Das süße Gift des Geldes - Bhavya Heubisch - E-Book

Das süße Gift des Geldes E-Book

Bhavya Heubisch

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Beschreibung

Völlig abgebrannt und auf der Flucht vor ihren Berliner Gläubigern kehrt die erfolglose Schauspielerin Adele Spitzeder 1868 nach München zurück. Ohne Mäzen kann sie nur auf die Wohltätigkeit ihrer Cousine hoffen, die sie rüde abweist. Adele ist am Ende, muss sich in einer billigen Absteige einquartieren und ihren Schmuck verpfänden. Da kommt ihr eine scheinbar geniale Idee: Mit dem Versprechen, weitaus höhere Zinsen als Banken und Sparkassen auszuschütten, leiht sie sich Geld; die anstehenden Rückzahlungen begleicht sie aus den neu zufließenden Geldern. Schnell spricht es sich herum, dass man bei der Spitzederin an leicht verdientes Geld kommt. Tausende von Anlegern aller Gesellschaftsschichten strömen ihrer „Dachauer Bank“ zu, Adele wird innerhalb weniger Jahre zu einer der reichsten Frauen Bayerns – und macht sich dabei die etablierten Geldinstitute ebenso wie die Behörden zu erbitterten Feinden. Wer war die skandalumwitterte Adele Spitzeder? War sie tatsächlich eine skrupellose Betrügerin oder doch der „Engel der Armen“, wie sie im Volk wegen ihrer großzügigen Spenden genannt wurde? Bhavya Heubisch zeichnet in ihrem Roman das Bild einer facettenreichen Frau, die ganz München und seine Bewohner, bis in die höchsten Kreise hinein, in ihren Bann schlug.

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Seitenzahl: 426

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BHAVYA HEUBISCH

DASSÜSSEGIFTDESGELDES

VOLK VERLAG MÜNCHEN

Covermotiv: iStock, mammuth

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

© 2020 Volk Verlag München

Neumarkter Straße 23, 81673 München

Tel. 089 / 420 79 69 80, Fax: 089 / 420 79 69 86

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Alle Rechte, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks sowie der photomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

ISBN 978-3-86222-375-6

www.volkverlag.de

Inhalt

MÜNCHEN 1868

Nachwort

Wer war Adele Spitzeder?

Literatur und Quellen

Danksagung

MÜNCHEN1868

Adele Spitzeder wuchtete ihren kalbsledernen Koffer aus dem Zug und stellte ihn auf dem Bahnsteig ab. Reisende drängten an ihr vorbei, Kinder schrien, Gepäckträger in dunklen Uniformen priesen lautstark ihre Dienste an. Einfahrende Dampfloks stießen zischend Rauchschwaden aus, die sich unter den Stahlverstrebungen verloren.

Adele versteckte ihre Locken unter dem Hut und zog den Schleier vors Gesicht. Sie bückte sich, als wolle sie ihre Schuhbänder neu verknoten, und schaute sich verstohlen um. Sah niemanden, der sie verfolgte. Schön blöd würde er schauen, der Hotelportier in Berlin, wenn er nur noch das leere Zimmer vorfand. Und dem Gerichtsvollzieher geschah es gerade recht. Sie konnte sich das Geld auch nicht aus den Rippen schneiden. Ihre Stelle beim Theater war weg, ein neues Engagement nicht in Sicht. Jetzt blieb ihre Cousine Clara, bei der sie als Kind immer die Ferien verbracht hatte, ihre letzte Hoffnung.

„Wartens, Fräulein, ich helf Ihnen.“ Schon griff ein Gepäckträger nach ihrem Koffer. „Habens weit zum Gehen?“

„Nein. Und den Koffer trag ich schon selber.“ Hastig durchquerte Adele die Bahnhofshalle, ging durch die Schützenstraße bis zum Karlsplatz, schritt unter dem Karlstor hindurch und befand sich auf der Neuhauser Straße. Es dämmerte bereits, feiner Nieselregen senkte sich herab und benetzte ihren Mantelkragen. Schmerzhaft schnitten ihr die Ledergriffe in die Hand. Sie stellte den Koffer auf den Boden, schüttelte den Arm, der sich schon ganz taub anfühlte. Nur noch wenige Leute waren unterwegs. Ein Bauer zog einen Deichselkarren voller Rüben hinter sich her, ein Mann, schwer auf seinen Gehstock gestützt, ging an ihr vorbei und bog dann ein in eine Seitengasse.

