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Mit der Entscheidung, nach Spiekeroog zu ziehen, ändert sich Maikes Leben gewaltig. Doch sie bereut es keine Sekunde. Sie und Jarik bauen das Strandfliederhaus zu einem gemeinsamen Heim um. Maike erlebt erstmals die gemütliche und zugleich raue Herbstzeit sowie das Weihnachtsfest auf der Insel. Ihre Tochter Tessa, die bis zum nächsten Sommer noch die Schule in Frankfurt beenden wird, kommt mit Beginn der Weihnachtsferien zu Besuch. Alle sind froh darüber, zusammen die Festtage und Silvester zu verbringen. Doch das neue Jahr hält einige ungeahnte Überraschungen bereit ...
Nach dem sommerlichen ersten Band folgt nun Inselflair von Spätherbst bis Frühsommer
Wundervoller Abschluss der Strandflieder-Saga
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Seitenzahl: 340
Veröffentlichungsjahr: 2023
Das Rauschen der Wellen, die endlose Weite des Himmels und das Lachen glücklicher Menschen – das ist Spiekeroog.
Mit der Entscheidung, nach Spiekeroog zu ziehen, ändert sich Maikes Leben gewaltig. Doch sie bereut es keine Sekunde. Sie und Jarik bauen das Strandfliederhaus zu einem gemeinsamen Heim um. Maike erlebt erstmals die gemütliche und zugleich raue Herbstzeit sowie das Weihnachtsfest auf der Insel. Ihre Tochter Tessa, die bis zum nächsten Sommer noch die Schule in Frankfurt beenden wird, kommt mit Beginn der Weihnachtsferien zu Besuch. Alle sind froh darüber, zusammen die Festtage und Silvester zu verbringen. Doch das neue Jahr hält einige ungeahnte Überraschungen bereit …
Elena Conrad, geboren 1972 in Frankfurt am Main, lebt mit ihrer Familie im malerischen Nahetal. All ihre Urlaubsfahrten führen sie immer ans Meer. So reist sie seit vielen Jahren auch regelmäßig an die Nordseeküste, um auf Spiekeroog die einzigartige Kombination aus Sonne, Strand und frischer Brise zu genießen. Dort findet sie Energie und Ideen für ihre nächsten Romane.
ELENA CONRAD
DASSTRANDFLIEDER
GLÜCK
ROMAN
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch
die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de unter Verwendung von Illustrationen von © www.buerosued.de; © Laura Ranftler/Arcangel Images
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-2833-1
luebbe.de
lesejury.de
Der Wind hatte aufgefrischt, doch zwischen den Häusern war man geschützt vor der durchdringenden Kälte. Maike hielt die Hände tief in den Taschen ihres wetterfesten petrolfarbenen Anoraks vergraben. An den Füßen trug sie robuste Wanderschuhe. Sie dachte an das weihnachtlich dekorierte Strandfliederhaus und freute sich schon auf das Frühstück mit ihrer Mutter und ihrer Tochter Tessa, die am Tag zuvor mit der letzten Fähre gekommen waren. Sicher hatte Tessa viel zu erzählen.
Heute, an Heiligabend, öffneten sie den Laden ausnahmsweise vormittags zwischen neun und zwölf Uhr, bevor sie in eine zweiwöchige Weihnachtspause gehen wollten. Sie würden die Zeit zur Erholung brauchen – so gut das eben ging. Gewiss, es kam gerade weniger Kundschaft, aber es gab immer Papierkram zu erledigen, Einkaufs- und Bestelllisten zu überprüfen, neue Kunden zu akquirieren und nicht zuletzt die Steuer vorzubereiten. Meist erledigten sie das nebenher im Laden – Jarik und sie wechselten sich mit dem Verkauf ab, wenn Famke keine Zeit hatte, weil sie in ihrer Keramikwerkstatt war, wo sie dafür sorgen musste, dass der Nachschub an Geschirr nicht versiegte.
Es war schön, mit Jarik zusammenzuarbeiten und zusammenzuleben, so schön, wie sie es sich nie hätte vorstellen können. Er war ständig in ihren Gedanken, und abends verbrachten sie gemeinsame Zeit auf dem Sofa, erzählten einander vom Tag und besprachen Wichtiges. Seit dem Herbst waren sie glückliche Besitzer eines Kachelofens. Maike genoss es, nach einem Spaziergang am Meer gemütlich mit einer Tasse Tee davorzusitzen und mit Jarik zu kuscheln. Famke hatte eines Tages die Idee gehabt, Ofenkacheln anzufertigen – eine lukrative Einnahmequelle für das Geschäft. Jarik hatte sie bei dem Vorhaben unterstützt, einen Ofensetzer gefunden und einen Großteil des Einbaus in Eigenarbeit erledigt. Er unterstützte all ihre Projekte.
Wie sehr hatten Florian, ihr Ex-Mann, und sie dagegen zum Schluss aneinander vorbeigelebt. Sie hatte kaum noch gewusst, was er tat, und er hatte sich nicht dafür interessiert, was sie beschäftigte. Keinem von ihnen war das wichtig erschienen, weil sie einander eigentlich nichts mehr zu sagen gehabt hatten. Es hatte sie nicht mehr interessiert, und das war seltsam gewesen, weil sie ihr Leben doch einmal mit diesem Mann hatte teilen wollen, weil sie eine Familie gewesen waren und eine Tochter hatten.
Jarik ist anders.
Sie sah ihn vor sich: sein braunes Haar, durch das der Wind fuhr und das wie ihres über den Sommer etwas heller geworden war, seine funkelnden dunklen Augen, die Lachfalten …
Jetzt war sie also angekommen, hier auf ihrer kleinen Insel, die sie seit einem halben Jahr ihre Heimat nannte. Sie war nur gut achtzehn Quadratkilometer groß und knapp sechs Kilometer vom Festland entfernt, autofrei bis auf die Feuerwehr- und Rettungsfahrzeuge und über eine Fährverbindung mit Neuharlingersiel verbunden. Das hier war ihr neuer Lebensmittelpunkt: Spiekeroog, das Eiland, das sich mehr als fünftausend Jahre zuvor aus vom Wind angewehten Sandbänken gebildet hatte. Auf einem der Spaziergänge, auf denen sich Famke und sie endlich nähergekommen waren, hatte die junge Frau, die hier aufgewachsen war und damit seit ihrer Kindheit mit der Insel verbunden war, ihr erzählt, dass die Ostfriesischen Inseln aufgrund der Gezeitenströmungen sowie der vorherrschenden Westwinde permanent von Nordwest nach Südost wanderten. Irgendwie fand Maike es faszinierend, sich vorzustellen, dass sich so etwas wie eine Insel bewegte, langsam zwar, aber dennoch … Bei einigen Inseln hatte das dazu geführt, dass die einst in der Inselmitte gelegenen Dörfer heute am Westrand zu finden waren.
