Das Strandbad am Wolzensee - Britta Orlowski - E-Book
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Das Strandbad am Wolzensee E-Book

Britta Orlowski

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Beschreibung

Wenn Träume Wirklichkeit werden

Brandenburger Land in den 50er Jahren: Luisa von Rochlitz hat einen Traum: Sie möchte Das Strandbad am Wolzensee wieder aufbauen und damit endlich ihr Leben in die eigenen Hände nehmen. Doch nicht nur der neue Staatsapparat legt ihr Steine in den Weg, sondern auch ihre Familie, die es für Unsinn hält, dass eine junge Frau ein eigenes Unternehmen leitet. Allein der hilfsbereite Paul steht Luisa tatkräftig zur Seite und unterstützt sie bei der Verwirklichung ihres Traums. Werden sie es gemeinsam schaffen, sich gegen alle Widerstände durchzusetzen?

Ein Strandbad voller Geschichte und eine junge Frau, die gegen die Konventionen ihrer Zeit kämpft.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Zitat

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Danksagung

Über die Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Brandenburger Land in den 50er Jahren: Luisa von Rochlitz hat einen Traum: Sie möchte das Strandbad am Wolzensee wieder aufbauen und damit endlich ihr Leben in die eigenen Hände nehmen. Doch nicht nur der neue Staatsapparat legt ihr Steine in den Weg, sondern auch ihre Familie, die es für Unsinn hält, dass eine junge Frau ein eigenes Unternehmen leitet. Allein der hilfsbereite Paul steht Luisa tatkräftig zur Seite und unterstützt sie bei der Verwirklichung ihres Traums. Werden sie es gemeinsam schaffen, sich gegen alle Widerstände durchzusetzen?

Britta Orlowski

Das Strandbadam Wolzensee

Für meine Eltern – danke für all die schönen Sommer meiner Kindheit am Wolzensee

»Wenn es einen Glauben gibt, der Berge versetzen kann, so ist es der Glaube an die eigene Kraft.«

Marie von Ebner-Eschenbach

1

April 1950

Der Wolzensee kannte keine Eile. Er lag eingebettet inmitten lichter Wälder, und seine gemächlichen Wellen glitzerten in der Sonne. Sie führten nirgendwohin und trugen doch Hoffnung an die von Schilf bewachsenen Ufer. Hoffnung war es, die Luisa von Rochlitz nie aufgegeben hatte während dieses schrecklichen Krieges, der nun seit fünf Jahren vorbei war.

Wie fast jeden Morgen stand sie mit den Füßen im Wasser und blickte auf den umlaufenden U-förmigen Betonsteg der ehemaligen Schwimmsportstätte. Er hatte schon als Begrenzung gedient, als hier einst den Regimentsmitgliedern der Zieten-Husaren das Schwimmen beigebracht worden war. Lange, bevor Luisas Vater, Julius Marquardt Senior, das Anwesen in den Zwanzigern gekauft hatte. Seitdem verbrachte ihre Familie die Sommerfrische am idyllischen Wolzensee in Rathenow, das man mit der Eisenbahn von Berlin aus in einer knappen Stunde erreichte.

Ein balzendes Haubentaucherpaar, das mit gespreizten Federhauben heftig die Köpfe schüttelte, riss Luisa aus ihren Gedanken. Durch rasches Paddeln mit den Füßen erhoben sich die Vögel fast senkrecht voreinander aus dem Wasser. Sie sehen aus wie Pinguine, dachte Luisa amüsiert und sah ihnen eine Weile zu.

Aber dann ballten sich am Himmel Wolkenberge zusammen, die es der Sonne schwer machten, hindurchzublinzeln. Luisa wandte sich um und ging zurück. Das zweistöckige Haus der Familie war eine stattliche Villa, und doch duckte es sich unter hohen Birken und Pappeln, als suche es Schutz. Plötzlich begann es wie aus Eimern zu schütten. Luisa rannte die ausladende steinerne Treppe hinauf, schlüpfte durch die Haustür und lief in die große Küche. Um diese frühe Uhrzeit war im Haus noch alles still, was ihr die Gelegenheit gab, sich die zurechtgelegten Worte ins Gedächtnis zu rufen. »So kann es nicht weitergehen«, sagte sie zu dem Herd. »Der Krieg ist seit fünf Jahren vorbei, und niemand von euch tut etwas. Wovon sollen wir in Zukunft leben? Die Gelegenheitsarbeiten werden auf die Dauer nicht reichen, um dieses Haus zu unterhalten und uns zu versorgen. Hajo ist immer noch nicht in der Lage, die Geschicke der Familie zu leiten.« Sie schluckte, als sie an ihren Mann dachte, kramte nach einem Kochlöffel und schwang ihn wie ein Zepter energisch durch die Luft. »Deshalb habe ich mir etwas einfallen lassen.« Sie wusste, wenn sie diese Rede halten würde, musste sie an der Stelle eine kleine Pause einlegen, damit sie sich der Aufmerksamkeit ihrer Angehörigen sicher sein konnte. »Warum nutzen wir nicht das, was wir haben, und bauen ein kleines Familienunternehmen darauf auf?«

Hinter ihrem Rücken erklang ein einsamer Applaus. »Bravo.«

Mit klopfendem Herzen wirbelte Luisa herum. Im Türrahmen stand ihre Schwiegermutter, Christiane von Rochlitz, und lächelte warmherzig. »Ich bin so froh, dass du die Initiative ergreifst. Auf meinen Sohn ...«, sie stockte und senkte für einen Moment den Blick, »deinen Mann können wir nicht hoffen.«

Sie blinzelte, und Luisa war sich nicht sicher, ob da eine Träne in ihrem Augenwinkel schimmerte.

»Du bist mir nicht böse?«, flüsterte Luisa mit angehaltenem Atem.

»Mein liebes Kind, nein. Wie könnte ich? Du bist es doch, die seit dem Krieg die Familie zusammenhält. Das ist mir nicht entgangen.« Christiane trat auf sie zu und strich mit dem Finger sanft über Luisas Wange. »Du hast also einen Plan. Sehe ich das richtig?«

Luisa drehte sich um, zog eine Pfanne aus dem Schrank und knallte sie heftiger als beabsichtigt auf den Herd. »Ja.«

»Erzähl.«

»Wir werden ein Strandbad eröffnen ... mit allem, was dazugehört.« Sie umklammerte den Pfannengriff und starrte gleichzeitig über die Schulter ihre Schwiegermutter an.

»Und das wäre?«, fragte diese knapp.

Luisa konnte sich täuschen, aber Christiane schien offenbar neugierig. »Einer Liegewiese, Bootsverleih, Schwimmsportveranstaltungen und einem Imbiss«, platzte es aus ihr heraus.

Christiane runzelte die Stirn und verzog dann den Mund zu einem Lächeln, das immer breiter wurde. »Ich helfe dir.« Mit diesen Worten schob sie sich an Luisa vorbei, gab etwas Margarine in die Pfanne und zündete die Gasflamme darunter an.

Luisa wurde in diesem Moment klar, dass ihre Schwiegermutter nicht das Frühstück meinte, und atmete erleichtert aus. Christianes Segen hatte sie also für ihr großes Ziel. Am Ende ihres verwegenen Traums stand ein florierendes Strandbad mit Restaurant und Kulturveranstaltungen. Doch das würde sie noch ein wenig für sich behalten.

»Luisa, gibt es heute kein Frühstück?«, erklang es ungehalten aus dem Esszimmer.

»Josepha«, flüsterten Luisa und ihre Schwiegermutter gleichzeitig und verdrehten die Augen. Normalerweise würde sie es nicht wagen, ihre Mutter beim Vornamen zu nennen, aber Christianes Beistand für ihr Vorhaben versetzte sie geradezu in Euphorie. »Kommt gleich«, rief sie zurück.

»Wie oft habe ich dir schon gesagt: Sprich in ganzen Sätzen, Luisa«, erklang es dumpf aus dem Nebenraum.

»Ja, Mutter. Heute gibt es Rühreier und Speck ... zur Feier des Tages.« Luisa warf Christiane einen Blick zu, und diese nickte aufmunternd.

»Wieso? Heute ist ein normaler Sonntag«, ließ sich ihre Mutter vernehmen.