Adele griff wieder nach dem Koffer und ging, die Handtasche mit ihrem Schmuck und den letzten Gulden an den Körper gepresst, die Neuhauser Straße entlang. Vor dem Gasthaus „Zum Oberpollinger“ schlüpfte sie aus dem Schuh, schüttelte Steinchen heraus und zog den Schuh wieder an. Sie schleppte sich an der Michaelskirche vorbei bis zum Marienplatz. Dort lehnte sie den Koffer an den Fischbrunnen und blickte hinüber zum Hutmachergeschäft des Berthold Hauer. Im Laden brannte noch Licht. Claras Vater stand hinter der Kasse. Clara, die sonst immer im Laden bediente, war nicht zu sehen.

Adele überlegte, wann sie ihre Cousine zuletzt getroffen hatte. Vor fünf Jahren? Als sie sich auf der Durchreise zu einem Gastspiel in Ingolstadt befand und Clara und ihren Vater vorher besucht hatte? Adele ergriff ihren Koffer, überquerte die Dienerstraße, stemmte die Haustür auf und wuchtete den Koffer Stufe für Stufe hinauf in den vierten Stock. Zögerte vor dem blank polierten Messingschild „Berthold Hauer, Hutmacher“, atmete tief durch und ließ den Türklopfer gegen die Eichentür fallen.

Die Tür ging auf und Clara blickte sie entgeistert an. „Was machst denn du hier in München?“ Clara wischte sich die Hände an der Schürze ab und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und völlig derhaut schaust aus.“

Bei der unfreundlichen Begrüßung verschlug es Adele die Sprache. Sie konnte nicht glauben, wie Clara sich verändert hatte. Das Haar zu einem lieblosen Knoten gebunden, die blassen Lippen zusammengepresst. Nichts war mehr zu sehen von der hübschen jungen Frau, die sie bei ihrem letzten Besuch angetroffen hatte.

Adele fasste sich ein Herz. „Helfen musst mir. Ich bin grad aus Berlin gekommen.“

„Bei uns kannst nicht bleiben. Weißt selber, dass der Vater den Umgang mit dir verboten hat.“

„Spinnst jetzt? Wie er mich um Geld angebettelt hat, war ich ihm auch gut genug. Sag bloß, du erinnerst dich nicht mehr, wie ich ihm hundert Gulden geliehen hab, weil sein Geld für die Lieferanten nicht mehr gereicht hat. Zurückbezahlt hat er es nie.“

„Hättest es eh nur wieder für Schmuck und teure Pelze hinausgeschmissen“, entgegnete die Clara schnippisch. Sie griff in ihre Schürzentasche und zog ein paar Kreuzer hervor. „Da, die kannst haben.“

„Geld will ich nicht. Nur ein Bett für heut zum Übernachten.“

„Verschwind! Der Vater muss jeden Augenblick kommen. Hättest statt der Schauspielerei halt was Anständiges gearbeitet. Meinst vielleicht, ich steh gern alle Tag im Hutladen?“

„Saubande, elendige!“ Adele riss den Koffer vom Boden und rumpelte die vier Stockwerke hinunter. Bumperte voller Wut gegen das schmiedeeiserne Geländer, plärrte hinauf: „Das vergess ich euch nie!“

Auf der Straße kramte sie in ihrem Geldbeutel. Elf Gulden und fünf Kreuzer. Für einen billigen Gasthof würde es reichen. Sie schlängelte sich im Tal zwischen abgestellten Pferdefuhrwerken hindurch und betrat das Gasthaus „Zum Bögner“.

„Haben Sie noch ein Zimmer frei?“

Der Wirt hinter dem Tresen musterte die abgekämpfte Frau. Der Hut schief auf den schwarzen Locken, die Bluse vom Regen durchnässt, die Schuhe abgelatscht. Sah trotzdem nicht schlecht aus. Eine Halbseidene war sie jedenfalls nicht.

