Das Strandfliederhaus - Elena Conrad - E-Book
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Das Strandfliederhaus E-Book

Elena Conrad

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Beschreibung

Maike ist Mutter einer fünfzehnjährigen Tochter und geschieden. Sie kommt gut zurecht, vollkommen zufrieden ist sie aber nicht mit ihrem Leben. Da erhält sie eine überraschende Nachricht. Die Tante ihres Exmannes vermacht ihr Das Strandfliederhaus auf Spiekeroog. Das beherbergt neben Tante Hildes Wohnung noch zwei Ferienapartments und einen kleinen Laden, der allerdings kurz vor dem Aus steht. Denn die Besitzer Famke und Jarik sind zwar kunsthandwerklich geschickt, aber buchhalterisch eher unbegabt. Soll Maike einen Neubeginn auf der Insel wagen, um Das Strandfliederhaus zu retten? Ist sie dort willkommen? Und dann ist da noch ihr Exmann, der sich um sein Erbe betrogen fühlt ...

Der Charme der Insel wird Sie verzaubern. Erster Band der Strandflieder-Saga.

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Seitenzahl: 346

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumErstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelSechzehntes KapitelSiebzehntes KapitelAchtzehntes KapitelNeunzehntes Kapitel

Über dieses Buch

Band 1 der Reihe »Strandflieder-Saga«

Maike ist Mutter einer fünfzehnjährigen Tochter und geschieden. Sie kommt gut zurecht, vollkommen zufrieden ist sie aber nicht mit ihrem Leben. Da erhält sie eine überraschende Nachricht. Die Tante ihres Exmannes vermacht ihr das Strandfliederhaus auf Spiekeroog. Das beherbergt neben Tante Hildes Wohnung noch zwei Ferienapartments und einen kleinen Laden, der allerdings kurz vor dem Aus steht. Denn die Besitzer Famke und Jarik sind zwar kunsthandwerklich geschickt, aber buchhalterisch eher unbegabt. Soll Maike einen Neubeginn auf der Insel wagen, um das Strandfliederhaus zu retten? Ist sie dort willkommen? Und dann ist da noch ihr Exmann, der sich um sein Erbe betrogen fühlt …

Über die Autorin

Elena Conrad, geboren 1972 in Frankfurt am Main, lebt mit ihrer Familie im malerischen Nahetal und reist seit über dreißig Jahren regelmäßig an die ligurische Küste, um dort zwischen Bergen und Meer die Seele baumeln zu lassen. Ihr Lieblingsplatz ist eine Bank in der Nähe eines alten Olivenbaums, von der aus sie bis zum Meer blicken kann. Die Inspiration, die sie dort erfährt, findet Eingang in ihre Bücher.

ELENA CONRAD

DASSTRANDFLIEDER

HAUS

ROMAN

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

  

Dieses Werk wurde vermittelt durch

die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

  

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de unter Verwendung von Illustrationen von © fhm/getty-images; © Trevillion Images/ Marie Carr und © www.buerosued.de

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-2406-7

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Erstes Kapitel

Maike stand auf der großzügigen Dachterrasse des Penthouse ihrer Gastgeber und sah über die Häuser hinweg in Richtung Skyline – Mainhattan, Bankfurt, Frankfurt. Hinter ihr, durch die geschlossene Glastür, waren gedämpft die Geräusche der Party zu hören. Gut gekleidete lachende Menschen sprachen angeregt miteinander, bewunderten die Wohnung und ließen sich erzählen, wie Kaja und Sven es geschafft hatten, an dieses Objekt zu kommen, und wie viel sie ausgegeben hatten. Qualität hatte eben ihren Preis.

Höher, schneller, weiter. Mein Auto, mein Haus, meine Yacht.

Maike warf einen Blick hinein, sah Sven gestikulierend im Gespräch mit zwei anderen Anzugträgern. Wahrscheinlich ging es um irgendetwas, das die offene, in Grautönen gehaltene Küche betraf, den Quooker, der auf Knopfdruck heißes, kaltes oder sprudelndes Wasser spendete, oder den extragroßen Herd, denn die drei schauten immer wieder in diese Richtung. Vielleicht ging es auch um die Durchbrüche. Sven hatte anfangs ausführlich geschildert, wie Kaja und er sie da und dort hatten ausführen lassen, um die beiden Wohnungen im obersten Stock des Gebäudes zu einer einzigen zu verbinden. Kaja wiederum hatte von endlosen Sitzungen mit ihrem Innenarchitekten erzählt, damit Raumaufteilung und Farbkonzept und so vieles mehr bis ins letzte Detail stimmten.

Nichts wird dem Zufall überlassen.

Maikes Blick wanderte von Sven und seiner Gruppe hinüber zu Kaja in ihren schwindelerregend hohen High Heels und dem smaragdgrünen Seidenkleid, das sich an ihren Körper schmiegte wie ein Versprechen und doch nichts offenbarte. Kaja hatte nach der Geburt ihres Sohnes Dylan gleich ihr vorheriges Gewicht wiedergehabt. Sie selbst hingegen wurde seit der Geburt ihrer Tochter Tessa die letzten fünf Kilo nicht mehr los.

Sven stand plötzlich hinter seiner Frau, ebenso gut gebaut und trainiert, das nachtblaue Hemd maßgeschneidert, das mit silbergrauen Strähnen durchzogene, leicht wellige Haar nach hinten frisiert. Er berührte sanft ihre zartweißen Schultern. Kaum möglich, sich vorzustellen, dass Sven während ihres gemeinsamen Studiums einmal Rastalocken getragen hatte und Keine Macht für Niemand skandiert hatte oder dass Kaja sich die Haare mit Henna gefärbt hatte.

Sie waren mittlerweile alle Anfang, Mitte vierzig. Sie hatten zusammen studiert und arbeiteten jetzt für dieselbe international agierende Rechtsanwaltskanzlei. Kaja, Sven und Maikes Ex-Mann Florian waren Anwälte, sie selbst war Büroleiterin. Zweimal in der Woche verbrachten Kaja und sie gemeinsam Zeit im Fitnessstudio und tranken danach im angeschlossenen Café einen Cappuccino oder einen Proteindrink.

Maike wandte sich wieder um. Ihre Augen verengten sich. Von der Straße her waren Stimmen zu hören. Ein Auto fuhr vorüber, ein anderes drehte endlose Runden auf der vergeblichen Suche nach einem Parkplatz, von irgendwo drangen vereinzelt Töne eines Musikstücks zu ihr herüber.