Eben nicht.

»Warum müsst ihr euch so laut unterhalten, dass man euch im ganzen Haus hören kann? Ich verspüre die ersten Anzeichen einer Migräne.« Luisas Schwägerin Ellinor stand im Flur und presste mit Leidensmiene Daumen und Mittelfinger gegen die Nasenwurzel.

Während Christiane die Eier in der Pfanne verrührte, lud Luisa Butter, Salzstreuer, die selbst gemachte Brombeermarmelade vom letzten Jahr und das Besteck auf ein Tablett. Leider stand, wie meistens, nur Muckefuck zur Verfügung, aber mit etwas Milch verrührt schmeckte er gar nicht mal übel. Der Kaffee-Ersatz aus Getreide und Zichorien war viel preiswerter als richtiger Bohnenkaffee. Wenn sie ihre Mutter schon mit deren Lieblingsfrühstück aus der guten alten Zeit bestach, in das sie seit einer Englandreise vor fünfundzwanzig Jahren vernarrt war, mussten die Prioritäten anders verteilt werden. Nach dem Frühstück würde sie die Familie ins Bild setzen. Sie konnte ihr Vorhaben einfach nicht länger aufschieben und wollte es hinter sich bringen.

Das Gespräch wird bestimmt in einem Fiasko enden, ging es Luisa wenig später durch den Kopf. Sie verbarg ihre zitternden Hände unter dem Tisch. Wahrscheinlich fiel niemandem auf, dass sie als Einzige keinen Bissen hinunterbrachte. Weder ihrer Schwiegermutter noch ihrer Schwägerin Ellinor, die sich zum zweiten Mal knusprigen Speck aus der Pfanne nahm, ohne die anderen zu fragen, ob noch jemand etwas davon haben wollte. Oder Peter, dem achtjährigen Sohn ihres ältesten Bruders Julius und seiner Frau Ellinor, der den heißen Muckefuck durch ein Stück Zucker zwischen seinen Zähnen schlürfte, was Luisa eine Gänsehaut bereitete. Und schon gar nicht Hajo, der die Fürsorge seiner Mutter, die ihm den Brotkorb und die Marmelade zuschob, schlichtweg ignorierte und nur stumm auf seinen Teller starrte.

In Josephas Mundwinkel hing ein kleiner Rest Rührei, den sie nun mit der Serviette abtupfte. »Luisa, ich kann nur hoffen, dass du zu scherzen beliebst. Eine junge, verheiratete Frau wie du sollte sich liebevoll um ihren Mann kümmern.«

Luisa blickte rasch in Hajos Richtung, aber der sah nach wie vor auf seinen Teller, der fast ebenso unberührt war wie ihrer. »Ihm bei all seinen Aufgaben Unterstützung angedeihen lassen und ...« Ihre Mutter ließ den Satz in der Luft hängen.

Luisa konnte ihn indes mühelos im Stillen fortführen: Kinder in die Welt setzen. Doch genau das würde nicht passieren. Hajo hatte im Krieg nicht nur die Amputation seines linken Unterschenkels über sich ergehen lassen müssen. Sie hatte die Narben an seinem Unterleib gesehen. Zwar verlor er darüber kein Wort, aber es war sehr unwahrscheinlich, dass ihr Mann jemals würde Kinder zeugen können.

»Nun, wie auch immer«, holte Josepha sie aus ihren Gedanken. »Es ist unsinnig, dass du ein Unternehmen leiten willst, Luisa. Schlag dir das aus dem Kopf.« Achtlos warf sie die Serviette von sich, die auf der Butter landete.

»Pass doch bitte auf, Mutter!« Luisa hob die Serviette hoch und bemühte sich, den aufsteigenden Ärger hinunterzuschlucken.

»Ich muss schon sehr bitten«, mischte sich Ellinor ein. »Wie du in letzter Zeit mit deiner Mutter redest! Und übrigens nicht nur mit ihr ...«

Luisa presste ihre Lippen zusammen und ballte die Fäuste. Gerade noch rechtzeitig, so hoffte sie, schob sie sie wieder unter den Tisch.

Hajo bemerkte es dennoch und warf ihr einen raschen Blick zu, als wolle er sie ermahnen. Dann räusperte er sich in Ellinors Richtung, und Luisa versuchte, an seiner Miene abzulesen, ob er sie verteidigen würde. Es war jedoch nur ein müdes Lächeln, das er ihr zuwarf. Er war ein anderer Mann, seit er aus dem Krieg nach Hause zurückgekehrt war.

»Also, ich kann mich beim besten Willen nicht über Luisas Manieren beschweren.« Christiane zog den kleinen Löffel aus der Marmelade und klopfte ihn am Rand des Glases ab. »Und im Übrigen hat sie recht. Wir müssen etwas unternehmen. Am Haus stehen Reparaturen an, von den laufenden Kosten will ich gar nicht erst reden, und das Vermögen der Marquardts gibt es nicht mehr. Bis auf diesen Hektar Land am Wolzensee. Hierauf ein Unternehmen aufzubauen halte ich für die klügste Idee seit Langem.«

Empört sah Josepha Christiane an, die unter dem Tisch kurz Luisas Hand streichelte.

Immerhin lenkte Ellinor nun ein. »Ganz unrecht habt ihr natürlich nicht.« Sie hob ihre Tasse und spreizte dabei den kleinen Finger ab, wie es ihr ganz sicher als Kind beigebracht worden war. Ebenso wie Luisa, die solche Gepflogenheiten inzwischen jedoch affig fand und längst darauf verzichtete.

»Aber wenn ich so darüber nachdenke, steht all das hier meinem Mann zu. Nicht wahr?« Ellinor setzte ein überlegenes Lächeln auf, trank einen Schluck und verzog dann das Gesicht, als wolle Luisa sie mit dem Muckefuck vergiften. »Julius ist der Erbe der Marquardts, ihm würde das Unternehmen, nennen wir es ruhig ›Strandbad Wolzensee‹, zustehen. Und bei aller Liebe: Julius ist mit mir verheiratet.«

Was Ellinor damit sagen wollte, war jedem am Tisch klar.

»Das stimmt genau«, pflichtete Josepha ihr bei.

»Ja, natürlich. Aber Julius gilt als im Krieg verschollen und ist demzufolge nun mal nicht hier«, brachte Christiane es auf den Punkt.

»Aber ich bin es«, stellte Ellinor klar.

»Ja, ist es denn nicht schön, dass wir uns alle nach den schrecklichen Zeiten hier zusammengefunden haben? Ich bin sehr dankbar dafür.« Christiane presste die Hände auf ihr Herz.

»Es war sehr großzügig von Josepha, dich und dann auch deinen Sohn aufzunehmen. Versteh mich nicht falsch, Hajo.« Ellinor warf Luisas Mann ein aufgesetztes Lächeln zu.

Luisa hielt ihrer Mutter zugute, dass sie bei den Worten ihrer Schwiegertochter immerhin peinlich berührt errötet war. Es konnte Ellinor wohl kaum entgangen sein, dass Christiane es war, die Luisa von Zeit zu Zeit Geld zusteckte, damit sie nicht alle verhungerten.

»So, wie es aussieht, bist du wohl jetzt das Familienoberhaupt«, brach es aus Luisa heraus. Wütend funkelte sie ihre Schwägerin an. »Bestimmt hast du dann einen Plan für unserer aller Zukunft parat.«

»Den habe ich in der Tat«, trumpfte Ellinor gehässig auf.

Luisa verschränkte die Arme vor der Brust. Sie war fest entschlossen, ihr Vorhaben nicht fallen zu lassen.

»Wir könnten ein Hotel eröffnen, hier am Wolzensee«, fuhr Ellinor fort.

Luisa beobachtete, dass ihre Mutter bereits über den Vorschlag ihrer Schwiegertochter nachdachte. Sie konnte sogar die Sekunde ausmachen, in der sie mit den Gedanken über den entscheidenden Punkt stolperte. Für ein Hotel bräuchten sie einen hohen Kredit. Im selben Moment besaß Ellinor doch tatsächlich die Unverfrorenheit, Hajo zuzuzwinkern. Quasi als Aufforderung, seine Mutter zu einer Finanzspritze zu überreden.

