Das Spiel ist aus - Jean-Paul Sartre - E-Book

Das Spiel ist aus E-Book

Jean-Paul Sartre

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Beschreibung

Pierre, der Revolutionär, und Eve, eine Dame der Gesellschaft, sterben zu gleicher Stunde durch Gewalt, begegnen sich in einer Welt der Schatten und verlieben sich leidenschaftlich ineinander: «Ich gäbe meine Seele, wenn ich deinetwillen noch einmal leben dürfte.» Der Wunsch wird Realität und die Uhr des Schicksals zurückgedreht. Aber die Vergangenheit stellt ihre Forderungen …

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Jean-Paul Sartre

Das Spiel ist aus

 

 

Aus dem Französischen von Alfred Dürr

 

Über dieses Buch

Pierre, der Revolutionär, und Eve, eine Dame der Gesellschaft, sterben zu gleicher Stunde durch Gewalt, begegnen sich in einer Welt der Schatten und verlieben sich leidenschaftlich ineinander: «Ich gäbe meine Seele, wenn ich deinetwillen noch einmal leben dürfte.» Der Wunsch wird Realität und die Uhr des Schicksals zurückgedreht. Aber die Vergangenheit stellt ihre Forderungen …

Vita

Geboren am 21.6.1905, wuchs er nach dem frühen Tod seines Vaters im Jahre 1906 bis zur Wiederheirat seiner Mutter im Jahre 1917 bei seinen Großeltern Schweitzer in Paris auf. 1929, vor seiner Agrégation in Philosophie, lernte er seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir kennen, mit der er eine unkonventionelle Bindung einging, die für viele zu einem emanzipatorischen Vorbild wurde. 1931–1937 war er Gymnasiallehrer in Philosophie in Le Havre und Laon und 1937-1944 in Paris. 1933 Stipendiat des Institut français in Berlin, wo er sich mit der Philosophie Husserls auseinandersetzte.

Am 2.9.1939 wurde er eingezogen und geriet 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft, aus der er 1941 mit gefälschten Entlassungspapieren entkam. Noch 1943 wurde unter deutscher Besatzung sein erstes Theaterstück «Die Fliegen» aufgeführt; im selben Jahr erschien sein philosophisches Hauptwerk «Das Sein und das Nichts». Unmittelbar nach dem Krieg wurde Sartres Philosophie unter dem journalistischen Schlagwort «Existenzialismus» zu einem modischen Bezugspunkt der Revolte gegen bürgerliche Lebensformen. 1964 lehnte er die Annahme des Nobelpreises ab. Zahlreiche Reisen führten ihn in die USA, die UdSSR, nach China, Haiti, Kuba, Brasilien, Nordafrika, Schwarzafrika, Israel, Japan und in fast alle Länder Europas. Er traf sich mit Roosevelt, Chruschtschow, Mao Tse-tung, Castro, Che Guevara, Tito, Kubitschek, Nasser, Eschkol. Sartre starb am 15.4.1980 in Paris.

 

Auszeichnungen: Prix du roman populiste für «Le mur» (1940); Nobelpreis für Literatur (1964, abgelehnt); Ehrendoktor der Universität Jerusalem (1976).

Impressum

Die französische Originalausgabe erschien 1947 unter dem Titel «Les jeux sont faits» bei Éditions Nagel, Paris.

Deutsche Übersetzung von Alfred Dürr.

Durchgesehen und bearbeitet von Uli Aumüller.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2023

Alle deutschen Rechte beim Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung anyway, Hamburg,

nach einem Entwurf Werner Rebhuhn

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01883-9

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Das Spiel ist aus

Èves Zimmer

Ein Zimmer mit halbgeschlossenen Fensterläden, durch die nur ein Lichtbündel dringt.

Ein Strahl fällt auf eine Frauenhand, die mit verkrampften Fingern über eine Pelzdecke fährt. Das Licht läßt einen goldenen Ehering aufglänzen, gleitet den Arm hinauf und beleuchtet Ève Charliers Gesicht … Ihre Augen sind geschlossen, die Nase ist spitz, sie scheint Schmerzen zu haben, sie wirft sich hin und her und stöhnt.