„Für wie lang?“

„Was kostet’s denn?“

„Einen halben Gulden pro Nacht. Bezahlt wird gleich.“

„Dann für drei Nächte.“ Adele zählte ihm das Geld hin und nahm den Schlüssel in Empfang. Wieder musste sie Treppen steigen, aufpassen, dass sie nicht hängenblieb in dem verlöcherten Läufer. Der Geruch nach Blutwurst drehte ihr fast den Magen um. Das Zimmer gab ihr den Rest. Die Bettstatt abgewetzt, das Plumeau stockig, der Spiegel halb blind. Sie öffnete die verklemmte Schranktür, der Naphthalingestank raubte ihr fast den Atem. Sie setzte sich aufs Bett, zog Schuhe und Strümpfe aus und fuhr über die Blasen an ihren Fersen. Kramte in ihrem Koffer nach dem Lederetui, nahm eine Nadel heraus und stach die Blasen auf. Presste das Wasser aus der aufgeblähten Haut. Zog vorsichtig die Strümpfe darüber und schlüpfte in bequemere Schuhe. Obwohl sie hundemüde war, wollte sie nichts wie raus.

Draußen war es schon dunkel, nur ein paar Gaslaternen spendeten gelbfunzliges Licht. In der Theatinerstraße blieb sie vor dem Schaufenster des Hofschneiders stehen und betrachtete die Tuchrollen, Bänder und Hauben. Eine Riegelhaube, durchzogen mit feinen Goldfäden, stach ihr ins Auge. So eine würde sie sich kaufen, sobald sie wieder zu Geld gekommen war. Sie schlenderte vorbei an der Residenz und setzte sich auf die Stufen der Feldherrnhalle. Die wenigen Menschen, die noch unterwegs waren, drehten sich um, verwundert über die einsame Frau zu Füßen des Feldherrn Tilly.

Drüben beim „Tambosi“ drang helles Licht durch die Fenster und malte schillernde Kreise auf den Boden. Als sich die Tür öffnete, hörte sie es grölen: „Frisch auf ihr Kameraden / Frisch auf zum Waffentanz“. Wie gern säße sie jetzt bei den Offizieren und Kadetten der Hofgartenkaserne. Sie kaute an ihren Fingernägeln. Geld musste her. Dringend. Aber wie die Clara in einem miefigen Hutladen enden? Niemals. Wozu war sie eine begnadete Schauspielerin?

Sie zog die Pelerine1 fester um die Schultern und machte sich auf den Heimweg. Still lag der Marienplatz vor ihr. Aus den dunklen Arkaden starrte ihr die Finsternis wie ein schwarzer Schlund entgegen. Schon als Kind war sie vor dem verrufenen Ort gewarnt worden, an dem tagsüber, unter dem Bildnis des heiligen Onuphrius, Händler verfleckte Heiligenbilder, verbeultes Emaillegeschirr und zerflicktes Gewand feilboten. Kaum wurde es Nacht, machten sich die Händler davon. Dann versammelten sie sich, die Verbuckelten, Vergrindeten, vom Leben Ausgespuckten. Schlugen ihr Nachtlager auf in dem verbrunzten, stockfleckigen Gang. Adele fasste sich ein Herz, bekreuzigte sich vor der Mariensäule und huschte vorbei an dem unheimlichen Gewölbe. Ein Schatten löste sich aus dem Dunkel, ein stinkender Geselle heftete sich an ihre Fersen.

Verzweifelt blickte sich Adele um, doch nirgends war ein Passant zu sehen. So forsch wie möglich schrie sie den Kerl an: „Hau ab! Lass mich in Ruh!“

„Eine Ruh gibt’s erst in der Ewigkeit.“ Zahnluckig grinsend streckte er dreist den Arm nach ihrer Handtasche aus. Doch sein Griff ging ins Leere.

Adele raffte ihren Rock und rannte davon. Sie rutschte aus auf Pferdeäpfeln, stolperte vor zum „Bögner“ und knallte dem Kerl, der nicht abließ von ihr, die Tür vor der Nase zu. Seinen Pestilenzgestank noch in der Nase, hastete sie die Treppe hinauf und fiel weinend aufs Bett.

Am nächsten Morgen öffnete sie mühsam die verschwollenen Augen, goss Wasser in die von Sprüngen durchzogene Porzellanschüssel und wusch sich das rotfleckige Gesicht. Die Zeit drängte, wenn sie den Intendanzrat noch am Vormittag sprechen wollte. Sie schlüpfte in ihr bestes Kleid und brachte die Schuhe auf Hochglanz. Bändigte ihr Haar mit einem Elfenbeinkamm, verließ das Gasthaus und schlug den Weg zum Residenztheater ein.