Er verstand es offenbar genauso wie Luisa und stieß ein abschätziges Lachen aus. »Macht, was ihr wollt«, sagte er, stützte sich auf der Tischkante ab und erhob sich schwerfällig. Da er sein linkes Bein mit der Prothese nachzog, schlurfte er mit ungelenken Schritten über den Flur zur Haustür. Christiane sah ihrem Sohn besorgt nach.

»Das ist jetzt aber mal wieder typisch«, bemerkte Ellinor.

»Halt den Mund!« Zwar schoss Luisa derselbe Gedanke durch den Kopf, aber ihrer Schwägerin stand es nicht zu, ihn auszusprechen.

Josepha hieb mit der flachen Hand so fest auf den Tisch, dass die Tassen klirrten. »Ende der Diskussion. Wir müssen eine Lösung finden, ohne Frage. Aber ich schlage vor, eine Entscheidung von solcher Tragweite zu vertagen. Bis Julius heimkehrt.«

Doch wann wird das sein, und was, wenn er nie mehr kommt?, fragte sich Luisa.

»Rößler, Menschenskind, Paul, ein Anruf aus der Lungenheilstätte. Deiner Mutter geht es schlecht.«

Mit dieser Hiobsbotschaft holte sein Meister ihn während der Frühschicht in der Mechanikwerkstatt auf dem Werksgelände des ehemaligen Motorrad- und Fahrzeugwerkes Brennabor zu sich. Nicht weit von der Stelle, wo Paul damals unter einer Plane das Motorrad, in Einzelteile zerlegt, gefunden hatte. Niemand wusste, warum es dort gelegen und wem es ursprünglich gehört hatte. Sein Meister hatte erlaubt, dass Paul es zusammenbaute, und er hatte so lange daran herumgebastelt, bis er die Maschine wieder flottbekam.

Jetzt holperte Pauls Herz in der Brust und hämmerte schmerzhaft gegen die Rippen. Er ließ den schweren Schraubenschlüssel fallen und wischte sich über die Stirn.

»Sie haben gesagt, du sollst so schnell wie möglich kommen. Die Zeit drängt.« In einer väterlichen Geste legte ihm der Meister die Hand auf die Schulter. »Du bist ganz blass geworden. Geh, mein Junge. Beeil dich! Und melde dich ...«

Noch während sein Meister ihm die Aufforderung, ihn auf dem Laufenden zu halten, hinterherrief, rannte Paul los in den Hof der Brandenburger Traktorenwerke, wo sein Motorrad abgestellt war und der Pförtner stets ein wachsames Auge darauf hatte. Da Paul gleich in der Nähe ein kleines Zimmer bewohnte, das er zu Fuß in ein paar Minuten erreichte, stand seine geliebte Excelsior Brennabor die meiste Zeit in der Woche herum. Er konnte es sich ohnehin nicht leisten, ständig zum reinen Vergnügen mit dem Motorrad zu fahren. Aber hergeben würde er sie auf gar keinen Fall.

Erst beim dritten Antritt sprang der Motor an, Paul schwang sich eilig auf den Sitz und raste los. Er fluchte über den Regen, den das Aprilgewitter über dem Land ausgekippt hatte und der einfach nicht enden wollte, während er von Brandenburg in Richtung Rathenow fuhr. Der Staub der letzten trockenen Wochen hatte sich mit dem Regen zu einem rutschigen Film verbunden, der die holprige Pflasterstraße unter seinen Reifen glatt wie Eis werden ließ und immer wieder an seinem Hinterrad zog. Ein Unfall hätte ihm jetzt gerade noch gefehlt. Er wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht, aber es brachte rein gar nichts.

In den Pfützen schimmerten regenbogenfarbene Benzinsprenkel. Der Wind zerrte an seinen Haaren, schoss messerscharf durch seine dünne Jacke, die zu seiner Arbeitskleidung gehörte, und kalter Regen durchdrang sein Hemd. Weder hatte Paul an die Lederjacke noch an den Helm samt Brille gedacht, die in seinem Zimmer am Garderobenhaken hingen.

Sein Herz klopfte immer noch in einem falschen Rhythmus, und im Magen ballte sich ein viel zu großer Knoten zusammen. Wieder wischte er sich übers Gesicht und war froh, dass es auf halbem Weg von Brandenburg nach Rathenow endlich aufhörte zu regnen. Doch da sich die Wolken am Himmel aneinander festzuhalten schienen, war ihm wahrscheinlich nur eine kurze Pause vergönnt. Hoffentlich hatte er noch genügend Benzin im Tank, um es bis zur Heilstätte im Rathenower Stadtforst zu schaffen.

Glücklicherweise hielt sich das Wetter, obwohl es keinen Unterschied mehr machte, denn er war bereits nass bis auf die Haut. Darum würde Paul sich später kümmern. Jetzt ging es einzig und allein um seine Mutter. Als er das Anwesen erreichte, verschwendete er keinen Blick auf das zweistöckige Haus mit dem Walmdach und dem runden Türmchen, das sich majestätisch im Wald erhob. Er war so oft hier gewesen, dass er das Bild mit geschlossenen Augen aufrufen konnte. Am großen Eingangsportal war niemand zu sehen, und so fuhr er hindurch, stellte aber sofort den Motor ab und ließ sich bis fast vor die Haustür ausrollen. Das Einzige, was Paul dabei bemerkte, war der trockene Boden und das Fehlen aufblitzender Pfützen im grauen Morgenlicht. In Rathenow hatte es offenbar noch nicht geregnet, aber wenn er sich den Himmel ansah, konnte es nicht mehr lange dauern. Dennoch ließ er sein Motorrad achtlos stehen und rannte in das Haupthaus, wo ihm scharfe Desinfektionsmittel unangenehm in die Nase stachen. Er hastete weiter über den langen Flur.

»He, wohin wollen Sie, junger Mann?«, rief eine Frau aufgebracht in seinem Rücken.

Paul blieb abrupt stehen und wandte sich um. »Man hat mich benachrichtigt, meiner Mutter gehe es schlecht.«

Die rundliche Krankenschwester legte den Kopf schief und musterte ihn streng. »Name?«

»Paul Rößler.«

Sie verdrehte die Augen und stemmte die Hände in die Hüften. »Der Name Ihrer Mutter.«

»Auch Rößler, Barbara«, stieß er atemlos aus, da die Angst ihm jetzt fast die Stimme raubte. Bildete er es sich nur ein, oder warf ihm die resolute Krankenschwester einen mitleidigen Blick zu? Schließlich nickte sie und versuchte sich an einem aufgesetzten freundlichen Lächeln. In seiner Kehle begann es zu schmerzen, als triebe dort eine geballte Faust ihr Unwesen.

»Gehen Sie nur, Jungchen.« Sie wies mit der Hand den Flur entlang. »Immer geradeaus, am Ende des Ganges links.« Ihr mildes Lächeln hielt ihm immer noch stand und sollte ihn wohl beruhigen, doch das tat es nicht, im Gegenteil.

Als er endlich die Tür erreichte, verließ ihn beinahe der Mut. Zögernd legte er die Hand auf die Klinke, straffte die Schultern und zwang sich, tief einzuatmen. Er klopfte leise an und betrat das Krankenzimmer, ohne auf das »Herein« zu warten. Seine Mutter lag blass, klein und vollkommen reglos im Bett. Ihre Lippen schimmerten in einem dramatischen Lila.

Obwohl Paul versucht hatte, sich auf diesen Moment vorzubereiten, erschrak er zutiefst. Mit wenigen Schritten erreichte er sie und sank auf den Stuhl, der neben dem Bett stand. Der Atem seiner Mutter quälte sich pfeifend durch ihre Lungen. Ihr Anblick fuhr ihm direkt in den Magen und verursachte Übelkeit. Er wollte nicht weinen und strich sanft über ihre Hand, auf der er mühelos die Adern nachzeichnen konnte. »Mama? Kannst du mich hören?«

Ihre Lider flatterten.

