Der kleine Idiot - Jan Turovski - E-Book

Der kleine Idiot E-Book

Jan Turovski

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Beschreibung

Es gibt viele Bücher, die vom II. Weltkrieg berichten. Und von den Aufbaujahren. Nur das zeitliche Niemandsland der letzten Monate vorm endgültigen Ende und danach, März-Oktober 1945, ist literarisch spärlicher besiedelt. Der Schauplatz dieser lakonisch und doch ergreifend erzählten Geschichte, Der kleine Idiot, ist Bad Godesberg, der Ort, an dem der Autor Jan Turovski seit vielen Jahren lebt und arbeitet. Da ist: Berni, der Behinderte, der physisch das Unbegreifliche am Krieg verkörpert, aber auch der Mut seiner Beschützer, (der Bürgermeister und seine Frau Antonia) in einer Zeit, in der solche wie Berni durch die Nazis vernichtet wurden. Da ist: Bastian, über 70 Jahre alt, der Bürgermeister Sebastian Benderde Turovski, der Großvater des Autors. Da ist: Antonia, die Großmutter des Autors, 65, groß, weise und schön. Es ist, als sei sie für jede Berührung tot, seitdem sie ihre Söhne im Krieg verlor. Die großherzige Frau, die den Behinderten Berni, 39, in ihrem Haus aufnimmt und ihn zusammen mit ihrem Mann wie einen Sohn behandelt. Da ist: Therese, 39, die ihren Mann nach nur einer Woche Verlobungszeit im Krieg verlor und, von Antonia aufgenommen, dieser täglich hilft. Schweigsam zeichnet sie auch verantwortlich für das Gefühlschaos in Männerherzen, u.a. Bernis und Bastians. Da sind die Bürger der Stadt mit ihrem rationierten Dasein. Und da ist das klägliche Ende des Krieges, angezettelt von Hitler, dem großen Idioten, wie Berni ungestraft sagt. Antonia ballt den Nazi-Ganoven die Faust. Es sieht so aus, als wolle sie so ihre verlorenen Söhne festhalten. Keine autobiographische, aber ergreifend-realistische, wahre und poetische Kriegs- und Nachkriegsgeschichte, die schließlich die Liebe und das Leben feiert.

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Inhaltsverzeichnis

Der kleine Idiot

ERSTER MONAT

ZWEITER MONAT

Bekanntmachung:

DRITTER MONAT

FÜNFTER MONAT

SECHSTER MONAT

Empfehlungen

Der kleine Idiot

ist ein Roman, eine erfundene Geschichte, mit historischen Bezügen in Tagebucheinträgen. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig.

Jan Turovski

ERSTER MONAT

Mittwoch, 7. 3. 1945

Berni ist seit gestern unser größtes Problem. Er will partout nicht im Keller bleiben. Oder auf dem Dachboden. Ahnungen suchen ihn heim, doch wissen wir nicht genau um was es geht. Normalerweise verlässt er den Keller nicht. Oder nur, um auf den Dachboden hinauf zu stürmen und von dort wieder hinab. Dann fliegen Türen und man hört lange nichts von ihm. Das passiert zwei, drei Mal am Tag. Im Keller hat er Tisch, Schrank, und Liege. Das Gleiche auf dem Dachboden. Ein paar persönliche Kleinigkeiten, Malbücher, die von unseren Kindern geblieben sind. Spielsachen. Er singt. Seit drei Wochen ist er bei uns. Momentan schläft er im Treppenhaus.

Berni, den sie nur den kleinen Idioten nennen, obwohl er längst Ende dreißig ist, gehört nicht zur Familie. Am 15. Februar stand er neben seinem zerstörten Elternhaus und wusste nicht mehr wohin. Berni allein. Niemand wollte ihn. Niemand wusste mit ihm umzugehen. Bis dann meine Frau Antonia sagte, man könne ihn ja schließlich nicht mitten im Krieg stehen lassen und ihn zu uns ins Haus holte. Schon bei seinen Eltern hatte er sich, wenn er nicht endlose Wanderungen unternahm, nur im Keller oder auf dem Dachboden aufgehalten. Andere Etagen ließ er strikt aus. Er ignorierte sie regelrecht, mochte nicht einmal vom Treppenhaus hineinblicken.