Beklommen stand sie vor dem Theater, legte sich noch einmal die Worte zurecht, mit denen sie den Intendanzrat dazu bringen wollte, sie auftreten zu lassen. Sie fuhr sich noch einmal durchs Haar und betrat die weitläufige Halle. Zugeherinnen wienerten den Boden, polierten den Handlauf des säulengedrechselten Geländers.

Adele stieg die Treppe hinauf und suchte die Türen ab. Intendanzrat Schmitt. Hier war sie richtig. Sie klopfte an und betrat nach einem forschen „Herein“ das Zimmer.

„Was willst?“ Unwillig blickte Schmitt über den Rand seines goldgefassten Kneifers.

„Wenn’s gestattet ist, eine Stelle tät ich suchen.“

„Da kommst zu spät. Die Stelle der Zugeherin ist schon weg.“

„Als Schauspielerin tät ich gern arbeiten.“

Schmitt riss sich den Kneifer von der Nase, sprang hinter dem Schreibtisch hervor, öffnete die Tür und rief über den Flur: „Meisner, kommens mal rüber.“

Ein untersetzter Mann betrat das Arbeitszimmer des Intendanzrats. „Was will denn die?“

Mit mageren Fingern stocherte Schmitt hin zu Adele. „Als Schauspielerin will sie uns beehren.“

Meisner verdrehte die Augen. „Spinnt die?“

Schmitt witterte, einem Bluthund gleich, Adeles Unsicherheit und durchbohrte sie mit seinem Blick. „Was glaubst eigentlich, wer du bist?“ Sah befriedigt, wie sie zusammenzuckte, und tippte ihr mit dem Zeigefinger gegen die Brust. „Stehen genug Schlange bei uns. Schönere als wie du.“

Adele wich einen Schritt zurück. „In Berlin war ich eine gefragte Schauspielerin. Hab mehrmals das Käthchen von Heilbronn gespielt.“

„In Berlin!“ Schmitts Stimme überschlug sich. „Da schau her. Bei den Preußen hätt sie gespielt. Aber wir sind hier in Bayern, fallst es noch nicht gemerkt hast. Die Jüngste bist auch nicht mehr. Wie alt bist eigentlich?“

„Sechsunddreißig.“

„Schau, dass du hinauskommst! So was Altes stellen wir gewiss nicht ein.“

„Aber …“

„Raus!“

Mit zitternden Knien verließ Adele das Gebäude, überquerte den Platz vor dem Theater und lehnte sich an den Sockel des Max-Joseph-Denkmals. Sie zog eine Zigarette aus der Tasche, zündete sie an und sog den Rauch gierig ein. So ein Dreckskerl! Ein Messer sollte man ihm in die Brust stoßen. Es immer wieder umdrehen, bis er verreckte. Sie trampelte die Zigarette aus, nahm die Korallenkette vom Hals, fetzte die fein ziselierte Brosche von der Bluse und zog den Rubinring vom Finger.

In der Rumfordstraße stieß Adele die Tür des Pfandladens auf, den sie noch aus ihrer Kindheit kannte. Hustete. Staubig roch es. Ranzig. Auf den Regalen reihten sich Bücher mit abgegriffenen Einbänden, eingestaubte Kristallgläser, Porzellanfiguren, silberne Kandelaber. An der Wand hingen Degen, Gewehre und Pistolen mit Silberknäufen neben Gemälden in dicken Goldrahmen. Sie trat an eine Vitrine und betrachtete die Perlenketten, Ringe und Broschen hinter dem eingetrübten Glas.

Der Pfandleiher, mit einer Haut wie zerknittertes Pergament, die speckige Jacke mit einem Gürtel achtlos zusammengebunden, kam aus einem Hinterraum. „Was gibt’s?“

Adele öffnete die Kordel ihres Pompons2 und zog den Schmuck hervor. „Wie viel zahlen Sie mir dafür? In zwei Wochen lös ich’s wieder aus.“

Er deutete auf die Vitrine. „Hab genug von dem Zeug.“ Er klemmte sich die Lupe vors Aug, befingerte den Rubinring, begutachtete die Kette, drehte die Brosche hin und her. „Viel ist’s nicht wert. Dreißig Gulden für alles zusammen. Und wenn Sie’s auslösen, krieg ich dreißig Prozent Zins obendrauf. Pro Woche.“

