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Um die erste Jasminernte zu feiern, laden Giulia und Marco zu einem großen Fest ein. Auf der rauschenden Feier macht Marco Giulia einen Antrag, den diese überglücklich annimmt. Doch in die fröhliche Stimmung kommt die schreckliche Nachricht, dass Marcos Schwester Laura ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Plötzlich überschlagen sich die Ereignisse - und nur gemeinsam können Giulia und Marco den Olivenhof retten und die Familie zusammenhalten.
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Seitenzahl: 321
Veröffentlichungsjahr: 2021
Band 2 der Reihe »Jasminblüten-Saga«
Um die erste Jasminernte zu feiern, laden Giulia und Marco zu einem großen Fest ein. Auf der rauschenden Feier macht Marco Giulia einen Antrag, den diese überglücklich annimmt. Doch in die fröhliche Stimmung kommt die schreckliche Nachricht, dass Marcos Schwester Laura ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Plötzlich überschlagen sich die Ereignisse – und nur gemeinsam können Giulia und Marco den Olivenhof retten und die Familie zusammenhalten.
Elena Conrad, geboren 1972 in Frankfurt am Main, lebt mit ihrer Familie im malerischen Nahetal und reist seit über dreißig Jahren regelmäßig an die ligurische Küste, um dort zwischen Bergen und Meer die Seele baumeln zu lassen. Ihr Lieblingsplatz ist eine Bank in der Nähe eines alten Olivenbaums, von der aus sie bis zum Meer blicken kann. Die Inspiration, die sie dort erfährt, findet Eingang in ihre Bücher.
ELENA CONRAD
DERJASMINBLÜTENSOMMER
ROMAN
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch
die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Marion Labonte, Labontext
Umschlaggestaltung: Birgit Gitschier, Augsburg, unter Verwendung von Illustrationen von © shutterstock: Gaspar Janos | Denis Novolodskiy | Lukasz Szwaj | Paladin12 | Fedorov Ivan Sergeevich | AmySachar; © Trevillion Images: Krasimira Petrova Shishkova
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-0383-3
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Giulia erwachte langsam. Sie öffnete die Augen, blinzelte angesichts der Sonnenstrahlen, die einladend durch die gelben Vorhänge fielen. Nachts hatte sie bereits kurz wach gelegen, vermutlich der Aufregung wegen, war dann aber recht schnell wieder eingeschlafen.
Jetzt atmete sie tief durch und streckte sich vorsichtig, bevor sie sich behutsam auf die andere Seite drehte. Marco schlief neben ihr, wie an den meisten Tagen, seitdem ihre gemeinsame Geschichte vor ziemlich genau einem Jahr im letzten Frühsommer begonnen hatte.
Giulia richtete sich auf, stieg aus dem Bett und schlich ans Fenster. Es gelang ihr, es vorsichtig zu öffnen, ohne Autunno zu verjagen, den roten Kater, der auf der Fensterbank saß und konzentriert in den Garten starrte. Giulia kraulte sein Fell, was er mit einem Schnurren beantwortete. Dann stieß er zur Begrüßung seinen Kopf gegen ihre Hand. Sie mochte den Kater, nicht aber die »Geschenke«, die er ihr ab und zu vorbeibrachte. Wahrscheinlich beobachtete er auch jetzt wieder einen unschuldigen Vogel, und sie war froh, dass er gerade nicht an seine Beute herankommen konnte.
Die Luft war morgenfrisch und duftete nach Jasmin. Giulia beugte sich vor und lauschte auf die Geräusche, die zu ihr getragen wurden: das Rascheln der Blätter im Wind, der durch die Äste der Bäume streifte, Fulvios Stimme, die trotz der frühen Stunde bereits aus dem Garten zu ihr hinaufdrang, dazu schwere Schritte, hier und da ein Ächzen, gefolgt von einem dumpfen Geräusch. Offenbar hatte der Hausverwalter bereits begonnen, gemeinsam mit seinen Freunden die Tische und Stühle für die heutige Feier aufzustellen.
Giulia schlang die Arme um ihren Körper und gähnte. Als sie sich zurück in den Raum drehte, nahm sie auch hier den feinen Duft nach Jasmin wahr. Sie hatte gestern ein paar Zweige in eine Blumenvase gestellt und zudem noch wenige Tröpfchen Jasminöl auf einem feinen Tuch verteilt auf dem Nachttisch ausgelegt. Ein Fläschchen ihrer ersten eigenen Produktion hatte Giulia nach der Ernte im letzten Jahr als Erinnerung für sich zurückbehalten, ein zweites wollte sie ihrer Mutter schenken, wenn diese heute hier eintraf.
Sie tapste zum Bett zurück und betrachtete einen Moment lang Marco, der noch vollkommen ruhig dalag. Er war so wunderbar entspannt und vertrauensvoll, und wie immer war es beruhigend und wunderschön gewesen, seine Wärme in der Nacht so dicht bei sich zu spüren. Jetzt setzte sie sich vorsichtig auf die Bettkante, beugte sich zu ihm und strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Er öffnete die Augen und lächelte zufrieden.
»Guten Morgen, meine Schöne!«, sagte er und gähnte.
Sie lächelten sich an. Giulia legte ihre Hand auf seine Wange, und Marco küsste ihre Fingerspitzen. Dann reckte er sich zu ihr. »Und gleich noch einen Kuss für meine Schönste.«
Giulia lachte und beugte sich zu ihm. Ihre Lippen fanden einander, unübertrefflich zarte Haut, schon tausendfach gespürt und doch immer wieder neu und wunderbar. Giulia genoss, wie Marcos Hände im nächsten Moment über ihren Körper wanderten und sich daranmachten, ihre Lust zu wecken. Dennoch wehrte sie ihn ab, wenn auch nur halbherzig. »Marco! Wir haben keine Zeit. Die ersten Gäste kommen schon am Vormittag. Außerdem müssen wir helfen. Es ist unser Fest.«
Er reagierte nicht auf ihre Einwände. Seine Hände wanderten weiter, inzwischen wusste er sehr genau, wo er sie berühren musste. Sie kannten einander ziemlich gut, besser, als Giulia es sich anfangs hatte vorstellen können.
