Das sprichwörtliche Leben - Jan Turovski - E-Book

Das sprichwörtliche Leben E-Book

Jan Turovski

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Beschreibung

Fritz Kohnen, einer der letzten Schrankenwärter der Deutschen Bahn, nun im Alter unter Parkinson leidend, muss vom Fenster seiner Wohnung aus mit ansehen, wie sein Bahnwärterhaus einschließlich der Handkurbeln, die er über vierzig Jahre lang betätigte, abgerissen wird. Es soll durch eine moderne, automatische Anlage ersetzt werden. Fritz Kohnen fühlt sich bedroht. Seine Alltagsroutine wird zunehmend unalltäglich. Selbst banalste Abläufe werden für ihn und seine Frau Elfriede zu hohen Hürden. Die Erinnerungen gewinnen Raum und Zeit. Eine ihr verheimlichte Liebesbeziehung während des Krieges tritt zutage. Deren Folgen entdeckt man nur einige Zeit später im Sockel des Bahnwärter-Häuschens, mumifiziert ...

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Seitenzahl: 211

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das sprichwörtliche Leben

ist ein Roman, eine erfundene Geschichte.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre daher rein zufällig.

Jan Turovski

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

1

Seine Augen verfolgten den Bautrupp ungläubig. Er saß schon länger unbeweglich, vorgebeugt, den rechten Arm auf der gewölbten Holzfensterbank. Ein Riss ging über die ganze Länge. Sonne schnitt diagonal Licht und Schatten in die Fläche. Seine Hände zitterten merkwürdig nach innen. Unter quellenden Augen bewegte sich Wasser in faltigen Tränensäcken. Kohnens Körper war zum klaren Gegner geworden.

Das Gemäuer der Burgschule ging in ihm um. Umkreiste, umstellte ihn. Und mulmig-breiiger Schwindel vermengte die Bilder. Der Bautrupp da draußen, hässliche Ziegel des Schulgebäudes oben an der Burg in altgewordenem Rot, sein Arm ohne jede Kraft, die fast gespaltene Fensterbank. Die Stirnseite des Rektorats zuckte schwärzlich-grau in seiner Erinnerung. Aus den Fugen rannen Sand und Mörtel. Er konnte die Lider kaum noch offen halten. Die Erinnerung quälte sich abwärts und wendete. Steine kamen wieder, die Fugen, rissige Ränder, schwarze Narben. Er hätte am liebsten die riesigen Ziegelmauern nachträglich verputzt, die in ihm waren, diese Wände, die Sockel, oder wenigstens alles eingerissen; Kohnen bemerkte seine schuppigen aufgerauten Hände, darin das Putzbrett, sah sie mit kreisenden Bewegungen jede erdenkliche Fläche zuschmieren. Aber da war nur diese kleinliche Straße mit dem zerrütteten Asphalt vor ihm, völlig unverändert seit Jahren. Die engen, schütteren Geschäfte gegenüber, der spanische Laden, zwei konkurrierende Änderungsschneidereien, in deren Fenstern müdes Neon, manchmal sogar am Tag, die immer gleichen Stoffe und Kunstblumen beleuchtete. Der Friseur stand im schlaffen, kurzen Kittel in der Tür, den rechten Ellenbogen am Alu-Rahmen, den linken Fuß übergeschlagen. Hinter ihm diese gelbgeworde-nen Vorhänge mit grobem Raster und eingewebten bräunlichen Blumen, stark verschossene Preisschilder, vergessene Spraydosen, tote Fliegen. Das Obst lagerte in faserigen Kisten beim türkischen Nachbarn, der nur bei seinem Fladenbrot größere Umsätze machte und zwischendurch im Türkischen Kulturklub verschwand. Einem ansonsten nicht vermietbaren Ladenlokal an der Durchgangsstraße, in dem jederzeit müßige, qualmende Männer die Welt besprachen. Meistens jedoch scheuchte er Frau und Tochter. Die Scheibe des Lampengeschäftes wurde lustlos geputzt. Vor Kohnen versuchten sich Nachbarskinder auf der Fahrbahn an einem Springseil.

Die Schranke war unten und die Autos warteten wie kaltgestellt. Nur wenige beachteten das Schild Bitte den Motor abstellen!

