DAS STOFFUNIVERSUM - Ralph Alexander Neumüller - E-Book

DAS STOFFUNIVERSUM E-Book

Ralph Alexander Neumüller

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Beschreibung

Frank führt ein außergewöhnliches Leben. Er wacht in fremden Städten auf, in fremden Betten, neben fremden Frauen. Nach wenigen Wochen springt er weiter und muss alles zurücklassen. Jede Person, jeden Besitz und jede Hoffnung auf Vertrautheit muss er zwangsläufig verlieren. Frank bleiben nur seine Erfahrung und die Theorie eines Physikers, die sein Schicksal zu erklären scheint. Dies ist die Geschichte des einsamsten Menschen der Welt, der nur eines finden will: eine Gemeinschaft von Weggefährten.

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Ralph Alexander Neumüller

Das Stoffuniversum

AndroSF 94

Ralph Alexander Neumüller

DAS STOFFUNIVERSUM

AndroSF 94

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: Oktober 2023

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Alfred Kelsner

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 356 7

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 748 0

Dieser Roman ist ein fiktives Werk. Sämtliche Handlungen, Charaktere und Ereignisse wurden frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden Personen, ob gegenwärtig oder historisch, sind rein zufälliger Natur und nicht beabsichtigt. Die Darstellung von Personen, Orten und Situationen dient allein dem Zweck der fiktiven Erzählung und sollte nicht als vermeintliche Bezugnahme auf tatsächliche Ereignisse oder Personen interpretiert werden. Der Autor übernimmt keinerlei Verantwortung für Missverständnisse oder falsche Schlussfolgerungen in dieser Hinsicht.

Für Familie,

Freunde

und Weggefährten.

Gegen die Einsamkeit.

0

Ich lag mit geöffneten Augen im Bett und starrte an die Decke des Hotelzimmers. Es musste nach Mitternacht sein, doch ich hatte das Gefühl für die Zeit längst verloren.

Irgendwo im Zimmer blinkte eine Lampe. Sie tauchte den Raum in festen Abständen in ein kaum wahrnehmbares Licht. Vielleicht ein Telefon? Oder der Fernseher? Ich zählte die Dunkelphasen, doch kam nie über wenige Dutzend hinaus. Wieder und wieder zogen die gleichen Gedanken an mir vorbei.

In einem Magazin hatte ich über den Halbseitenschlaf der Delfine gelesen. Träumen mit der einen und Wachen mit der anderen Gehirnhälfte. Obwohl es aussichtslos war, hatte ich oft versucht, es ihnen gleichzutun. Dann schloss ich ein Auge und hoffte, dem Schlaf ein Schippchen zu schlagen.

Doch heute hielt ich beide Augen krampfhaft geöffnet und starrte an die Decke. Hätte ich meine Lider an die Stirn nähen können, um mich vor dem Einschlafen zu retten, ich hätte es getan. Ich wollte lieber unentwegt auf diese Welt starren, als auch nur einen Traum zu träumen.

Vierundzwanzig Dunkelphasen. Dann spürte ich meine Glieder erschlaffen, riss mich aus dem Schlummer und drückte Claras Hand fester. Sie war inzwischen eingeschlafen und erwiderte den Druck nicht. Ich spürte, wie sich die Knochen ihrer Hand verschoben.

Ich wandte meinen Kopf zu ihr, doch in der Dunkelheit konnte ich nichts erkennen. Dann richtete ich meinen Blick wieder an die Decke. Aufstehen war keine Option. Schlafen auch nicht. Mir blieb nur das Zählen der Dunkelphasen. Ich konzentrierte mich und riss die Augen noch weiter auf. Eins. Zwei. Claras Hand hielt ich fest gedrückt. Ich war nicht gewillt, sie loszulassen. Nicht gewillt, auch nur das kleinste Irgendetwas zwischen uns zu akzeptieren. Schon gar nicht den Schlaf. Vielleicht funktionierte es heute. Vielleicht gab es doch so etwas wie einen Willen, der mehr war als die Illusion von Kontrolle.

1

Ich ahnte, dass ich erneut alles verloren hatte, als mich ein pochender Kopfschmerz weckte. Widerwillig öffnete ich die Augen einen Spaltbreit, da ich sie, auch wenn ich es wollte, nicht weiter geschlossen halten konnte. Wie ironisch. Das, was mir abends nicht gelingen wollte, passierte jeden Morgen ganz von allein.