»Jetzt doch noch nicht«, murmelte er, während er sein Gesicht an ihrem Hals vergrub, um diesen mit Küssen zu übersäen. »Es ist doch noch nicht mal acht Uhr. So früh reist niemand an.«
»Aber bald.«
»Am späten Vormittag. Frühestens. Sie kommen ganz sicher nicht pünktlich, es sind Franzosen.«
Doch an Giulia nagte das schlechte Gewissen, und sie versuchte, ein Stück von ihm abzurücken. »Es gibt noch so viel zu tun«, sagte sie laut, als müsse sie sich selbst überzeugen. »Hörst du nicht? Fulvio und die anderen sind schon beim Aufbau, da können wir kaum im Bett bleiben.«
»Kann mir nicht vorstellen, dass Fulvio was dagegen hat, wenn wir hier …« Marco grinste sie vielsagend an. »Er ist ein sehr verständnisvoller Kerl. Findest du nicht?«
»Marco!«
»Na gut.« Seine Arme umschlossen Giulias Körper noch einmal, er zog sie näher an sich, küsste ihre Wangen, den Mund und dann noch die Schulter, von der das Nachthemd gerutscht war. Giulia erschauderte unter seinen Berührungen und konnte nicht widerstehen, sich fester in seine Umarmung zu schmiegen. Im nächsten Moment klingelte ihr Handy.
Marco ließ sie abrupt los. »Oh nein! Warum ist es denn nicht im Flugmodus?«
»Hab ich gestern wohl vergessen.« Nach einem kurzen Blick auf das Display nahm Giulia das Gespräch sofort an. »Mama?« Ihr Blick wanderte zu Marco, der sich, lediglich mit einer Unterhose bekleidet, auf die Bettkante setzte. Dann stand er auf und ging mit geschmeidigen Schritten ans Fenster, wo das morgendliche Lichtspiel seine Muskeln nachzeichnete. Giulia musste sich abwenden, sein Anblick lenkte sie ab. Noch während sie es tat, schaute er zu ihr und grinste amüsiert, dann verließ er das Zimmer. Oh ja, er hatte nur zu gut gewusst, dass sie ihn beobachtete. Warte nur, dachte sie.
Dann konzentrierte sie sich auf das Gespräch mit ihrer Mutter. Kaum hatten sie sich begrüßt, erkannte Giulia im Hintergrund das charakteristische Geräusch der Türklingel ihrer Eltern. Sie war verwirrt. Eigentlich sollten die beiden sich in diesem Moment doch bereits mindestens auf der Höhe von Mailand befinden? »Bist du etwa noch zu Hause, Mama?«, hakte sie misstrauisch nach.
»Ja, leider.« Ihre Mutter sprach ziemlich nasal: Offenbar war sie stark erkältet.
Eine Welle der Enttäuschung schwoll in Giulia auf. Sie hatte ihre Mutter Giuseppina, genannt Pina, als Erste zu der heutigen Feier eingeladen, mit der sie den Abschluss der ersten Jasminernte und den Start in das neue Jasminjahr mit einem größeren Fest feiern wollte. Pina hatte sofort zugesagt. Im Frühsommer des letzten Jahres war sie erstmals nach über vierzig Jahren wieder in Italien gewesen, hier an diesem Ort, an dem sie den größten Teil ihrer Kindheit verbracht und an dem ihr Vater Enzo bis zu seinem Tod gelebt hatte. In den vergangenen Monaten war ihre Mutter noch zweimal für jeweils eine Woche hier gewesen und hatte sich, zu Giulias Erleichterung, zunehmend wieder mit diesem Ort angefreundet, den sie seinerzeit Hals über Kopf verlassen hatte.
Jetzt hörte Giulia, wie sie sich räusperte.
»Ja, ich bin noch zu Hause, Giulietta. Deshalb rufe ich ja an. Es tut mir leid, Liebes, aber ich habe mir wohl eine Angina eingefangen. Heute Nacht, als wir losfahren wollten, ging es mir schon recht schlecht, deshalb haben wir noch gewartet. Aber heute Morgen war es leider nicht besser«, krächzte Pina. »Dein Vater wollte unbedingt, dass ich beim Arzt anrufe, du weißt ja, wie er ist. Das habe ich eben schon ganz früh gemacht. Und der rät mir, unbedingt zu Hause zu bleiben.«
»Ja, selbstverständlich«, hörte Giulia sich sagen. Ein Teil von ihr meinte das auch so, ein anderer kämpfte mit der Enttäuschung. Verdammt!
»Der Arzt hat mir wirklich dringend von einer Reise abgeraten«, wiederholte ihre Mutter und klang jetzt angestrengt.
»Das verstehe ich doch. Ich bin nur ein bisschen enttäuscht, ich … Wir hätten dich gerne mal wieder gesehen. Es ist schon wieder zu lange her, dass …«
»April, ich weiß«, unterbrach ihre Mutter sie. »Ich bin auch enttäuscht, das kannst du mir glauben, aber es wird ganz sicher bald eine neue Gelegenheit geben. Ich werde die Reise so schnell wie möglich nachholen. Versprochen.«
»Das ist schön, Mama, darauf freuen wir uns. Dann schon dich bitte.« Giulia kam ihre anhaltende Enttäuschung mit einem Mal kindisch vor.
»Ja«, sagte ihre Mutter rau.
»Und Papa?«, wagte Giulia zu fragen, obwohl sie die Antwort ahnte.
»Will bei mir bleiben und auf mich aufpassen. Das verstehst du doch, nicht wahr? Von etwas anderem kann ich ihn ohnehin nicht überzeugen, das weißt du.«
»Natürlich.« Giulia setzte sich auf das Bett und betrachtete nachdenklich ihre Knie. Sie ahnte, dass ihrem Vater Robert die Verschiebung der Reise nicht ungelegen kam. Für ihn war ein Besuch ohnehin schwierig, denn hier würde er Alessandro begegnen, Marcos Vater, mit dem Pina einst ihr Leben hatte verbringen wollen. Giulia war klar, dass er diesen Ort auch deshalb mied, schließlich war er seit ihrem Umzug vor über einem Jahr nicht ein einziges Mal hier gewesen.