Sie warf unvermittelt einen Blick auf die schmale goldene Uhr an ihrem Handgelenk. Sie hatte sie sich kürzlich selbst geschenkt, genau wie den silbergrauen Einteiler aus kühler Seide mit dem Wasserfallkragen, den sie an diesem Tag trug und der ihren dunkelbraunen, gut schulterlangen Haaren schmeichelte. Damals hatte sich der Kauf gut angefühlt, inzwischen löste der Anblick nichts mehr in ihr aus. Das passierte in letzter Zeit häufiger. So kannte sie sich eigentlich nicht. Was geschah da mit ihr?

Es muss nicht immer mehr sein, immer und immer mehr …

Sie sah noch einmal zur Skyline hinüber. Sie war kurz vor Sonnenuntergang hinausgegangen, hatte zugesehen, wie das Abendrot zuerst die Spitzen der höchsten Häuser berührte. Es war ein schöner Anblick gewesen.

Seufzend lehnte sie sich mit dem Rücken an die Brüstung. Auch wenn es in der großzügigen Wohnung Platz genug für die Gäste gab, so hielten sich die meisten doch in einem Bereich des Wohnzimmers auf. Kaja stand im Mittelpunkt. Sie konnte sehr mitreißend erzählen, wie immer hingen die anderen geradezu an ihren Lippen.

Vielleicht erzählte sie von ihrem letzten Shoppingtrip nach Paris … Eigentlich hatten sie gemeinsam fahren wollen, doch dann war etwas dazwischengekommen. Maike war für eine Kollegin eingesprungen und hatte absagen müssen. Doch wenn sie ehrlich war, hatte ihr das nichts ausgemacht. Diese Dinge waren ihr nicht mehr so wichtig. Schleichend, zuerst unbemerkt, hatte sich etwas geändert.

Was ist mit mir los? Warum stehe ich allein hier draußen und nicht drinnen bei den anderen?

Sie wusste doch, wie das lief. Gesehen und gesehen werden, darum ging es. Networking war das Zauberwort, und das hier war eine super Gelegenheit, aber sie brauchte einfach für einen Moment Ruhe.

Zeit zum Nachdenken.

Ob sie jemand vermisste? Sie kannten sich alle, entweder aus der Firma oder von Tagungen oder aus dem Studium. Man wusste, welche Autos zu Hause in den Vorstadtgaragen standen, wer sich eine Yacht geleistet hatte, wer ein Pferd besaß, wer schon mal zum Heliskiing gewesen war und wer seine Hochzeitsreise weit, weit weg an einem besonderen Ort verbracht hatte. Man hatte Spaß miteinander und versuchte dennoch, einander zu übertrumpfen.

Komisch, dass Florian nicht da ist, dachte sie. Für ihren Ex-Mann war das Mithalten immer besonders wichtig gewesen, doch dieses Mal war er in Berlin geblieben, wo er seit ihrer Trennung in der dortigen Dependance der Kanzlei arbeitete und mit Nathalie, seiner Neuen, zusammenlebte. Seit Kurzem in einem riesigen Loft.

Unten war ein helles Bellen zu hören. Maike schaute über die Brüstung. Nun gut, inzwischen waren Florian und sie seit fünf Jahren getrennt und seit Kurzem endgültig geschieden. Neu war das falsche Wort für Nathalie. Es war auch nicht mehr so, dass sie ihren Ex-Mann trotz allem vermisste, aber im Moment hatte sie noch das Gefühl, dass es nie einfach werden würde, ihm irgendwo zu begegnen. Weshalb sie sich auf jedes Treffen mit ihm vorbereitete. Wie an diesem Nachmittag.

War sie eigentlich enttäuscht gewesen, als Kaja ihr gleich am Anfang von der Absage erzählt hatte? In den ersten Wochen des Trennungsjahres hatten sie sogar noch zusammengewohnt und einander fast täglich gesehen. Sie hatten manches Alltägliche zusammen erledigt, waren Eltern gewesen. Dann war Florian umgezogen, und die Dinge hatten sich geändert. Maike wusste natürlich, wer diesen Umzug vorangetrieben hatte: Nathalie, die Neue, zwanzig Jahre jünger als Florian.

Was für ein Klischee!

Maike schaute zu Kaja und Sven. Die beiden waren fast zur selben Zeit zusammengekommen wie Florian und sie. Damals waren sie vier sehr eng befreundet gewesen: Kaja, Sven, Florian, sie … Jo Metzler fehlte noch, eigentlich waren sie also sogar fünf gewesen. Jo hatte auch Rastalocken getragen. Sie hatten zusammen studiert, gemeinsam gefeiert, waren essen gegangen und in den Urlaub gefahren. Sie hatten gemeinsam erste Schritte ins Berufsleben gemacht. Die Urlaube waren mit jedem Jahr exklusiver geworden, doch Exklusivität verlor irgendwann ihren Reiz.

Sven und Kaja hatten als Erste Nachwuchs bekommen – drei Monate nach Dylan war Tessa geboren worden. Bis auf das letzte Mal hatten die beiden sich eigentlich immer gut verstanden. Inzwischen ging Dylan in England auf ein exklusives Internat, und der Kontakt war mehr oder weniger abgebrochen. Maike bedauerte das, Tessa zuckte lediglich mit den Schultern. Derzeit war es ohnehin schwer, mehr als ein Schulterzucken aus ihrer pubertierenden Tochter herauszubekommen.

Der Klingelton ihres Handys riss sie aus den Gedanken. Eilig versuchte sie, es aus ihrer Clutch zu fummeln, in der es kaum mehr Platz gab als für Schlüssel, Kreditkarte und Handy. Das exklusive Teil war von Chanel. Florian hatte ihr die kleine Unterarmtasche vor Jahren geschenkt und natürlich eine entsprechende Bemerkung gemacht: »So eine Tasche, ein Smartphone, eine Kreditkarte ohne Limit. Was braucht der Mensch mehr?« Florian waren solche Sachen immer sehr wichtig gewesen, sie selbst war stets davon ausgegangen, dass es ihr ebenso ging. Aber stimmte das?

Endlich hielt sie das Handy in der Hand. Das Klingeln hatte aufgehört, fing aber gleich wieder an. Entweder hatte der Anrufer Geduld, oder er oder sie wusste, dass sie, Maike, manchmal nicht ganz so schnell war. Sie warf einen raschen Blick aufs Display und meldete sich.

»Tessa?«

»Hi, Mum. Wo bist du denn?«

Vor Kurzem war ihre fünfzehnjährige Tochter dazu übergegangen, sie Mum zu nennen. Maike wusste nicht recht, was sie davon halten sollte. Sie hatte Mama immer ganz in Ordnung gefunden, aber für eine Jugendliche war das in der heutigen Zeit wohl nicht mehr so. Sie wusste nicht, warum, aber sie stellte sich Tessa jetzt in ihrem Jumpsuit mit den Regenbogen pupsenden Einhörnern vor und musste lächeln. Wenn man lächelte, konnte man entspannter sprechen.