2

Luisa musste sich beherrschen, bevor sie sich vergaß und ihr womöglich Worte über die Lippen kamen, die ihre Familie gänzlich gegen sie aufbrachte. Als sie den Kopf hob, streifte ihr Blick Christiane, die kaum merklich nickte. Luisa nahm es als Aufforderung, das Esszimmer zu verlassen. Zwar regnete es immer noch, aber sie brauchte dringend frische Luft. »Entschuldigt mich.«

Im Flur warf sie sich hastig das Regencape über, schlüpfte in ihre Schuhe und rannte aus dem Haus. Es war unmöglich für sie, tatenlos darauf zu warten, ob ihr älterer Bruder, der als verschollen galt, heimkam. Sosehr sie sich für Julius wünschte, dass er nach Hause zurückkehrte, so war ihr doch klar, dass sie trotzdem das Strandbad aufbauen wollte – als Geschäftsführerin oder wenigstens als gleichberechtigte Partnerin. Sie war einfach nicht dafür geschaffen, von Entscheidungen anderer abhängig zu sein.

Wenn nur ihr jüngerer Bruder Robert hier gewesen wäre! Mit ihm an ihrer Seite wäre es so viel leichter, ihren Traum lebendig werden zu lassen. Im Stillen hörte sie noch sein helles fröhliches Lachen, aber Robert war in Stalingrad umgekommen, als er gerade einmal neunzehn Jahre alt gewesen war, und würde ihr nie mehr helfen können. Luisa spürte, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten und schließlich überliefen, wie so oft, wenn sie an ihren Bruder dachte.

Sie sprang über eine große Pfütze und bog auf den Trampelpfad ab, der um den See herumführte. Ihre Schuhe waren, ebenso wie die einst teure Steghose, nach wenigen Schritten mit Schlammspritzern übersät. Sie lief immer weiter, scheuchte unbeabsichtigt ein paar Vögel auf und blieb irgendwann stehen, weil sie es vor heftigem Seitenstechen nicht mehr aushielt. Zu ihrem Leidwesen sah sie in Gedanken Jupp Schmitz vor sich, der seinen Faschingsohrwurm Wer soll das bezahlen? rotierend wie ein Jahrmarktskarussell vor sich hin schmetterte. »Nein, nein, nein, nein.« Luisa trommelte wild mit den Fäusten gegen den Stamm einer Birke, bis die Haut über ihren Fingerknöcheln aufplatzte und blutete. Da erst bemerkte sie Hajo. Er kauerte nicht weit von ihr entfernt auf dem kleinen Holzsteg, der von Anglern gern benutzt wurde und nicht mehr zum Grund und Boden ihrer Familie gehörte.

Hajo beobachtete sie. »Der Baum kann nichts dafür.«

»Das weiß ich.« Genervt holte Luisa tief Luft und blieb einen Moment lang reglos stehen, bevor sie sich dazu entschloss, auf ihren Mann zuzugehen, der sich inzwischen wieder umgewandt hatte und auf den See hinausstarrte. Als sie den Steg betrat, knarrten die Bretter leise unter ihren Schritten. »Ich werde das Strandbad aufbauen.« Sie sah auf Hajos Hinterkopf und entdeckte zahllose silberne Fäden in seinem Haar, obwohl er noch keine dreißig Jahre alt war. Kurz überlegte sie, die Hand auszustrecken und ihn zu berühren, ließ es jedoch bleiben.

Hajo schaute zwar nach wie vor blicklos auf den See, nickte aber. »Das dachte ich mir. Du hast dich verändert, Luisa.«

Das sagt der Richtige. Allein, wie nachlässig er sich seit seiner Genesung kleidete. Offenbar war ihm sein Äußeres nicht mehr wichtig. Nichts war ihm mehr wichtig. Immerhin hatte er sich rasiert und war wohl dabei abgerutscht. Sie entdeckte am Hals einen frischen Schnitt.

»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?« Luisa trat so nah an ihn heran, dass ihre Beine seinen Rücken streiften, und sah dabei ebenfalls auf das Wasser.

»Wir sind die Verlierer dieses sinnlosen Krieges.« Hajos Stimme war tonlos vor unendlicher Müdigkeit.

»Nein. Das ist nicht wahr. Wir hatten Glück. Haben wir nicht überlebt?« Dabei drückte sie ihre Knie so energisch gegen seinen Oberkörper, dass er sich festhalten musste, um nicht in den See zu fallen.

»Entschuldige.« Sie trat rasch einen Schritt zurück. »Ich kann nicht mehr warten, dass noch mal ein Wunder geschieht.«

Hajo stieß einen verächtlichen Ton aus. »Du bezeichnest unser Überleben ernsthaft als Wunder?«

»Natürlich, und ich möchte dein Einverständnis für meine Pläne.« Endlich nieselte es nur noch, und sie schob die Kapuze auf den Rücken.

»Luisa, habe ich dir je etwas abgeschlagen?«, fragte er matt. Irgendwo im dichten Schilf schnatterten ein paar Enten, als stritten sie sich.

»Nein«, gab sie fairerweise zu. Noch immer sahen sie sich nicht an.

»Na also. Ich kann dir keine große Hilfe sein. Es tut mir leid.« Die Resignation in seiner Stimme tat ihr weh. »Du wirst das schon machen.«

Am liebsten hätte sie ihn angeschrien, was das heißen solle. Doch er wirkte so verloren, dass sie es nicht übers Herz brachte. Stattdessen malte sie sich aus, wie er sich langsam erholen würde, wenn das Unternehmen Strandbad erst an Fahrt aufgenommen hätte. Wie die Energie und die Begeisterung in seinen Körper zurückkehren würden. In seinen Geist. Und vor allem in seine Seele. Es musste alles gut werden. Luisa wollte es so sehr.

Wenige Tage später, die Abschürfungen auf ihren Fingerknöcheln waren kaum noch zu sehen, hatte sie sich eines der Zimmer in ihrer Villa am See als Büro eingerichtet, in denen die Marquardts bis vor einem Jahr auf Weisung der Wohnraumkommission Flüchtlinge aus dem Osten untergebracht hatten. Eine anstrengende Zeit, in der Ellinor und die anderen Frauen ständig aneinandergeraten waren. Selbst Luisas Mutter hatte eingesehen, dass diese armen Menschen schließlich irgendwo wohnen mussten. Als die fünf Familien nach und nach ausgezogen waren, um anderswo neu anzufangen, entspannte sich die Atmosphäre im Haus wieder deutlich.

Luisa grübelte über den Zahlenkolonnen, die sie auf einen Schreibblock gekritzelt hatte. Mithilfe des Holzlineals und dem Bleistift unterteilte sie die Ziffern in mehrere Blöcke. Einzeln betrachtet sah das Ganze schon positiver aus. Es lag auf der Hand, dass sie nur Schritt für Schritt würde vorgehen können und zwischendurch immer wieder abwarten müsste, wie ihr Strandbad bei den Besuchern ankäme. Immerhin hatte sie bereits einen Antrag an den Rat der Stadt geschickt und wartete ungeduldig auf die Antwort. Nervös trommelte sie mit den Fingern auf die Schreibtischplatte, als könne sie so den ersehnten Posteingang beschleunigen.

»Mach dich nicht verrückt, Liebes.« Christiane betrat den Raum und brachte ihr eine Tasse Pfefferminztee.

»Danke.« Luisa lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Was würde ich nur ohne dich machen?«

»Nun, vermutlich selbst kochendes Wasser auf die Kräuter gießen.« Ihre Schwiegermutter lachte. »Wenn du hier im Büro erst mal nicht weiterkommst, kannst du dich doch anderweitig beschäftigen. Wie wäre es, wenn ich dir dabei helfe, auf dem Gelände ein bisschen Ordnung zu schaffen?«

»Das ist eine wunderbare Idee! Vom letzten Herbststurm liegen noch so viele Äste herum, und die kleineren Sträucher zur Wiese hin sollten wir auch beschneiden.« Eilig trank Luisa ihren Tee aus. Plötzlich konnte sie es nicht mehr abwarten, endlich anzufangen. Bald schon würde sich hier vieles verändern, sie spürte ein verheißungsvolles Kribbeln in den Händen.

Christiane hatte sich mit einem riesigen Rechen bewaffnet und schob Äste und Stöcke zusammen.