„Sind Sie narrisch? Der Schmuck ist leicht das Dreifache wert. Geben Sie mir wenigstens vierzig Gulden.“

„Dreißig und keinen Kreuzer mehr. Wenn’s Ihnen nicht passt, könnens alles wieder einpacken.“

Adele stopfte das Geld, das er ihr samt Schuldschein hinhielt, in den Pompon. Drehte sich um an der Tür und stieß hervor: „Ein Wucherer bist!“

„Hättest ja nicht kommen brauchen.“ Der Pfandleiher rieb sich die Hände. So abgebrannt wie die war, würde sie die Sachen nie mehr auslösen. Dann würde er ihm gehören, der kostbare Schmuck.

Als Adele auf der Straße stand, war ihr vor Hunger schon ganz schlecht. Zu gern hätte sie in einer Wirtschaft etwas Richtiges gegessen, doch bis sie einen Ausweg aus ihrer verzweifelten Lage gefunden hatte, musste sie eisern sparen. Sie verscheuchte den Gedanken an einen saftigen Rinderbraten, ging zum Viktualienmarkt, kaufte zwei Schmalzstriezel und setzte sich auf eine Holzkiste. Ein Hund, knochenmager, schlich um sie herum. Verfolgte mit glänzenden Augen jeden Bissen, den sie sich in den Mund schob. Sie warf ihm ein paar Brocken hin, kraulte ihn hinterm Ohr, strich ihm übers räudige Fell. „Hast auch niemanden, genau wie ich.“

Der Hund machte Sitz und schleckte ihr die Hände ab. Als sie aufstand und ziellos durch die Straßen ging, wich er ihr nicht von der Seite. Doch ein Hund war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Drohend hob sie die Hand. „Hau ab!“ Er jaulte auf und verschwand.

Sie zermarterte sich das Hirn. Sollte sie eine Stelle als Zugeherin suchen? In einem feinen Haus putzen, für einen halben Gulden die Woche? Unmöglich. Ein reicher Witwer musste her. Einer, der was springen ließ.

Vor der Tür zum „Bögner“ stand der Hund wieder da. Wedelte mit dem Schwanz, sprang jaulend an ihr hoch.

„Wenigstens du freust dich über mich. In Gottes Namen, dann kommst halt mit.“

Der Wirt belferte: „Hundsviecher sind verboten.“

„Entweder der bleibt oder ich zieh aus.“

„Dann kostet er aber extrig. Einen Kreuzer die Nacht. Im Voraus.“

Adele warf ihm den Kreuzer hin, ging hinauf in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie streichelte den Hund und flüsterte ihm zu: „Weißt was, dich nenn ich Basti.“ Sie streifte die Schuhe von den Füßen und legte sich aufs Bett. Basti sprang zu ihr und schmiegte sich ganz eng an sie.

Schatulle

Nichts wie heim! Jakob Kramer eilte die Rosenheimer Straße entlang, tastete verstohlen nach der prall gefüllten Geldkatze unter seinem Wams. Bei dem Gesindel, das sich in der Stadt herumtrieb, hieß es Obacht geben.

Immer mehr Bauern, Landarbeiter und Tagelöhner strömten nach München. Hofften auf ein besseres Auskommen, ein Sattwerden jeden Tag. Mit der Hoffnung war es schnell vorbei. Arbeit gab es nur zum Hungerlohn, eine Unterkunft schon gleich gar nicht. Die Männer bettelten um eine Anstellung in einer Fabrik. Viele marschierten schon vor Tagesanbruch in die Hirschau. Schufteten in der Lokomotivfabrik in säuregiftiger Luft. Kehrten abends heim und fielen in einer üblen Kammer, zusammengepfercht mit anderen Tagelöhnern, in bewusstlosen Schlaf. Nicht jeder hielt das aus. Manch einer endete als Dieb oder Beutelschneider, lungerte auf der Straße herum, spähte aus, bei wem sich der Griff in die Tasche lohnte.