Das Inseldorf Spiekeroog hatte es anders getroffen: Es befand sich auf der dem Festland zugewandten Südseite der Insel. Der alte Ort hatte in den letzten Jahrhunderten weder verlegt werden müssen, noch war er vergrößert oder modernisiert worden. Hier standen keine Hochhäuser oder Hotelkomplexe. Jahrhundertealte Friesenhäuser gaben dem historischen Ortskern mit seinen schmalen Wegen und seinem alten Baumbestand ein besonders idyllisches Bild. Das älteste Haus der Insel war das Alte Inselhaus in der Süderloog 4, das 1705 erbaut worden war. Es war wie etliche der anderen alten Häuser der Insel mit einem sogenannten Schwimmdach ausgestattet, das bei Sturmfluten die Funktion einer Rettungsinsel für die Hausbewohner übernahm. Maike fiel es schwer, sich das vorzustellen. Mittlerweile war in dem Alten Inselhaus ein Café und Restaurant untergebracht. Auch die älteste Kirche der Ostfriesischen Inseln befand sich auf Spiekeroog. Sie war 1696 erbaut worden und stand zwischen dem Noorderloog und dem Süderloog, den beiden ältesten Straßen Spiekeroogs. Es gab eine Kanzel im Stil der Renaissance, Apostelbilder sowie eine Pietà, die von einem 1588 vor Spiekeroog gestrandeten Schiff der spanischen Armada stammen sollte, aber sie fand, dass man an beeindruckenden Orten eigene Ankerpunkte setzen musste, die einem etwas bedeuteten.
Zwischen dem im Norden und Westen der Insel gelegenen Strand und dem Dorf lagen ausgedehnte Dünenlandschaften, die sie gerne auf den erlaubten Wegen durchstreifte. Auf der Insel wurde der Schutz der Tier- und Pflanzenwelt großgeschrieben, aber es gab genügend Möglichkeiten, spazieren zu gehen, ohne irgendein Tier zu stören oder Gräser zu zertrampeln.
Sie liebte die Natur, konnte nicht genug bekommen vom Wind, der einem den Kopf freimachte, dem Getöse der Wellen, die an den Strand schlugen, und dann wieder von der Ruhe, die man fand, wenn man die Dünenwege entlanglief. Meist nahm sie die Kamera mit und fotografierte, was sie besonders in Erinnerung behalten wollte. Ein erstes Fotobuch hatte sie schon angelegt, sicherlich würden noch weitere folgen. Es gab einfach so viele Motive, außerdem konnte sie auf ihren Spaziergängen die Veränderungen im Laufe der Jahreszeiten verfolgen und dokumentieren.
An diesem Morgen war das Meer im Dunst kaum zu erkennen. Seltsamerweise hatte sie sich das früher nicht vorstellen können, aber es war faszinierend, wie unterschiedlich es aussehen konnte. Sie hatte beispielsweise nicht gewusst, dass das Meer so viele unterschiedliche Farben haben konnte. Es changierte zwischen einem dunklen Blau und einem hellen Grau, erschien manchmal grün oder sogar gelblich und zeigte stets eine Kraft, die einen nur beeindrucken konnte. Auch deshalb hatte sie sich vorgenommen, fast jeden Tag ein Foto von einer bestimmten Stelle am Strand zu schießen. Es war ein gutes Projekt. Famke hatte sie für die Idee gelobt, was sich wirklich gut angefühlt hatte. Maike hatte sich nie als kreativ empfunden. Vielleicht stimmte das ja gar nicht.
Inzwischen hatte sie den ersten Herbst hinter sich gebracht. Anfangs hatte Famke sie manchmal prüfend angesehen.
»Und? Hast du schon einen Inselkoller? Im Herbst und Winter ist das Leben hier härter als im Sommer …«
Maike hatte lachen müssen. »Nein, alles in Ordnung. Ich genieße die Veränderungen der Natur.«
Und das stimmte. Auch wenn diese Jahreszeit auf der Insel definitiv rauer als auf dem Festland war. Häufig hatte es Stürme gegeben, so manches Mal Sturmwarnungen. Sie genoss ihre Spaziergänge dennoch. Sie konnte sich nicht erinnern, dass das in ihrem Leben jemals so gewesen war. Nur während der Examensphase war sie eine Zeit lang viel rausgegangen, und als Tessa klein gewesen war, aber irgendwann hatte sich das verloren. Sie liebte es, ihren Jackenkragen hochzuschlagen, sich einen Schal um Mund und Nase zu wickeln, feste Schuhe anzuziehen und dann loszumarschieren! Manchmal konnte man sich in den Wind lehnen, manchmal musste man alle Kraft zusammennehmen, um auch nur ein Stück voranzukommen. Hin und wieder traf sie andere Spaziergänger, manche waren ihr richtig vertraut geworden. Es gefiel ihr, die Kräfte der Natur zu spüren, denen man auf Spiekeroog kaum entkommen konnte. Es gefiel ihr genauso, sich in die Wohnung zurückzuziehen und den Wind ums Haus pfeifen zu hören oder mitzubekommen, wie er unablässig an den Läden rüttelte.
Mit Jarik ging sie gerne zu ihrem Lieblingsstrand auf der Ostseite der Insel, um zu sehen, wie sich das Wasser gegen den Strand warf und Stück um Stück das Land eroberte. Im Herbst und Winter kamen teils andere, aber auch weniger Gäste. Die Wanderwege durch die Dünen oder auch den endlosen feinen Sandstrand hatte man häufig für sich allein. Ja, es war wirklich sehr ruhig auf Spiekeroog in der kälteren Jahreszeit und doch auf seine Art und Weise ganz herrlich.
Die anderen hatten noch geschlafen, als sie am Morgen leise das Haus verlassen hatte. Es war noch so dunkel gewesen, dass sie sich für das erste Stück Weg eine Taschenlampe mitgenommen hatte. Auf den Dünen hatte Raureif gelegen, auf dem Sand hatten sich hier und da Eismuster gebildet. Sie mochte die Geräusche, die sie mit jedem Schritt machte. Sie mochte es, wie sie sich vor dem kalten Wind in ihre Kapuze zurückziehen konnte und wie die Kälte in ihre Wangen biss und sie rosig färbte. Auf ihrem Weg in Richtung Ostplate war es heller und heller geworden.