Luisa machte sich daran, das wild ausgesamte Unkraut an der Giebelseite des Hauses zu jäten. Unglaublich, wie hoch es gewachsen war. Sie hätte schon viel früher hier mal Grund reinbringen müssen. Aber bisher hatte Luisa die Prioritäten anders gesetzt und zahlreiche Aushilfsarbeiten angenommen. Zum Beispiel im Konsum die Regale einzuräumen, in einer Kohlenhandlung das Büro zu putzen oder Telefondienst in der Taxizentrale am Bahnhof zu leisten. Sie war sich zu nichts zu schade gewesen, um die Familie über Wasser zu halten. Zwar hatten sie alle für die Lebensmittelkarten arbeiten müssen, aber Luisa hatte sich entschieden mehr eingebracht und nebenbei immer mal wieder eine Extraration bekommen, die sie natürlich mit allen aus der Familie geteilt hatte. Christiane war oft mit von der Partie gewesen, doch dann war Hajo nach seiner schweren Verletzung heimgekommen, und seine Mutter hatte die Pflege übernommen. Jetzt wo es ihm körperlich deutlich besser ging, unterrichtete sie abends in einer Tanzschule. Als junge Frau, vor ihrer Hochzeit mit dem Papierfabrikanten Carl von Rochlitz, war Christiane eine gefeierte Tänzerin gewesen.

Ein seltsames Geräusch riss Luisa aus ihren Gedanken. Es klang beinahe wie die schlurfenden Schritte ihres Mannes, nur viel leiser, aber als sie sich umblickte, war niemand zu sehen außer Christiane, die sich ein Stück weiter weg nach einem Stock bückte. Da war es wieder zu hören, gleich schräg vor ihr am Haus. Seltsam. Plötzlich bewegte sich in Höhe ihres Knies hinter dem wuchernden Beifuß etwas. Als Luisa genauer hinschaute, entdeckte sie die mit einem Lochmuster versehene Metallplatte, auf die der Gärtner zu Glanzzeiten des Hauses immer eine Schale mit den schönsten Blumenarrangements gestellt hatte. Sie vernahm erneut dasselbe Geräusch, und gleichzeitig huschte etwas Graues über das Lochmuster. War etwa ein Vögelchen irgendwo aus dem Nest gefallen? Fest entschlossen, dem armen Küken zu helfen, blinzelte sie direkt in die Augen einer Ratte und begriff allmählich, was passiert war. Luisa schrie auf, ihr Herz pochte wild, und trotz ihrer weichen Knie preschte sie los.

Paul gab sich keinen Illusionen hin. Er würde seine Mutter bald verlieren, aber hier und heute nicht. Sie hatte dem Sensenmann noch einmal ein Schnippchen geschlagen, und er war unglaublich froh darüber. Lag es daran, dass er ihr jeden Tag Hühnerbrühe eingeflößt hatte, nachdem er einem Bauern in der Nähe ein fettes Huhn abgekauft und eine der Schwestern in der Heilstätte angefleht hatte, man möge eine Suppe für seine Mutter daraus kochen? Oder weil er stundenlang an ihrem Bett gesessen und ihr leise zugeflüstert hatte, dass er sie brauche? Den Grund würde er wohl nie herausfinden, Hauptsache, sie hatte sich etwas erholt. Ihre Wangen schienen nicht mehr ganz so durchsichtig, die Lippen waren rosiger, und das Atmen fiel ihr leichter.

»Jetzt denken Sie aber auch mal an sich und schlafen sich gründlich aus«, hatte ihn die Nachtschwester am Vorabend aufgefordert, nach Hause zu gehen. Doch Paul war viel zu müde gewesen, um mit dem Motorrad nach Brandenburg zu fahren. Die Wohnung seiner Mutter hatte er vor ein paar Wochen auflösen müssen, dorthin konnte er also auch nicht.

Ihm war nur Mitja eingefallen, sein russischer Freund, dem er sein Leben verdankte, seit er am Kriegsende in seinem Versteck aufgespürt worden war und die russischen Soldaten ihn für einen Nazi gehalten hatten. Mitja war Offizier der Roten Armee und wohnte in einer Stadtvilla am Fontanepark. Dort hatte Paul die Nacht verbracht. Sie hatten Wodka getrunken und sich über gemeinsame Bekannte unterhalten, alte wie neue. Mitja hatte von den Fortschritten beim Aufbau des Landes erzählt, davon, wie die Rathenower Optikbetriebe nun unter einer sozialistischen Leitung geführt wurden und dass sich eine Frau in den Kopf gesetzt hatte, am Wolzensee ein Strandbad zu errichten. Am meisten überraschte Paul allerdings, dass sich Mitja seit Neustem mit einer der Verkäuferinnen aus dem Konsum traf. Irgendwann war Paul auf Mitjas Sofa einfach eingeschlafen.

»Iss nur, iss«, lud Mitja ihn auch zum Frühstück ein. »Ich habe Piroggen aus Buchweizenmehl gebacken.«

Paul ließ sich nicht lange bitten und griff zu, während er über vieles, worüber sie in der vergangenen Nacht gesprochen hatten, nachdachte. Er genoss jeden Bissen des üppigen Frühstücks. Mitja war ein fantastischer Koch. Als er sich schließlich von seinem Freund verabschiedete, hatte er längst den Entschluss gefasst, sich am Wolzensee umzusehen. Von dort war es nicht weit bis zur Heilstätte im Stadtforst. Vielleicht könnte er am See arbeiten und so in der Nähe seiner Mutter bleiben. Solange sie noch lebte, wollte er bei ihr sein, auch wenn das hieße, dass er die Arbeit in Brandenburg aufgeben musste.

Als er das eingezäunte Gelände am See betrat, harkte eine hochgewachsene ältere Frau Reisig zusammen.

»Guten Tag«, grüßte er freundlich.

Sie hielt inne und stützte sich auf den Stiel der Harke. »Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?«

Im selben Moment war ein Stück entfernt von ihnen ein Schrei zu hören. Sie fuhren beide herum. Eine junge Frau kam mit schreckgeweiteten Augen auf sie zugerannt. »Christiane!« Ihre Stimme überschlug sich.

»Was ist denn passiert, Luisa?« Die Ältere zog sie in die Arme und strich ihr beruhigend über den Rücken.

»Da ist eine Ratte.« Die junge Frau zitterte am ganzen Leib und wies mit ausgestrecktem Zeigefinger in die Richtung, aus der sie herangestürmt war.

»Beruhige dich, Liebes. Wenn da eine Ratte war, dann hat sie jetzt Reißaus genommen.«

Luisa schüttelte vehement den Kopf. »Eben nicht. Sie hängt fest.« Sie atmete abgehackt, als bekäme sie kaum noch Luft. »Die Ratte ... steckt mit dem Oberschenkel ... im Lochmuster«, stieß sie aus.

Paul war einen Schritt näher getreten und beobachtete die beiden Frauen. Was die jüngere namens Luisa gesagt hatte, ergab im ersten Moment wenig Sinn für ihn.

»Das Viech dreht sich um die eigene Achse und kann nicht weg«, schob diese hinterher und schüttelte sich vor Ekel.

»Das hört sich ja grauenhaft an!« Christiane zog sie noch fester in die Arme.

In der oberen Etage des Hauses wurde ein Fenster aufgerissen, und eine dritte Frau lehnte sich heraus. »Würde mir mal jemand sagen, was überhaupt los ist?«

»Hier ist eine Ratte, die offenbar eingeklemmt ist«, klärte Christiane sie auf.

»Grundgütiger! Erschlagt sie mit der Kohlenschippe. Ich komme erst wieder raus, wenn die Ratte fort ist.« Im nächsten Moment wurde das Fenster zugeknallt.

»Sieh an. War es nicht Ellinor, die sich um alle Belange der Familie kümmern wollte?«, fragte Christiane und klang amüsiert.

»Zwar mag ich deinen feinen Humor, finde ihn in dieser Situation aber tatsächlich nicht angebracht. Was machen wir denn jetzt?« Luisa rang die Hände.

»Vielleicht kann ich etwas tun«, schaltete sich Paul ein. Es war die perfekte Gelegenheit für ihn, den Frauen zu helfen und gleichzeitig eine Aufgabe zu erledigen, um später nach einer Arbeitsstelle zu fragen.