Unser Haus hat die gleiche Größe wie das seiner Eltern. Insofern hat er es auch gut getroffen. Die Roths hatten sechs Kinder. Wir acht. Zwei unserer Söhne sind gefallen. Ein Sohn steht noch im Feld. Hans ist vermisst. Unsere vier Töchter sind verheiratet, deren Männer sind im Feld. Berni will sofort nach draußen, aber draußen ist Krieg. Man hört die Geschütze. Berni hält sich beide Ohren zu und lacht.

Herr gib uns unsere Söhne wieder, sagt Antonia oft genug, und hört diese Glocken. Stattdessen haben wir nun Berni.

Die Amerikaner rücken immer näher. Sie sollen in Berkum stehen. Panzerspitzen sind in Ließem und Lannesdorf gesehen worden. In der Nacht herrscht helle Aufregung. Zurückfließende Truppen auf allen Straßen, besonders zur Brücke in Bonn und zur Mehlemer Fähre. Die Geschäfte, besonders Bäcker und Metzger, werden gestürmt. Die Firmen Wolf, Ludwig und Rasting verkaufen frei Büchsenfleisch aus Heeresbeständen. Alle Behörden, Amt, Post, Bahn, haben geschlossen. Auf dem Güterbahnhof liegen drei Züge, die Wagen mit rotem Kreuz versehen. Sie enthalten Lebensmittel wie Roggenmehl, Salz, Zucker, Käse, Pralinen, Rübenkraut, sowie Holzschuhe, Hanfseile, Tafelblech. Bestände, aus denen sich eine wahre Völkerwanderung eindeckt, auf allen Straßen, mit jedem möglichen Gefährt, selbst Pferdefuhrwerke und ein paar Autos. Wer den Anstoß gegeben hat ist nicht festzustellen.

Auf dem Weg zum Friedhof gerate ich ahnungslos unter die Menschen, staune, wer alles dorthin läuft. An den Gesichtern, in der Eile etwas zu erraffen, kann man Charakterstudien betreiben. Die Leute sehen zu, wie Papiertüten mit Roggenmehl zerreißen und unter die Füße geraten. Ausgelaufene Marmeladeneimer, zerfetzte Gurte, hingestreute Sachen, zeigen ein Bild ohne Ordnung. Wie viele Familien hätten bei gerechter Verteilung davon Nutzen haben können.

Ich habe Berni mitgenommen. Er staunt, hat sich beruhigt, fragt immer wieder bumbum, warum? Was hört Berni was sieht Berni? Ich habe ihm schon früher versucht den Krieg zu erklären. Irgendwann kam es dazu, dass er sagte, Berni kleiner Idiot, Hitler großer Idiot. Dann lachte er und wollte sich nicht einkriegen. Ein alter Spruch, den er wohl zu Hause gehört hatte. Doch ich musste ihm diesen Satz verbieten, denn es ging noch um Kopf und Kragen.

Die Eisenbahnüberführung der Wurzerstraße wird zur Sprengung vorbereitet. Ein Soldat steht auf einer Leiter im östlichen Bogen und verteilt die Ladung; mehrere Kisten mit Sprengstoffen stehen vor der nördlichen Innenmauer.

Rundherum bewegen sich Lebensmittelplünderer. Die Unterführung wird gegen Abend gesprengt, wobei sieben Häuser an der Bonner Straße unbewohnbar werden, so dass Anwohner noch im letzten Augenblick um ihr Eigentum gebracht werden. Die große Überführung am Hotel Löwen wurde ebenfalls Freitag zur Sprengung vorbereitet; die fraglichen Drähte konnten aber durchgeschnitten werden. An der Friedrichstraße wurde der eiserne Oberbau in die Luft gejagt, doch die Durchfahrt blieb frei. Durch die Sprengung der Überführung Friesdorf (Hochkreuz), wurden anliegende Wohnhäuser in Mitleidenschaft gezogen.