Kurz vor Sonnenaufgang huschte eine Sternschnuppe über den Himmel. Sie hielt für einen Moment inne. Das Nachtgrau des Himmels färbte sich rosa, dann rosagolden. Ein joggendes Pärchen kam ihr entgegen. Kurz darauf eine Fahrradfahrerin, die wohl von der Mutter-Kind-Klinik kam. Maike bog in den schmalen Weg, der sie zu ihrem Lieblingsstrand führte, beobachtete einige Zeit die tanzenden Wellen mit ihren Schaumkronen, das hellgraue Wasser, die Möwen. Sie kam oft hierher, und doch fand sie immer wieder etwas Neues. Der Wellengang war an diesem Morgen etwas höher als zumeist. Nur ein Hund und sein Besitzer waren zu sehen, sonst begegnete ihr kein Mensch.
Langsam machte sie sich auf den Weg zurück in Richtung Dorf. Einige Geschäfte waren in Winterpause. Manche öffneten freitags und samstags für Wochenendgäste, oder die Besitzer hängten ein Schild mit ihrer Telefonnummer ins Schaufenster und den Hinweis: BITTE ANRUFEN, WENN SIE BEIM WINDOWSHOPPING ETWAS ENTDECKT HABEN.
Auch die Restaurants hatten größtenteils geschlossen, nur am Wochenende machten einige auf. Aber es gab ja die Supermärkte, Bäcker und den Feinkostladen, und sie hatte wieder ihren Spaß daran entdeckt, zu kochen und zu backen. Es hatte etwas Meditatives, Gemüse zu schneiden oder Teig zu kneten. Sie stöberte gerne nach neuen Rezepten im Internet, las in den Kochbüchern, die sie beim Umzug mitgenommen und in ihrem alten Leben viel zu selten benutzt hatte. Sie versuchte sich an Rouladen, Rinderbraten und Ähnlichem. Kürzlich hatte sie sogar eine Moussaka zubereitet, wie sie sie einmal im Urlaub auf Kreta gegessen hatte. Florian und sie hatten damals große Sightseeing-Touren unternommen, abends hatte es Cocktails am Pool gegeben. Irgendwann in diesem Urlaub war Florian Helikopter geflogen, es war natürlich super besonders gewesen. Sie hatte sich an diesem Tag den Magen verdorben und bedauert, dass sie nicht hatte mitkommen können. Jetzt war sie froh, dass sie nicht mehr Teil dieses Lebens war. Sie hatte auf ihrer Insel wirklich alles, was sie brauchte. Sie langweilte sich nicht, die Kreativität kam nicht zu kurz.
Maike musste an den vergangenen Sommer denken, als sie zuerst vom Tod der Tante ihres Ex-Mannes Florian erfahren hatte und dann davon, dass diese ihr ein Anwesen auf Spiekeroog vererbt hatte – ihr Wohnhaus und das Strandfliederhaus. Auf der Insel angekommen, hatte sie Jarik und Famke kennengelernt, die mit Hildes Unterstützung den kleinen Laden im Vorderhaus des Anwesens aufgebaut hatten. Famke war nicht begeistert von ihrer Ankunft gewesen und hatte sich ihr gegenüber sehr zurückhaltend gezeigt, mit Jarik war es gleich … Ja, es war so etwas wie Liebe auf den ersten Blick gewesen, auch wenn sie daran gezweifelt hatte, dass das in ihrem Alter noch möglich war – immerhin war sie schon Anfang vierzig. Inzwischen waren sie alle eine große Familie: Jarik, dessen Sohn Nils und ihre Tochter Tessa, die zum kommenden Sommer nach Spiekeroog ziehen und bei Famke das Handwerk der Töpferkunst erlernen würde, und Famke. Ja, für sie alle hatten sich im letzten Sommer neue Türen geöffnet.
Anfangs hatte Maike Angst gehabt, dass sie vielleicht nicht genügend zu tun haben könnte auf dieser Insel, auf der sie bis dahin nur ein paar wenige Urlaube verbracht hatte. Auch wenn ihr die ruhigen Wochen auf Spiekeroog stets gefallen hatten, war sie doch ein anderes Leben gewöhnt gewesen mit einem stressigen Job und der alleinigen Verantwortung für ihre Tochter und ihr Alltagsleben. Aber es hatte so viele Dinge zu klären und zu organisieren gegeben. Da war die Sache mit dem Testament gewesen, und Florian, der juristisch gegen sie hatte vorgehen wollen, weil er sich um sein Erbe betrogen fühlte. Da waren die Unsicherheiten im Umgang mit der neuen Beziehung gewesen, und überhaupt die ganzen Veränderungen in ihrem Leben, die damit einhergingen. Sie hatte eigentlich nur ihren Urlaub auf Spiekeroog verbringen wollen, aber schon nach kurzer Zeit war ihr klar geworden, dass sie bleiben wollte, für immer, und sie hatte alle Zelte in Frankfurt abgebaut. Tessa würde noch bis zum Ende des Schuljahres ausharren müssen, sie konnte solange bei ihrer Großmutter leben.
In der Nacht vor ihrem Umzug hatte sie sehr schlecht geschlafen und war immer wieder hochgeschreckt. Am Morgen war sie später losgekommen, als sie das eigentlich geplant hatte. Das war ihr wie ein Zeichen erschienen, aber war es eines gewesen? Nein, gewiss nicht … Eigentlich war es lediglich das Vertraute gewesen, vor dessen Verlust sie Angst gehabt hatte, der alltägliche Trott, der ihr schon lange nichts mehr bedeutet und der ihr trotzdem Sicherheit gegeben hatte.
Maike schmunzelte unwillkürlich, während sie ihren Erinnerungen nachhing. Und hatte sie sich bisher auf Spiekeroog gelangweilt? Natürlich nicht. Die beiden Ferienwohnungen im ersten Stockwerk des Strandfliederhauses mussten verwaltet, Vermietungen geplant werden, Reparaturen hatten angestanden. Sie waren alle sehr beschäftigt gewesen, und dazu hatte sie sich in ihr neues Leben einfinden müssen. So schön es auch war, das war nicht einfach gewesen.