Kramer durchschritt das Isartor und durchquerte das Tal. Schlängelte sich hindurch zwischen Ochsenkarren und Pferdefuhrwerken, fluchte, als er in einen Kuhfladen tappte. Heftiger Bierdurst plagte ihn. Sollte er auf eine Maß ins Dürnbräu? Zu riskant mit dem ganzen Geld. Er eilte zurück zu seinem Haus am Lueg ins Land. Blickte sich misstrauisch um, stocherte den Schlüssel ins Schloss, trat ein und rief nach seiner Frau: „Agnes, was gibt’s zum Essen?“ Keine Antwort. Bestimmt kniete sie wieder in der Kirche, die bigotte Matz. Fünf elende Jahre war er schon mit ihr verheiratet, der Bauerstochter, die froh gewesen war, doch noch einen Hochzeiter zu finden. Mit schönen Worten und süßem Lächeln hatte sie ihn herumgekriegt. Nach der Hochzeitsnacht war es verschwunden, das Lächeln.

Verdrießlich stieg er die Treppe hinauf in die Schlafkammer, um sein Geld in Sicherheit zu bringen. Rückte schnaufend die wuchtige Eichentruhe von der Wand und löste mit seinem Hirschfänger ein Brett des Dielenbodens. Unter der Diele befand sich, sorgfältig mit einem Tuch ausgelegt, ein Hohlraum. Vorsichtig hob er die silberne Schatulle aus dem Versteck und ließ die Finger über die in Silber geschlagene Figur auf dem Deckel gleiten. Den heiligen Martin, der alles hergegeben hatte für die Armen. Er würde nichts hergeben von seinen Gulden, so wahr er Jakob Kramer hieß.

Er öffnete das Kästchen, setzte sich aufs Bett und dachte mit Grausen an seine Kindheit. Die Geschwister an Auszehrung gestorben, die abgearbeiteten Eltern tot. Als Kostkind hatten sie ihn herumgeschoben. Jeden Tag bei einer anderen Familie essen, jeden Tag bei einer anderen Familie schlafen. Alles hatten sie aus ihm herausgepresst, dem Balg. Stallausmisten, Kühe melken, die schweren Milchkübel schleppen. Und wehe, wenn die Milch überschwappte. Die vernarbten Striemen auf seinem Rücken sah man noch heute.

Dann war der Schmied gekommen. „Schaust kräftig aus, Bub. Wennst hinlangen kannst, dann darfst bei mir anfangen.“

Hinlangen konnte er. Und das Feuer gefiel ihm, in dem er die Eisenstäbe drehte, bis das Metall rot glühte. Glücklich war er, wenn er den funkensprühenden Stab auf den Amboss legte, ihm mit dem wuchtigen Hammer eine Form gab, für Eisenstreben, Türbeschläge, Riegel. Als der Schmied den Schlagfluss erlitt, konnte er die Werkstatt übernehmen. Jeden Kreuzer, jeden Gulden hatte er zurückgelegt, bis das Geld reichte. Für den Kauf von zwei Zimmern in einem Herbergshaus hinten am Gasteig, die er weitervermietete, für gutes Geld.

Er nestelte die Geldkatze vom Gürtel und zog die Gulden hervor. Streichelte jeden einzelnen, flüsterte: „Reich werdets mich machen. Richtig reich.“ Er legte die Münzen in die Schatulle, verstaute diese wieder im Hohlraum, passte das Dielenbrett akkurat ein und wuchtete die Eichentruhe zurück.

Die Haustür fiel ins Schloss. Kurz darauf hörte er die Agnes in der Küche hantieren. Sein Magen knurrte. Er stieg die Treppe hinunter und raunzte an der Küchentür: „Wann gibt’s was zum Essen?“ Missmutig ließ er sich auf die Küchenbank fallen.

„Wirst es noch derwarten können.“

„Wo warst?“

„Geht’s dich was an?“ Agnes rührte den Eintopf um, schnitt Geselchtes klein und gab es in den Kupferkessel. Schöpfte eine große Portion in einen Teller und stellte ihn dem Kramer hin. Der würzige Fleischduft stimmte ihn gleich versöhnlicher.