Luisa schien ihn erst in diesem Moment wahrzunehmen. Sie fuhr herum und blinzelte ihn an. »Verzeihen Sie. Luisa von Rochlitz, und Sie sind ...?«

»Paul Rößler.« Er tippte sich gegen die nicht vorhandene Schiebermütze. »Wo ist die Ratte, die Sie so erschreckt hat?«

»Dort, wo das große Beifußgestrüpp an der Hauswand lümmelt.« Sie wies mit der Hand nach vorn.

Lümmelt? Paul verkniff sich ein Lachen.

»Ich kann da unmöglich hingehen. Bitte tun Sie etwas! Was immer es ist, Sie haben meine Erlaubnis dafür.« Zitternd sah sie zu ihm auf.

»Keine Angst, ich kümmere mich darum.« Paul schritt zu der Stelle, und tatsächlich steckte dort eine Ratte fest, rotierte wie wild um ihre eigene Achse. Unternähme er nichts, würde sich das Tier irgendwann das Bein abfressen, um freizukommen. Kein sehr angenehmer Gedanke, er schüttelte sich.

»Ich brauche eine Kohlenzange«, rief er über die Schulter.

»Kommt sofort.« Christiane hastete an ihm vorbei ins Haus, während Luisa wie erstarrt noch immer dort stand, wo er sie stehen gelassen hatte.

Die Ältere drückte ihm schließlich das Werkzeug in die Hand. Paul betrachtete die Branchen der Zange und hoffte, dass es funktionierte. Ganz wohl war ihm nicht bei seinem Vorhaben. Als er die Kohlenzange langsam an die Ratte heranschob, begann diese zu fauchen. So etwas hatte er noch nie erlebt. Das Tier war ebenso panisch wie Luisa von Rochlitz. Es versuchte, sich aufzubäumen, um größer zu erscheinen, schnappte nach der Zange und biss in das Metall. Paul war klar, dass die Ratte auf gar keinen Fall die Gelegenheit bekommen durfte, an seine Hand zu kommen. Mit angehaltenem Atem legte er die Branchen um den schmächtigen Körper, drückte zu und zerrte mit einem Ruck die schreiende Ratte aus ihrer Falle, um sie sofort durch die Luft zu schleudern und dann die Zange zu öffnen. Schnell wie der Blitz flitzte das Tier davon.

»Ist sie weg?«, rief Luisa ihm zu.

»Ja«, antworteten Paul und die ältere Frau, die ein Stück weit entfernt hinter ihm stand, aus einem Mund. Sie ging auf Luisa zu. »Bist du in Ordnung, Liebes? Soll ich dir vielleicht einen Tee kochen?«

»Nein, danke, es geht schon. Wir haben ja noch genug zu tun.« Luisa lächelte zaghaft.

»Also gut.« Christiane griff nach der Harke und machte sich wieder an die Arbeit.

Luisa trat zögernd auf Paul zu. Sie war so außer Fassung, dass sie ihm vor Erleichterung die Hände auf die Brust legte. »Gott sei Dank.« Als sie begriff, was sie gerade tat, zog sie die Hände rasch wieder fort und schob sie hinter ihren Rücken.

Paul musterte sie eine Weile. Sie war hübsch, und durch ihre großen braunen Augen hatte sie etwas Kindliches, Unverdorbenes an sich, wie ein Blatt aus einem Tagebuch, das erst mit Geheimnissen beschrieben werden würde. »Haben Sie noch weitere Aufgaben für mich?«

Sie seufzte. »Im Grunde schon.«

Er legte den Kopf schief und wartete, dass sie sich erklärte, aber sie schwieg. »Sie haben es sehr schön hier«, sagte er schließlich.

»Vielen Dank, das finde ich auch. An manchen Tagen kann ich mich gar nicht sattsehen am Wolzensee. Wohnen Sie in der Nähe, Herr Rößler?«, wollte sie plötzlich wissen und fuhr sich durch ihr braunes Haar.

»Leider nein. Ich suche Arbeit.«

»Sind Sie deswegen hergekommen?« Sie sah ihn mit schräggelegtem Kopf an.

»Was, wenn es so wäre?«, fragte er zurück. »Nun, ich habe tatsächlich gehört, dass hier ein Strandbad eröffnet werden soll. Ich bin auf Arbeitssuche und könnte mir vorstellen, mich hier nützlich zu machen.«

»Wer hat Ihnen den Tipp gegeben?« Sie war schnell im Denken, das gefiel ihm.

»Sagen wir mal so. Ich kenne jemanden, der über fast alles Bescheid weiß, was in Rathenow vorgeht.« Es machte schließlich keinen Sinn, sie anzulügen, entschied Paul.

»Beängstigend.« Sie sah aus, als überlege sie, was sie mit dieser Information anfangen sollte. »Ich werde hier ein Strandbad aufbauen, ob es Ihren Leuten nun passt oder nicht.«

»Halt, halt, halt.« Paul hob begütigend die Hände. »Warum sollte jemand etwas dagegen haben?«

»Sie haben ja keine Ahnung!« Sie seufzte wieder. »Fragen Sie mal meine Schwägerin Ellinor.«

»Mit der Familie kann ich Ihnen nicht helfen.« Paul lachte. »Ansonsten machen Sie sich keine Sorgen. Ich suche tatsächlich nur eine Arbeit, und wie ich gesehen habe, können Sie Unterstützung ganz gut gebrauchen.« Paul schob vorsichtshalber noch ein Lächeln hinterher, das ihre Bedenken zerstreuen sollte.

»Na schön. Wenn Sie nun schon mal hier sind. Was können Sie denn?«, fragte sie schließlich.

»Fast alles, was anfällt. Inklusive Schädlingsbeseitigung«, antwortete er trocken.

Erst zuckten ihre Mundwinkel, dann lachte sie. »Ja, das war wirklich überzeugend. Wann können Sie anfangen?«

»Ich kann mich täuschen, aber das habe ich bereits, Fräulein von Rochlitz.« Paul schmunzelte.

»Frau«, sagte sie.

Paul schielte auf ihre rechte Hand, einen Ehering entdeckte er nicht. »Verzeihung.«

»Das konnten Sie ja nicht wissen«, erwiderte sie.

Nein. Paul ließ den Blick über das Haus und den See gleiten. In diesem Augenblick erhoben sich majestätisch fünf Schwäne aus dem Wasser und segelten anmutig flügelschlagend mit einem Rauschen davon. Fasziniert sah er den Vögeln nach und bemerkte erst jetzt, dass er einen Moment lang den Atem angehalten hatte und Luisa von Rochlitz schweigend musterte.

3

Mai 1950

Luisa schloss die Augen und hielt das Gesicht in die Sonne. Sie wartete auf Helena, die sie in ein Café in der Stadt eingeladen hatte. Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, wann sie das letzte Mal ausgegangen war. Am Ende hatte der April mit seinen Wettereskapaden gegen den Mai verloren. Der Himmel strahlte makellos blau, und die Natur leuchtete in dem für diesen Monat so typischen hellen Grün. Gerade ließ sich ein Marienkäfer auf Luisas Handrücken nieder, und sie betrachtete das rot-schwarze Käferchen verzaubert.

Luisa war mit dem Fahrrad zur Bushaltestelle an der Stalinallee geradelt und wartete auf die Ankunft ihrer Freundin. Sie hatten sich 1946 auf dem Schulhof kennengelernt, als Luisa sich entschlossen hatte, das Abitur nachzuholen, das sie wegen des Krieges und ihrer Heirat hatte abbrechen müssen. An ihrem ersten Tag dort auf der Jahnschule war sie sich etwas komisch vorgekommen – mit ihren neunzehn Jahren und als bereits verheiratete Frau. Der fast vierzehnjährigen Helena hatte es nichts ausgemacht. Sie waren ins Gespräch gekommen, weil sich das Mädchen genauso fremd fühlte wie Luisa, und es dauerte nicht lange, bis die beiden Freundschaft geschlossen hatten.

Als der Bus schließlich heranrollte und die Tür geöffnet wurde, sprang Helena als Erste heraus und eilte auf sie zu, obwohl sie eine schwere Tasche bei sich trug. Sofort fiel Luisa auf, dass ihre Freundin ihr langes blondes Haar zu einem Bob hatte abschneiden lassen. Es war gewöhnungsbedürftig, aber durchaus hübsch. Helena setzte die Tasche ab und umarmte Luisa überschwänglich.