Willst du einen Kaffee, Fritz?

Bei solchen einfachen Fragen konnte Fritz Kohnen zunächst seinen ganzen Menschen nicht koordinieren. Das war die Krankheit. Es war ihm immer peinlich. Er dachte als erstes: meine Hände. Sie können nicht. Sie machen was sie wollen. Früher haben sie nur gemacht was ich wollte.

Dabei hätte er nur Ja oder Nein zu sagen brauchen. Aber eben das konnte er nicht auf Anhieb. Fritz Kohnen hatte vornehmlich durch seine Hände gelebt. Sie waren das zentrale Orakel seines Lebens geblieben. Darüber dachte er natürlich nicht nach. Er wusste nur: früher konnten sie fast alles, jetzt fast nichts. Nun fiel ihm wieder ein, dass Elfriede ihm ja unter allen Umständen helfen würde. Immer aber war da ein Gefühl von Schuld. Denn ohne Elfriede ... Das Wort Engel wollte er nicht aussprechen.

Die Ziegel blassten nach, das Bild der Burgschule sackte, der Friseur wischte weg, die Olivenflaschen, drüben beim Spanier, hatten keinen Glanz mehr, Autos verschwammen, Abgase wölkten. Der griechische Änderungsschneider verließ seinen Laden. Das Lampengeschäft wirkte wie ein beleuchteter Friedhof.

Gern, sagte er, Kaffee, danke. Er sprach langsam.

Kohnen sah starr geradeaus. Beobachtete skeptisch die drei Männer, die den grauen Pressluftbohrer abluden, den Schubkarren, Hacken, Schaufeln und zwei Besen brachten. Sie gingen immer wieder aus seinem Blickfeld, was ihn nervös machte, denn so schnell konnten seine Augen ihnen nicht folgen. Früher wäre er einfach über die Straße gegangen, hätte gesagt: 'Na, was läuft denn hier so, Leute, lasst doch mal hören!' Aber früher hätte er sowieso über alles Bescheid gewusst, denn ohne ihn war diese Straße gar nicht denkbar. Nur dieses Früher war schon lange vorbei. Er konnte jetzt, schräg hinter den Schranken, nur noch abgerissene Bewegungen erkennen. Das Schrankenwärterhäuschen ließ nur diese Teilbilder zu. Sie hatten es mit Material halb zugestellt. Früher hatte es im Zentrum seiner Überlegungen gestanden. Er fühlte sich persönlich getroffen von dieser Verweigerung. Langsam rann ein Speichelfaden aus seinem rechten Mundwinkel. Ein Tropfen in Zeitlupe. Er fiel.

Kommst du an den Tisch?

Es dauerte eine geraume Zeit. Er drehte sich halb um, versuchte zu lächeln. Seine Hände gingen weg wie gallertartige Massen. Und immer glaubte er, dass Teile von ihm am alten Platz zurückbleiben würden. Einen verhaltenen Moment stand Kohnen ganz starr, gebeugt, fixierte einen vagen Punkt draußen im Garten, der hinter dem Küchenfenster lag.

Ich muss hier bleiben, sagte er bedächtig. Eh ... da sind Männer! Ein Bautrupp. Ich verstehe das nicht!

Und er drehte sich wieder, wobei die Arme steif mitgingen, fand mühsam den Stuhl, ließ sich herunter. Fritz Kohnen war unruhig. Unruhiger als sonst. Sein Blick ging fahrig durch die verzerrende Scheibe. Seine Frau stellte ihm die Tasse hin. Sie schaukelte auf der verzogenen Fensterbank.

Du kommst doch immer an den Tisch! Ich meine, ... sonst.

Vorsichtig ließ sie ihn trinken und schaute gespannt über seine Schulter nach draußen. Immer empfand Kohnen Erniedrigung und Trauer darüber, dass er nicht imstande war, die Tasse selber ruhig zu halten. Denn er war ein Kerl gewesen.

Sie werden etwas reparieren, sagte Elfriede. Wie so oft!

Nein, nein ...

Seine Unruhe wuchs. Dabei schien er verirrt in Starrheit und Umtriebigkeit, die indessen nur schwach zu spüren waren.