»Es gibt nichts Bedrückenderes als eine Vorahnung, die durch einen Blick bestätigt wird«, hatte einer meiner vielen Väter vor Jahren zu mir gesagt. Wie recht er doch gehabt hatte.

Um mich standen fremde Möbel in einem fremden Raum. Neben dem Bett ein Nachtkästchen, darauf ein Wecker mit Digitalanzeige. Sechs Uhr irgendwas. Das Fenster war geöffnet und ein weißer Vorhang wurde vom Wind in Wellen gelegt.

Dann spürte ich wieder den Schmerz. Ich schloss die Augen, drehte mich erst auf den Rücken, danach auf die andere Seite. Als ich sie wieder öffnete und eine brünette Frau neben mir liegen sah, wusste ich, dass ich schon wieder zum einsamsten Menschen der Welt geworden war. Ich verabscheute meine Unrast, die es mir unmöglich machte, irgendwo bleiben zu können. Die mich immer und immer wieder in Neues stolpern ließ.

Ich betrachtete die Frau. Sie wirkte jung, vielleicht fünfzehn oder zwanzig Jahre jünger als ich. Sie lag mir zugewandt im Bett und schlief. Ihre Züge waren weich und entspannt, und auf ihren Wangen und Lippen klebten Reste von Make-up. Sie atmete gleichmäßig, und ich konnte sehen, wie sich ihre Augen unter den geschlossenen Lidern bewegten. Sie war nackt. Nur ein Laken bedeckte ihre Hüfte. An ihrer Hand glitzerte ein Ring, der mich an nichts erinnerte. Ich war nicht im Geringsten verwundert.

Ich musste einige Minuten so dagelegen haben. Der Kopfschmerz ließ allmählich nach, sodass ich riskierte, mich im Bett aufzusetzen. Der Raum wirkte, als wäre er einem Magazin für Luxusreisen entnommen. Vor dem Bett stand ein Tisch, darauf eine Vase aus Glas. Darin lagen faustgroße Steine und Muscheln, zwischen die Seidenblumen gesteckt worden waren. Die Farben Weiß und Blau dominierten im Zimmer. Ein orientalischer Teppich befand sich in der Mitte des Raumes, dahinter stand ein Schreibtisch, auf dem zwei Computer und Mobiltelefone lagen.

Ich rückte an den Rand des Bettes, um aufzustehen. Das rechte Knie schmerzte wie gewohnt. Meine Füße berührten den Holzboden, und ich spürte das grobe Relief, das in ungewöhnlich tiefen Furchen längs der Balken verlief. Ich zog die Decke von den Oberschenkeln. Auch ich war nackt.

»Bleib noch liegen«, hörte ich die Frau hinter mir sagen.

Auch ihre Stimme kam mir nicht bekannt vor. Zu gern hätte ich gewusst, wer sie war und wo ich sie kennengelernt hatte.

Ich drehte mich langsam um und beobachtete, wie sie ihren Körper auf meine Seite des Bettes schob. Ihre Arme umschlangen mich von hinten. Sie streichelte meinen Bauch mit der einen und fuhr mit der anderen Hand über meinen Oberschenkel.

»Ich muss was trinken«, murmelte ich.

Meine Stimme hörte sich unerwartet tief an, fast wie ein Fremdkörper, der nicht zu mir passte, doch das konnte von Alkohol oder Zigaretten kommen. Ich sah eine leere Wasserflasche, die neben hingeworfenen Kleidern auf dem Boden lag. Langsam schob ich die Arme der Frau von mir. Sie drehte sich um und vergrub ihren Kopf in den Kissen.

»Dann kommst du aber wieder, versprochen? Ich bin noch nicht fertig mit dir.«

Ich stand auf und ging einige Schritte, doch mir wurde schwindelig und schwarz vor Augen. Mit gesenktem Kopf blieb ich stehen, bis der Raum aufhörte, sich zu drehen. Auf dem Schreibtisch lagen eine Packung Aspirin und andere Schmerzmittel. Ich drückte einige Tabletten aus dem Blister und schluckte sie ohne Wasser. Dann schob ich den Vorhang vor der Balkontür voller Erwartung zur Seite und trat hinaus.