»Sag schon, Mum, wo bist du?«

»Ich bin auf der Party bei den Bergmanns. Ich hatte dir doch davon erzählt.«

»Kann sein.«

Tessa sprach etwas langsamer. Es klang, als bearbeitete sie dabei einen Kaugummi, und Maike hätte ihr am liebsten gesagt, dass sie ihn aus dem Mund nehmen solle, doch sie schluckte die Worte herunter. Es gab genügend Missklänge zwischen ihrer Tochter und ihr. Da musste sie nicht wieder das Kaugummikauen am Telefon aufbringen. Pick your battles, so hieß es doch – entscheide dich, um was du kämpfen willst.

»Warum rufst du an?«

Maike warf einen Blick auf ihre Uhr. Es ging auf Mitternacht zu, und Tessa war offenbar nicht im Bett. »Solltest du nicht bereits schlafen? Wir haben noch keine Ferien, morgen ist Schule, wenn ich mich recht erinnere«, fügte sie automatisch dazu.

Tessa seufzte. Maike sah quasi vor sich, wie sie die Augen verdrehte.

»O Mann, Mum, das ist die letzte Schulwoche. Da läuft eh nichts mehr.«

Maike schwieg. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Klar, die letzte Schulwoche vor den Ferien. Sie erinnerte sich selbst daran. Meistens hatten sie Filme geguckt oder Spiele gespielt. Sie sah wieder durch die Terrassentür, das Partyvolk stand in kleineren Grüppchen zusammen. Sven köpfte gerade eine neue Flasche Veuve Clicquot. Im Hintergrund stand Kaja mit ein paar Frauen und gestikulierte lebhaft, während sie sprach.

Tessa räusperte sich. Offenbar hatte sie, ihre »Mum«, zu lange geschwiegen. Sie schlang den rechten Arm um den Körper und umgriff den Ellenbogen ihres linken Arms. Sie hörte jetzt sehr deutlich, wie Tessa Luft holte.

»Ich will zu Papa ziehen«, sagte sie dann sehr ruhig. »Der hat ja jetzt Platz ohne Ende, wo sie in das Loft gezogen sind.«

Zweites Kapitel

Maike hatte verdammt lange gebraucht, um einzuschlafen. Nach dem Gespräch mit Tessa hatte sie noch eine Weile gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Zuerst einmal war sie zurück in die Wohnung gegangen und hatte sich von Kaja ein paar der neuen Gadgets zeigen lassen: den Quooker, die Klimaanlage, das Lichtsystem im Schlafzimmer, auf das Sven ziemlich stolz war, das Badezimmer, das an eine Wellnessoase erinnerte. Kaja hatte wie immer ununterbrochen geredet und dann von den nächsten gemeinsamen Spa-Ausflügen gesprochen. Maike hatte ihr geduldig zugehört. Zuhören ging komischerweise immer, so viel sie auch im Kopf hatte und obgleich ihr manchmal alles gewaltig auf die Nerven ging. Zusammen mit Florian war das von Vorteil gewesen. Es hatte Spaß gemacht, gemeinsam seine Fälle zu besprechen, ihm zu lauschen, wenn er eine Strategie vor ihr ausbreitete. Sie vermisste das tatsächlich. Schließlich hatte sie auch Jura studiert, immerhin bis zum Ersten Staatsexamen.

Ich bin die Einzige, die es nicht durchgezogen hat.

Maike starrte noch einen Moment gegen die Decke, bevor sie sich aufrichtete und gähnend auf den Bettrand setzte. Mittwoch, ihr freier Tag. Sie dachte unwillkürlich daran, dass sie es nie bedauert hatte, das Jurastudium abgebrochen zu haben. Jura war nichts für sie gewesen, die Gespräche mit Florian vermisste sie dennoch. Es war die Herausforderung, die ihr fehlte, neben ihrer Arbeit im Büro. In letzter Zeit hatte sich dort leider einiges geändert. Ihr alter Chef war in eine andere Abteilung gewechselt, mit dem neuen lief es mäßig. Anfangs hatte sie gedacht, dass sie sich einfach aneinander gewöhnen mussten. Inzwischen bezweifelte sie das.

Wir gewöhnen uns jetzt schon drei Monate aneinander, und es hat sich nichts geändert.

Maike riss ihren Blick von der Wand los, an die Tessa vor zehn Jahren in einem unbeobachteten Moment einen ungelenken Smiley gemalt hatte. Tessa … Jetzt wollte sie also zu ihrem Vater ziehen.

Nach dem mitternächtlichen Gespräch hatte sie selbst bald Müdigkeit vorgeschützt und sich verabschiedet. Kaja hatte sie zur Tür begleitet, und während sie in ihren Mantel geschlüpft war, hatte sie lässig mit ihrem Champagnerglas dagestanden, eine Schulter gegen die Wand gelehnt. Das glänzende blonde Haar war ihr über die rechte Schulter nach vorne gefallen. Sie hatte wie einem Werbefoto entsprungen ausgesehen.

Ihr Gespräch lief wie ein Film vor ihren Augen ab.

»Ich hab dich draußen telefonieren sehen«, sagte Kaja unvermittelt. Maike tat so, als suchte sie nach ihren Autoschlüsseln. »Wer war es denn?«, fragte die Freundin neugierig.

»Tessa …« Maike bemühte sich, es nebenbei zu sagen, als wäre es nicht wichtig. »Ah, da sind sie ja …« Sie klimperte mit den Schlüsseln.

Kaja nickte. »Hab davon gehört«, sagte sie dann unvermittelt.

Maike nahm wahr, dass sie sich in diesem Moment sehr gerade aufrichtete. »Wovon hast du gehört?«

Kaja sah sie ungerührt an. Falls ihr gerade klar wurde, dass sie etwas Falsches gesagt hatte, so ließ sie es sich nicht anmerken. Es gelang ihr gut. Sie hatte immer das beste Pokerface gehabt, Kaja war die ungeschlagene Queen beim Glücksspiel.

»Na ja, Florian hat so etwas erzählt, als wir uns das letzte Mal getroffen haben. Dass Tessa nach Berlin ziehen will. Kann man ja irgendwie verstehen. Das Loft muss der Hammer sein. Wenn ich jung wäre und nicht so eine geile Bude hätte …«

»Er war hier?«

»Klar, du weißt doch, dass er immer mal wieder mit Nathalie zu Besuch kommt. Nichts für ungut, aber sie ist echt nett und witzig. Vielleicht gibst du ihr mal eine Chance?«

Nathalie, schon wieder, hübsch und klug, Einserexamen.