»Hallo, ich bin so froh, dass wir uns endlich mal wieder treffen. Und ...« Sie zog das letzte Wort in einem Singsang in die Länge und lachte ausgelassen.

Typisch Helena. Luisa freute sich, dass sie ihren Frohsinn wiedergefunden hatte, den sie vor einem Jahr vorübergehend verloren zu haben schien. Im Herbst 1949 war die Nachbarsfamilie, an der Helena sehr hing, in den Westen gegangen. Luisa hatte erst später begriffen, dass es der Freundin eigentlich um Jakob, den Nachbarsjungen, ging, in den sie bis über beide Ohren verliebt war, sodass sie die räumliche Trennung kaum aushielt.

»Spann mich nicht auf die Folter«, ermahnte Luisa sie und senkte dann die Stimme. »Ich habe ebenfalls Neuigkeiten. Aber gib mir rasch deine Tasche, ich hänge sie an die Lenkstange.« Schon streckte sie ihre Hand danach aus und bemerkte erst in diesem Moment, dass der Marienkäfer verschwunden war.

Auf der Straße hupte ein Lkw. Vor Schreck presste Luisa eine Hand auf ihren Bauch. Der Verkehrslärm kam ihr unglaublich laut vor.

»Sag bloß, du bist in anderen Umständen?«, flüsterte Helena dicht an Luisas Ohr. »Wir haben uns so lange nicht gesehen. Du musst mir alles erzählen.«

»Was du wieder denkst! Ich baue mir ein eigenes Unternehmen auf«, platzte sie heraus, obwohl sie eigentlich hatte abwarten wollen, bis sie bei einem Stück Kuchen im Café saßen.

»Los komm, lass uns rasch einen Platz in der Bäckerei Schönemann suchen, mir wird ganz schwindelig vor Neugier.« Helena kicherte, reichte Luisa ihre Tasche und lief mit großen Schritten voran. Luisa verstaute die Tasche und schob das Fahrrad über den Bürgersteig zum alten Markt.

Als der Kellner ihnen einen Tisch zugewiesen hatte, konnte Helena nicht mehr an sich halten. Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen und blickte erwartungsvoll zu Luisa hoch, die noch dabei war, ihre Jacke auszuziehen. »Erzähl!«

Um die Spannung zu steigern, sah Luisa aus dem Schaufenster und bemerkte, dass die Frauen vor der Konsum-Verkaufsstelle in einer langen Schlange anstanden. Kein Wunder, denn im HO-Geschäft nebenan waren die Preise um ein Vielfaches höher.

»Luisa!« Helena schlug ihr spielerisch auf die Hand. Lachend berichtete Luisa schließlich von ihrem Plan, am Wolzensee ein Strandbad aufzubauen.

Helena hörte ihr mit großen Augen zu. »Das ist ja wunderbar!« Sie sah aus, als hindere sie nur der Kellner, der freundlich lächelnd nach ihrer Bestellung fragte, daran, in Jubel auszubrechen.

Während Luisa noch dabei war, ihre Vorstellung vom eigenen Strandbad mit unzähligen Details auszuschmücken, brachte der Kellner die Kännchen Kaffee, einen Windbeutel mit Sahne für Helena und ihr Stück Biskuitrolle.

»Vielen Dank für deine Einladung.« Genießerisch sog sie den herrlichen Duft nach echtem Bohnenkaffee ein. Sie gibt ziemlich viel Geld für mich aus, dachte sie flüchtig.

»Ich wollte mit dir feiern, also denk nicht darüber nach«, sagte Helena, als wüsste sie, was ihr gerade durch den Kopf ging. »An den Wochenenden und in den Schulferien verdiene ich mir immer was dazu. Bei der Post habe ich bisher am meisten bekommen. Also guck nicht so komisch, du verdirbst mir sonst die Laune.« Helena schob sich ein großes Stück Windbeutel in den Mund. Puderzucker klebte an ihren Lippen, als sie grinste. »Meine Mutter hat endlich eingewilligt, dass ich Kunst studieren darf.«

»Oh, ich freue mich so für dich!« Luisas Mutter hätte dafür niemals ihre Zustimmung gegeben. Helena lebte mit ihrer Mutter auf einem kleinen Bauernhof auf dem Land in Milow. Die Ländereien der ehemaligen Gutshöfe und Großbauern sowie die Gärtnerei ihrer ehemaligen Nachbarn war der genossenschaftlichen LPG angeschlossen worden. Ihre Freundin hatte allerdings andere Pläne, als in der Landwirtschaft zu arbeiten. Das konnte Luisa gut verstehen.

»Ich hab dir übrigens Milch, frische Eier, Butter und selbst gebackenes Brot mitgebracht.« Helena wies auf ihre Tasche.

Luisa genoss den zarten Biskuit, der fast auf der Zunge zerging, und versuchte sich vorzustellen, wie ihr Leben ohne regelmäßige Treffen mit ihrer Freundin aussehen würde. Anders, so viel war sicher, aber wenn sie es genau betrachtete, würde sie mit der Einrichtung ihres Strandbades sehr viel zu tun haben. Wahrscheinlich sogar mehr, als sie jetzt ahnte. Trotzdem war der Gedanke seltsam aufregend und erfüllte sie mit erwartungsvoller Energie.

»Meine Mutter hat zur Bedingung gemacht, dass ich in Berlin studiere«, plapperte Helena fröhlich weiter und leckte sich Sahne aus dem Mundwinkel. »Aber damit habe ich kein Problem. Jakob und ich schreiben uns sowieso jede Woche Briefe. Sein Stiefvater meint, Lehrjahre wären keine Herrenjahre. Wahrscheinlich hat er recht, obwohl ich solche Sprüche altmodisch finde.«

Genauso altmodisch wie die Einstellung ihrer Familie, es sei Unsinn, dass eine junge Frau ein Unternehmen leite. Nun, Luisa würde ihnen beweisen, dass sie damit falschlagen.

Eine Woche später war es bereits so warm, dass Luisa am Vormittag beim Rasenmähen ins Schwitzen kam. Sie arbeitete ein gutes Stück vom Haus entfernt am Nordufer des Sees und überlegte, ob sie nicht eine Pause einlegen und eine Runde schwimmen sollte, als ihre Mutter aufgeregt winkte und nach ihr rief. Luisa ließ den kleinen mechanischen Mäher stehen und wandte sich um.

»Wildfremde Leute sind hier und wollen dich sprechen. Was hat das zu bedeuten, Luisa?« Ihre Mutter tupfte sich mit dem Spitzentaschentuch die Stirn. »Was treibst du hier überhaupt?«

Da das offensichtlich war, machte sich Luisa nicht die Mühe, auf die letzte Frage einzugehen. Stattdessen warf sie einen Blick zum Haus, wo zwei Männer und eine Frau die Köpfe zusammensteckten und sich unterhielten. »Ich kläre das, Mutter.« Zusammen gingen sie auf die Besucher zu.

»Luisa von Rochlitz?«, erkundigte sich ein Mann, der eine Zigarette rauchte.

Sie nickte und bemerkte, dass sie sich geirrt hatte. Einer der beiden vermeintlich männlichen Besucher war eine Frau, die sie aufgrund des kurzen Haarschnitts und ihres Hosenanzugs für einen Mann gehalten hatte.

»Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«, fragte Luisa lächelnd. Ihr Blick blieb an dem Damenbart der Frau im Anzug hängen.

»Wir sind vom Rat der Stadt, Sie haben einen Antrag gestellt, hier am Wolzensee ein Strandbad zu eröffnen.«

Luisa hörte, wie ihre Mutter nach Luft schnappte. Sie selbst bekam plötzlich heftiges Herzklopfen. »Das ist richtig.« Mit weichen Knien zwang sie sich zu einem geschäftsmäßigen Gesichtsausdruck – auch wenn der nicht zu den Grasflecken auf ihrer Hose passte. Hatte sie wirklich gedacht, sie bekäme einen Brief mit der amtlichen Genehmigung und könne dann einfach loslegen? Stattdessen stand hier eine Kommission, und jedes einzelne Mitglied musterte sie argwöhnisch, von den finsteren Blicken, die ihre Mutter ihr zuwarf, ganz zu schweigen.