Bonn hat sich um 12.00 Uhr vermutlich ergeben. Gauleiter Grohe, angeblich im Bunker an der Gronau gesehen, soll sich erschossen haben, nachdem Köln am 6. 3. 1945 gefallen war. Was aber an derlei wilden Gerüchten wahr ist, bleibt festzustellen. Die Nacht ist unruhig, besonders nach Mitternacht, als die Amerikaner unablässig schwere bedrohliche Brocken, die über uns hinwegheulen, in Richtung Rhein senden. Antonia geht um zwei Uhr nachts vorsichtshalber in den Keller. Ich finde sie immer noch schön.

Donnerstag, 8. 3. 1945

Das Wetter ist unfreundlich. Regen, Nebel sehr kalt. Antonia weint, aber richtige Tränen hat sie nicht mehr. Sie hört immer wieder diese Glocken. Die gleichen, die sie vor den sinnlosen Toden unserer beiden Söhne hörte. Karl, gerade neunzehn Jahre alt, Abiturient, in Russland aus einem Baum hinterrücks erschossen. Gerd, Mitte Zwanzig, Lungendurchschuss. Ich werde das dem ‘größten Feldherrn aller Zeiten’ nie verzeihen. Ich kann einfach nicht weinen.

Kurz nach acht fällt das Wasser aus; Licht fehlt seit vorgestern. Berni kriecht unter seine Decke. Bei schwerem Geschützfeuer aus Mehlem geht im Salon eine Scheibe zu Bruch. Vor unserem Haus patrouillieren zehn Mann unserer eigenen Truppen. Junge Kerle, neun Nächte unterwegs, drei Tage ohne Verpflegung. Sie haben die Nacht bei uns unten im Hause verbracht. Zuerst auf der Terrasse, dann im Flur. Ich gebe ihnen Zigaretten und Wein. Berni kommt vom Keller hoch und staunt. Die Männer gehen wieder. Mit anderen ziehen sie an die Unterführung Bürgerstraße.

In vielen Fenster hängen jetzt große weiße Tücher. Gegen neun Uhr sehe ich an der Koblenzerstraße erstaunt Kriminalobersekretär Kessel, der mit einem GI, gemeinsam auf einem Wagen mit weißer Fahne, in Richtung Burgstraße fährt. Beide, halb auf den vorderen Kotflügeln liegend, halten sich an den Händen um nicht hinunterzufallen. Kurz nach neun Uhr rücken über die leere Bahnhof- und Moltkestraße die ersten Amerikaner ein.

Wir beobachten sie vom Fenster aus. Das Gewehr im Anschlag, pirschen sie an den Häusern entlang, fassen an jede Tür, schauen in jedes Fenster. Kräftige Kerle in hellbraunen Overalls. Vor der Firma Gerhards steht einer breitbeinig, als ob er in Anschlag auf unser Haus ginge. Er hat gefilmt, wie die Gerhards später sagen. An deren Ecke schlagen die Soldaten, nach kurzer Beratung an Hand einer Karte, den Weg zum Rhein ein. Wie wir vom Speicher aus beobachten, rollen über die Plittersdorferstraße Panzer und Infanterie, immer wieder von schwerem Geschützfeuer begleitet. Vor dem Hotel Nußbaum hält ein gepanzerter Wagen, zu dem erste Gefangene gebracht werden; deutsche Soldaten auf Urlaub und ein Zivilist. An der Ecke des Ännchens wird ein deutscher Soldat, der, obwohl verwundet, auf Amerikaner zu feuern versuchte, erschossen. Aus dem Ulmenhaus begeben sich Sanitäter und Schwestern mit einer Bahre dorthin.

Alle Läden sind geschlossen. Die Nachricht von der Besetzung Bonns bestätigt sich noch nicht. Gegen siebzehn Uhr Fliegeralarm. In der Nachbarschaft fallen Bomben. Den ganzen Tag über heftiges Artilleriefeuer; zum Rhein hin aus Geschützen jeden Kalibers. Das Wasserwerk wurde von unseren Truppen vor dem Eintreffen der Amerikaner gesprengt. Die Sprengung ist nicht ganz geglückt, da unsere Truppen unter heftigem Artilleriefeuer lagen.