Dort bot sich mir ein Blick, der an absurder Schönheit nicht zu überbieten war. Ich überblickte weißblaue Dächer, die sich im Glitzern des Meeres verloren. Die Häuser waren in die Klippen gebaut worden und wirkten wie ein Mosaik, das langsam aus dem Wasser zu steigen schien. Weiter links, jenseits des Dorfes, erstreckte sich die lange Krümmung eines Sandstrands. Dahinter bäumten sich Felsformationen schroff empor, an denen die Brandung mit jeder Welle weißen Schaum in die Luft warf, den der Wind zerstäubte. In der Bucht lagen einige Schiffe vor Anker. Sie wogten in der Morgensonne, die sich über dem Blau der See durch das Blau des Himmels schob.

Noch nie hatte ich etwas vergleichbar Schönes gesehen. Und das mit über vierzig. Ich war noch nie am Meer im Urlaub gewesen, auch wenn ich unentwegt unterwegs war. Was hätte der einsamste Mensch der Welt auf Reisen finden sollen? Noch mehr Einsamkeit? Das Meer kannte ich eigentlich nur aus den Chroniken der Computermedien oder dem Fernsehen. Einige Tage hatte ich in New York und Rotterdam gelebt. Ich kannte nur die öligen Schlieren des Wassers in den Häfen und das treibende Plastik, Pappkartons, Verpackungen und Papierfetzen in den trüben Stehgewässern zwischen den Schiffen.

Aber das war das echte Meer. Hier bot sich ein Blick, den ich lange auf mich wirken ließ. Endlich vertrieben die Tabletten den Schmerz. Ich musste meine Augen nicht länger zusammenkneifen, und das Pochen in meinem Kopf ließ nach. Ich griff nach einem Badetuch, das auf einem Tisch neben mir lag, und wickelte es mir um die Hüfte. Um die Ecke fand ich eine Treppe, die auf das Dach führte.

»Darf Frühstück servieren?«, fragte eine uniformierte Dame in gebrochenem Deutsch, die Weintrauben und zwei Flaschen Orangensaft auf einen Tisch neben dem Pool stellte.

Ich blickte sie an und sagte nichts.

»Herr Doktor Kurath?«

Kurath also. Zumindest das passte. »Bitte warten Sie noch. Ich wollte noch etwas schwimmen.«

»Bitte Entschuldigung. Nicht stören. Sie sagen, ich soll Frühstück für sieben Uhr neben dem Pool bereit. Wegen Ausflug nach Hydra. Wenn Sie schwimmen möchten, entferne ich sofort.«

Hydra, schoss es mir durch den Kopf. Ich war wohl in Griechenland oder der Türkei. Jugoslawien war auch eine Möglichkeit.

»Nicht notwendig. Das hatte ich vergessen. Bitte bereiten Sie das Frühstück wie geplant vor. Sieben Uhr klingt wunderbar. Ich kann auch später schwimmen gehen.«

Die Dame nickte und wandte sich ihrer Arbeit zu. Ich ging die Treppe hinunter und nahm auf einem Sessel auf dem Balkon Platz. Auf dem Tisch vor mir lagen eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug. Ich steckte mir eine an und blies den Rauch in die Meeresluft.

Einige Minuten später kam die brünette Frau auf den Balkon. Sie hatte ein beinahe durchsichtiges Nachthemd übergezogen, durch das ich ihre Brüste und den Slip sehen konnte. Ich hatte über die Jahre gelernt, aus einem Gespräch über Belanglosigkeiten die relevanten Informationen zu ziehen. Ich musste fragen, bevor sie es tat.

»Das nenn ich einen Sonnenaufgang. Ist das nicht schön hier?«

»Ja. Ein Traum. Du hattest recht, hierher zu fahren.«

Scheinbar kannte ich sie schon länger. Es schien sich um eine Reise zu handeln, die wir gemeinsam geplant hatten. Sie nahm neben mir Platz und griff nach den Zigaretten.

»Willst du eine?«

»Im Urlaub schon!«

Ich steckte mir noch eine an und nahm einen tiefen Zug.

»Wie wohl das Wetter zu Hause ist?«, fragte ich beiläufig und blickte übers Meer.

»Ich habe keine Ahnung und will es auch gar nicht wissen. Ich bin froh, nicht in Wien zu sein.« Sie lachte und zündete die Zigarette an, nahm einen Zug und blies den Rauch in einer anmutigen Bewegung, bei der sie ihren Kopf Richtung Himmel hob, in die Luft.