Eine Tür geht auf, und auf der Schwelle steht ein Mann. Er ist elegant gekleidet, sehr braun, mit schönen dunklen Augen, einem Menjou-Bärtchen, er ist etwa fünfunddreißig Jahre alt. Es ist André Charlier.

Er mustert seine Frau gespannt, aber es liegt nichts Zärtliches in seinem Blick, nur kühle Aufmerksamkeit.

Er tritt ein, schließt geräuschlos hinter sich die Tür, schleicht auf Zehenspitzen durchs Zimmer und nähert sich Ève, die ihn nicht hat kommen hören.

Sie liegt auf ihrem Bett, über dem Nachthemd trägt sie einen sehr eleganten Morgenrock. Eine Pelzdecke ist über ihre Beine gebreitet.

Einen Augenblick betrachtet André Charlier seine Frau, deren Gesicht einen leidenden Ausdruck hat, dann beugt er sich herab und ruft leise:

«Ève … Ève …»

Ève macht die Augen nicht auf. Mit krampfhaft verzogenem Gesicht ist sie eingeschlafen.

André richtet sich wieder auf, wendet den Blick zu dem Tischchen am Kopfende des Bettes, auf dem ein Glas mit Wasser steht. Er zieht ein kleines Tropffläschchen aus der Tasche, hält es über das Glas und träufelt langsam ein paar Tropfen hinein.

Aber als Ève den Kopf bewegt, steckt er das Fläschchen schleunigst wieder in die Tasche und sieht seine schlafende Frau mit einem durchdringenden und kalten Blick an.

Der Salon der Charliers

Im Salon nebenan steht ein junges Mädchen an das weit geöffnete Fenster gelehnt und blickt auf die Straße hinunter. Von dort schallt das sich nähernde rhythmische Geräusch einer marschierenden Truppe herauf.

André Charlier tritt ins Zimmer und schließt hinter sich die Tür. Er hat jetzt eine besorgte Miene aufgesetzt.

Beim Geräusch der Tür hat sich das Mädchen umgedreht. Sie ist hübsch und jung – siebzehn etwa –, und obwohl ernst und gespannt, hat ihr kleines Gesicht noch etwas Kindliches.

Draußen setzt, im Takt der Stiefel, die auf das Pflaster hämmern, ein rauhes, zackiges Marschlied ein.

Hastig schließt das Mädchen das Fenster; man sieht ihr an, daß sie nur mit Mühe ihre Nervosität beherrscht, und während sie sich umdreht, sagt sie gereizt:

«Seit dem frühen Morgen marschieren sie ohne Pause!»

Scheinbar ohne sie zu sehen, macht André ein paar Schritte und bleibt mit tiefbekümmerter Miene neben einem Sofa stehen. Das junge Mädchen geht zu ihm hinüber, sieht ihn ängstlich fragend an.

Er hebt den Kopf, wirft ihr einen Blick zu, sagt mit einer fatalistischen Mundbewegung:

«Sie schläft …»

«Glauben Sie, daß sie gesund wird?»

André antwortet nicht.

Erregt setzt das Mädchen das eine Knie auf das Sofa und schüttelt André am Arm. Sie ist den Tränen nahe, und plötzlich bricht sie aus:

«Sie sollen mich nicht wie ein kleines Mädchen behandeln. Antworten Sie doch!»

André blickt auf seine junge Schwägerin, streichelt ihr sanft über die Haare, murmelt dann mit aller brüderlichen Liebe und verhaltenen Trauer, die er in seine Stimme zu legen vermag:

«Sie werden Ihren ganzen Mut brauchen, Lucette.»