Ach, es war kompliziert. Sie brauchten alle immer noch viel Geduld. Viele Dinge hatten sich weiterentwickelt, doch es gab noch ein gutes Stück Weg zu gehen.
Am anderen Ende der Leitung hustete Pina jetzt. »Es tut mir wirklich leid«, krächzte sie. »Du bist mir doch nicht böse, oder?«
»Nein, natürlich nicht.« Giulia stand abrupt auf und trat ans Fenster. Durch das Geäst der Orangen- und Mandelbäume konnte sie inzwischen die ersten aufgebauten Tischreihen ausmachen. Hier und da leuchteten die Blüten der Jasminsträucher wie kleine Sterne dazwischen. Einige Männer waren dabei, Lampions in den Bäumen zu befestigen. Das würde heute Abend, wenn es dunkel wurde, sicherlich wunderschön aussehen.
Sie atmete tief durch. »Kurier dich aus«, sagte sie, »und sieh zu, dass es dir bald besser geht. Ihr kommt eben ein anderes Mal, dann haben wir auch mehr Zeit für uns, das hat auch etwas Gutes. In dem ganzen Gewirr von Gästen wäre das gewiss zu kurz gekommen.«
»Ja, das wäre es.« Ihre Mutter schwieg einen Moment. »Allerdings hätte ich meine französischen Verwandten doch ziemlich gerne kennengelernt«, fügte sie hinzu.
»Das kann ich verstehen. Aber auch das können wir nachholen. Jetzt schon dich bitte, Mama«, sagte Giulia. »Kann ich noch mit Papa sprechen?«
»Er ist gerade im Bad.«
»Gut, dann rufe ich später noch einmal an – oder morgen, falls ich heute nicht mehr dazu komme … Es ist noch viel zu tun.«
»Ich wünsche euch ganz viel Spaß.«
»Danke, den werden wir sicher haben.«
Nachdem sie sich verabschiedet hatten, blickte Giulia nachdenklich aus dem Fenster. Sie war sich immer noch nicht ganz sicher, ob sie das Verhältnis ihrer Mutter zu diesem Ort je ganz verstehen würde. Als Pina zum ersten Mal wieder hier gewesen war, hatte sie am Ende glücklich und zufrieden gewirkt, aber es gab eben Dinge, die immer noch heilen mussten, das hatte Giulia bei ihren weiteren Besuchen und in dem einen oder anderen Gespräch seitdem bemerkt. Immerhin hatte es inzwischen auch eine Aussprache und viele weitere Gespräche mit Alessandro gegeben, die bitter nötig gewesen waren.
»Giulia«, durchbrach Marcos Stimme aus dem Erdgeschoss ihre Gedanken.
»Ja?« Sie lief in den Flur.
»Frühstück ist fertig. Kommst du endlich?«, rief er vom Fuß der Treppe. Er sah wieder einmal unverschämt gut aus in seinem dunkelgrünen Shirt und den Jeans. An den Füßen trug er Chucks.
»Klar, bin gleich da!« Giulia sprang rasch unter die Dusche, schlüpfte ebenfalls in Jeans und entschied sich dann für ein rotes T-Shirt. Grinsend dachte sie daran, wie ihre beste Freundin Trixi es ihr bei ihrer ersten Fahrt hierher im letzten Moment in den Koffer gelegt hatte. Ihr Herz machte einen Hüpfer bei dem Gedanken, dass auch Trixi heute kommen würde. Fulvio würde sie gegen Mittag am Bahnhof abholen.
Kurz darauf frühstückte sie mit Marco auf der Terrasse helle Brötchen mit gekochtem Schinken, Parmaschinken und Gorgonzola, dazu saftig-süße Tomaten aus dem eigenen Garten und Milchkaffee. Auch Fulvio und seine Frau Loretta, die sich schon zu Großvater Enzos Zeiten um Haus und Hof gekümmert hatten, gesellten sich zu ihnen und genossen einen zweiten caffè. Nach und nach kamen die anderen Helfer hinzu und bedienten sich an den bereitgestellten Getränken. Manche ließen sich ein Brötchen schmecken.
Giulia biss hungrig in ihr zweites Brötchen und streifte dann die Krümel von ihrem Oberteil. In kurzer Zeit war es schon beträchtlich wärmer geworden – ein untrügliches Zeichen dafür, dass es heute heiß werden würde.
Nach dem Frühstück machte Marco sich mit Fulvio weiter daran, Stühle aus dem Haus und dem Nebengebäude herbeizuschleppen, weitere Stühle für das Fest sollten später noch geliefert werden. Giulia und Loretta räumten den Tisch ab. Sie beschlossen, zunächst noch einen raschen Abstecher nach Levanto zu machen, um im Ort für das Frühstück am nächsten Tag einzukaufen, das ihnen bei der Planung irgendwie untergegangen war. Sie stiegen in Lorettas motorisiertes Dreirad, mit dem man leichter einen Parkplatz fand, und kurvten kurz darauf gen Tal. Giulia freute sich, mal wieder mit dem Vehikel zu fahren, das sie in besonderer Weise mit Italien verband.
Die Sonne stand noch nicht hoch genug, um mit ihren Strahlen alle Ortschaften zu erreichen, die sich auf den östlich von Levanto gelegenen Berghängen verteilten. Noch lagen manche Häuser ruhig und schattig da, als würden sie sich noch auf den Tag vorbereiten, während andere schon von einem warmen Licht hervorgehoben wurden.
»Ich freue mich sehr auf heute«, sagte Loretta, als sie den Wagen in einer Seitenstraße zum Stehen gebracht hatte und ausstieg.