Berni will nicht essen. Antonia bringt um sechs Uhr die unberührte Schüssel in die Wohnung zurück. Im Salon arrangiert sie wortlos Südweingläser hinter den Sprossenfenstern des Gläserschrankes. Dann plötzlich spült sie alles. Sie macht immer wieder solch sinnlose Arbeiten, als seien wir mitten im Frieden.

Freitag, 9. 3. 1945

In der Nacht beginnt heftiges Artilleriefeuer in Richtung Rhein. Geschütze mit tiefem Orgelton, als ob ein Auto angelassen würde. Sechs oder mehr Einschläge. Berni schläft unerwartet wieder im Treppenhaus. Er hat den Daumen im Mund und grunzt im Schlaf. Man kann ihn nicht wecken. Eigentlich heißt er ja Bernhardt. Berni Bernhardt, sagt er manchmal selbst, als sei Bernhardt sein Nachname.

Die Bäckereien verkaufen noch nichts, da weder Strom noch Wasser vorhanden sind. Alle Metzgereien geben Fleisch auf bisherige Lebensmittelkarten ab. Vom Güterbahnhof werden jetzt Kohlen, Briketts und Koks ‘billigst’ abgeholt. Die gleiche Völkerwanderung wie schon beim Mehl. Die eiserne Überführung der Wurzerstraße liegt am Boden; einige durch die Sprengung beschädigte Häuser sind unbewohnbar geworden. An vielen Stellen sind Bekanntmachungen der Amerikaner angeschlagen.

Ausgang von 7.00 bis 18.00 Uhr, Aufhebung von Nazigesetzen und -Organisationen, Zahlungsmittel Militärmark, es gilt nur die Militär-Gerichtsbarkeit. General Schimpf soll auf Betreiben von Stadtrat Ditz, und mit Unterstützung anderer, entgegen strikter Anweisung von oben, Godesberg nicht geopfert haben.

Die Amerikaner bewegen sich sehr ungezwungen in der Stadt. Berni begleitet mich, hängt an meinem Arm und bestaunt die Fremden.

Berni kleiner Idiot, sagt er leise und kichert.

Das andere dürfte er bei den Amis ja sagen, aber er sagt es nicht. Panzer stehen an der Linde, sowie am Reichshof und der Schule in der Bachstraße. An verschiedenen Stellen wehen richtige weiße Flaggen vor den Fenstern. Von den Gott sei Dank nicht fertig gewordenen Panzerfallen werden eine Menge Baumstämme entfernt. Die Leute grüßen und zucken nur die Schultern.

Guten Tag, Herr Amtmann, Tag Berni.

Ich bin einer der ehemaligen Bürgermeister. Aber sie nennen mich noch immer Amtmann, so wie ganz früher. Früher ist lange her. Ich bin Siebzig, Antonia ist Fünfundsechzig. Sie ist klug, hochgewachsen und schön. Ich mochte ihre großen Hüte vor dem Krieg. Jetzt jedoch läuft manchmal Berni damit herum, der genüsslich in alten Kisten gräbt. Im Keller und auf dem Boden spricht er mit unzähligen Leuten die gar nicht da sind.

Gegen vierzehn Uhr gibt es endlich wieder Wasser. Nachts beschossen deutsche Batterien von der rechten Rheinseite aus Rüngsdorf und Römerplatz mit Sprengmunition.

Vorm Reichshof stehen seit gestern zwei amerikanische Geschütze, die immer wieder Königswinter beschießen. Das Feuer wird durch lautlos fliegende Beobachter gelenkt. Nachrichter liegen in den vorm Bahnhof und der Post angelegten Schützengräben. Das Parkhotel und der Kaiserhof sind von vielen Amerikanern belegt. Die Beschießung Godesbergs hat nach umlaufenden Erzählungen am seidenen Faden gehangen. In letzter Minute hätten Stadtrat Ditz und Oberinspektor Eser noch unter weißer Flagge die Beschießung verhütet. Das muss die Sache mit dem GI und Kessel gewesen sein. Schwestern der Godeshöhe sollen auf Veranlassung des amerikanischen Kommandanten diesen Schritt vermittelt haben.