Lucette bricht in Schluchzen aus und legt ihren Kopf an die Sofalehne. Ihre Verzweiflung ist echt und tief, aber sehr kindlich und sehr egoistisch; sie ist im Grunde nichts als ein verwöhntes Kind … André flüstert leise:

«Lucette …»

Sie schüttelt den Kopf:

«Lassen Sie mich … Lassen Sie mich … Ich will nicht mutig sein. Es ist einfach eine Gemeinheit! Was soll denn aus mir werden ohne sie? …»

Weiter die Haare, dann die Schultern des jungen Mädchens streichelnd, sagt André drängend:

«Lucette! Beruhigen Sie sich doch … ich bitte Sie …»

Sie macht sich los, sinkt langsam aufs Sofa, den Kopf zwischen den Händen, den Ellbogen auf den Knien, und stöhnt:

«Ich kann nicht mehr! Ich kann nicht mehr!»

André geht um das Sofa herum. Da er sich nicht mehr beobachtet fühlt, hat sein Gesicht wieder den harten Ausdruck angenommen, und er sieht das junge Mädchen scharf an, das fortfährt: «Den einen Tag hofft man, und am nächsten schwindet alle Hoffnung wieder! Das ist zum Verrücktwerden. Wissen Sie überhaupt, was sie mir bedeutet?»

Sie wendet sich heftig André zu, dessen Gesicht sofort wieder einen mitfühlenden Ausdruck annimmt.

«Sie bedeutet mir viel mehr als eine Schwester, André …» fährt sie unter Tränen fort. «Sie ist auch meine Mutter und meine beste Freundin … Das können Sie nicht verstehen, niemand kann das verstehen!»

André setzt sich neben sie.

«Lucette!» flüstert er mit einem leisen Ton des Vorwurfs. «Sie ist meine Frau …»

Sie sieht ihn verwirrt an, reicht ihm die Hand.

«Natürlich, André, verzeihen Sie mir … Aber wissen Sie, ich werde mir so allein vorkommen auf der Welt, ohne sie …»

«Und ich, Lucette?»

André zieht das junge Mädchen an sich. Sie überläßt sich ihm voll Vertrauen und Reinheit und legt ihren Kopf an Andrés Schulter, der scheinheilig fortfährt:

«Ich will nicht, daß Sie denken: ‹Ich bin allein›, solange ich in Ihrer Nähebin. Wir werden uns nie verlassen. Ich weiß bestimmt, daß das auch Èves Wille ist. Wir wollen miteinander leben, Lucette.» Beruhigt hat Lucette die Augen geschlossen und zieht die Tränen durch die Nase hoch wie ein Kind.

Die Straße der Verschwörer

Eine Abteilung Milizsoldaten des Regenten biegt in eine sehr belebte Straße ein. Die Gesichter stecken unter einer flachen Mütze mit kurzem Schirm, die Oberkörper in strammer Haltung in einem dunklen Hemd mit glänzendem Sturmriemen, die Maschinenwaffen hängen über der Schulter, und die Stiefel der Männer hämmern schwer aufs Pflaster.

Plötzlich erklingt das Marschlied der marschierenden Truppe. Leute drehen sich um, andere ändern ihre Richtung, verschwinden in den Häusern.

Eine Frau mit einem Kinderwagen macht langsam und ganz ruhig kehrt und verschwindet inmitten der auseinanderströmenden Passanten.

Die Abteilung marschiert immer weiter, einige Meter vor ihr zwei Milizsoldaten mit Helmen, die Maschinenpistole unter dem Arm … Und in dem Maße, wie die Truppe vorwärts schreitet, leert sich die Straße, ohne Übereilung, aber als deutlicher Ausdruck einer feindseligen Haltung. Eine Gruppe Frauen und Männer, die vor der Tür eines Krämerladens steht, läuft ohne Hast auseinander, als ob sie einem stillschweigenden Befehl gehorchte. Einige gehen in die Geschäfte, andere in Hauseingänge.