Letzte Woche haben sie ja schon diese ... diese große ... rote Ampel angebracht. Wozu, rief er. Was wollen die?

Elfriede hielt die Tasse wieder hin, schaute hilflos an ihm vorbei. Sie ahnte, um was es ging. Sie hatte da letzte Woche etwas in der Zeitung gelesen und die ganze Seite verschwinden lassen. Das würde noch ein Drama geben. Sie sah Fritz' mächtigen Nacken, dieses braungrüne Karo des Flanellhemdes, das am Kragenumschlag zu schleißen begann. Die breiten, mehrfarbigen Hosenträger, die er sein Leben lang trug, hatten tiefe Buchten in die ehemals mächtigen Schultern gedrückt.

Sie ging zurück zum Herd und stellte die Platte ab, die immer zum Warmhalten auf der roten Eins mit dem Punkt blieb. Durch den Herd ging ein Zittern, als ob er fröre. Die Erschütterungen der Züge waren mit der Zeit zu natürlichen Pulsschlägen geworden, als sei das Haus ein Körper für sich, zu dem sie gehörten. Wenn Fritz Kohnen sich besonders schlecht fühlte war es ihm, als fröre dieses kleine Haus, in dem sie seit fünfzig Jahren lebten, zitternd an der Bahnlinie fest, wo es dann geduckt und vertäut mit dem Bahnkörper eine wahre Schicksalsgemeinschaft eingegangen war.

Kohnen hatte eine Gänsehaut. Jetzt, da diese Männer da waren, fror er auch zwischen den Zügen. Seine Muskeln schmerzten und zogen sich ohne Aufforderung zusammen. Das Haus gehörte der Bahn. Sie hatten jedoch lebenslanges Wohnrecht. Die einstöckige, relative Enge war ihnen vertraut. Der kleine, wie ein schmales, längliches Dreieck geschnittene Garten, zwischen der Hauswand des Nachbarn und den Gleisen, warf Gemüse und Kartoffeln ab. Da betätigte sich Elfriede. Er, Fritz Kohnen, konnte es nicht mehr.

Sieh mal, sagte Elfriede, das ist immerhin ein gefährlicher Übergang. Seit den letzten Jahren schon. Die Ampel ist eine zusätzliche Sicherheit. So sehe ich das. Du weißt doch, ...was hier los ist!

Nein, nein, beharrte er. Da … ist was anderes!

Sie verstand seine Unruhe nicht. Sie kam, wie ihr Mann, aus einer einfachen Familie, jedoch mit dem Unterschied, dass man bei ihr zu Hause die Dinge mit Würde hatte auf sich zukommen lassen.

Komm, sagte sie, komm Fritz, lass den Übergang! Da hast du ja nun wirklich genug Zeit zugebracht.

Jetzt nickte sein Kopf unablässig, was der Arzt als Ja-Tremor bezeichnet hatte. Damit hatte sie ihre Schwierigkeiten gehabt, weil Fritz ja eher stets der Nein-Typ gewesen war.

Nein, sagte er, ich kann hier ... nicht weg.

Elfriede goss nach. Der Kaffee zeigte ölige, kreisende Ornamente. Kohnen saß still. Sie strich ihm übers Haar, das sie morgens nur schwer mit Wasser bändigte. Gelbgraue Strähnen hoben immer wieder ab. Er zeigte deprimiert auf die Tasse, und sie ließ ihn trinken. Danach zog sie sich zurück in die Tiefe des flachen Raumes und nahm das Bügelbrett. Sie seufzte. Kommt Zeit, kommt Rat, dachte sie bei sich, und wusste doch, dass es aus dieser Krankheit keinen Ausweg mehr geben würde. Nie mehr.

Fritz Kohnen starrte steif hinaus. Über vierzig Jahre hatte er da drüben die Schranken heruntergelassen und wieder hochgedreht. Vierzig Jahre rauf und runter. All diese Verantwortung. Er spürte, dass da etwas Größeres im Gange war. Er fürchtete sich sogar. Vierzig unendliche Jahre Dienst an der Schranke und niemand sagte ihm etwas. Als habe er nie existiert.

Typisch, sagte er leise.