»Ich auch«, bestätigte Giulia. »Und ich bin dir wirklich dankbar, dass du mich immer so tatkräftig unterstützt. Ohne dich hätte ich meine Verwandten aus Frankreich vielleicht gar nicht eingeladen. Ich war mir erst nicht sicher, ob die Idee wirklich so gut ist, schließlich waren sie noch nie hier.«
»Aber natürlich ist es eine gute Idee.« Loretta umarmte Giulia. Sie war von Anfang an Feuer und Flamme gewesen für Giulias Plan, die französische Verwandtschaft ihres Großvaters nach Italien einzuladen und damit die viel zu lange unterbrochenen Verbindungen zwischen den beiden Familienteilen weiter zu stärken. Seit ihrem ersten Besuch auf dem Hof der Familie Martini bei Grasse in Frankreich hatte Giulia immer wieder mit ihnen telefoniert, insbesondere mit Rocco Ventura, der einst der beste Freund ihres Großvaters gewesen war.
»Komm, lass uns loslegen«, riss Lorettas fröhliche Stimme sie aus den Gedanken. »Wir haben noch einiges zu tun, und auch die Männer brauchen noch Unterstützung.«
»Ja, da hast du recht.«
Sie besorgten Wasser, Brot, Brötchen und Belag, Milch und mehr für das Frühstück am nächsten Morgen. Nach gut einer Stunde saßen sie schon wieder in Lorettas Dreirad. Giulia war erleichtert.
Auf der Fahrt besprachen sie noch einmal das Menü. Beginnen wollten sie mit Antipasti aus dem eigenen Garten. Die Ernte war im letzten Jahr reichlich gewesen, die Speisekammer gut gefüllt. Giulia war immer noch begeistert, wie unglaublich lecker Zucchini, Tomaten, Auberginen, Bohnen schmeckten. Sie hatte über die Monate einige neue Gemüsegerichte ausprobiert und freute sich darauf, weitere Rezepte zum Einlegen und Haltbarmachen von Gemüse aus Lorettas schier unerschöpflichem Fundus kennenzulernen. In den Herbst- und Wintermonaten hatten sie gemeinsam unzählige Gläser eingemacht, die auf den Regalen in der Speisekammer warteten. Dazu gab es einige Gläser Pesto und mehrere Schnüre mit selbstgesammelten getrockneten Pilzen. Alle paar Wochen brachte Loretta außerdem Salami und Käse von einer Freundin mit, auch die würden heute ihren Weg auf die Platten finden. Dazu würde es Focaccia geben, kleine Minipizzen, eingelegtes Gemüse und große Platten mit Mozzarella und saftig-süßen Tomaten sowie Lorettas Vitello tonnato, das Giulia besonders liebte.
Nach den Antipasti wollten sie als primi piatti Pasta mit Pesto Genovese und Pasta al ragù reichen. Die Hauptspeise sollte aus Schnitzel alla Milanese und raffiniert geschmortem Gemüse bestehen, für die Vegetarier gab es Risotto. Letzteres war bestellt worden und würde in Warmhaltebehältern geliefert werden. Dazu wurden Wein, Wasser, Säfte und verschiedene selbstgemachte Limonaden gereicht.
Kaum waren sie zu Hause, brachte ein Fahrer auch schon eine Auswahl an Kuchen und Törtchen, zu deren Bestellung Giulia sich ebenfalls hatte überreden lassen, denn laut Fulvio und Loretta konnte es auf einer Feier nie genug Essen geben. Als Nachtisch hatten sie zudem Pannacotta und Mousse au Chocolat zubereitet.
Erleichtert bemerkte Giulia, dass die Männer inzwischen alle Tische aufgestellt, die gelieferten Stühle verteilt und sämtliche Girlanden und Lampions in den Bäumen befestigt hatten. Kurz darauf tauchte auch der Lieferant mit den Warmhaltebehältern auf, die er gleich am richtigen Ort aufstellte.
Marco kam in die Küche, stahl sich einen Kuss von Giulias Lippen und goss sich ein Glas Wasser ein. Giulia wartete, bis er es geleert hatte, und schlang dann noch einmal die Arme um ihn. »Ich bin ziemlich aufgeregt«, flüsterte sie in sein Ohr. »Ich hoffe, es wird gut.«
»Natürlich wird es das.« Zart küsste Marco ihre Schläfe und strich dann ihr Haar behutsam zurück.
»Hoffentlich hast du recht.« Sie seufzte. »Schade, dass meine Eltern nicht kommen können …«
»Natürlich habe ich recht. Du machst dir zu viele Gedanken. Es wird ein tolles Fest, und wenn deine Mutter wieder gesund ist, holt sie ihren Besuch hier nach. Es tut mir wirklich leid, dass deine Eltern nicht dabei sein können.«
»Ja … Aber aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben, sagt man nicht so?« Sie drückte ihn noch einmal an sich. »Ich bin so froh, dass ich dich habe. Ich kann das gar nicht oft genug sagen.«
»Ich auch. Das weißt du hoffentlich.«
»Natürlich. Wenn ich eines weiß …«
Sie küssten sich noch einmal. Ein Räuspern ließ sie auseinanderfahren, ein wenig schuldbewusst und doch froh darüber, dass sie diesen kurzen Augenblick für sich gefunden hatten.
»Ich will euch ja nicht stören, aber ein paar Kleinigkeiten sind schon noch zu tun, und langsam nähert sich der Zeitpunkt, an dem die ersten Gäste eintreffen könnten. Das Buffet ist so weit fertig. Meine Freundinnen haben sich wirklich ins Zeug gelegt. Aber ich brauche dich noch einmal, Giulia.« Loretta stemmte die Hände in die Seiten. »Gehen wir?«
»Natürlich.« Giulia küsste Marco schnell noch einmal und folgte ihr dann auf einen letzten Rundgang durch das Gästehaus, wo sie noch einmal jedes Zimmer überprüften und Jasminseife als kleinen Willkommensgruß verteilten. Doch viel zu richten hatten sie nicht mehr. Alles war perfekt. Giulia freute sich darüber, denn auch in das Gästehaus hatten sie im letzten Jahr viel Arbeit gesteckt, nachdem es monatelang leer gestanden hatte. Jetzt war alles fertig. Die Gäste konnten eintreffen, die Feier beginnen.