Sie hatte sich neu organisieren müssen. Einmal in der Woche, meist freitags, fuhr sie aufs Festland, um dort für eine Firma Büroarbeiten zu erledigen. Hin und wieder, wenn es viel zu tun gab, ging sie zusätzlich donnerstags hin. Ansonsten arbeitete sie im Homeoffice. Regelmäßig nahm sie freitags Jariks Sohn mit auf die Insel, wenn der das Wochenende über bei seinem Vater war. In den Ferien war Nils ebenfalls bei ihnen. Wenn er es wünschte, besuchten er und Jarik einander auch unter der Woche. Nils wohnte nicht weit entfernt vom Fähranleger bei seiner Mutter auf dem Festland und konnte somit immer mal wieder einen Nachmittag auf Spiekeroog verbringen. Noch unproblematischer würde das werden, wenn der seit einiger Zeit geplante tidenunabhängige Fährverkehr eingeführt wurde. Jarik und Nils’ Mutter Jette organisierten die Dinge rund um ihren Sohn sehr unkompliziert – Maike war sich sicher, dass das nicht immer einfach war. Nils war Autist und tat sich schwer mit Veränderungen, aber nur in ganz seltenen Fällen gab es Schwierigkeiten.
Mit Jette hatte sie bislang wenig zu tun gehabt, das würde sich zukünftig sicher ändern. Eine neue Beziehung brachte Altlasten von beiden mit sich, die man zu bewältigen hatte, sie würde Jarik unterstützen und für Nils da sein, wenn er sie brauchte, Jarik war für sie und Tessa da. In den Herbstferien hatte Jette Jarik ihren neuen Partner vorgestellt. Die beiden waren alte Schulfreunde und hatten sich auf einer Weiterbildung gegen Ende der Sommerferien wiedergetroffen. Eigentlich hatte sie dabei sein wollen, war aber just an diesem Tag im Strandfliederhaus unentbehrlich gewesen – Famke hatte einen neuen großen Auftrag bearbeitet. Jarik war allein gefahren und hatte auch den Montag noch auf dem Festland verbracht.
Sie hatte ihr Leben mit dem Umzug jedenfalls ziemlich umgekrempelt, und natürlich hatte sie sich davor gefürchtet, dass es ihr im Herbst zu still und unwirtlich werden könnte und erst recht dann im Winter, mit wenig Licht und Stürmen und Kälte. Aber da waren diese Tage gewesen, als sich die Blätter der Bäume langsam verfärbt hatten und von der tiefstehenden Sonne alles in goldenes, weiches Licht getaucht worden war. Bei ihren frühmorgendlichen Spaziergängen hatte oft der Nebel in den Dünentälern gehangen und war erst nach und nach von der Sonnenwärme vertrieben worden, ein Anblick, der etwas ganz Besonderes hatte. Ja, es war ruhiger in diesen Tagen. Man fühlte eine gewisse Abgeschiedenheit, aber sie hatte sich schon daran gewöhnt. Nach dem bunten Badeleben des Sommers zeigte die Insel ihre herbe, stille Schönheit.
Besonders genoss sie es, mit Jarik gemeinsam unterwegs zu sein. Auch er, der schon so lange Zeit mit der Insel verbunden war, fand Spaß daran. Gemeinsam ist es etwas anderes, sagte er oft, gemeinsam entdeckt man Dinge, die einem vorher nie aufgefallen sind.
Sie hatte eine Form der Entspannung kennengelernt und bald gespürt, dass sie keine Angst mehr davor haben musste. Man musste nicht ständig auf Achse sein, brauchte nicht ständig etwas Neues. Genauso wenig hatte sie mittlerweile Angst vor Gesprächen mit Florian. Eine Zeit lang hatte sie das Gefühl gehabt, dass sich sein Leben weiterentwickelte, während sie auf der Stelle trat. Aber ihre Beziehung hatte sich geändert. Sie kannte seine Probleme, und er wusste, dass sie sich nicht mehr alles bieten ließ. Das war ein für alle Mal vorbei.
Maike hatte Hildes Anwesen, nein, jetzt war es ihr Anwesen, bald erreicht. Die Türglocke des Strandfliederhauses war in der Stille zu hören. Ein Pärchen verließ den Laden, vielleicht mit dem letzten Weihnachtsgeschenk unter dem Arm.
Im winterlich gedämpften Licht erstrahlte das Haus besonders heimelig. Sie genoss auch die Tage sehr, die sie im Verkauf verbrachte. Sie mochte die Abwechslung, sie lernte die verschiedensten Leute kennen und ihren Blick auf das Verkaufsangebot, was ihr bei der Beratung half – es gab Dinge, auf die sie erst im Gespräch mit Käufern richtig aufmerksam wurde. Famke erschuf für ihr Geschäft nicht mehr nur wunderbare Keramiken, sie gab auch anderen Künstlern Raum. Es war herrlich, so viel Kreativität um sich zu haben, sogar die Buchhaltung fiel ihr leichter. Vielleicht lag das daran, dass sie eine bessere Vorstellung davon hatte, warum diese eher trockene Arbeit nötig war.
Sie kümmerte sich jetzt gemeinsam mit Famke um die Dekoration des Schaufensters und die Präsentation der Waren. Sie waren sich fast immer einig. Himmel, wie schwierig war es gewesen, sich mit Famke zusammenzuraufen – nicht nur bei diesen praktischen Dingen. Famke hatte ihr zuerst einfach nicht trauen wollen, was ihr das Einleben nicht gerade leichtgemacht hatte. Auch jetzt fochten sie immer mal wieder kleine Kämpfe aus.
Maikes Blick fiel auf die feine Lichterkette, zu der sie Famke beim Dekorieren zu Beginn der Adventszeit hatte überreden müssen. Sie war überzeugt gewesen, dass sie nicht kitschig aussehen würde neben den dezenten silbernen und goldenen Sternen, weil die Lämpchen winzig waren, aber Famke hatte sich dagegen sperren wollen. Am Ende war die Lichterkette das gewesen, was sie besonders schön gefunden hatte. Sie wirkte wie ein Sternenhimmel, der das Angebot zum Strahlen brachte. Auch die kleinen dicken Weihnachtsmänner, die sich auf einer Schlittenbahn tummelten, hatte Famke schließlich akzeptiert.
Ein paar zarte Schneeflocken trieben mit einem Mal vor ihr her. Schnee an Weihnachten? Hatte sie so viel Glück verdient? Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute dem Wirbel im Schein der Laterne über dem Eingang zu, die sie zu dieser Jahreszeit immer brennen ließen. Dann durchschritt sie das Törchen, um am Vorderhaus vorbei zu Jariks und ihrem Wohnhaus zu gehen. Wie aus dem Nichts stand Jarik plötzlich vor ihr.
»Hallo, du Schöne!«, grüßte er sie.