Samstag, 10. 3. 1945

In der Nacht heftiger Artilleriebeschuss Richtung Rhein. Bonn soll sich heute früh ergeben haben. Ebenso ein Widerstandsnest oberhalb Friesdorf. Gegen halb acht rollen schnelle Truppen durch die Unterführung Bahnhofstraße. Panzer beziehen im Park, der Bachstraße und der Brunnenallee Stellung, stecken teilweise in aufgeweichter Erde. Unser ehemaliges Haus, Brunnenallee 2, ist trotz zerstörter Fenster und Türen von Amerikanern belegt. Belegt sind auch sämtliche Villen der Kaiserstraße.

Berni erkennt das Haus Brunnenallee wieder und will hinein. Ein Schwarzer gibt ihm unerwartet ein Stück Schokolade, schlägt ihm aufmunternd auf die Schulter. Berni stutzt und schluckt. Dann ruft er:

Hitler großer Idiot.

Die Männer lachen sich halb tot, und Berni hat keine Scheu mehr auszusprechen, was ich ihm schon drei Wochen lang tagtäglich verboten habe. Gleich muss ich es ihm wieder verbieten.

Ich liefere zwei alte Gewehre aus Großvaters Zeiten und meinen Degen ab. Deutsche Polizeibeamte in Uniform tragen den lobenswerten Vorgang ordentlich unter der laufenden Nummer 255 ein. Ich bekomme einen Zettel für den ich nichts kaufen kann.

Die Gegend zum Rhein hin ist friedlich. Auf der anderen Rheinseite wurden die Fähre und mehrere Motorboote versenkt. Die Augen der Menschen scheinen sich in einem Zwischenstadium zu befinden. Gespannte Unruhe. Man ahnt das Ende, ist mit Alltagsverlusten beschäftigt. Viele Häuser mussten innerhalb von zwei Stunden geräumt werden. Verhaftet wurden zwei Polizisten, ein Kriminalkommissar, Landräte, sowie der Photograph Schock, der sechs S.S.- Leuten Unterkunft gewährt haben soll. Eine bei ihm beschäftigte Ukrainerin soll ihn verraten haben. Wer kann es ihr verdenken? Nun wird er sich herausreden.

Sonntag, 11. 3. 1945

Artilleriebeschuss die ganze Nacht, bis Siebenuhrfünfzehn. Berni lag morgens wieder im Treppenhaus, die Beine angewinkelt wie ein Kleinkind. Er hat fast ein halbes Brot gegessen. Ganz trocken. Und dabei gesummt. Er isst gelegentlich für Zwei.

Ab heute ist der Ausgang bis auf weiteres auf acht bis zwölf Uhr beschränkt. Die Anordnung wird auf Handzetteln von Polizeibeamten erteilt. Hauptverkehrsstraßen sind für den Militärverkehr bestimmt. Auf der Kaiser-, der Koblenzerstraße und der Sparkasse, stehen Panzer und Mannschaftswagen abfahrbereit. Das Licht funktioniert noch immer nicht. Keine Zeitung erscheint, so dass wir ohne Nachrichten sind. Eine gute Zeit für Gerüchte. In der Viktoriastraße schlägt plötzlich eine Granate ein, die zwar einen Brand auslöst, aber nur geringen Sachschaden verursacht.

Berni hat die dicht abgeklebte Pappe an einem unserer Dachfenster entfernt. Er handelt, als wüsste er dass das Ende nah ist, aber er weiß nichts darüber, er schiebt den kreischenden Zinkstab des Fensters ins dritte Loch, rudert da oben am offenen Fenster mit den Armen. Die Dinge geschehen für ihn einfach so, er kennt keine Ursachen und Auswirkungen.