»Ich bin schon so entspannt, dass ich nicht mal mehr weiß, welcher Tag heute ist«, sagte ich und lächelte ihr zu. »Es könnte aber auch an der gestrigen Nacht liegen.«

»Montag, glaube ich.« Sie blies erneut Rauch in die Luft. »Gestern war wunderschön. Ich wusste nicht, dass du so viel trinken und dennoch so gut tanzen kannst.« Sie lachte, stand auf, kam zu mir herüber und setzte sich auf meinen Schoß, küsste mich auf die Stirn und rieb sich an meinem Schambein.

Etwas grob schob ich sie beiseite und stand auf, woraufhin sie mich mit ihren Armen umschlang. Ich konnte das nicht tun. Ich kam gerade erst von Clara, die ich wohl nie wiedersehen würde, wenn sich alles so verhielt wie bisher.

»Oben gibt’s Frühstück«, flüsterte ich in ihr Ohr.

Sie biss in mein Ohrläppchen. »Aber zuerst vernasche ich dich.«

»Wir sollten uns beeilen, wenn wir nach Hydra wollen.«

Ich trug sie über die Stufen, vorbei am Pool und hin zu dem kleinen Tischchen, auf dem die Speisen standen.

»Ich komme gleich wieder. Muss mal«, sagte ich.

Die Frau setzte sich sichtlich enttäuscht an den Tisch. »Komm schnell wieder! Wir sollten genau dort weitermachen, wo wir letzte Nacht aufgehört haben.«

Ich ging zurück in das Zimmer und dann ins Bad, das ich von innen absperrte. Dann betrachtete ich mein Spiegelbild. Den grauen Dreitagebart trug ich oft. Die lockigen Haare standen in alle Richtungen. Wenigstens mein Aussehen glich einigermaßen dem, was ich gewohnt war. Ich verließ das Badezimmer und suchte nach der Handtasche der Frau. Bingo. Ihr Pass identifizierte sie als Julia Zimmer. Achtundzwanzig Jahre alt. Schweizer Staatsbürgerin. Ich kramte weiter und fand zwei Briefumschläge, in denen sich Flugtickets befanden. Frau Doktor Julia Zimmer. Ein zusammengefaltetes Magazin für Dermatologie. Daneben ein paar Fachartikel und ein Kriminalroman. Ich öffnete die Tür zum begehbaren Schrank. In ihrem Reisekoffer fand ich einen weiteren Briefumschlag, aus dem ich eine Glückwunschkarte zog.

»Zur Hochzeit alles Gute. Lasst es euch gut gehen. Eure Eltern!«

Vier Unterschriften. Meine Eltern waren doch tot. Zumindest meistens. Mir glitt die Karte aus der Hand. Wie gelähmt stand ich vor einem Wandspiegel und blickte in meine rot unterlaufenen Augen. Es bestand kein Zweifel. Ich war hier auf Flitterwochen. Was sollte ich nun tun? Immer hatte ich mich vor einem Leben mit so viel Bedeutung geängstigt. Ich wollte nichts zerstören. Nichts in die falsche Bahn lenken. Am liebsten hätte ich mich in nichts aufgelöst. Die Kopfschmerzen fielen mir wieder ein. Der gestrige Abend musste ausgelassen gewesen sein. Den Flugtickets nach zu urteilen, würden wir zwanzig Tage in Griechenland bleiben. Was sollte ich nur tun?

Wenig später saß ich mit Sonnenbrille und Strohhut, den ich tief über die Stirn gezogen hatte, neben Julia auf einer Bank eines Motorbootes. Sie streichelte meinen Bauch. Die Kopfschmerzen waren meine Rettung gewesen. Nachdem ich ihr gesagt hatte, dass ich mich fühlte, als bearbeite jemand mein Gehirn mit einem Presslufthammer, hatte Julia in den Modus der Fürsorglichkeit umgeschaltet. Selbst das störte mich in meiner momentanen Situation, doch es war erträglicher, als ihre penetranten Annäherungsversuche abzuwehren.

Mein Arm lag auf ihrer Schulter, und ich blickte abwesend in die Ferne. Einige vom Wind zerfetzte Wolken zogen über den Himmel. Die Sonne hatte inzwischen den Zenit erreicht und brannte unnachgiebig auf die Felsen und das verdorrte Gras der Inseln, an denen wir vorüberfuhren. Die wenigen Büsche schienen die sengende Hitze am Boden zusammengekauert zu erdulden. Alles Leben war in den Schatten verbannt.