Und dann sagte er nichts mehr, bis die Männer ihre Baustelle abriegelten und zwei gelbe, grelle Blinklichter für die Nacht aufstellten. Das tote Auge der neuen, roten Ampel zeigte schon ohne Licht diese drängenden, drohenden konzentrischen Kreise.

2

Wer A sagt, der muss auch B sagen! Fritz Kohnens Vater hatte immer laut gesprochen, während er etwas tat. So, als müsse er erklären, was man ohnehin sah und als wollte er mitteilen, warum er es tat. Sprach sogar, wenn er allein war. Er hatte diesen Satz oft zu Fritz gesagt und betont: Wir Eisenbahner sind ja durchweg rechtschaffene, gerade Menschen, die sich nichts schenken lassen. Ja, zu seiner Arbeit muss man sich bekennen! Kohnen sah den Freizeit- Hobel im Garten auftauchen und helle zuversichtliche Späne ins Gras fallen. Wehmut erfasste ihn kurz. Er vermisste den kantigen Mann.

Er hatte oft an die Kirche gedacht, weil das Wort bekennen ein übermächtiges Sich-Ausliefern mit einschloss, und er sich in dem kühlen dunklen Kirchenraum wie ein Wurm vorgekommen war. Gebote über ihm, wie tief dröhnende Schritte. Das Leben bestand neben der Arbeit aus Kirchenund Familienfesten. Kohnen aber hatte Kraft zu Taten in sich gefühlt. Später, während der vierzig Jahre Dienst, hatte er mehr und mehr am Posten 49 gehangen und sich nicht mehr von da wegdenken können. Hatte ihn verteidigt und ihn schließlich für so etwas wie eine uneinnehmbare Festung gehalten. Muskulöse Oberarme, an einem gedrungenen Körper, hatten die Schwengel bewegt und rechtschaffene Unerschütterlichkeit erzeugt, die sich über Gleise und Haus legte, wo Elfriede wirkte. Er war stadtbekannt. Jetzt und in den vergangenen Jahren seiner Krankheit hatte er zunehmend am Fenster gesessen, mit seinem starren, ausdruckslosen Gesicht, den Blick auf den Asphalt gerichtet. Seine Hände zitterten merkwürdig nach innen, als sammelten sie etwas nicht Vorhandenes ein. Sogar Schleifspuren seiner Fingernägel waren rechts auf der gebogenen Fensterbank im Mattlack zu sehen. Sein Kopf schien unablässig Ja zu sagen. Nur wenn Kohnen hinter sich El-friede mit den gewohnten Verrichtungen hörte und draußen gar nichts Ungewöhnliches geschah, schien er in einer bestimmten Stellung einzufrieren. Er saß dort wie angewachsen, die Augen in der Scheibe, im Fenstereck mit dem niedrigen Ausblick, beinahe fest installiert. Hitzeschübe wollten ständig von innen nach außen, agierten in ihm ohne Ankündigung. Selbst das nahm er nur verlangsamt wahr. Wenn er etwas sagte, fielen die Worte aneinandergereiht in skurriler Monotonie.

Bescheidenheit ist eine Zier, hörte er den Vater sagen. Alles, was er gesagt hatte, könnte jedoch heute gegen ihn, Fritz Kohnen, sprechen und verwendet werden. Denn er fühlte sich schuldig. Nachhaltig und unausrottbar, über Jahre hinweg. Jetzt und heute stach dieses Gefühl besonders heftig zu. Er konnte es nicht erklären. Sein Kopf war wie abgesperrt.

.... doch weiter kommt man ohne ihr, hatte Kohnen in jenen ersten Jahren, während und nach der Ausbildung, stets geantwortet, als er mit siebzehneinhalb die ungeliebte Schreinerlehre beim alten Bollig beendet hatte. Schließlich hatte er diesen Nebensatz später nicht mehr vollendet, weil sein Vater daraufhin jedes Mal in eisiges Schweigen verfallen war. Drüben ging die Frau des Friseurs vorüber.

Dummheit und Stolz, sagte Elfriede beiläufig. Da, bei denen, geht jeder seine eigenen Wege. Seltsam! Er soll zusätzlich einen Freund haben. Du weißt schon ...