»Bin ich zu spät? Es war einfach zu schön, unterwegs zu sein. Ich bin gelaufen, gelaufen und gelaufen.«
»Das bist du allerdings.«
»Tut mir leid.«
»Wir haben längst gefrühstückt. Du hast mal wieder die Zeit vergessen.«
Er schloss sie in die Arme und küsste sie zärtlich. O ja, auch deshalb war es die richtige Idee gewesen, das alte Leben hinter sich zu lassen und auf die Insel zu ziehen.
»Wo sind meine Mutter und die Kinder?«
»Oben. Sie wollen schon mal die Gans und die Beilagen für das Weihnachtsessen vorbereiten. Sie haben mich rausgeschmissen.« Er nickte zum Haus hin und lachte.
Sie schmiegte sich an ihn. In den Herbstferien hatten ihre Mutter Rita und Tessa einige Tage auf der Insel verbracht. Die beiden hatten sich als gutes Team gezeigt, für Tessa lief es in der Schule, sodass sie sich keine Sorgen machen musste. Im kommenden Sommer würde ihre Tochter wie vereinbart die zehnte Klasse abschließen.
Jarik küsste sie wieder. Sein Lächeln, als er sie wieder losließ, sorgte dafür, dass ihre Knie weich wurden. In seinem Haar verfingen sich Schneeflocken, die gleich wieder schmolzen. Sein Anorak und der Reißverschluss seines Troyers standen offen, und sie ließ ihre kalte Hand unter sein T-Shirt gleiten, legte sie auf seine warme Haut.
»Nimm sofort deine Hand da weg!«, stieß er aus. »Warst du am Strand?«
»Wie immer.« Er lachte wieder. »Dir scheint jedenfalls warm zu sein.«
»Ich hab Holz gehackt. Das reicht erst mal für ein paar Wochen«, sagte er.
»Für den Kamin? Das ist super!«, gab sie zurück.
Also stand Weihnachten und in der Zeit danach weiteren gemeinsamen Abenden bei Adventstee und Kerzenlicht vor dem Kamin nichts entgegen. Erneut hörte sie die Türglocke des Strandfliederhauses.
»Famke scheint recht viel Kundschaft zu haben.«
»Hat sie. Es läuft gut. Offenbar braucht der ein oder andere noch rasch ein Weihnachtsgeschenk.« Er sah sie fragend an. »Und was machen wir? Ich bin fertig mit meinen Vorbereitungen. Das Holz ist gehackt. Die Gans ist im Ofen, braucht aber noch ein paar Stunden, die drei da oben sind beschäftigt … So nett, dass deine Mutter sich um das Festessen kümmern will.«
Gleich nach dem Sommer, als zum ersten Mal etwas Ruhe eingekehrt war, hatten sie einen Plan gemacht. Zuerst hatten sie sich die Gerümpelkammer im Erdgeschoss des Wohnhauses vorgenommen, hier übernachtete Nils jetzt, wenn er bei ihnen war. Wie groß der Raum war, hatten sie erst gesehen, nachdem er ausgeräumt gewesen war. Maike hatte ein paar Sammeltassen entdeckt, die sie an Hilde erinnerten und die sie sehr geliebt hatte, auch eine Decke mit einem orange-braunen Siebzigerjahremuster – Tessa fand sie überaus scheußlich –, mit der sie ebenfalls schöne Erinnerungen verband. Sie lag jetzt im Wohnzimmer auf dem Sofa. In einem nächsten Schritt hatte der Raum einen neuen Parkettboden bekommen. Auf Nils’ Wunsch waren drei Wände weiß und eine blau gestrichen worden. Letztere solle ihn an Meer und Himmel erinnern, hatte er gesagt. Tessa war mit ihm losgezogen, um Fotos vom Strand, von Muscheln und dem Meer zu machen, sie hatten sie vergrößern lassen, gerahmt und aufgehängt. Die beiden verstanden sich sehr gut. Sie stromerten gemeinsam über die Insel, quatschten miteinander oder zockten. Im Erdgeschoss des Wohnhauses befand sich auch das ehemalige Gästezimmer, das sie im vergangenen Sommer für Tessa hergerichtet hatten. Das kleine Duschbad daneben war vor nicht allzu langer Zeit noch von Hilde renoviert worden, das teilten sich Tessa und Nils jetzt.
Es war schön, die beiden zusammen zu sehen, schade, dass Tessa nach den Weihnachtsferien nach Frankfurt zurückfahren musste, um das letzte halbe Jahr ihrer Schulausbildung zu absolvieren, bevor sie in die Kunst der Keramik eingeführt wurde. Maike war in jedem Fall sehr gespannt auf diese Zeit. Tessa konnte es kaum erwarten.
»Also, wenn schon alles erledigt ist und keiner Aufmerksamkeit bedarf, könnten wir doch noch eine kleine Runde durchs Dorf drehen«, schlug sie vor.
»Klar, wenn du immer noch laufen willst.«
»Und ob ich will. Viel Zweisamkeit für uns wird es in den nächsten Tagen nicht geben.«
»Ach, wir schaffen uns den Platz schon.«
»Ich lauf nur schnell rauf und frag meine Mutter, ob es in Ordnung ist, wenn ich noch ein bisschen unterwegs bin.«
Kurze Zeit später war Maike zurück.
»Und?«, fragte Jarik.
»Sie hat mich sofort wieder rausgescheucht. Wir hätten ja noch genügend Zeit, uns zu unterhalten und gemeinsam etwas zu unternehmen über die Weihnachtstage, hat sie gemeint. Und mich überflüssigerweise noch mal darauf aufmerksam gemacht, dass es mit meinen Kochkünsten, soweit sie sich erinnern könnte, ja sowieso nicht weit her sei. Sie möchte das Weihnachtsessen lieber mit Tessa und Nils allein vorbereiten. Die zwei fanden das sehr amüsant. Sie sind gerade dabei, den Baum zu schmücken, und haben jede Menge Spaß.«
Jarik lachte wieder. »Dann lass uns gehen.«
Arm in Arm erreichten sie kurz darauf den Noorderloog. Maike ließ den Blick schweifen. Hinter manchem Fenster war das Funkeln von Weihnachtsbäumen zu erkennen. Es schneite jetzt etwas stärker, der Schnee blieb liegen. Im Dorf waren nur wenige Leute unterwegs – ein paar Touristen, einige Insulaner, die noch etwas zu besorgen hatten, und Kinder, die sicher aus dem Haus geschickt worden waren, damit man die Bescherung vorbereiten konnte. Jarik und sie nahmen den Weg am Friederikenwäldchen vorbei bis hinüber zum Utkieker, der sich ins Schneegestöber reckte, während er auf ewig zum Meer schaute. Gemeinsam stiegen sie zu der Skulptur hinauf, aber es war nicht viel zu sehen, und sie machten sich bald wieder auf den Weg in Richtung Strandfliederhaus. Es hatte gutgetan, diese Zeit noch einmal für sich zu haben.