Ja, sie wusste, dass Florian öfter kam. Er arbeitete ja noch für dieselbe Firma. Sie waren immer noch Kollegen. Manchmal bekam sie mit, dass er vor Ort war. Manchmal erfuhr sie später davon. Manchmal hatte sie es vermutlich gar nicht erfahren. Wie oft Tessa ihren Vater traf, konnte sie nicht sagen. Ihre Tochter war ein Teenie mit allen Facetten und äußerst variabel in ihren Launen – dazu nicht besonders gesprächig ihr gegenüber.

Ob Florian bewusst war, was es für ihn bedeutete, wenn Tessa nach Berlin zog? Maike bezweifelte das.

Sie gab sich einen Ruck und stand endlich auf, ging ins Bad, wo sie sich gut zehn Minuten das Wasser über den Kopf brausen ließ. Früher hätte sie das nie getan. Zehn Minuten lang zu duschen war Wasserverschwendung, und ihre Mutter hatte streng darauf geachtet, nichts zu verschwenden. Auch beim Telefonieren hatte sie jedes Mal nach kurzer Zeit dagestanden und auf ihre Armbanduhr getippt. Vielleicht fielen Maike deshalb auch heute noch längere Telefonate schwer. Kindheitserfahrungen eben, so etwas wurde man nicht so leicht los.

Fertig, die letzten Shampooreste waren aus den Haaren gespült. Sie stellte das Wasser ab und wickelte ein Mikrofaserhandtuch um den Kopf. Dann trocknete sie sich ab und schlüpfte rasch in bequeme Kleidung. Noch zwei Tage, und ihr Urlaub begann. Drei lange Wochen hatte sie dieses Mal beantragt. Es hatte keine Einwände gegeben, ihr neuer Chef fand also, dass man sie durchaus so lange entbehren könne.

Sollte mich das verunsichern?

Gab es eine Anwärterin auf ihren Platz? Wahrscheinlich hatte sie zuletzt zu wenig Zeit mit Bürotratsch verbracht. Das rächte sich jetzt. Maike musterte sich im Spiegel. Andererseits hatte es sich einfach nicht richtig angefühlt.

Sie cremte sich sorgfältig ein, legte ein leichtes Make-up auf und widmete sich anschließend ihrem Haar. Die Mikrofasern hatten einen Gutteil der Feuchtigkeit aufgesogen, sie bürstete es einmal durch. Erst kürzlich war sie beim Friseur gewesen und hatte es ein ganzes Stück kürzen lassen. Florian hatte immer auf langem Haar bestanden, sehr langem Haar. Fast bis zur Hüfte hatte sie es wachsen lassen – er hatte ihre eleganten Hochsteckfrisuren geliebt. Natürlich hatte sie es nicht seinetwegen abschneiden lassen. Als sie noch in einer Beziehung gewesen waren, hatte sie einfach nur gedacht, dass es nicht wehtat, ihm den Gefallen zu tun, es lang zu tragen. Inzwischen waren sie kein Paar mehr, und irgendwann würden weitere Entscheidungen getroffen werden.

Tessa hat eine Entscheidung getroffen.

Maike öffnete das Fenster und verließ das Bad. Im Flur war es still. Auf dem Weg in die Küche räumte sie ein Paar von Tessas Chucks beiseite und warf einen Blick ins Zimmer ihrer Tochter, in dem die Vorhänge noch zugezogen waren, das aber dennoch leer war. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte Maike die Vorhänge problemlos öffnen können. Auch das war nicht mehr so, wollte sie keine Abfuhr riskieren. Maike ließ also nur einen kurzen Blick über das Chaos wandern und zog die Tür dann energisch zu. Tessa legte viel Wert auf ihre Privatsphäre. Nächster Abschnitt, fuhr es ihr durch den Kopf, Gespräch mit Tessa, Thema Verschiedenes.

Sie ging in die Küche, schaltete den Vollautomaten an und ließ sich einen Cappuccino zubereiten, mit dem sie dann eine Weile am Fenster stand und auf die Straße hinausschaute. Die Wohnung war zu groß für zwei, das winzige Stückchen Garten, das ihnen gehörte, dagegen zu klein für mehr als eine Person. Während Florian und sie zusammen gewesen waren, hatte er unbedingt etwas Größeres gewollt. Bis zur Trennung hatten sie immer wieder darüber nachgedacht. Jetzt würde sie sich wohl verkleinern, spätestens, wenn Tessa mit der Schule fertig war …

Sie will nach Berlin, weg von dir. Du kannst jetzt schon umziehen.

Der Gedanke durchfuhr sie scharf wie ein Messer. Sie hatte immer versucht, sich bewusst zu machen, dass so etwas passieren konnte. Sie hatte immer gedacht, dass sie souverän damit umgehen würde, wenn es einmal so weit war.

Die Realität sah offenbar anders aus – und überhaupt, was war mit Tessas Asthma? Irgendwo inmitten der vielen Gedanken, die ihr seit dem vorabendlichen Gespräch mit ihrer Tochter stetig durch den Kopf wirbelten, war auch dieser schon gewesen. Als sie noch eine Familie gewesen waren, hatte Florian oft gesagt, dass sie diesbezüglich lockerer werden müsse, dass sie sich zu viele Sorgen mache und man die Sache doch gut im Griff habe.

Für sie, Maike, war das Asthma einer der Gründe, aus denen heraus es ihr schwerfiel loszulassen, aber es stimmte natürlich: Tessa war diejenige, die damit lebte, und sie hatte ihren Eltern nie den Eindruck vermittelt, dass sie nicht damit umgehen konnte. Sie wusste, dass sie während eines Anfalls Ruhe brauchte. Sie alle kannten die Sprays, die bei akutem Husten und Atemnot eingesetzt wurden, auch die Medikamente, die der chronischen Entzündung der Bronchien entgegenwirkten und dadurch solchen Anfällen allgemein vorbeugen sollten.

Der Weg dorthin war nicht einfach gewesen. Maike erinnerte sich an Nächte, in denen sie panisch auf die Pfeifgeräusche gehorcht hatte, die Tessas Atmen begleitet hatten. Auf den kleinsten Husten. Es war schwierig gewesen, den Phasen zu vertrauen, die vollkommen beschwerdefrei waren.

Mit einem banalen Husten hatte alles angefangen. Später hatte ihnen der Arzt gesagt, dass Husten häufig das erste Zeichen für Asthma bei Kindern war, aber natürlich hatten nur wenige Kinder, die husteten, dann auch Asthma. Bis der richtige Umgang mit der Krankheit gefunden worden war, hatte es gedauert. Hin und wieder hatte ein heftiger Anfall sie ins Krankenhaus genötigt. An den letzten konnte Maike sich weniger konkret erinnern als an den ersten. Dennoch würde sie keine der Stunden vergessen, die sie an Tessas Krankenbett verbracht hatte.