Tauben, sonst immer um die Zeit auf dem Dach, wagen nicht mehr zu landen. Berni genießt seine Macht. Und noch immer, als es längst dunkel ist, steht er da, will nicht weg, er wundert sich, dass gar keine Taube mehr kommt. Doch die schlafen längst.

Als er im Keller ist, bringe ich die Pappe wieder an. Einen Moment fasst mich Wehmut. Das Wort Cognac steht braun gedruckt auf dem Karton. Ob jemals wieder Zeiten kommen, in der ein solcher Karton gefüllt ist? Ich schäme mich dann angesichts meiner toten Söhne.

Montag, 12. 3. 1945

Antonia liest mir Karls letzten Brief vor. Wir sitzen im Bett und können nicht schlafen. Artilleriebeschuss Richtung Rhein. Sie liest ihn monoton und mindestens vier Mal. Durch ihr monotones Lesen erscheint es mir so, als sei der Brief gar nicht von unserem Sohn und jetzt, wo er tot ist, kann man ohnehin nicht glauben, dass seine Worte auf dem Papier weiterleben wollen. Ich stehe auf. Antonia blickt auf den Schrank, als habe sie gar nicht gelesen. Sie begreift diesen Brief nicht mehr. Gemeinsam stehen wir am Fenster und wenn es nur irgendwie ginge, würde ich mit ihr zu unseren toten Söhnen fliegen. Tote Worte, handgeschrieben, heiter. Tot, und so lebendig wie die Hand, die so viel gezeichnet hat.

Im brennenden Königswinter wird noch gekämpft. Wir sehen die Flammen und glauben es nicht. Hinter dem alten Kolleg, Hohenzollernplatz, stehen amerikanische Truppen. Große Häuser, wie die Villa Schorlemer, sind besetzt. Vor unserem Haus werden morgen amerikanische Soldaten eifrig ein buntes Emailschild fotografieren, das entblößte weibliche Beine zeigt, eine nutzlose Strumpfreklame. Am Nachmittag hören wir Maschinengewehrfeuer.

Dienstag, 13. 3. 1945

Die meisten schlafen wegen des Artilleriebeschusses im Keller. So auch wir diese Nacht. Berni hat ‘sein eigenes Zimmer’ hier unten. Einmal die Nacht geht er zur Toilette. Er spült stets zwei Mal nach, obwohl wir gesagt haben, dass es oft kein Wasser gibt.

Unsere Kellerräume sind Gott sei Dank trocken. Sind gekälkt und die Böden grau gestrichen. Antonia lobt mich wegen dieser Maßnahme, die sie damals, im Frieden, übertrieben fand. Der Beschuss war lebhaft bis nach sieben. Bei der Konditorei Vobbe geht durch eine Granate der Lichtmast nieder. Auf der anderen Straßenseite entstehen starke Beschädigungen. Im Amt drängt sich jetzt alles nach Kohlen. Stoische Ungeduld. An unserem früheren Haus hängt nun ein Schild: Zivilisten ist der Eintritt verboten.

Wie viele Gäste hatten wir dort empfangen und es gab Zeiten, als wir dort mit unseren acht Kindern, der Großmutter und dem Hausmädchen wohnten. Zwölf lebendige Personen. Jetzt sind die Fenster leer. Dieses Haus sieht aus wie ein geschlagener Mensch.

Die Löcher für nicht fertig gewordene Panzerfallen werden zugeworfen. Das städtische Haus Moltkeplatz 3, in dem die Volksküche untergebracht ist, wird beschlagnahmt und muss bis zwölf Uhr geräumt sein. Wir helfen zwei alleinstehenden Frauen auszuziehen und lassen sie ihre Sachen vorerst in unseren Hausflur stellen. Berni kommt die Treppe hoch und ist beunruhigt.

Berni Zimmer, sagt er immer wieder, das Gesicht im Spalt der Kellertür.

Antonia beruhigt ihn: Niemand nimmt dir etwas weg, Bernhardt, sagt sie.

Berni, kleiner Idiot, sagt er, und seine Augen schimmern feucht.