»Mein Name ist Sieglinde Böhmer«, sagte die Frau, die wie ein Mann wirkte, und reichte Luisa die Hand. »Dürfen wir uns etwas umsehen, um einen Eindruck von dem Gelände zu bekommen?«

»Ja, natürlich, ich führe Sie gern herum.« An ihre Mutter gewandt fügte sie hinzu: »Entschuldige mich. Ich habe zu tun.«

Luisas Mutter lief rot an, als träfe sie jeden Moment der Schlag. Luisa ahnte, dass ihr Verhalten ein Nachspiel haben würde. Darum würde sie sich später kümmern. Sie hoffte, dass sie dann auf Hajos Beistand zählen konnte.

Die Kommissionsmitglieder interessierten sich sehr für Luisas Pläne. Davon angetan, beantwortete sie jede Frage so ausführlich wie möglich. Eine der Frauen machte sich fleißig Notizen, fotografierte sogar hier und dort und schenkte ihr ein unverbindliches Lächeln. Am Revers der Jacke des einzigen Mannes blitzte ein Parteiabzeichen der SED.

Schließlich hatten sie genug gesehen, verabschiedeten sich dienstbeflissen, ohne dass Luisa einschätzen konnte, wie die Entscheidung ausfallen würde.

»Sie hören von uns«, war alles, was Frau Böhmer zu ihr sagte.

Wie sollte Luisa mit dieser unmöglichen Ansage heute Abend in den Schlaf finden? Das Knattern eines Motorrads riss sie aus ihren Grübeleien. Sie wusste, dass Paul Rößler jeden Moment eintreffen würde, und fragte sich, wie sie in so kurzer Zeit seine Excelsior von anderen Motorengeräuschen unterscheiden gelernt hatte.

Kurz darauf bockte er die Maschine auf und begrüßte sie lächelnd. »Guten Tag, Frau von Rochlitz.« Er zog die Lederjacke aus, legte sie auf den Sitz des Motorrads und krempelte sich bereits die Hemdsärmel hoch. »Was liegt heute an?«

»Ich bin dabei, Rasen zu mähen.« Sie wies nach vorn und lief geradeaus los.

Plötzlich stieß Paul Rößler hinter ihr ein Lachen aus. »Mit diesem Spielzeug von Rasenmäher wollen Sie das ganze Gelände bearbeiten? Da brauchen wir ja bis November.«

»Haben Sie eine andere Idee?«, fragte Luisa leicht verärgert.

»Ja, geben Sie mir ein paar Minuten. Ich besorge uns etwas Besseres.« Im Laufschritt eilte er zum Motorrad zurück, schwang sich darauf und fuhr davon.

»Na, da bin ich ja mal gespannt«, sagte Luisa und sah den tanzenden Sonnenstrahlen zu, die auf den Wellen des Wolzensees wippten und das Wasser zum Funkeln brachten.

Paul Rößler hielt Wort und kam kurz darauf mit einem kleinen Traktor, samt Mähbalken, zurück. »Das ist ein Hanomag, noch Vorkriegsware«, erklärte er gut gelaunt.

Als ob es für Luisa irgendeine Rolle spielen würde, um was für einen Traktor es sich handelte. Hauptsache, das Ding würde ihnen die Arbeit erleichtern.

»Ich mähe, und Sie können in der Zeit etwas anderes erledigen«, schlug er vor.

Sie nickte ihm zu. Doch da Luisa nicht die geringste Lust hatte, ihrer Mutter in die Arme zu laufen, holte sie sich den großen Holzrechen und harkte das gemähte Gras zu Haufen.

In der Pause wollte sie von Paul Rößler wissen, woher er den Trecker habe. »Geborgt von einem Bauern aus Neufriedrichsdorf. Ist nicht weit von hier.«

»Ja, ich weiß. Vielen Dank für Ihren Einsatz. Ich komme selbstverständlich für das Benzin auf. Ach, und es dauert bestimmt nicht mehr lange, und ich kann Sie tatsächlich fest anstellen. Eine Kommission vom Rat der Stadt war heute da.«

Statt etwas dazu zu sagen, kaute er auf einem Grashalm herum und ließ sich mit geschlossenen Augen die Sonne ins Gesicht scheinen.

»Darf ich auch mal probieren?«, fragte Luisa.

Er sah sie irritiert an, zog sich den Grashalm aus dem Mund und betrachtete ihn skeptisch.

»Ich meine das Treckerfahren«, stellte Luisa lachend klar.

»Natürlich. Steigen Sie auf, ich zeig es Ihnen.«

Als Luisa anfuhr, ruckelte der Hanomag stotternd vorwärts. »Ich glaube, er ist bockig«, rief sie aus.

»Das wird es sein.« Paul Rößler hielt sich gespielt krampfhaft am Haltegriff fest, sodass Luisa lachen musste.

Bereits am nächsten Tag war der Spaß vorbei. Im Schreiben vom Rat der Stadt teilte man ihr mit, dass man ihren Antrag ablehne und vorhabe, das Gelände zu verstaatlichen, um es dann allen Werktätigen zur Naherholung zur Verfügung zu stellen. Luisa schlug die Hand vor den Mund. Das durfte nicht wahr sein! Ihre Familie hatte doch bereits alles verloren: die Fabrik, das Vermögen, sämtliche Wertgegenstände. Da konnten sie ihr nicht auch noch das Anwesen am Wolzensee wegnehmen. Sie knüllte das maschinenbeschriebene Papier zusammen, ließ es zu Boden flattern und starrte aus dem Küchenfenster.

Christiane hinter ihr bückte sich und überflog die Zeilen. »Oh nein!«

Ellinor, deren Aufgabe es war, im gesamten Haus die Zimmerpflanzen zu gießen, kam herein und erfasste die Situation sofort. »Hat der Strandbad-Spuk also ein jähes Ende gefunden?« Sie verdrehte die Augen und goss so schwungvoll Wasser auf die Grünlilie, dass deren Ableger hüpften. »Mach dir nichts draus, es wäre sowieso nur so lange gegangen, bis Julius wieder heimkehrt.«

»Spar dir deine Schadenfreude«, wies Christiane Ellinor zurecht. »Wenn sie euch das Land wegnehmen, sitzen wir alle zusammen auf der Straße.«

Ellinor erschrak sichtlich. »Wie meinst du das?«

»Lies! Und da du dich ja selbst zum Familienoberhaupt erklärt hast, finde eine Lösung«, antwortete Christiane. »Aber auf Julius kannst du nicht warten, fürchte ich.«

Sie wollte Luisa tröstend in die Arme ziehen, doch diese hielt es nicht länger aus und rannte hinaus.

Auf der untersten Stufe der ausladenden Treppe gerieten ihre Schritte ins Stocken. Sie stolperte und knickte um. Ein furchtbarer Schmerz schoss durch ihren rechten Knöchel. Sie schrie auf – und schaffte es nicht mehr, ihren Sturz abzufangen. Heiße Tränen tropften auf die staubigen Stufen.

»Haben Sie sich wehgetan?«, fragte Paul Rößler.

Luisa wusste nicht, woher er auf einmal aufgetaucht war. Eigentlich war er vorhin noch damit beschäftigt gewesen, den alten Betonsteg auszubessern. Hastig wischte sie sich über die Augen und sah ihn schweigend an. Aber dann nickte sie.

»Es geht gar nicht um den Fuß, oder?« Er ging in die Hocke.

Luisa schüttelte den Kopf. »Es ... tut mir sehr leid, Herr Rößler. Aber ich fürchte, ich kann Sie nicht länger beschäftigen.«

Er biss sich einen Moment lang auf die Unterlippe und betrachtete sie. Offenbar ratlos runzelte er die Stirn. »Ihr Antrag wurde abgelehnt?«

Erneut kamen ihr die Tränen, sodass sie seinem Blick auswich und zur Seite sah.

»Verstehe.« Er half ihr, sich aufzurichten, und ließ sie auf der Treppe sitzen, während er sich ihren Fuß ansah.

Nach einer Weile hatte Luisa plötzlich genug und fuhr sich mit einer wütenden Handbewegung durchs Haar. »Die wollen das Anwesen verstaatlichen.« Sie schaute statt in Pauls Richtung auf das Treppengeländer und polkte an der abblätternden Farbe.