Sie nahm einen letzten bedächtigen Schluck aus ihrem Kaffeeglas und verzog das Gesicht, weil der Cappuccino schon beträchtlich abgekühlt war. Die Müllabfuhr kam um die Ecke. Ein Auto fuhr laut hupend dicht auf. Einer der Müllmänner drehte sich um und sagte etwas, der Fahrer reckte den Kopf aus dem Wagen und wurde laut.

Es klingelte.

»Das wurde wohl versehentlich bei mir eingeworfen.« Frau Hausen, die neue Nachbarin, lächelte sie freundlich an.

Maike nahm einen dicken Briefumschlag entgegen, warf einen kurzen Blick darauf und hob unwillkürlich fragend die Augenbrauen. Ein Schreiben von einem Notar irgendwo aus dem Norden. Sie wandte sich wieder ihrer Nachbarin zu.

»Vielen Dank! Sind Sie inzwischen gut angekommen in der Heimat?«

»Es wird besser. Ich gewöhn mich langsam wieder an Deutschland.«

Frau Hausen lächelte. Sie war kürzlich aus Südkorea zurückgekehrt, wo sie mit ihrer Familie einige Jahre gelebt hatte. Bald würde ihr Mann mit den beiden Kindern nachkommen. Diese hatten, nach Abschluss des Schuljahres, noch ein paar Wochen Ferien anhängen wollen, auch um sich von ihren Freunden zu verabschieden. Bis zu ihrer endgültigen Rückkehr nach Deutschland musste natürlich alles vorbereitet sein. Einige Zeit war es deshalb etwas lauter in der Nachbarwohnung vorgegangen. Handwerker hatten sich die Türklinke in die Hand gegeben. Der Lärm hatte Maike erst ziemlich genervt, aber das hatte tatsächlich mehr an ihr selbst als an Frau Hausen und den Vorgängen in der Nachbarwohnung gelegen.

Die neue Nachbarin war von Anfang an freundlich gewesen, hatte sich gleich persönlich vorgestellt und Maike sogar eine Art landestypisches Getränk mitgebracht, das man mit Wasser aufgoss und das – laut der mit einem leichten Schmunzeln vorgetragenen Erklärung Frau Hausens – anscheinend gut gegen so ziemlich alles war. Die anfänglich schlechte Stimmung hatte also eher an ihr selbst gelegen. Ganz sicher war es die Scheidung gewesen, die die fünf Jahre Trennung, für die Florian und sie sich gemeinschaftlich entschieden hatten, in diesem Jahr besiegelt hatte.

Man sollte wirklich glauben, ich wäre nach so langer Zeit darüber hinweg, aber na ja …

»Jetzt stehen die Sommerferien vor der Tür«, bemerkte Frau Hausen.

»Ja.«

»Haben Sie etwas vor, wenn ich das fragen darf?«

Man konnte Frau Hausens Stimme anhören, dass sie interessiert war, Maike aber auch nicht zu nahe treten wollte.

»Leider nicht.«

Maike unterdrückte einen Seufzer. Tatsächlich spürte sie das »leider« aus vollem Herzen. So viel Urlaub hatte sie sich genommen und wusste jetzt eigentlich gar nicht, was sie mit dieser Zeit anfangen sollte. Und dann würde Tessa sie auch noch verlassen.

Das werden lange Ferien …

Vielleicht würde sie einfach endlich einmal ausmisten, das Schlafzimmer und das Badezimmer mit einem neuen Anstrich versehen, den absurd teuren anthrazitgrauen Toilettensitz austauschen, den Florian damals gekauft und der ihr nie gefallen hatte.

Und natürlich Tessas Umzug planen: Schulen in Berlin anschauen, neue Ärzte suchen und sich dem ganzen Rattenschwanz widmen, den die töchterliche Entscheidung mit sich brachte. Vor allem mussten sie einen Arzt suchen, der sich mit Tessas Asthma auskannte und den sie umfassend über die Vorgeschichte ihrer Tochter informieren konnten. Maike riss sich aus ihren Gedanken.

»Haben Sie denn Pläne, Frau Hausen?«

»Zuerst meine Familie endlich wiedersehen. Sie kommt in zwei Wochen, und dann schauen wir mal. Ich bin jetzt schon so lange mit der Wohnung beschäftigt, trotzdem summieren sich die Kleinigkeiten. Plötzlich habe ich den Eindruck, ich werde einfach nie fertig. Jedenfalls wird es nicht perfekt sein. Aber natürlich kann ich es kaum erwarten, meine Lieben wieder in die Arme zu schließen. Und dann werden wir wohl als Erstes unsere Eltern besuchen und endlich einmal wieder deutschen Sonntagsbraten essen. Ich freu mich schon sehr darauf.«

»Das kann ich mir vorstellen! Ich wünsche Ihnen alles Gute für die kommende Zeit«, sagte Maike.

»Danke, das wünsche ich Ihnen auch. Noch einen schönen Tag!«

»Ihnen ebenso.«

Maike ging zurück in ihre Wohnung. In der Küche warf sie einen Blick auf die Uhr. Tatsächlich schon halb elf. Hatte sie so lange geschlafen? Sie hatte jedenfalls nicht gehört, wie Tessa das Haus verlassen hatte, um zur Schule zu gehen. Ob ihrer Tochter wohl bewusst war, dass sie bei einem Umzug nach Berlin nach den Sommerferien auf eine neue Schule gehen musste? Eigentlich hasste sie Neuanfänge.

Warum hat sie mir nichts von ihren Plänen gesagt?

Maike runzelte die Stirn. Hatten sie sich so weit auseinanderentwickelt? Okay, Tessa war in der Pubertät, aber sie verstanden sich doch eigentlich gut, von kleinen Schwierigkeiten hier und da abgesehen.

Sie nahm das Kaffeeglas von der Fensterbank, auf der sie es abgestellt hatte, als es an der Tür geklingelt hatte, und trug es zur Spüle. Dann besah sie sich den Umschlag, den sie beim Hereinkommen auf den Küchentisch geworfen hatte, genauer, studierte die Schrift. Nein, sie hatte sich nicht verlesen, das Schreiben kam von einem Notariat. Ihr Magen zog sich zusammen, rasch setzte sie sich. Was hatte sie denn mit einem Notar zu tun? Kam das von Florian? Aber die Scheidung war vollzogen. Er konnte seine neue, jüngere Freundin heiraten. Sie legte ihm keine Steine in den Weg. Ging es vielleicht um den Unterhalt? Damit hatte es doch bisher keine Probleme gegeben. Sie gingen beide vernünftig mit diesen Dingen um. Und mit so was lief man nicht zum Notar.