Du bist schon ein großer Bernhardt, sagt Antonia.

Berni, Berni, beharrt er.

Gut Berni, sagt sie, alles gut. Geh wieder nach unten.

Königswinter ist gefallen. Angeblich ist Hitler mit dem Rheinland nicht zufrieden. Es sei nicht genügend gekämpft und der Volkssturm nicht rechtzeitig eingesetzt worden. Er soll uns mal fragen, wie wir mit ihm zufrieden sind. Eine Proklamation sei erlassen, nach der er das Rheinland durch neue Waffen wie mit einem Leichentuch bedecken werde. Goebbels soll in Schlesien gesprochen haben.

Der amerikanische Flieger kreist erneut bei gelegentlichem Beschuss. Berni ist auf dem Dachboden, will den Flieger begrüßen. Ich öffne das Fenster leicht, lasse ihn hinaussehen. Gegen fünfzehnuhrdreißig fallen Granaten in den Nordteil der Stadt. Berni flieht in den Flur, rennt zum Keller. Doch er lacht.

Kanonen, wann, Kanonen schießen bumbum Berni bum.

Es gibt Tote und Verletzte. Die Alte Apotheke wird beschädigt. Godesberg gleicht einer Lazarettstadt. Dem Kohlenhändler G. sind vorm Einrücken der Amerikaner Pferd und Wagen gestohlen worden. Täter waren Hitler-Jungen, die den Wagen zum Abtransport ihrer Sachen vom Heim der motorisierten Hitlerjugend benutzten. Ein Knecht von G. holt beides schließlich in Asbach wieder ab.

Mittwoch, 14. 3. 1945

In der kommenden Nacht ununterbrochenes Artilleriefeuer. Der bisher schlimmste Beschuss. Antonia und ich helfen den beiden Frauen weiter bei der Räumung. Am Morgen dichter, künstlicher Nebel, der ganz besonders das Rheintal zudeckt. Es kommt einem vor wie im Theater. Zwei Flieger beobachten eine Landschaft, in der es wenig zu sehen gibt. In der Nacht gab es Tote und Verletzte durch Granaten. Fahrräder dürfen nicht benutzt werden.

Donnerstag, 15. 3. 1945

Wir schlafen diese Nacht im Keller in den Luftschutzbetten. Der Beschuss hat gegenüber der Vornacht etwas nachgelassen. Am Morgen kriecht erneut dicker künstlicher Nebel in den Straßen. Arbeitsfähige Männer müssen sich beim Ännchen mit einem Spaten melden. Wofür wird nicht gesagt. Kohlen sind nirgendwo zu haben. Auf die Haushaltskarte gibt es vier dünne Kerzen. Einer der Männer, die gegenüber beim Auszug geholfen hatten, versuchte sich die stehen gebliebene Küche der Frau Schraut und andere Sachen anzueignen. Ich schreite sofort ein.

Herr Bürgermeister, schreit er mich an, ehe sie die Amerikaner bekommen, kann ich sie ja wohl haben.

Aber sie gehören Ihnen nicht! Verschwinden Sie also, sage ich, haben Sie etwa deshalb geholfen?

Jede Ordnung ist aufgehoben. Mit siebzig und einem bereits durchgestandenen Krieg hatte ich gehofft, ruhig mit Antonia alt werden zu können und all das nicht erleben zu müssen. Von den Töchtern haben wir Postkarten.

Freitag, 16. 3. 1945

Wir haben wieder im Keller geschlafen. Das Artilleriefeuer steigerte sich in der Nacht lebhaft. Mich weckte eine Symphonie von Beethoven. Ich glaubte zu träumen und wälzte mich, weil ich nicht erkennen konnte, welche es war. Berni hatte das kleine Radio von oben aus dem Treppenhaus geholt, wo es normalerweise Sondermeldungen verbreitet. Er stand mitten in ‘seinem Zimmer’, bewegte die Arme als dirigiere er. Ich holte Antonia, der ich dies Bild nicht entgehen lassen wollte. Wir schlossen die Fensterklappe und löschten das Licht. Und Antonia brachte Berni zu Bett, erklärte ihm, dass er weder Musik machen dürfe, noch Licht und schon gar nicht das Fenster öffnen, das ja tagsüber offen stehen darf. Es war zwar von außen notdürftig mit dem Deckel einer Kiste abgedeckt, aber Licht dürfe nachts unter keinen Umständen nach draußen dringen.