Im Haus schlüpften sie aus ihren Jacken und Schuhen und zogen warme Hausschuhe an. Auf dem Spaziergang hatten sie sich über Jariks Pläne für das neue Jahr unterhalten. Er war handwerklich sehr geschickt. Sie wusste inzwischen viel über seine eigentliche Arbeit als Bootsbauer. Irgendwann im neuen Jahr hoffte er, endlich einmal wieder ein Projekt angehen zu können. Ein alter Kumpel aus Studienzeiten hatte ihn kontaktiert. Sie war neugierig darauf. Es musste etwas ganz Besonderes sein, ein Boot zu bauen.
»Tee?« Jarik nickte zur Treppe hin. Oben war es still. Man hörte lediglich das Radio.
»Moment …« Sie lief den Flur entlang und klopfte an Nils’ Zimmertür. Es war Tessa, die »Herein!« rief.
Nils und Tessa lagen auf dem Bett, Fernsteuerungen in den Händen, und schauten auf den großen Bildschirm, den Nils’ Großeltern ihrem Enkel zum letzten Geburtstag geschenkt hatten. Maike war nicht besonders erfreut darüber gewesen – Nils neigte dazu, sich in Videospielen zu verlieren –, aber sie hatten eine Lösung gefunden, mit der alle leben konnten. Und zugegebenermaßen fanden sich die beiden auch zusammen, um andere Dinge zu tun.
»Schon fertig mit dem Baum? Ihr zockt jetzt aber nicht den ganzen Tag, oder?«
»Mum, es ist Weihnachten.« Tessa verdrehte die Augen. »Und es sind Ferien. Wir hatten doch darüber gesprochen. Da gelten Ausnahmeregeln.«
»Genau!«, unterstützte Nils sie.
Maike schluckte eine nächste Bemerkung herunter. Ihre Tochter hatte recht, in den Ferien wollte sie keine »Dann ist aber Schluss«-Mutter sein …
»Und außerdem wollen wir gleich noch zum Wrack der Verona«, war ihre Tochter wieder zu hören. »Sieben Kilometer hin und zurück. Zufrieden?«
»Bin gespannt, ob ihr etwas seht.«
»Der Weg ist das Ziel, oder?«
Maike nickte.
Sie waren alle schon etliche Male zur Verona gelaufen. Das englische Dampfschiff war am 13. Dezember 1883 auf der Reise von Leith in Schottland nach Bremerhaven Bug voraus im Osten der Insel gestrandet. Bei Niedrigwasser war es noch zu sehen, allerdings abhängig von den Sandmassen, die es mal mehr, mal weniger bedeckten. Unter sehr günstigen Bedingungen kam man in den Genuss eines aus dem Sand ragenden Teils des Rumpfes oder sogar der Decksaufbauten.
Jarik schaute ihr über die Schulter: »Komm, die Kinder haben recht. Es ist Weihnachten. Lass sie.«
»Ich sag doch gar nichts.«
Sie spürte, wie sie unwillkürlich entspannte. Vor ein paar Monaten noch hätte sie das enger gesehen. Vielleicht hätte sie sogar versucht, etwas auszukämpfen, heute tat sie das nicht mehr. Sie ließ mehr zu, und Tessa leistete weniger Widerstand. Sie waren alle kompromissbereiter geworden.
Mit den letzten Details der Renovierung von Nils’ Zimmer waren sie erst zu Nikolaus fertig geworden. Über dem Bett hing ein Plakat von Data aus Star Trek: The Next Generation, das Nils von seinem Vater geschenkt bekommen hatte. Der Schreibtisch stand vor dem Fenster, darauf der Computer, der mit dem Fernsehbildschirm gekoppelt werden konnte. Vom Bett aus konnte man diesen bequem sehen. An der Wand des Schreibtisches fand sich ein großes Regal mit Nils’ Büchern und seinen Legobauwerken. Man konnte sehen, wie wohl er sich in seinem Zimmer fühlte, dabei waren ihm die Veränderungen zuerst nicht leichtgefallen. Sie hatten alle gute Arbeit geleistet.
Ihr nächstes Projekt würde der Dachboden im Strandfliederhaus sein. Famke würde dort einziehen. Maike freute sich schon darauf, ihn mit Jarik und Famke fertig auszubauen und zu möblieren. Ein paar Möbelstücke hatte Famke sich aus der ehemaligen Gerümpelkammer ausgesucht, einige hatte Maike ihr nach ihrem Umzug überlassen. Sie hatten sie in der Werkstatt zwischengelagert, aber das war kein Zustand, Famke benötigte den Platz. Hinter der Werkstatt gab es ein kleines Zimmer, das Jarik für sich genutzt hatte, wenn er abends nicht mit der letzten Fähre in seine Wohnung auf dem Festland hatte zurückfahren wollen, das hatte Famke jetzt bezogen. Sie wohnte noch bei ihren Eltern, früher hatte sie manchmal auf einer Liege in der Werkstatt übernachtet. Das war jetzt bald vorbei, auch sie sollte endlich einen Platz für sich auf Hildes Anwesen haben. So war es Hildes Wunsch gewesen, bevor sie an einer Lungenentzündung in dem Pflegeheim, in das sie relativ plötzlich hatte umziehen müssen, gestorben war.
Das Schlimmste des Umbaus hatten sie schon hinter sich. Sie hatten statt der schmalen Stiege eine richtige Treppe schreinern, das Dach dämmen und verkleiden lassen, Wände für eine kleine Küche und ein Bad eingezogen, Fliesen verlegt, eine Dachgaube mit einem bodentiefen Fenster eingebaut.
Maike zog leise die Tür von Nils’ Zimmer hinter sich zu. Gemeinsam gingen Jarik und sie nach oben. Es duftete wunderbar nach Gänsebraten. Ihr Magen meldete sich, und ihr wurde bewusst, dass sie noch nicht mal gefrühstückt hatte.
Ihre Mutter lugte aus der Küche. »Ah, da seid ihr ja!«
»Wie geht es der Gans?«, erkundigte sich Jarik.