Ich dachte an Clara. Die vier Monate, die ich mit ihr zusammen gewesen war, schienen mir wie eine Ewigkeit entfernt. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, so viele Details wie möglich in Erinnerung zu behalten. Über Mnemotechniken zu lesen, gehörte neben der Philosophie zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Es war erstaunlich, wie viel der menschliche Geist im Gedächtnis speichern konnte, wenn er darauf trainiert wurde. Ich hatte jedoch gemerkt, dass ich es nicht schaffte, neben dem faktischen Wissen, das sich leicht und fast nach Belieben abspeichern ließ, ein inneres Bild des Aussehens eines Menschen zu behalten. Auch Düfte und Empfindungen rutschten, mit oder ohne Mnemotechnik, stets ins Abstrakte. Dies oder jenes war schön. Dies oder jenes sah toll aus oder schmeckte gut. Ein Moment konnte für mich nur als die Summe seiner faktischen Zuschreibungen weiterexistieren, nie jedoch als wiederbelebbare Empfindung. Ich fragte mich, ob es anderen Menschen auch so ging. Alles Erinnern war immer nur entrücktes Betrachten, die Projektion eines Gegenstands auf eine Wand, die ich beschreiben konnte, ohne den Gegenstand je wieder sehen oder fühlen zu können.

Ich merkte den Strudel, in den mich diese Überlegungen zogen, und brach sie abrupt ab. Ohne etwas zu sagen, drückte ich Julias Hände und schob meinen Körper näher an ihren.

Hydra war bezaubernd. Die roten Dächer der Häuser fügten sich so achtsam in die Landschaft, dass sie in mir den Eindruck erweckten, sie wären einst mit dem Gestein der Insel aus der glühenden Lava gegossen worden. Die Menschen wirkten zwischen den Gemäuern vergänglich und zerbrechlich. Austauschbar, so wie sie es für mich immer waren. Ein namenloses Füllwerk im Gemäuer der Zeit. Ich spazierte neben Julia her, die auf mich einredete und alle paar Meter ein Foto von sich verlangte. So hübsch sie war, so sehr nervte mich ihr Geplapper. Dennoch war es hilfreich. Ich stellte ein paar Fragen und erfuhr mehr über uns: wo wir wohnten, wen wir mochten und wen nicht, wer uns mochte und wer nicht. Doch zu den Namen gab es keine Gesichter und zu den Plätzen keine Erinnerung. Zuschreibungen ohne Vergangenheit. Ich war Arzt wie sie, arbeitete im gleichen Krankenhaus. Radiologe. Ich hatte sie vor Jahren eingestellt. In meinen Arm eingehängt erzählte sie von der Parkgarage des Krankenhauses, in der wir uns das erste Mal nähergekommen waren. Dennoch verlor ich irgendwann das Interesse und gab nur noch mit leisen Lauten oder Nicken vor, ihren Ausführungen zu folgen. Ich dachte an das blinkende Licht. An Claras Hand. Julia merkte es nicht. Ihre Aufmerksamkeit wurde von den anderen Touristen, den Geschäften und ihrem Mobiltelefon absorbiert. Ich hingegen hatte mein Telefon im Hotelzimmer liegen gelassen, da ich dreimal den falschen Code eingegeben hatte. Der letzte Versuch sollte ihm gehören, dachte ich, ohne dieses »ihm« völlig zu verstehen.

Am Nachmittag gingen wir essen. Ich trank zwei Bier, und mit einem Mal kam das Kopfweh zurück. Als ich während des weiteren Spaziergangs durch die Stadt auf die Toilette musste und dazu in ein kleines Hotel ging, bestellte ich an der Bar zwei Schnäpse. Die betäubten den Schmerz und ließen mich in mich selbst versunken neben Julia hertrotten. Sie redete in einem fort. Ich zuckte manchmal mit den Schultern und nickte, wenn sie mich direkt anblickte. Ich wünschte mich inständig auf das Boot, zurück ins Hotel, in den Schlaf. Kurz vor der Abfahrt trank ich noch ein Bier. Julia blickte mich entgeistert an, fragte mich, weshalb ich so viel tränke. Ich begründete es mit meinem Kopfweh. Im Boot legte ich mich auf die Sitzbank, mein Kopf ruhte in Julias Schoß, und ich merkte, wie ich einschlief. Ich musste schnellstmöglich von der Insel. In diesem erzwungenen Glück würde ich es keine zehn Tage aushalten. Ich hoffte auf den Schlaf, der in seltenen Fällen auch mal etwas Gutes bringen konnte.