Ein Stück weiter verlassen Hausfrauen die Gemüsewagen, um die sie herumstehen, und zerstreuen sich, während ein Gassenjunge mit den Händen in den Taschen betont langsam über die Straße schlendert, fast in die Beine der Milizsoldaten hinein …

Zwei junge, untersetzte Männer, die an der Tür eines armseligen Hauses lehnen, betrachten die vorübergehende Truppe mit einem ironischen Lächeln.

Sie haben die rechte Hand in der Rocktasche.

Das Zimmer der Verschwörer

Ein verqualmter, armselig möblierter Raum.

Von beiden Seiten des Fensters aus sehen vier Männer auf die Straße hinab und achten sorgfältig darauf, daß sie von draußen nicht gesehen werden.

Da ist Langlois: groß, knochig, glattrasiert; Dixonne,mager und nervös, mit einem kleinen Kinnbärtchen; Poulain mit einer Nickelbrille und weißen Haaren und schließlich Renaudel, ein großer, mächtiger Kerl mit rotem, freundlichem Gesicht.

Sie kommen in die Mitte des Zimmers, wo ihr Kamerad Pierre Dumaine friedlich rauchend beide Ellbogen auf den runden Tisch stützt, auf dem fünf Gläser und eine Flasche stehen.

Dixonnes mageres Gesicht drückt Unruhe aus. Er fragt Pierre:

«Hast du gesehen?»

Pierre nimmt ruhig sein Glas, trinkt, fragt dann zurück:

«Was soll ich gesehen haben?»

Kurzes Schweigen. Poulain setzt sich, Renaudel zündet sich eine Zigarette an, Dixonne wirft einen Blick zum Fenster.

«So geht das nun schon den ganzen Tag», sagt er. «Die ahnen doch was.»

Pierre bewahrt seine ungerührte und störrische Haltung. Er setzt in aller Ruhe sein Glas ab und antwortet:

«Vielleicht. Aber sicher nicht das, was ihnen morgen blüht.»

Poulain beginnt zögernd:

«Wäre es nicht besser? …»

Pierre wendet sich heftig zu ihm und sagt hart:

«Was?»

«Zu warten …»

Und auf Pierres unwillige Bewegung hin fällt Renaudel hastig ein:

«Nur drei Tage. Gerade so lange, um sie in Sicherheit zu wiegen.»

Pierre sieht ihm voll ins Gesicht und fragt schneidend:

«Hast du die Hosen voll?»

Renaudel fährt auf und protestiert mit hochrotem Gesicht:

«Pierre!»

«Einen Aufstand kann man nicht verschieben», erklärt Pierre mit Bestimmtheit. «Alles ist vorbereitet. Die Waffen sind ausgegeben. Die Jungs stehen in höchster Alarmbereitschaft. Wenn wir warten, verlieren wir womöglich die Gewalt über sie.»

Renaudel und Dixonne haben sich schweigend gesetzt.

Pierres harter Blick fällt der Reihe nach auf die vier Gesichter ihm gegenüber. Er fragt mit scharfer Stimme:

«Ist einer unter euch anderer Meinung?»

Und da sich kein Widerspruch mehr erhebt, fährt er fort:

«Gut. Es geht also morgen früh zehn Uhr los. Morgen abend werden wir im Zimmer des Regenten schlafen. Jetzt hört mal her …»

Die vier Gesichter nähern sich einander ernst und gespannt, während Pierre ein Stück Papier aus der Tasche zieht und es auf dem Tisch ausbreitet.

«… Der Aufstand beginnt an sechs verschiedenen Punkten …»

Èves Zimmer

Ève liegt immer noch mit geschlossenen Lidern da. Auf einmal wendet sie den Kopf und reißt die Augen weit auf. Ihr Blick ist verstört, als ob sie aus einem Alptraum erwacht sei. Dann wirft sie plötzlich den Kopf herum und schreit:

«Lucette!»

Langsam kommt Ève zu sich, aber in ihr brennt ein Feuer, das sie verzehrt.