Aber Kohnen reagierte nicht. Sonst wäre er bei diesem Thema sofort explodiert und hätte sich mit dem Hintern der Friseuse aufgehalten. Sie ließ die Gardine neben ihm wieder herunter. Eine versteifte Falte blieb hochgestellt liegen, ähnlich einer Tüte.

Kohnen saß vornüber gebeugt. Er hörte noch das Echo seiner eigenen, kurzen, schlurfenden Schritte. Er war von der Toilette gekommen, wo seine Frau ihm schon lange helfen musste. Das Säubern, An- und Ausziehen, das Essen und Trinken, nichts ging mehr ohne sie. Der Gebrauch seiner Hände war über die Jahre immer mehr zum Kunststück geworden. Sie zitterten nach innen gestellt. Nicht einmal seine Hosenträger konnte er an manchen Tagen alleine überstreifen, geschweige denn befestigen. Dabei hatte Elfriede selbst Probleme genug. Herzschwäche quälte sie, und der Zucker. Zwar beherrschte sie ihre Insulin-Spritzen im Schlaf, aber dennoch. Da gab es gewisse Lebensängste. Solche, die sie selbst, andere, die Fritz betrafen. Sein eventuelles Überleben. Was würde aus ihm werden, ohne sie? Gott sei Dank kamen ihre Kinder regelmäßig vorbei, halfen bei diesem und jenem. Das konnte ja nicht jeder sagen.

Sie stellte das Radio an. Leise, denn sonst würde er die Hände abwehrend erheben. Hörte stets Zwischen Rhein und Weser, schaltete dann um auf die Heimatmelodie, würde auch noch Der Tag um Fünf zu Ende hören, der später in den Musikexpress überginge. An wärmeren Tagen säßen sie beide draußen zum Abendessen, im kleinen, rechten Winkel des Hauses, aus dem der Garten hervorging, der in überschaubarer Ferne an einem weißen Pfahl spitz zu Ende kam.

Kohnen saß gebeugt. Beinahe vergreist. Fast ohne wirklichen Blick. Drüben, jenseits herabgelassener Schranken, erkannte er den jungen Kollegen hinter der spiegelnden Scheibe, wenn der sich bewegte, wie er den Telefonhörer schwenkte, Züge annahm und durchgab, oder sich seine Füße vertrat. Drohend hockten neben dem Häuschen die abgestellten Bauutensilien. Der riesige Presslufthammer, Hacken, Schaufeln, Sand und die kleine Planierungsmaschine unter der viel zu kurzen Plane. Sie erzeugte blauen Dieseldampf. Der Gestank hielt sich fast den ganzen Tag, denn auch die Presslufthämmer waren schwer erträglich. Das Bahnwärterhäuschen schien beinahe unerschütterlich. Schließlich hatte es den Krieg überstanden. Es war vor Jahrzehnten zuletzt hergerichtet worden. Aber es war bei weitem nicht mehr das gleiche wie früher. Innen hatte er es stets gepflegt. Kohnen sah angestrengt hinaus.

Schon lange waren die Blumenkästen verschwunden, bald nachdem er pensioniert worden war. Die Erde hinter dem Posten 49 wurde nun auch nicht mehr umgegraben, kein Unkraut mehr entfernt. Das alles hatte er, Fritz Kohnen, früher freiwillig gemacht. Hatte sogar in den ganz frühen Jahren, Winter für Winter, an die fünfzig Zentner Briketts im Schuppen eingelagert, den Posten geheizt, Fenster geputzt, und das Häuschen regelmäßig gereinigt. Was wussten denn schon diese jungen Schnösel von Arbeit und Verantwortung? Nie käme sein Nachfolger herüber, um ihn nach etwas zu fragen. Und er hätte ihm so manchen guten Rat geben können.

Heute ... heute ist doch Freitag, Elfriede, Freitag ...?

Ein warmer Nieselregen ging nieder und sprenkelte abstrakte Muster in den Bürgersteig. Montag käme der Bautrupp wieder, so wie es aussah. Oder hatten sie den Posten nur als Zwischenlager benutzt? Für eine andere Baustelle? Inständig hoffte Kohnen, dass nicht noch mehr Neues sein Leben angreifen und verändern würde.