Trixi kam pünktlich und tatsächlich als Erste, sodass Giulia ihre beste Freundin persönlich zu ihrem Zimmer im ersten Stockwerk der Villa führte und sie sogar ein wenig Zeit hatten, sich auszutauschen. Trixi würde im Anschluss an das Festwochenende noch ein paar Tage bleiben, und Giulia freute sich schon sehr auf die gemeinsame Zeit.
Dann ging es Schlag auf Schlag. Giulia konnte es kaum glauben, aber bereits gegen 14:30 Uhr saßen alle zum Willkommensessen an den Tischen. Giulia richtete aufgeregt und voller Freude ein paar Worte an ihre Gäste und erklärte das Buffet für eröffnet. Sogleich griffen alle beherzt zu.
Ihr Blick fiel auf Aurora, Marcos zehnjährige Nichte, die mit fröhlicher, ansteckender Leichtigkeit zwischen den Tischen umhersprang und zusammen mit Jean-Luc, einem gleichaltrigen Jungen aus Grasse, die Getränkewünsche der Gäste notierte. Sie wirkte unbeschwert, wie Giulia voller Dankbarkeit bemerkte. Das war durchaus nicht immer so gewesen. Ihre Mutter Laura, Marcos Schwester, war schwer nierenkrank und hatte viel Zeit im Krankenhaus in Genua verbracht. Im vergangenen Sommer hatte sie endlich eine neue Niere erhalten, gespendet von Carlotta, ihrer Mutter, und nach leichten Komplikationen viel Zeit für die Erholung gebraucht. Aurora wohnte seitdem bei ihrem Opa Alessandro und Onkel Marco und besuchte auch die Schule in Levanto. Marco und sein Vater hatten ihr Bestes getan, um Aurora diese Zeit zu erleichtern. Soweit Giulia das beurteilen konnte, war es ihnen gelungen.
Bald waren die Ersten gesättigt, und über dem Garten der Jasminvilla lag ein zunehmend muntereres italienisch-französisches Stimmengewirr. Immer wieder wurde Giulia zu einem der Tische gerufen, sprach mal mit diesem, mal mit jenem. Sie beantwortete Fragen oder wies den Weg zum Jasmingarten, und wenn sie gar nicht weiterwusste, verwies sie an Loretta oder Fulvio, denn auch nach einem Jahr hier wusste sie ganz gewiss noch nicht über alles Bescheid, was diese alte, prächtige Villa ausmachte.
Giulia lehnte sich für einen Moment in ihrem Stuhl zurück und streckte die Arme über den Kopf. Die Lebendigkeit, die Haus und Garten jetzt erfüllte, hatte etwas Wunderbares. So viele Stimmen, so viel Lachen, bald sang sogar jemand. Es tat gut, die Villa, in der es viel zu lange still gewesen war, mit Leben gefüllt zu sehen.
Jetzt gesellte sich Trixi zu ihr und stellte ein Glas Weißwein vor sie. Giulia überlegte kurz, ob es nicht zu früh dafür war, trank dann aber beherzt einen Schluck. Der Wein war leicht und kühl.
»Was für ein wunderbares Essen«, schwärmte Trixi. »Aber schwirrt dir nicht der Kopf von dem ganzen Sprachengewirr?«, erkundigte sie sich. »Ich mag das ja, aber du?«
Giulia lachte. »Nein, ich genieße es in vollen Zügen.« Sie trank noch einen Schluck. »Und mein Italienisch ist inzwischen gar nicht so schlecht, wenn ich das mal so sagen darf. Was man von meinem Französisch allerdings nicht behaupten kann.«
Trixi lachte. »Santé.«
Giulia grinste. »Und, wie ist es dir seit dem letzten Besuch hier ergangen?«, wollte sie dann wissen.
»Seit Ostern? Ach, eigentlich ganz gut. Ich hatte überlegt, was Neues anzufangen, aber dann hat mein Chef sich ein paar meiner Vorschläge angehört, und ich bin erstmal doch dageblieben.«
»Etwas Neues?«
»Na, so ähnlich wie bei dir. Du hast dein Leben ziemlich komplett umgekrempelt, oder?« Trixi trank von ihrem Wein. »Aber ich bin eigentlich ganz zufrieden, wie es gerade läuft, und weil’s hier so schön ist, komme ich dich eben so oft wie möglich besuchen.«
Giulia lächelte und hob ihr Glas. »Unbedingt. Prost.«
»Prösterchen. Auf uns.« Auch Trixi lächelte.
Rocco Ventura trat zu ihnen, ein weißhaariger, drahtiger Mann, gut einen Kopf kleiner als sie beide.
»Giulia, wie schön, endlich hier zu sein«, sagte er. Giulia freute sich sehr, ihn zu sehen, und umarmte ihn zur Begrüßung. »Rocco, ich bin froh, dass du gekommen bist! Darf ich dir Trixi vorstellen? Meine älteste Freundin aus Deutschland.« Sie zwinkerte Trixi zu. »Trixi, darf ich vorstellen: Rocco Ventura, einst Großvater Enzos bester Freund. Er ist derjenige, der mich schon bei unserem ersten Treffen, kaum dass ich die Familie endlich gefunden hatte, tief in die Geheimnisse des Jasminanbaus eingeführt und mir viele Dinge erklärt hat, von denen ich bis dahin keine Ahnung hatte.«
Die beiden lächelten sich freundlich zu.