Maike öffnete kurzerhand das Kuvert. Sie würde sich anschauen, was man ihr geschickt hatte. Es brachte schließlich nichts, den Kopf in den Sand zu stecken.

Sie las zuerst das Anschreiben: Sehr geehrte Frau Schuster … möchten wir Sie darüber in Kenntnis setzen, dass Frau Hilde Nowak an den Folgen einer schweren Lungenentzündung verstorben ist … Sie stockte, las dann rasch weiter. Da stand etwas, das ihr von einem Moment auf den anderen einen Schauer über den Rücken rieseln ließ.

Tante Hilde ist tot …

Die Welt hielt kurz an und begann dann, sich umso schneller zu drehen. Wie konnte das sein? Rund um die Scheidung wenige Monate zuvor hatten sie doch noch miteinander telefoniert. Hilde war es nicht so gut gegangen – sie hatte in ein Pflegeheim auf dem Festland umziehen müssen –, aber sie hatte Verständnis dafür gehabt, dass sie selbst gerade den Kopf voller anderer Dinge gehabt hatte. Maike erinnerte sich, gefragt zu haben, ob es denn in Ordnung in dem Heim für sie sei, und Hilde hatte geantwortet: »Es ist ja nur vorübergehend, nur so lange, bis ich meinen Alltag wieder bewältigen kann.«

Danach hatten sie sich nicht mehr gesprochen. Zu viel war passiert, zu viel dazwischengekommen.

Ich hätte mir die Zeit nehmen sollen. Jetzt ist es zu spät.

Ob Florian schon Bescheid wusste? Hatte er auch ein solches Schreiben bekommen? Hilde war immerhin die Schwester seines Vaters gewesen. Allerdings war Florians Verhältnis zu seiner Tante in den letzten fünf Jahren deutlich abgekühlt – Hilde hatte sich in der Trennungssache eindeutig auf ihre, Maikes, Seite geschlagen.

Ihre Gedanken schweiften von der Nachricht ab.

Wie oft werde ich Tessa wohl sehen, wenn sie nach Berlin zieht?

Berlin war viel zu weit entfernt für regelmäßige Besuche. Das würde nicht einfach sein. Es sei denn, sie zog um.

Sie schaute in den Umschlag. Da war noch ein Kuvert, auf dem in Hildes Schrift ihr Name stand.

Minuten später saß Maike immer noch reglos am Tisch. Sie konnte nicht glauben, was sie da gerade gelesen hatte. Hilde, Florians Tante Hilde, hatte ihr das Anwesen auf Spiekeroog, in dem sie seit ihrer Hochzeit gelebt hatte, vererbt. Der Notar bat um baldige Vorlage des Testaments, das in Hildes Haus auf der Insel hinterlegt sei.

Maike starrte das Schreiben an. War das möglich? Hilde hatte keine Geschwister mehr und nie Kinder gehabt, ihr verstorbener Mann hatte auch keine Nachfahren, aber immerhin war da doch Florian als ihr direkter noch lebender Verwandter. Warum also sollte sie, die sie im letzten Jahr nicht einmal für Hilde da gewesen war, als Erbin eingesetzt worden sein?

Wie oft hab ich an sie gedacht, überlegte sie. Wie oft hatte ich den Telefonhörer in der Hand, um sie anzurufen? Wahrscheinlich konnte sie das an fünf Fingern abzählen. Maike schämte sich.

Sie griff nach Hildes Brief, um ihn noch einmal zu lesen. Ihr Herz schlug schneller.

Tessa war nicht direkt nach der Schule nach Hause gekommen. Maike hatte Hildes Brief so oft gelesen, dass sie ihn fast auswendig kannte. Irgendwann hatte sie ihn sichtbar gegen die Vase auf der Kommode im Flur gelehnt. Das Schreiben war eine Einladung nach Spiekeroog. Es war ein ungewöhnliches Schreiben, ganz so wie Hilde eine ungewöhnliche Frau gewesen war.

Wann soll ich fahren?

Ihr erster Impuls war gewesen, die Einladung zu ignorieren. Alles auf sich beruhen zu lassen. Um ihre Gedanken zu ordnen, hatte sie sich ablenken müssen. Also hatte sie die Küche aufgeräumt und das Geschirr gespült, das ihre Tochter benutzt stehen gelassen hatte, obwohl sie das eigentlich nicht mehr tun wollte.

Jetzt ging es auf acht Uhr zu. Vor der Tür war endlich ein Geräusch zu hören. Das musste Tessa sein. Maike stand aus dem Sessel im Wohnzimmer auf, in dem sie es sich gemütlich gemacht hatte, in der Hoffnung zu entspannen. Trotz der Aufregungen dieses Tages fühlte sie sich gewappnet für die Begegnung mit ihrer Tochter. Sie lief in den Flur, als sie den Schlüssel im Schloss hörte. Tessa schlüpfte herein, die Kapuze ihres viel zu großen Hoodies tief in die Stirn gezogen.

»Hallo.«

Maike verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sie im nächsten Moment wieder sinken.

Tessa fuhr kurz zusammen, fing sich jedoch gleich wieder. Offenbar war sie in Gedanken gewesen.

»Hi, Mum.«

»Ich bin im Wohnzimmer.«

Maike drehte sich um und kehrte zu ihrem Sessel zurück. Im Flur rumpelte es. Sie stellte sich vor, dass Tessa jetzt aus ihren Docs schlüpfte. Es brauchte natürlich seine Zeit, bis die Schnürsenkel gelöst waren. Maike nippte an ihrem Tee und wartete. Sie hatte den Tag über Zeit gehabt, sich auf dieses Gespräch vorzubereiten, und doch hatte sie jetzt wieder den Eindruck, dass sie keine Ahnung hatte, was sie sagen sollte.

Tessa kam herein und setzte sich auf die Lehne des Sofas, dem Sessel gegenüber. Im Gegensatz zu ihrer schwarzen Kleidung waren ihre Socken schreiend bunt. Maike schwieg noch einen Moment länger, dann räusperte sie sich.

»Hattest du einen schönen Tag?«

»Klar.«

Tessas Antwort fiel wie immer knapp aus. Waren eigentlich alle Fünfzehnjährigen so?