3

Die Volksschule hatte Kohnen mit Mühe erledigt. Denn sein Körper wollte unablässig etwas bewegen. Seine ständig waschende Mutter, die nur an Feiertagen ihre Haare aufmöbelte, hatte ja einem Selbsterziehungs-Prinzip vertrauen müssen. Und so hatte das Leben auch selbst seine Chance bekommen. Bei sechs Kindern, der Wäsche für einige bessere Häuser, blieb einfach keine Zeit. Locken klebten in ihrer Stirn. Ihrem Foto, auf der Schlafzimmer-Kommode, wurde sie immer unähnlicher. Die Kattunschürze, grau, verschlissen, sah aus wie geschunden, so oft rieb sie sich die Hände daran trocken.

Habt ihr Schularbeiten gemacht?

Klar, haben wir. Na gut.

Die Schule war ein Ort des Zwangs, wie die Kirche. Und manchmal rochen sie sogar ganz ähnlich. Schule und Kirche, Orte des Zwangs und der Unterdrückung. Kohnen war klein und wurde oft verprügelt. Kohnen war nicht redegewandt, und so fühlte er sich vom Pfarrer mit Worten und Drohungen niedergemacht, diesen Strafen des Jüngsten Tags bereits im Diesseits ausgeliefert.

Ehrlich währt am längsten, hatte Kohnens Mutter immer gesagt und dieses riesige Waschbrett weggestellt. Ich tue eine ehrliche Arbeit! Der Vater, ein in der Wolle gefärbter Eisenbahner, immer im Dienst, oder werkelnd am Haus und im Garten, sonntags die Kinder kurz auf dem Schoß, kam fast nie aus seiner 'ehrlichen' Müdigkeit heraus. Tja, tue Recht und scheue niemand! Fange mir bloß nie mit diesen Tauben an, wie dein Vater, hatte Elfriede gesagt, nur das nicht!

Fritz atmete schwer. Er war noch schweigsamer als sonst. Seit längerem kapselte er sich mehr und mehr ab, wollte keine Bekannten mehr sehen, verlor die Fühlung mit Dingen des Alltags. Es war, als habe er keinen Hautkontakt mehr mit der übrigen Welt. Elfriede Kohnen sah seine Entwicklung mit Skepsis. Der breite schweigsame Rücken, seine Unruhe, wie eine mühselig erworbene Aura.

Sie werden da einfach etwas reparieren, sagte sie noch einmal.

Große Antriebslosigkeit erfüllte ihn. Jedoch diese Antriebslosigkeit wies über seine Krankheit hinaus, Elfriede sah eine Starrheit, die ihr neu erschien. Bei aller Versteinerung schien er innerlich auf dem Sprung zu liegen. Seine Finger, nach innen gestellt, glichen ängstlich fragenden Organen, schienen Geld zu zählen, wollten trommeln. Das alles war seiner Frau bekannt und doch lag darüber ein unsichtbares engmaschiges Netz. Es ist diese tückische, verfluchte Krankheit, was denn sonst, sagte sie sich, Schicksal eben, sie schreitet fort.

Mir ist schwindelig, sagte er starr.

Du solltest schlafen, Fritz, rief sie vom Herd, wo ihre eigenen Hände unzählige kleine Wege gingen.

Elfriede kochte vor. Vorkochen war eine ihrer Spezialitäten. Für ihr Essen war sie berühmt. Ihre Enkel hatten sogar bestimmte Gerichte gemalt und diese bunten Zeichnungen mit Worten der Anerkennung versehen. Elfriede Kohnen bewahrte solche Schätze in einer Küchenschublade auf. Ab und an nahm sie sie heraus, blätterte sie durch und erinnerte sich gern an bestimmte Geburtstage oder Weihnachtsfeste.

Wie soll ich schlafen, knurrte er. Ich kann hier nicht weg! Kann ... nicht weg ...

Nur im Schlaf verschwand der Tremor. Wie ein Stein im Bach lag er dann da und Elfriede glaubte, es sei wie früher, wenn er die Arbeit mühsam in ruhigen Träumen abgelegt hatte, um frisch wieder zu erwachen.