Mühsam und unter Schmerzen richtet sie sich auf, schlägt die Decke zurück und setzt sich auf den Bettrand. Es schwindelt ihr. Dann streckt sie die Hand aus und ergreift das Glas Wasser auf dem Nachttischchen … Sie leert es in einem Zug und verzieht das Gesicht. Dann ruft sie noch einmal, aber mit schwächerer Stimme:

«Lucette! Lucette!»

Die Straße der Verschwörer

Ein etwa achtzehnjähriger junger Mann, der bleich, nervös und heimtückisch aussieht, ruft:

«Pierre!»

Dieser ist soeben aus dem armseligen Haus getreten, in dem die Besprechung der Verschwörer stattgefunden hat. Als er seinen Namen hört, sieht er sich nach dem Rufer um, dreht aber bei dessen Anblick den Kopf weg und wendet sich an die beiden Posten vor der Tür:

«Die andern kommen gleich. Ihr könnt abziehen. Treffpunkt hier um sechs Uhr abends. Was Besonderes?»

«Nichts», sagt der eine der beiden Burschen. «Nur der kleine Spitzel da wollte rein.»

Mit einer Kopfbewegung weist er auf den jungen Mann, der auf der andern Straßenseite neben seinem Fahrrad steht und sie beobachtet.

Pierre sieht ihn kurz an und sagt achselzuckend:

«Lucien? Pöh!»

Rasch gehen die drei Männer auseinander. Während die beiden Wachposten sich entfernen, geht Pierre auf sein angekettetes Fahrrad zu, beugt sich herab, um die Kette loszumachen. Währenddessen kommt Lucien über die Straße, tritt neben ihn und ruft ihn an:

«Pierre …»

Dieser richtet sich nicht einmal auf. Er nimmt die Kette ab, macht sie unter dem Sattel fest.

«Pierre», fleht der andere, «so hör doch!»

Gleichzeitig geht er um das Fahrrad herum und stellt sich neben Pierre. Der richtet sich auf und sieht Lucien wortlos und verächtlich an.

«Ich kann doch nichts dafür …» stöhnt Lucien.

Mit einer kurzen Handbewegung drückt ihn Pierre beiseite und schiebt sein Rad an. Lucien geht neben ihm her und stammelt:

«Sie haben mich so gequält, Pierre … Stundenlang haben sie mich geschlagen, und ich hab doch fast nichts gesagt …»

Ruhig geht Pierre auf die Fahrbahn und schwingt sich aufs Rad. Lucien stellt sich ihm in den Weg und legt eine Hand auf die Lenkstange. Auf seinem Gesicht liegt eine Mischung aus Wut und Angst. Erregt sagt er:

«Ihr seid zu hart! Schließlich bin ich erst achtzehn … Wenn ihr mich fallenlaßt, muß ich mich mein Leben lang für einen Verräter halten. Pierre! Sie haben mir vorgeschlagen, für sie zu arbeiten …»

Jetzt sieht Pierre ihm voll ins Gesicht. Lucien wird zappelig; er umklammert die Lenkstange. Er schreit fast:

«Aber so sag doch was! Du machst es dir auch leicht: Du hast das nicht mitgemacht! Du hast gar kein Recht … Nein, du kommst mir nicht weg ohne eine Antwort … Du kommst mir nicht weg!»

Da zischt Pierre mit abgrundtiefer Verachtung durch die Zähne:

«Schmutziger Denunziant!»

Und während er ihm voll ins Gesicht sieht, haut er ihm mit voller Wucht ein paar herunter.

Lucien taumelt keuchend zurück, während Pierre gemächlich in die Pedale tritt und losfährt. Befriedigtes Lachen ertönt: Renaudel, Poulain, Dixonne und Langlois, die eben aus dem Gebäude getreten sind, haben die Szene miterlebt.

Lucien wirft ihnen einen kurzen Blick zu, bleibt einen Augenblick unbeweglich stehen, geht dann langsam davon, Tränen des Hasses und der Scham in den Augen.