»Wie war die Schule?«

»Wir haben einen Film geguckt. Final Destination.«

»Das ist doch ein Horrorfilm, oder?«

Tessa hob die Schultern. »So eine Art, aber Herr Grube wusste das nicht.«

Herr Grube war einer der Lehrer, die kurz vor der Pension standen. Ein gutmütiger Mensch mit etwas längeren Haaren, der immer noch seine alternativen Klamotten aus den Achtzigern tragen würde, wenn die nicht inzwischen das Zeitliche gesegnet hätten. An den ersten Elternsprechtagen, erinnerte Maike sich, hatte er sie sogar noch getragen. Tessas Verhältnis zu ihm war nicht schlecht, aber auch nicht gut.

»Und hat er es gemerkt? Was hat er gemacht?«

»Nix.«

Tessa betrachtete ihren rechten Daumennagel. Maike tat Herr Grube leid. Sie konnte sich vorstellen, wie überfordert er sich von diesen Vierzehn-, Fünfzehn-, manchmal schon Sechzehnjährigen fühlte, die sich jedes Jahr weiter von ihm entfernten. Sie wünschte sich etwas mehr Verständnis von ihrer Tochter.

»Also gut«, Maike klopfte sich auf die Knie und kam sich gleich albern vor, »reden wir über Berlin.«

»Was soll’s denn da noch zu reden geben?«

»Na ja, da gibt es schon ein paar Sachen zu bedenken.«

»Ich will zu Dad.«

»Und warum?« Sie hatte nicht fragen wollen. Jetzt war es ihr doch rausgerutscht. Tessa presste die Lippen fest aufeinander. Fühlte sie sich verletzt? Ja, bestimmt. Und auch wenn das nicht sonderlich erwachsen war, so war es doch irgendwie menschlich … »Vergiss meine Frage. Klar kannst du zu Papa, aber hast du überhaupt abschließend über alles mit ihm gesprochen? Über das, was es zu organisieren gibt, meine ich. Eine neue Schule müssen wir suchen, einen neuen Arzt wegen des Asthmas und, und, und …« Sie war sich sicher, dass es insbesondere die Sache mit dem Asthma war, die dafür sorgte, dass sich die Augenbrauen ihrer Tochter über der Nasenwurzel zusammenzogen. Hin und wieder haderte Tessa mit ihrer Krankheit. Maike trank einen Schluck Tee, um etwas Zeit zu gewinnen, und fragte dann noch einmal: »Okay, was ist mit Papa?«

»Dad weiß über alles Bescheid. Er kümmert sich schon.«

»Hat er dir auch wirklich zugehört?«

»Mum!« Tessa wickelte ein Bändel der Kapuze ihres Hoodies um ihren rechten Zeigefinger und musste den Kopf dann etwas schief halten, bis sie es wieder abgewickelt hatte. »Weißt du, dass Dad gerade das immer an dir genervt hat? Diese ständigen Unterstellungen, dass du alles besser weißt und kannst!«

Maike schwieg. Jede Reaktion war ohnehin die falsche.

»Gut«, sie seufzte, »dann werde ich deinen Vater anrufen und die Sache mit ihm abschließend besprechen.«

»Danke, Mum.« Tessa wartete noch einen Moment, bevor sie aufstand und sich auf die Tür zubewegte. »Kann ich dann gehen?«

»Kannst du. Oder nein, warte noch einen Augenblick.« Tessa war schon halb durch die Tür, als Maike sie noch einmal zurückhielt. »Ich fahre demnächst nach Spiekeroog, vielleicht hast du ja Lust …«

»Nein, Mum, hab ich nicht.«

Drittes Kapitel

Maike nahm den Zug nach Norden, die nordwestlichste Stadt auf dem Festland, und von dort, nach kurzem Aufenthalt, den Bus nach Neuharlingersiel. Eine Zeit lang hatte sie den Atem anhalten müssen, ob der Umstieg wohl klappen würde, aber letztlich blieben ihr sogar zehn Minuten, und sie musste nicht, wie befürchtet, über den Bahnhofsvorplatz sprinten. Da es sich um den ersten Halt auf der Strecke handelte, konnte sie sogar einen Sitzplatz auswählen. Ein paar Reisende mussten dem Bus tatsächlich noch hinterherrennen, sie schafften es trotzdem alle an Bord.

Die Strecke führte zunächst ein Stück durch die Stadt, am Schlosspark Lütetsburg vorbei, den sich Maike immer schon mal gerne angesehen hätte, im Weiteren dann durch Hage, Dornum, Holtgast, Esens, Bensersiel. Immer wieder passierten sie kleinere und größere Gehöfte, von denen manche Ferienunterkünfte vermieteten. Bei den ersten Besuchen bei Hilde waren Florian und sie auch immer mit dem Zug gefahren. Maike fragte sich, ob sie sich vielleicht deshalb dieses Mal dafür entschieden hatte. Andererseits fuhr sie einfach gerne mal Zug und hatte das viel zu lange schon nicht mehr getan …

Als sie nach knapp zwei Stunden in Neuharlingersiel ankamen, war noch ein wenig Zeit, bevor die Fähre ablegte. Maike kaufte sich als Allererstes einen Kaffee und spazierte dann durch den Hafen. Sie hatte nicht vor, lange zu bleiben, und dementsprechend wenig Gepäck dabei. Während der Busfahrt war es ziemlich bedeckt gewesen, an der Küste riss die Wolkendecke nach und nach auf. Es war seltsam, aber der Anblick ließ Maikes Herz von einem Moment auf den anderen leichter werden. Fast war es so, als ob ihr Körper sich an frühere Aufenthalte erinnerte. Als sie schließlich anstand, um auf die Fähre zu gelangen, brach ein Sommerschauer los, wenig später kam schon wieder die Sonne hinter den Wolken hervor, und der Himmel war so weit, das Licht so strahlend, wie es nur im Norden sein konnte.

Die ersten Fahrgäste verschwanden im Schiff. Maike schnappte sich ihre lederne Reisetasche, die sie gerne auf Kurztrips dabeihatte, weil eine Ersatzgarnitur Wäsche und das Nötigste dort gut hineinpassten. Dummerweise hatte sie nur eine Unterkunft etwas weiter im Landesinneren bekommen. Es war Hochsaison. Direkt an der Küste war alles belegt. Sie musste also mit der letzten Fähre zurück aufs Festland.

Warum übernachte ich eigentlich nicht auf der Insel?, überlegte sie, während sie aufs offene Meer hinausblickte. Aber es war einfach zu wenig Zeit gewesen, besser zu planen, sie fühlte sich immer noch völlig überrumpelt von den Ereignissen, der Einladung einer Toten und ihren eigenen Schuldgefühlen.

Vielleicht bin ich auch einfach zu feige, in Hildes Haus zu übernachten. Vielleicht habe ich Angst vor Erinnerungen oder damit konfrontiert zu werden, was ich zu tun versäumt habe.