Man hatte Kohnen des Öfteren versetzen wollen. Bessere, größere Aufgaben bereitgestellt. Aber er hatte seinen Posten 49 immer vehement verteidigt. Den oder keinen! Das hatte er sogar einem der Herren von der Regionaldirektion gesagt. Auch hatte er stets Elfriedes Kränklichkeit ins Feld geführt. Schließlich hatte man es, nach seinen zahlreichen Ausweichmanövern und Winkelzügen, dabei belassen. Immer unter dem Hinweis, dass man ihn aber versetzen könne und er sich gegebenenfalls zu fügen hätte. In seiner Personal-Akte war sinngemäß sicher ein Eintrag zu lesen: Dieser Mann ist etwas begrenzt, fixiert, aber unbedingt zuverlässig.

Die Sonne mogelte sich durch an diesem Morgen. Trauer hing in den Fassaden. Lack rollte ab, in den Höfen verdunstete die Feuchtigkeit der Wäsche. Die Leute eilten mit Tüten vom Markt, den Blick suchend am Boden. Schwüle säumte die Giebel.

Mach mir bitte einen Kaffee, sagte Kohnen nörgelnd. Dieses ...Wetter, ah, ... das Wetter!

Elfriede drehte das Radio an, fand leichte, ruhige Musik, stellte die Sachen behutsam hin, vermied laute Geräusche und summte mit. Das würde ihn schonen.

Schon wieder ein anderer auf dem Posten, sagte er beinahe tonlos. Dieser junge Spund da ...!

Du musst dich mal von dem Posten lösen, sagte Elfriede. Da hält dich doch nichts mehr!

Die haben was vor, sagte er. Erst die Ampel ... die neue, und jetzt das da. Das ist nicht komisch. Was ... soll das bloß?

Und wenn schon, sagte sie, Fritz, das ist nicht mehr deine Sache.

Hm, hm, knurrte er und schüttelte den Kopf.

Fritz schüttelte seinen Kopf heftig. Dies ständige Ja-Ja-Sagen sah dadurch merkwürdig verzerrt aus. Ja-Tremor, wie der Arzt gesagt hatte, und Elfriede hatte es auch so verstanden, dass er, Fritz, eigensinnig wie er war, plötzlich etwas Grundsätzliches, Unausweichliches am Leben bestätigte, statt es in Frage zu stellen. So, als habe er seinen Widerstand gegen die Krankheit viel zu früh aufgegeben.

Übermorgen kommen die Kinder, sagte sie betont versöhnlich.

Ja, sagte er, sollen den Garten nicht wieder ... auf den Kopf stellen! Hab mein ganzes Leben ... drin geackert!

Hast drei Kinder, sagte Elfriede, vier Enkel, sei doch froh. Alle wollen übrigens nur helfen.

Weiß ich ... Elfriede, weiß ich ja, sagte er weich.

Manchmal nannte er sie nur Friede. Und das kennzeichnete sehr genau, was sie ihm bedeutete.

Sei doch so nett, Friede, reib mir mal den Rücken ein! Ich war ein bisschen nervös gestern, Friede, du, ... weißt schon. Ohne dich, ... Friede ...

Sieh mal, Fritz ... die Sache da drüben ...

Brauchst nichts zu erklären, Friede ... ich weiß ja ...

Sie half ihm die Tasse anzusetzen und strich ihm übers Haar. Eine Strähne lag verklebt, einsam und fast erhaben, obenauf. Sie holte Haarwasser, frottierte es danach ins Haar ganz leicht ein. Mit der Gummibürste bekam sie alles glatt. Sein ganzes Leben hängt an einem Menschen, dachte sie. An mir. Und wo war dieses Leben geblieben?

Ehrlich währt am längsten ...

Kohnens Lippen bewegten sich stumm. Es wäre niemals zu spät. Aber wäre er dem Ganzen noch gewachsen?

Durch Fehler wird man klug ..., schob er innerlich nach.

War er klug geworden? Manches brauchte ein halbes oder sogar ein ganzes Leben. Manche Erfahrungen lagerten tief drinnen, kamen nie ans Licht, moderten und schrumpften weit unten im Dunkel. Blieben dem Bewusstsein als finstere Flecken erhalten, als heftig drückende Wetterzonen. Doch übermorgen würden die Kinder kommen! Freude. Immerhin.

Ich werde dann mal ... mit dem Jungen ... anstoßen, nuschelte er.