Èves Zimmer und der Salon

Èves Hand ruht auf dem Tischchen neben dem leeren Glas. Sie richtet sich mit ungeheurer Mühe auf, schaudert unter einem plötzlichen Anfall von Schmerzen zusammen.

Dann schleppt sie sich schwankenden Schrittes bis zur Salontür, öffnet sie und bleibt regungslos stehen.

Auf dem Sofa im Salon sieht sie Lucette mit dem Kopf an Andrés Schulter. Es dauert ein paar Sekunden, bis das Mädchen seine Schwester bemerkt.

Ève ruft mit dumpfer Stimme:

«André …»

Lucette macht sich von ihrem Schwager los und läuft auf Ève zu. Auch André erhebt sich, nur wenig verlegen, und nähert sich mit ruhigen Schritten.

«Ève!» sagt das Mädchen vorwurfsvoll. «Du sollst doch nicht aufstehen.»

«Bleib hier, Lucette», sagt Ève einfach. «Ich möchte André allein sprechen.»

Dann dreht sie sich um und geht in ihr Zimmer zurück. André nähert sich der bestürzten Lucette, fordert sie mit einer sanften Geste auf, sich zu entfernen, und geht in Èves Zimmer.

Er tritt neben seine Frau, die sich auf das Tischchen am Bett stützt.

«André!» keucht sie. «Rühr mir Lucette nicht an …»

Leichtes Erstaunen spielend, tritt André zwei Schritte vor.

Ève sammelt all ihre Kräfte, um zu sprechen.

«Laß doch. Ich weiß … Seit Monaten sehe ich dir zu … Das dauert nun schon, solange ich krank bin … Rühr mir Lucette nicht an!»

Das Sprechen fällt ihr immer schwerer. Sie wird schwach, André beobachtet sie ungerührt.

«Du hast mich wegen meiner Mitgift geheiratet, und du hast mir das Leben zur Hölle gemacht. Ich habe mich nie beklagt, aber ich dulde nicht, daß du meine Schwester anrührst.»

André beobachtet sie immer noch ungerührt. Ève hält sich nur mit Mühe aufrecht und fährt mit einer gewissen Heftigkeit fort:

«Du hast meine Krankheit ausgenützt, aber ich werde wieder gesund … Ich werde wieder gesund, André. Ich werde sie gegen dich verteidigen.»

Mit ihren Kräften am Ende läßt sie sich aufs Bett fallen und gibt so den Blick auf das Tischchen frei.

Kreidebleich starrt André jetzt das leere Glas auf dem Tisch an. Sein Gesicht entspannt sich. Noch einmal ist Èves Stimme zu hören, aber nur noch ganz schwach:

«Ich werde wieder gesund, und ich nehme sie mit, weit weg von hier … weit weg …»

Eine Vorstadtstraße

Halb versteckt hinter einem Mauervorsprung lauert Lucien im Hinterhalt. Aschfahl im Gesicht, von Schweiß glänzend, einen bösen Zug um den Mund, der den Haß verbeißt: so liegt er auf der Lauer. Seine Hand steckt in der Rocktasche.

Weiter unten, etwa hundertfünfzig Meter entfernt, erscheint Pierre über sein Fahrrad gebeugt. Er fährt allein durch diese eintönige, traurige, von Baustellen umgebene Vorstadtstraße. In der Ferne arbeiten Männer, schieben Kipploren, entladen Lastwagen. Pierre kommt immer näher, zwischen Fabriken und hohen, rauchenden Schornsteinen. Luciens Gesicht wird immer gespannter, er setzt zu einer Bewegung an, während er kurze, unruhige Blicke um sich wirft.

Langsam zieht er einen Revolver aus der Tasche.

Èves Zimmer

Man hört noch Èves Stimme mit einem letzten Rest von Heftigkeit.

«Ich werde wieder gesund … André, ich werde wieder gesund … um sie zu retten … ich will gesund werden.»

Ihre Hand gleitet über den Tisch, versucht, einen Halt zu finden, fällt endlich herunter, wobei sie das Glas und die Karaffe mitreißt.