, seine Fans, aber vor allem für die kolumbianische Nationalmannschaft. Vor dem Turnier galt sie unter einigen Fußballexperten als Favorit auf den Titel. Zwischen 1992 und 1994 war sie in 31 von 33 Spielen ohne Niederlage geblieben, in der Qualifikation zerlegte sie Argentinien mit 5:0, in Buenos Aires wohlgemerkt. Die WM 1994 sollte zu einem Triumphzug ihrer goldenen Generation werden. Heute fragen sich viele Menschen in Kolumbien, ob Andrés Escobar noch leben würde, wenn Higuita zur WM gefahren wäre. Für ihn stand nun Óscar Córdoba im Tor. Im ersten Spiel gegen Rumänien unterschätzte dieser einen Fernschuss von Gheorghe Hagi, gegen die USA kassierte er das Eigentor von Andrés Escobar. Hätte Higuita den Schuss von Hagi über die Latte gelenkt? Hätte er sich mit Escobar, mit dem er für Atlético Nacional Hunderte Male zusammengespielt hatte, besser abgestimmt?

Der andere Escobar, Pablo, war Ende 1993 gestorben, aber die Waffen verstummten nicht. Nun kämpften andere Kartelle um die Vormacht. »Es geriet alles außer Kontrolle«, erklärte sein Cousin Jaime Gavira in »The Two Escobars«. »Der Chef war tot, also wurde jeder sein eigener Chef. Pablo führte die Unterwelt mit Ordnung. Wenn du etwas Illegales machen wolltest, hast du Pablo um Erlaubnis gebeten.« Nationaltrainer Maturana sah das ähnlich: »Das Gesetz des Bosses war das Gesetz des Landes. Als Pablo Escobar starb, bebte die Erde, und der Wind rief ›Pablo Escobar!‹ Von diesem Moment an musste man ständig auf der Hut sein. Du konntest niemandem mehr vertrauen.«

Schon nach der ersten Vorrundenniederlage gegen Rumänien hatten Unbekannte den Bruder von Torwart Córdoba ermordet. Auch der Bruder von Verteidiger Luis »Chonto« Herrera starb nach dem Rumänien-Spiel, angeblich ein Autounfall. Gabriel Gómez, ein Mitspieler von Escobar bei Nacional, verließ die Mannschaft, weil er per Fax eine Morddrohung erhalten hatte. Die Familien der Spieler wurden unter Polizeischutz gestellt. Am Abend vor dem Spiel gegen die USA saß Herrera mit Andrés Escobar zusammen: »Ich wollte aufgeben und nach Hause fliegen, aber Andrés sagte: ›Das Land hängt von dir ab. Das ist unsere einzige Chance auf die Weltmeisterschaft!‹« Am nächsten Tag erschien Nationaltrainer Maturana mit Tränen in den Augen zur Mannschaftsbesprechung. Er hatte aus Kolumbien die Nachricht erhalten, wen er spielen lassen durfte und wen nicht: »Sie sagten: Wenn du Gabriel Gómez aufstellst, töten wir euch alle!«

Wie spielt man in einem solchen Bedrohungsszenario Fußball?

Die Kolumbianer suchten zu Beginn der Partie die Flucht nach vorne. Sie griffen das Tor der Amerikaner von allen Seiten an, spielten offensiv, hatten Chancen, aber der Ball wollte partout nicht reingehen. In der 34. Minute schoss der Amerikaner John Harkes von links scharf auf den Elfmeterpunkt. Andrés Escobar grätschte, und dann schnürte sich die Kehle zu. »Ich blickte danach in sein Gesicht und spürte einen tiefen Schmerz«, sagte Mittelfeldspieler Alexis García. »Er hatte eine Vorahnung.«