In Königswinter wird anscheinend doch noch gekämpft, ebenso an der Ahr. Ich stehe eine halbe Stunde nach nur einem halben Brot an, Antonia fast drei Stunden nach Fleisch, das vorläufig nicht mehr ausgegeben werden soll. Um fünfzehnuhrdreißig fällt eine Granate senkrecht durch den Lichtschacht eines Hauses auf der Bahnhofstraße und zerstört den Friseurladen Littmann im Erdgeschoß. Um den Bahnhof herum steht eine große Ansammlung von Wagen und Panzern. Den Weinkeller des Kaiserhofes hat man kurzerhand beschlagnahmt.

Samstag, 17. 3. 1945

Das Artilleriefeuer, anfänglich ruhig, setzt nach Mitternacht wieder ein. Luises Schwiegervater lebt bei uns, weil er allein nicht mit dem Krieg zurechtkam. Um zwei Uhr nachts muss er wegen seines Herzens aus dem Keller in die erste Etage gebracht werden. Wir versorgen ihn dort. Es geht ihm bald besser. Es ist das Gefühl der Enge und der Unentrinnbarkeit. Seine Frau starb zwei Jahre zuvor.

Am Tage schießt die Artillerie erneut über den Rhein herüber. Abends gegen neunzehn Uhr gibt es wenigstens wieder schwaches Licht. Die Nacht vergeht im Keller, lebhaftes Feuer. Zwei Scheinwerfer, westlich von uns, suchen den Himmel ab, suchen so nervös, als könnten sie da eine Lösung für alles finden. Später stehen sie wie schräge Säulen in den Wolken.

Passions-Sonntag, 18. 3. 1945

Der Dechant verliest von der Kanzel eine Bekanntmachung, nach der sich vom 19. 3. bis zum 23. 3. 45, zwischen 8.30 und 18.00 Uhr, alle Personen über sechzehn persönlich bei den bisherigen Ausgabestellen für Lebensmittelkarten zu melden haben.

Die Kirche ist überfüllt. Berni wollte unbedingt mit dorthin. Er hängt an meinem Arm und will auf die Kanzel. Danach will er ‘nach Hause’, das heißt, er will eine Weile vor dem Trümmergrundstück stehen, wo seine ganze Familie starb. Sieben Personen. Eines der wenigen zerstörten Häuser. Da steht er, dreht, wendet Arme und die Hände und sagt unablässig bumbum, bumbum. Eine Nachbarin kommt vorbei und streicht ihm übers Haar. Er schiebt ihre Hand weg und hängt sich entschlossen bei mir ein.

Bernis Zimmer, sagt er, und zieht mich fort.

Künstlicher Nebel liegt bis an unser Haus. Es scheint beinahe zu schwimmen, es sieht ganz zart und unwirklich aus. Und sind es nicht vage Zeiten, in denen nichts als sicher gilt? Für Uhrzeiten gilt die Uhr der Marienkirche. Amerikaner haben die gesprengte Unterführung Wurzerstraße wieder frei gemacht und schwere Sprengstücke weggeschleppt. An der Hindenburgstraße stehen verlassene Batterien der Amerikaner. Kartuschen sowie Blindgänger und sogenannte Versager liegen umher. Ein Karren ist in die Erde gebaut. Andere Unterstände bestehen aus Türen zerstörter Häuser. Am Friedhof sind der rechte Pfeiler und das Dach des Verwaltungsgebäudes beschädigt. Der Verwalter, so heißt es, sei verduftet. Die Geschäfte besorgt nun der alte Friedhofsarbeiter Schmidt.

Dem Vernehmen nach haben die Amerikaner bei Mainz den Rhein überschritten. Bei Boppard und Remagen soll