»Sie sieht zum Anbeißen aus. Ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr ich mich darauf freue. Wann kommt man schon mal dazu, Gänsebraten zu essen? Doch nur an Weihnachten.«
»Das stimmt«, sagte Maike. »Kann ich noch irgendetwas helfen?«
»Nein, es ist alles so weit vorbereitet«, erwiderte ihre Mutter. »Die Küche zu betreten ist heute für dich verboten.«
Maike gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Du bist ein Schatz.« Sie steuerte auf das Sofa zu und ließ sich daraufplumpsen. Ihr Blick fiel auf den geschmückten Weihnachtsbaum. »Wie schön!«, rief sie.
»Tee?« Jarik schaute fragend von Maike zu ihrer Mutter und wieder zurück.
»Gerne«, stimmte Maike zu. »Und bring mir doch ein Brötchen mit, wenn noch eins da ist.«
Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es noch ein Weilchen dauern würde, bis sie sich alle zum Essen versammelten. Zum Glück kam Jarik bald mit einem Tablett, auf dem eine Kanne Tee, drei Tassen, Sahne und Kandis standen und ein Teller mit einem belegten Brötchen.
»Was für ein hübsches Service«, sagte ihre Mutter.
»Ja, nicht?«, erwiderte Maike, nahm das Brötchen und biss hungrig hinein. »Famke hat es für mich entworfen, und ich hab’s Jarik letzten Monat zum Geburtstag geschenkt. Auf dem Boden jeder Tasse ist eine kleine Raupe eingearbeitet, die mit dem Trinken nach und nach aus der Flüssigkeit auftaucht, du wirst sehen.«
Jeder gab ein paar Kandisstückchen in seine Tasse, dann schenkte Jarik ihnen den starken schwarzen Tee ein, bevor ein Löffel Sahne dazukam, die sich in Wölkchen in der heißen Flüssigkeit verteilte. Es wurde nicht umgerührt, Maike liebte die Kombination aus herb und süß.
Sie musste wieder an die Phase ein paar Wochen zuvor denken, während der ihr Kaffee nicht mehr geschmeckt hatte. Das war schon seltsam gewesen. Sie wusste nicht, warum sie ihn auf einmal nicht mehr vertragen hatte. Zu Nikolaus hatte Jarik ihr dann verschiedene Kaffeesorten geschenkt, und sie hatte ausprobiert, welche Bohnen ihr keine Magenprobleme bereiteten. Er war Teetrinker und verstand dennoch, dass sie im Grunde ihres Herzens eine Kaffeetrinkerin war. Morgens jedenfalls konnte sie nicht ohne Kaffee.
Maikes Blick wanderte zum Kachelofen. Jarik legte Holz auf, kurze Zeit später loderte ein munteres Feuer. Sie hatten die Möbel im Wohnzimmer umstellen müssen wegen des Ofens; wenn der Dachbodenausbau im Vorderhaus abgeschlossen war, würden sie sicher noch ein paar Kleinigkeiten mehr verändern. Als Jarik zu ihr gezogen war, hatten sie schon damit begonnen umzuräumen. Ein paar von Hildes Möbeln hatte sie behalten, aber auch einige ihrer Lieblingsstücke standen jetzt hier.
Jarik trank seinen Tee aus, stand auf und machte sich daran, den Tisch für das Weihnachtsessen zu decken. Ein glühendes Stück Holz stürzte im Kamin ab, die Flammen loderten auf. Maike hielt ihre Hände dagegen. Das flackernde Feuer und der Weihnachtsbaum machten den Raum richtig heimelig. In Hildes Fundus hatten sich ein paar rote und goldene Kugeln gefunden, die hatten die Kinder mit dem Baumschmuck aus ihrem alten Zuhause kombiniert. Rund um den Baum lagen die Weihnachtsgeschenke. Offenbar hatten auch Nils und Tessa ihre dazugelegt. Es sah wunderschön aus. Oh, sie freute sich auf die Bescherung, sogar Tessa schien Weihnachten in diesem Jahr nicht »ätzend« zu finden wie in den vergangenen zwei Jahren.
»Brauchst du Hilfe?«, erkundigte sich ihre Mutter bei Jarik.
»Nein, danke, Rita«, gab er zurück. »Genießt ruhig euern Tee.«
»Den Kachelofen werde ich in Frankfurt vermissen. Das ist doch etwas sehr Schönes«, sagte ihre Mutter.
»Da sagst du was. Ich bin froh, dass Famke auf die Idee mit den Kacheln gekommen ist.«
»Ist die Herstellung kompliziert?«, erkundigte sich ihre Mutter.
»Nein, eigentlich gar nicht. Aufwendig aber schon. Man muss flüssigen Ton in Gipsformen gießen. Maike hat die natürlich selbst angefertigt, und es hat eine Weile gedauert, bis sie damit zufrieden war. Neben neutralen Kacheln hat sie welche mit Strandfliedermotiv gestaltet, wie du siehst.«
»Natürlich.«
»Nachdem man die Kacheln einige Tage hat trocknen lassen, werden sie glasiert und anschließend gebrannt. Die Kunden können sich auch eigene Motive wünschen.«
Maike musterte die Plätzchendose, die auf dem Tisch stand. Sie überlegte, ob sie noch eins nehmen oder lieber Platz für das Weihnachtsessen lassen sollte. Die Plätzchen sahen aber auch zu verführerisch aus. Am Abend zuvor hatten ihre Mutter, Tessa, Nils und sie noch einmal gebacken, bis nach Mitternacht, und sie hatten sehr viel Spaß dabei gehabt. Es gab Kringel mit Hagelzucker, Haselnuss- und Kokosmakronen, einfache und schwarz-weiße Butterplätzchen, Vanillekipferl und Tessas Lieblingsplätzchen, Zimtsterne.
»Christmas Cookies brauchen wir noch«, hatte ihre Tochter gesagt. Das Rezept für Christmas Cookies, erinnerte Maike sich, hatte Dylan, der Sohn ihrer besten Freundin Kaja, Tessa in der Adventszeit aus dem englischen Internat geschickt, in dem er seit dem vergangenen Jahr lebte. Die zwei hatten seit Neuestem Briefkontakt. »Haben wir alles, was wir dafür brauchen?« Sie hatte die Schränke durchstöbert.
»Haben wir«, hatte ihre Mutter geantwortet. »Genügend Dosen sind auch da.«
Maike hatte sich von Tessas Enthusiasmus anstecken lassen. Sie hatten Teig geknetet und ausgerollt und ausgestochen und ein Blech nach dem anderen in den Ofen geschoben. Ihre Mutter hatte mit Argusaugen darüber gewacht, dass niemand zu viel naschte, während Tessa und sie Rita genau mit diesem Ziel abzulenken versucht hatten. Das Dekorieren der Butterplätzchen mit Zuckerguss und Streuseln war eine sehr bunte Angelegenheit geworden.