Sie dachte an Florian. Sie hatte ihn nicht gefragt, ob er ebenfalls ein Schreiben von Hilde erhalten hatte. Möglicherweise hatte sie gar kein Anrecht auf das Erbe oder nur ein Teilrecht, und sie würden Hildes Anwesen am Dorfrand – es bestand aus einem größeren und einem kleineren Haus, einem Schuppen und einem großzügigen Garten – gemeinsam verkaufen müssen. Das würde sicher nicht einfach werden.

Und wenn sie ihn nicht bedacht hat? Die beiden haben sich zuletzt nicht gut verstanden.

Nun, zuerst einmal musste sie herausfinden, wo dieses ominöse Testament war. Wahrscheinlich befand es sich in Hildes Sekretär.

Wie fühlte sich das wohl an, ein Anwesen auf Spiekeroog zu besitzen? Sicherlich wie in einem fernen, irritierenden Traum.

Und so ein Mensch bin ich nicht. Ich bin keine Träumerin.

Sie hatte ihren Beruf. Sie hatte ihr Leben, ihr Lebensmittelpunkt befand sich am Anfang ihrer Reise, nicht an deren Ende … Aber war sie glücklich? Jedenfalls nicht unglücklich. So war es doch, oder nicht?

Maike schaute auf ihre Armbanduhr. Sie würde ihre Zeit auf der Insel jedenfalls gut nutzen müssen. Einmal mehr hatte sie ihre Privatangelegenheiten chaotisch geplant – um nicht zu sagen gar nicht.

Sie drehte sich um und sah in Richtung Neuharlingersiel zurück. Ihre verwirrenden Gefühle verwunderten sie, zugleich war sie jetzt doch auch voller Vorfreude. Sie war schon viel zu lange nicht mehr auf Spiekeroog gewesen.

Maike ließ sich doch Zeit mit dem Aussteigen. Niemand erwartete sie. Für sie gab es nur eine Sache auf der Insel zu erledigen, anders war das bei den anderen, die es wahrscheinlich nicht abwarten konnten, zu ihren Ferienwohnungen zu kommen. Sie hatte zum Glück kein Gepäck in den Containern, in denen Koffer und Reisetaschen während der Überfahrt transportiert wurden, sondern nur ihre kleine Reisetasche und eine Handtasche.

Ein paar der anderen Fahrgäste scharten sich bereits um eine Imbissbude, als sie schließlich an Land kam. Einige Familien waren mit beträchtlichen Mengen an Koffern mit Laufrädern, Rollern und Ähnlichem unterwegs in Richtung Dorf. Ein Kuscheltier drohte ins Wasser zu fallen und wurde im letzten Moment gerettet. Die vielen Bollerwagen, die ringsherum auf ihre Nutzer warteten oder schon energisch in Richtung Unterkünfte gezogen wurden, gaben dem Hafen einen eigenen Anblick. Einen Moment noch blieb Maike stehen, legte den Kopf leicht in den Nacken, schloss die Augen, ließ Sonne und Wind über ihr Gesicht spielen. Dann machte sie sich auf den Weg. Allzu weit entfernt war ihr Ziel nicht. Nichts auf dieser Insel war weit entfernt.

Spiekeroog war nur gut achtzehn Quadratkilometer groß, bei einer Länge von zehn und einer Breite von zwei Kilometern. Auf irgendeiner Party hatte mal jemand gesagt, Spiekeroog sei flächenmäßig kleiner als der Frankfurter Flughafen oder der Bodensee. Daran musste sie denken, als sie jetzt noch einmal über das Meer hinwegblickte. Man konnte das Festland ausmachen, es war nur sechs Kilometer entfernt.

Der Weg führte auf der breiten gepflasterten Straße vom Hafen einen Hügel aufwärts, vorbei an den violett blühenden Richelwiesen. Als sie den höchsten Punkt erreichte, blieb Maike noch einmal stehen. Von hier aus konnte man das Dorf sehen, ringsherum die Wiesen, grasende Pferde und natürlich das Meer.

Ins Dorf hinein ging es abwärts, vorbei an den ersten Häusern und Restaurants mit ihren verlockenden Angeboten. Die Straßen wurden schmaler, der Gepäckdienst mit seinen Anhängern überholte sie leise rumpelnd. Auf Spiekeroog gab es keinen Autoverkehr, nur wenige Elektromobile fuhren hier, Fahrräder und natürlich Bollerwagen.

Im Dorfinneren verteilte sich der Besucheransturm noch nicht ganz. Hier und da bildeten sich kleinere Menschentrauben, die Schlange vor dem Eisladen wurde stetig länger. Von hier aus war es nicht mehr weit.

Maike lief langsamer, bewunderte die kleinen, typisch ostfriesischen Häuser und die knorrigen Bäume. Auch die bunte Blumenpracht in gepflegten Gärten lud auf diesem Stück des Weges immer wieder zum Innehalten ein. Viele Häuser waren aus rotem Backstein, manche waren gestrichen, keines verputzt. An einem Haus weckte ein Blumenkasten mit besonders üppig wachsenden Geranien ihre Aufmerksamkeit, dahinter ein Sprossenfenster mit grünen Fensterläden. Sie entschied sich, doch nicht den direkten Weg zu nehmen, sondern spazierte an der Alten Inselkirche vorbei, die sich zwischen den Sträßchen Süderloog und Norderloog befand.

Anders als viele Orte auf den anderen Ostfriesischen Inseln lag das einzige Dorf auf Spiekeroog nicht direkt am Strand, sondern im Inselinneren. So hatte man immer eine Strecke Weg zu bewältigen, um einen der großzügigen Strände zu erreichen, und kam in den Genuss eines wirklich alten Ortes. Die letzte zerstörerische Sturmflut, die Allerheiligenflut, lag schon länger zurück.

Jetzt waren es nur noch wenige Meter, und sie hatte ihr Ziel erreicht. Maike blieb angesichts des doch eigentlich so vertrauten Anblicks erstaunt stehen. Hatte sie sich verlaufen? Nein, sie kannte das Anwesen gut. Verwirrt betrachtete sie das Schaufenster im Untergeschoss des Vorderhauses. Sie konnte sich nicht erinnern, es schon einmal gesehen zu haben – ein großes, bodentiefes Fenster ja, aber einen Laden dahinter? Hier war doch immer eine Ferienwohnung gewesen.

Strandfliederhaus stand auf dem Schild oberhalb der Ladentür. Und darunter die Öffnungszeiten: Dienstag- bis Freitagnachmittag von 14:30–18:00 Uhr. Samstag und Sonntag von 10:00–14:00 Uhr. Montag Ruhetag.