»Ich kann es nur immer wieder sagen: Wie schön, dass du uns damals gefunden hast, Giulia, wie schön, dass die Familie, zu der ich mich doch auch ein wenig zähle, endlich wieder vereint ist.«
»Ja, das finde ich auch«, bestätigte Giulia. Und sie freute sich noch aus einem ganz anderen Grund über die Familienzusammenführung: Wahrscheinlich war Rocco letztendlich der Auslöser dafür gewesen, dass sie sich überhaupt an das Projekt Jasminanbau gewagt hatte. Sie hatten in der Zwischenzeit sogar ein paarmal telefoniert, und er hatte sich geduldig jede ihrer Fragen angehört und einen Ratschlag erteilt. Er hatte ihr ein gutes Stück auf ihrem Weg weitergeholfen, auf einem Weg, der ihr bis dahin unbekannt gewesen war. Von ihm hatte sie erfahren, dass die Jasminpflanze in Italien seit etwa den Zwanzigerjahren in Kalabrien wuchs, wo es heute allerdings nur noch wenige große Hersteller von Jasminprodukten gab. Durch ihn wusste sie, dass Jasmin als Blume, ähnlich wie Rose und Maiglöckchen, das Herz vieler klassischer Parfums bildete, darunter Chanel No. 5, und dass auch in der Aromatherapie zur Linderung bei Stress, Angst- und Erschöpfungszuständen sowie Depressionen zum Einsatz kam.
»Auf die Familie!« Trixi hob ihr Glas, die anderen ebenfalls. Dann hielt Giulia Rocco einen Teller mit Focaccia hin.
»Möchtest du?«
»Gerne. Ich habe schon etwas davon gegessen, aber ich muss zugeben, dass ich noch nie so gute Focaccia hatte. Von wem ist die?«
»Eine Freundin von Loretta hat sie gemacht«, sagte Giulia. »Ich werde ihr dein Lob ausrichten.«
Als hätte sie ihren Namen gehört, trat Loretta in diesem Moment zu ihnen und brachte ein Tablett mit verschiedenen Dips, Schälchen mit eingelegtem Gemüse und weiteren Leckereien.
»Oh, Vitello tonnato, da kann ich nicht widerstehen«, rief Rocco und gab auch schon zwei großzügige Stücke auf seinen Teller. Giulia nahm ebenfalls eins. Trixi winkte ab mit der Begründung, sie hätte bereits zu viel gegessen.
»Loretta hat es selbst gemacht.« Giulia wandte sich ihr zu. »Ich finde, du hast dich wieder einmal selbst übertroffen. Ich könnte das täglich essen.«
Loretta lächelte geschmeichelt und nahm sich ebenfalls ein Stück. Sie genossen schweigend, dann seufzte der alte Mann wohlig auf.
»Darf ich euch noch was bringen?«, fragte Giulia, die das Bedürfnis verspürte, ein paar Schritte zu laufen.
Loretta und Trixi schüttelten den Kopf.
»Ich fürchte, ich habe mich endgültig vollgefuttert. Nichts passt mehr rein«, sagte Rocco.
»Wirklich nichts?«
Rocco schmunzelte. »Wenn du so fragst: Ich fand die kleinen Pizzen auch ausgesprochen lecker.«
»Gerne.« Giulia stapelte die leeren Teller aufeinander und brachte sie in die Küche, wo sich Freundinnen von Loretta bereit erklärt hatten, beim Spülen zu helfen. Auf dem Rückweg hielt Giulia am Buffet und nahm Minipizza, noch ein wenig eingelegtes Gemüse und in Knoblauch und Olivenöl eingelegte Sardinen mit zum Tisch.
»Das sieht wirklich köstlich aus.« Rocco musterte die Auswahl, rieb sich die Hände und griff zu.
Loretta war schon weitergezogen, und auch Trixi verabschiedete sich. »Ihr habt euch sicher viel zu erzählen.« Sie umarmte Giulia. »Und bevor du jetzt wieder ein schlechtes Gewissen hast: Das ist dein Fest. Ich bin groß und kann mich alleine beschäftigen«, sagte sie grinsend.
Giulia lächelte dankbar.
Rocco kaute eine Weile schweigend.
»Es ist schade, dass deine Mutter heute nicht hier sein kann«, sagte er dann. »Ich hätte mich wirklich sehr gefreut, die Tochter meines besten Freundes kennenzulernen. Bitte richte ihr gute Besserung aus. Seit wir beide uns kennengelernt haben, habe ich mich oft gefragt, ob sie ihm ähnlich sieht, ob ich etwas von ihm in ihr erkennen würde …« Er sah nachdenklich in die Ferne.
Giulia verspeiste den letzten Bissen ihrer Pizza und tupfte dann die Krümel von ihrem Teller. »Man sagt, dass ich ihr ziemlich ähnlich sehe«, sagte sie schließlich. »Ich kann dir nachher mal ein Foto zeigen. Ich habe bestimmt eins auf dem Handy.«
»Gerne.« Rocco musterte sie prüfend von der Seite. »Aber wenn du ihr ähnlich siehst, kann ich sie mir vorstellen.« Er lächelte. »Du hast auch etwas von deinem Großvater. Das weißt du, nicht wahr?«
»Ich bin nicht sicher«, sagte Giulia ehrlich. »Ich kenne ihn nur von Fotos, und ich finde es schwer, sich selbst in jemand anderem zu sehen. Es ist wirklich schade, dass ich ihn nicht kennengelernt habe.«
Giulia hielt inne, plötzlich steckte ein Kloß in ihrem Hals. Sie schluckte schwer, überrascht, dass das immer noch so emotional für sie war, sie hatte das Gefühl, gleich in Tränen auszubrechen. Mit einem Mal sehnte sie sich nach Marco und freute sich auf den Moment, an dem er sie heute Abend in die Arme nehmen würde. In seinen Armen zu liegen verschaffte ihr Sicherheit und Ruhe, in seinen Armen zu liegen bedeutete zu wissen, dass sie jeden Sturm überstehen konnte.
Rocco schien ihre Aufgewühltheit zu bemerken und schwieg eine Weile. »Kannst du mir vielleicht etwas mehr von deiner Mutter erzählen?«, fragte er sanft.
Giulia nickte. Das würde ihr leichter fallen, ihre Mutter kannte sie, nach allem, was im letzten Jahr geschehen war, wirklich gut. »Ich glaube, das Wesentliche an ihr ist, dass sie weiß, was sie will«, begann sie.
»Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Sie ist eine italienische Frau und war noch sehr jung, als sie die Villa und ihren Vater und damit ihre Familie verließ. Das ist ungewöhnlich. Sie muss stark sein.«
Giulia nickte. »Ja, gerade mal neunzehn. Zumal sie das alles ohne ein Wort hinter sich gelassen hat, um zu einem Deutschen zu ziehen, und nie zurückgekommen ist. Ihr war es irgendwann schlicht nicht mehr möglich, mit Enzos vielen Ideen und der daraus resultierenden Unsicherheit zu leben.«
Rocco schloss für einen Moment die Augen. »Ja, das klingt nach deinem Großvater, wenn ich das so sagen darf.«
»Und dann war es zu spät. Das Band schien zerrissen, und sie haben nie wieder miteinander gesprochen.«
»Das ist wirklich traurig. Ich kann mir gut vorstellen, wie Enzo darunter gelitten hat.« Der alte Mann stand mit einem Mal auf. »Aber heute ist ein Tag zum Feiern!«, sagte er lächelnd. »Ich hätte große Lust, mir den Jasmingarten einmal anzuschauen. Würdest du mich begleiten, Giulia?«
Giulia erhob sich ebenfalls. »Gerne. Er ist einer meiner liebsten Plätze hier. Gehen wir.«
Rocco folgte ihr, auf seinen Stock gestützt, durch den Garten auf der Rückseite des Hauses bis zu dessen Ende.
Hinter der Einfriedung erstreckte sich der Jasmingarten, in dem sich im Moment nur wenige andere Gäste fanden. Giulia trat zur Seite, um Rocco den Vortritt zu lassen. Er trat recht zögerlich hindurch, als sei er in Erinnerungen und Gedanken gefangen. Vielleicht dachte er an seinen besten Freund, den er zu früh verloren hatte, den Freund, der das hier geschaffen hatte, weil er seine Herkunft letztendlich doch nie hatte vergessen können.
Nach drei weiteren vorsichtigen Schritten blieb Rocco stehen. Giulia sah, wie sich seine Schultern mit tiefen Atemzügen hoben und senkten. Als er für einen Moment den Halt zu verlieren schien, war sie da, um ihn zu stützen.
»Danke.« Rocco rang sich ein Lächeln ab. »Das hier ist wirklich unglaublich. Enzo hatte immer unglaubliche Ideen. Und wir haben alles miteinander geteilt, musst du wissen. Eigentlich wollten wir irgendwann sogar das Geschäft in Grasse zusammen weiterführen. Er war ja der Erbe. Als er sich in seine Frau verliebte, habe ich mich für ihn verwendet …« Giulia kam es vor, als halte er für einen kaum merklichen Moment inne, als verändere sich der Rhythmus seiner Sprache, als werde der Tonfall nachdenklicher. »Und ich habe mich gefreut. Von den anderen aber war niemand an seiner Seite. Die Familie Martini ist auf ihre Art recht traditionell, musst du wissen. Ich habe ihnen gesagt, dass das falsch ist. Ich habe ihnen gesagt, dass wir ihn verlieren, wenn wir ihn so vor den Kopf stoßen. Und dann ist er wirklich gegangen. Ich hatte die anderen gewarnt, aber es hat nichts genutzt. Wir haben ihn verloren.« Rocco schien noch tiefer in Erinnerungen zu versinken. Giulia kam der Gedanke, dass ihr Großvater auf seine Art wohl ebenso dickköpfig gewesen war wie ihre Mutter.
»Dein Großvater war immer ein Mensch voller Träume, und er war niemand, der sich diese Träume hat aus- oder kleinreden lassen. So war er nicht.« Der alte Mann schaute nachdenklich in die Ferne. »Vielleicht waren wir aber auch alle Dickköpfe. Vielleicht lag es daran. Jedenfalls ging er, und wir haben nie wieder etwas von ihm gehört, aber das weißt du ja.«
Der alte Mann ging ein paar Schritte bis zu einer steinernen Bank und ließ sich dort vorsichtig nieder. Giulia setzte sich an seine Seite. Ihre Gedanken kreisten um ihre Mutter. Pina war ihr nie wie eine Träumerin erschienen, und doch hatte sie das gehabt, über das ihr Vater offenbar ebenfalls im Übermaß verfügte: die Fähigkeit, die ausgefahrene Spur zu verlassen und etwas Neues auszuprobieren. Giulia lächelte. Und ich verfüge offenbar auch darüber.
Rocco musterte jetzt mit fachmännischem Blick die Mauern, die den Garten vor Wind und scharfer Kälte schützten. »Das ist gut«, sagte er. »Das ist wirklich gut. Unter den gegebenen Bedingungen ist es der ideale Platz für den Anbau. Die Jasminpflanze ist widerstandsfähig, sie mag aber keine Kälte. Aber das weißt du.« Er stand auf und trat auf einen der Sträucher zu, um ihn genauer zu untersuchen. »Wirklich gut. Enzo verstand etwas vom Handwerk, das wussten wir. Aber wie sollte es auch anders sein, er entstammte ja einer Familie von Jasminbauern.« Er wandte sich zu Giulia. »Ich freue mich jedenfalls sehr, dass du in seine Fußstapfen getreten bist.«
Giulia konnte nicht umhin, Stolz zu empfinden. Fulvio hatte ihr alles über diesen Ort erzählt, der künstlich erschaffen worden war und sich jetzt so natürlich in seine Umgebung fügte, als sei er schon immer dort gewesen. Tatsächlich hatte sich hier schon vorher eine leichte Senke befunden, aber ihr Großvater und Fulvio hatten sie mit der eigenen Hände Arbeit und der Unterstützung einiger Helfer weiter ausgehoben. Es war nicht leicht gewesen, sie hatten viele Steine aus dem Boden holen müssen. Ihr Ziel war es gewesen, die Pflanzen bestmöglich zu beschützen. Demselben Zweck diente die Trockensteinmauer, die noch Fulvios Großvater angelegt hatte. Dann waren Erde aufgefüllt und die Pflanzen gesetzt worden. Die Steinbank, auf der sie jetzt saßen, war erst später hinzugekommen.