»Wer soll die ganzen Plätzchen bloß alle essen?«, hatte Nils gefragt.
»Ich nehme welche mit nach Hause«, hatte ihre Mutter gesagt.
»Und ich schicke Arwen welche«, hatte Tessa gerufen. Sie würde ihre beste Freundin vermissen, wenn sie nach Spiekeroog zog.
»Wenn wir die nicht alle allein essen«, hatte Jarik, der eben die Treppe hochgekommen war, gesagt und im nächsten Moment eine Makrone verspeist. »Mmh, heiß, lecker, und nicht zu süß.«
»Hey, die sind noch nicht abgekühlt. Schon mal was von Warten gehört?«, hatte sie ihn gerügt.
»Soll ich verhungern? Ich war bis eben unterwegs … Meine Güte, sind die lecker.«
Jarik hatte nach einem weiteren Keks greifen wollen, und sie hatte versucht, ihn abzudrängen. Bald waren sie in einen spielerischen Kampf verwickelt gewesen, der Tessa mit den Augen hatte rollen lassen, aber sie musste doch auch ein bisschen lachen. Sie war nicht mehr so streng wie vor Kurzem noch, und Maike konnte es ihrem Teenie wieder häufiger recht machen. Das war ein echt gutes Gefühl. Es war beeindruckend, zu sehen, wie aus Tessa eine junge Frau mit konkreten Lebensplänen wurde. Mittlerweile freute Maike sich sehr auf die Zeit, in der ihre Tochter bei ihnen wohnen würde.
Zum Schluss hatte es sich angefühlt, als hätten sie sich alle noch ein bisschen besser kennengelernt.
»Vielleicht brauche ich dich doch, Maike«, sagte Jarik. »Hilfst du mir mal kurz beim Ausziehen des Tisches?«
Sie schreckte aus ihren Gedanken auf.
Der Tisch hatte in ihrer Wohnung in Frankfurt gestanden. Es war lange her, dass sie so viele Gäste gehabt hatten, dass sie ihn hatten ausziehen müssen. Maike half Jarik, danach breiteten sie gemeinsam ihre größte weiße Tischdecke auf dem Tisch aus, und Jarik machte sich daran, Teller, Gläser und Besteck zu decken.
Maike öffnete die zweiflügelige Balkontür und lugte rechts hinaus zum Vorderhaus. In beiden Ferienwohnungen war Licht zu sehen. Die Familie, die bereits im Sommer da gewesen war, verbrachte wie sie ihr erstes Weihnachten auf Spiekeroog. Täglich sah man die Eltern mit ihren Kindern gut eingepackt draußen unterwegs. Manchmal hatten sie Tipps für sie. So hatte sie sich zum Beispiel erstmals das Pottwalskelett im Nationalpark-Haus Wittbülten angesehen, von dem sie schon gehört hatte. In der kleineren Wohnung war ein junges Paar untergekommen: Biologen, für die Jarik schon ein Treffen mit seinem Freund Fiete organisiert hatte.
Sie versuchte zu erkennen, ob noch Licht im Strandfliederhaus brannte, aber eigentlich musste Famke den Laden inzwischen geschlossen haben. Sie räumte sicher noch auf, später würde sie mit ihnen zusammen Weihnachten feiern. Ihre Eltern waren verreist.
Es war schön, mitzubekommen, wie gut sich das Geschäft entwickelte. Sie alle sahen dem neuen Jahr optimistisch entgegen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Famke eine Anfrage für die umfangreichere Ausstattung einer Hotelkette bekommen – sozusagen ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk, wie sie scherzend gesagt hatte. Es hatte sie in helle Aufregung versetzt. Sie sollte ein Ausstattungskonzept entwerfen, das Geschirr, besondere Fliesen, Kacheln und andere Details umfasste. Famke war so aufgeregt gewesen, dass sie geglaubt hatte, ihr würde gar nichts einfallen. Dann hatte sie sich mehrere Tage in der Werkstatt eingeschlossen und war danach mit einem ersten Konzept aufgetaucht. Sie alle waren begeistert gewesen, nur Famke selbst nicht. Sie wollte die Entwürfe erst noch weiter ausarbeiten. Aber natürlich waren sie sicher, dass etwas daraus werden würde. Daran bestand einfach kein Zweifel.
Beim Essen redeten sie alle durcheinander, und jeder lobte ihre Mutter, weil es so unglaublich lecker war. Maike war sehr zufrieden. Sie hatten wirklich ewig keine Gans mehr gegessen. Als Familie zu dritt schon hatte es sich kaum gelohnt, allein mit Tessa war es ihr noch weniger in den Sinn gekommen, zumal ihre Tochter eine intensive vegetarische Phase durchlebt hatte. Auch jetzt nahm sie hauptsächlich von den Röstkartoffeln, den Kartoffelklößen, dem Rotkraut und dem Salat und nur ein kleines Stück Geflügel. Jarik hatte am Schluss dann doch noch in die Küche gedurft, denn er war ein Meister im Zubereiten von Saucen.
»Ich weiß schon lange, dass er ein guter Koch ist«, sagte Famke. »Das hab ich bei unseren gemeinsamen Mittagessen oft erleben dürfen.«
»Ich hab eben viele Qualitäten«, ließ Jarik sich gut gelaunt vernehmen.
Die Gans war knusprig, das Fleisch so zart, dass es sich leicht vom Knochen löste. Und die Kartoffelklöße und das Rotkraut waren selbst gemacht. Während ihrer Ehe mit Florian hatte es verlässlich Austern und Champagner zu Weihnachten geben müssen. Ihr Ex-Mann hatte eine besondere Vorliebe für Dinge gehabt, die etwas dekadent waren. Gut, das war ein anderes Thema. Daran wollte sie jetzt nicht denken.
Nils und Tessa überraschten sie mit einem Tiramisu ohne Alkohol, das sie vor allen im Kühlschrank der Werkstatt verborgen gehalten hatten. Maike und ihre Mutter wechselten einen Blick durch das schimmernde Licht der Kerzen hindurch. Nachdem der Tisch fertig gedeckt gewesen war, war Famke gekommen und hatte ihn geschmückt. Sie hatte kleine goldene und silberne Sterne auf die Tischdecke rieseln lassen und drei silberne Kerzenleuchter von Hilde aufgestellt, von deren Existenz Maike gar nichts wusste.