Alkohol, flüsterte sie zu sich selbst, du, ausgerechnet, auch das noch! Aber darüber würde sie jetzt noch kein lautes Wort verlieren.

4

Ich will an die Schranke, sagte Kohnen nach dem Frühstück zu seiner Frau.

Er war spröde. Sie saß am Tisch und nickte, was keineswegs schon Zustimmung bedeutete.

Fritz, das solltest du dir überlegen!

Es war 9:00 Uhr. Sonne streifte die Küchenuhr, als sei es schon für ewig. Brotkrumen weichten in der Spüle. Vom Garten zog ein Strang Kühle ins Haus. Alles war festgelegt.

Fritz Kohnen war klein und gedrungen. Diese Krankheit drückte ihn noch tiefer. Er nörgelte still vor sich hin. Seine Schultern waren ohne Zweifel schmaler geworden. Die Sätze monoton. Manchmal verstand Elfriede ihn nicht. Sie tat sich schwer, besonders, wenn er die spannungslosen Sätze mehrfach wiederholte. Und er wiederholte sie wieder und wieder, auch wenn sie sie längst begriffen oder sogar beantwortet hatte. An schlechten Tagen sagte er gar nichts.

Was ist das bloß für ein Kerl gewesen, dachte sie schnell und spürte ihr Herz in Aufruhr.

Das Haus stand, schmal und versetzt, in ein langes Gartengrundstück gebaut. Vorne schnitt die Nebenstraße den winzigen Vorgarten schräg an, hinten verjüngte sich die Fläche, bis sie auslief im Schotter, und einem verschobenen, langen Dreieck glich. Seitlich nagelten die Gleise vorüber. An der anderen Längsseite wuchs die Brandmauer des Nachbarn auf, die das einstöckige Haus um drei Etagen überragte. Kohnen war beseelt und gefangen zugleich von einer ewigen Zuneigung zu dem Häuschen und dem benachbarten glatten Metall der Gleise, die eine stoische Ruhe ausstrahlten, solange kein Zug nahte. Der schräge vordere Giebel war mit zartgrün gestrichenen Holzornamenten verziert, die zum hellen, ockerfarbenen Anstrich des Hauses wie steife Spitze kontrastierten. Man musste unwillkürlich an kleine, russische Häuschen denken, oder an sorgfältige Laubsägearbeiten. Wenn man dort nicht wohnte, wollte einem auch das Wort idyllisch einfallen. Gebückt konnte man den kleinen spitzen Dachboden nutzen, auf dem Koffer, Körbe, flache Kisten, einige alte Regale aus dem Bahnwärterhäuschen, Schuhkartons mit Familienerinnerungen und vergessene Obstkisten lagen, die man zum Feueranmachen benutzen konnte.

Ich will an die Schranke, Elfriede!

Er bewegte sich kaum, sah hinaus. Nach längerer Zeit hörten sogar seine Hände auf, Schaum zu schlagen.

Sie seufzte, legte ihm die Zeitung hin, in der er unbeteiligt und nervös zu lesen versuchte. Seine Hände begannen wieder zu flattern. Sie wollte ihn jetzt unbedingt ablenken. Das würde vor allem sie selbst entlasten. Denn mit dem Zeitunglesen konnte sich Fritz normalerweise stundenlang beschäftigen. Elfriede musste unbedingt verhindern, dass er sich stattdessen derart lange an diese unselige Schranke stellte. Denn dann käme auch sie nicht zur Ruhe. Das musste sie verhindern.

Guck mal auf der ersten Seite, sagte sie, diese Sache mit dem Eisenbahnunglück in Frankreich. So was aber auch!

Seine Hände griffen das Blatt fester, so gut sie konnten; sie knüllten es, hielten sich regelrecht daran fest. Seine Augen drangen in das Papier ein, fixierten wechselnde Punkte. Als er sich schließlich festgelesen hatte, schien er versteinert auf seinem Stuhl am Fenster. Er las dann sogar einige Sätze vor und entrüstete sich stockend. Manche wiederholte er einige Male. Satzfetzen kamen und gingen. Seine Erregung überlagerte die Monotonie der Worte. Elfriede kannte diese Wendung nach innen, wenn ein scheinbar undifferenzierter Ton unsichtbare Membranen berührte.