»Ich freue mich auch, dass ich den Schritt gewagt habe.« Sie horchte in sich hinein. Seit sie vor über einem Jahr entschieden hatte, ihren Job als Rechtsanwältin in der Kanzlei ihres Vaters an den Nagel zu hängen und hierherzuziehen, nach Italien in das Haus ihres ihr bis dahin unbekannten Großvaters, war viel passiert. Doch sie bereute die Entscheidung nicht, im Gegenteil.
»Ja, und das hat doch im letzten Jahr schon gut funktioniert, hast du erzählt. Und was hast du jetzt, nach diesem Jahr und der ersten Ernte, genau vor?«
Sie war Rocco dankbar für seine Frage, denn sie und Marco hatten sich viele Gedanken gemacht, wie es in Zukunft hier und auch mit dem angrenzenden Hof von Marcos Vater weitergehen könnte. »Wir werden den Jasminanbau auf jeden Fall weiterbetreiben«, sagte Giulia deshalb mit fester Stimme. »Das wird eines unserer Standbeine, vielleicht unser wichtigstes.«
Rocco lächelte sie an. »Natürlich«, gab er zurück, als gäbe es gar keine andere Möglichkeit.
»Womöglich werden wir zusätzlich Zimmer vermieten«, fuhr sie fort. »Und wir wollen ein Essensangebot für Wanderer anbieten, in welcher Form auch immer, zumindest in der Hauptsaison.« Es machte Spaß, darüber zu reden, es ließ alles klarer wirken, greifbarer. Giulia erzählte, dass sie sich auch um eine bessere Vermarktung des Olivenöls von Marcos Vater kümmern wollten, der Enzos Olivenbäume pachtete. Sie zögerte kurz, dann fügte sie hinzu, dass Alessandro sich allerdings noch ein wenig sperrte – ihm fielen die Veränderungen am schwersten, aber Marco war sicher, seinen Vater überzeugen zu können.
»Das wird er. Mehrere Standbeine sind immer gut und heute wahrscheinlich sogar unerlässlich«, stimmte Rocco zu.
Sie tauschten sich noch eine Weile aus und gingen schließlich zurück zu den anderen in den Garten, wo Giulia sich auf die Suche nach Marco machte. Kurz bevor sie die Terrasse erreichte, kam Jeanne, die Matriarchin der Familie Martini, auf sie zu.
»Giulia, da bist du ja endlich!«, rief sie fröhlich. »Komm doch einmal hoch zu uns auf die Terrasse.«
Giulia folgte ihr die wenigen Stufen hinauf, doch Jeanne ging das offenbar nicht schnell genug. Entschlossen hakte sie Giulia unter und zog sie mit sich. Giulia war irritiert. Sie bemerkte Marco ein paar Meter entfernt und warf ihm einen hilflosen Blick zu. Einen Moment später stand sie neben ihm, mit Jeanne an ihrer Seite, und schaute auf die Gäste hinunter, die sich offenbar alle im Garten versammelten. Marco wirkt ziemlich aufgeregt, schoss es ihr durch den Kopf, während sich im Garten immer mehr Gesichter in ihre Richtung drehten. Und dann kniete Marco plötzlich vor ihr.
»Giulia«, sagte er mit fester Stimme, »willst du mich heiraten?«
Für einen Augenblick fühlte es sich an, als wären ihre Knie mit einem Mal zu weich, um sie halten zu können. »Ja«, rief sie aus, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. »Ja, ja, ja!«
Jubel brandete auf. Giulia sah, dass Trixi wie wild klatschte, dann sprang Marco auf die Füße und zog sie in seine Arme.
Giulia konnte sich später kaum erinnern, was in den nächsten Minuten, vielleicht auch in den nächsten Stunden geschah. Alle wollten Marco und ihr gratulieren. Sie genoss es, doch mit einem Mal wurde es ihr zu viel, und sie zog sich für einen Moment in Großvater Enzos Wohn- und Arbeitszimmer zurück. Eine ganze Weile saß sie einfach nur am Schreibtisch und ließ ihren Gedanken und Gefühlen freien Lauf, bis ein Geräusch sie aufschreckte.
Rocco stand in der Tür. »Störe ich?«, fragte er ruhig. »Marco meinte, ich könnte dich hier finden. Wir wollten nur fragen, ob du vielleicht wieder zu uns zurückkehren möchtest.« Er lächelte.
Giulia blickte ihn dankbar an. »Nein, du störst nicht. Alles o.k.« Oh ja, es war überwältigend gewesen, aber allmählich fand alles seinen Platz, jeder Mosaikstein hatte seinen Ort, und am Ende ergab alles ein herrliches Bild.
Sie atmete tief durch und trat neben Rocco in den Flur, wo ihnen Autunno entgegenkam. Giulia bückte sich, um ihm über den Rücken zu streichen. Das Tier drückte sich gegen ihre Finger, ließ sie einen Moment gewähren und stolzierte dann weiter. Giulia blickte ihm nach. Es ließ sich nicht leugnen: Dieser Kater hatte ihr über einige schwere Tage hinweggeholfen, vor allem zu Beginn, als sie schon alles hatte hinwerfen wollen. Gut, dass sie es nicht getan hatte. Gut, dass sie den Mut gefunden hatte, ihren Weg zu gehen. Es war der richtige Weg, das wusste sie heute nur zu gut. Marco und sie würden heiraten.
Als Giulia am Morgen nach dem Fest in das Erdgeschoss kam, hatte Loretta bereits die Wünsche der ersten Gäste erfüllt. Giulia blieb einen Augenblick im Eingang zur großen Küche stehen. Die zweiflügligen Fenster über den Arbeitsplatten waren weit geöffnet, frische Luft und der blumige Duft des Gartens strömten herein. Wie hell und freundlich inzwischen auch hier alles war, nachdem sie diesen Raum in einem angenehmen zitronigen Gelb gestrichen hatten. Im Kontrast dazu machten sich der dunkle Holztisch und die Stühle ganz besonders gut.