„Setz dich her zu mir. Pläne hab ich.“

„Wird schon was Gescheites sein!“

„Jetzt hab ich bald das Geld beisammen, dass ich noch ein Zimmer kaufen kann.“

„Kriegst den Wanst immer noch nicht voll?“ Hämisch verzog Agnes den Mund. „Der Pfarrer hat’s auch gesagt: Auspressen tust die Leut. Viel zu viel verlangst für die windigen Zimmer.“

„Und du, von was lebst du?“ Kramer klatschte den Löffel in die Suppe, das Geselchte pflatschte über den Tisch. „Von dem Geld, das ich heimbring!“

Agnes reckte ihr spitzes Kinn. „Eine Schand bist für anständige Christenleut!“

Er sprang auf, zog die Agnes vom Stuhl und drückte sie gegen die Wand. „Wennst das noch einmal sagst, dann bring ich dich um. Ich schwör’s bei Gott: Dann bring ich dich um.“

Er stürmte aus der Tür. Grad zum Fleiß würde er seinen Mietern aufs Dach steigen. In seinem Herbergshaus droben in Haidhausen. Vor allem der Elsbeth, deren Mietzins längst fällig war.

In ihrer zugigen Kammer warf Elsbeth die durchgeschwitzte Bettdecke zurück und würgte grünen Schleim in ein Tuch. Sie wickelte zwei Chinintabletten aus gilbigem Papier und zwang sie mit einem Glas Wasser hinunter. Erschöpft lehnte sie sich ins Kissen zurück und schloss die Augen.

Ihr Emeran fehlte ihr. In der Lehmgrube hatte er gearbeitet, bei Wind und Wetter Ziegel hergestellt. Der Lohn war knapp gewesen. Aber für ein warmes Essen am Tag hatte es gereicht. Bis die Itaker kamen. In Hundertschaften waren sie angerückt. Hatten ihre Schubkarren, Hacken und Schaufeln über die Alpen gebracht, im Akkord gearbeitet, für halb so viel Lohn wie die Einheimischen. Die konnten nicht mehr mithalten, mussten sich eine andere Arbeit suchen, wenn ihre Kinder nicht verhungern sollten. Ihr Emeran hatte ausgehalten. Bis ihn das Fieber erwischte. Und dann die tödliche Lungenentzündung.

Mit klopfendem Herzen horchte sie auf die Schritte im Treppenhaus. Die Tür flog auf. „Elsbeth, meinen Mietzins will ich.“ Drohend, die Daumen in die Ärmellöcher seiner Weste gehakt, stand der Kramer vor ihr.

„Nächste Woche zahl ich ganz bestimmt. Wenn ich wieder auf Arbeit bin.“

„Ich wart nicht ewig auf mein Geld. Drei Tag lass ich dir noch. Wennst dann nicht zahlst, fliegst raus. Warten genug andre auf das Zimmer.“

„Aber, wenn ich doch krank bin.“

„Meinst, ich hab die Spendierhosen an? Drei Tag und keinen Tag länger.“ Schon war der Kramer draußen bei der Tür und donnerte die Treppe hinunter.

Draußen schaute er, von dem vermatschten Weg aus, hinauf zum Haus. Der Anstrich großflächig abgeblättert, lehnte es windschief am Nachbarhaus. Sah auch nicht besser aus als die anderen armseligen Behausungen. Aber Geld brachten die Zimmer. Wenn man schlau war und wie er Spezln im Magistrat hatte. Dann konnte man sie umgehen, die Verordnung gegen die Wohnungsnot, die es Arbeitern erlaubte, für wenig Geld ein Zimmer in einem Herbergshaus zu kaufen. Konnte Zimmer erwerben und sie teuer vermieten. Er feixte. So marod, wie die Elsbeth ausschaute, würde sie nie und nimmer zahlen, schon gar nicht bis in drei Tag. Und wenn er sie draußen hatte, würde er statt einem Bett drei Betten hineinstellen in die Kammer. Würden sich schnell Aftermieter finden. Wo so viele ein Dach über dem Kopf suchten.

Elsbeth in ihrer Kammer atmete schwer. Mühsam stand sie auf und betrachtete sich im Spiegel über dem Waschtisch. Ihre grünen Augen blickten ihr matt entgegen, ihre vollen Lippen hatten jede Farbe verloren. Sie band ihr Haar zusammen, wechselte das durchgeschwitzte Hemd gegen eine frische Bluse und machte die Rollgerste3, die seit gestern auf dem Herd stand, noch einmal warm. Löffelte lustlos den faden Brei. Gesund musste sie werden. Sonst war sie weg, die Stelle bei der Frau Magistratsrat, bei der sie jede Woche einen halben Gulden bekam fürs Putzen, Waschen und Bügeln. Und bei der sie, wenn Besuch kam, sogar in der Küch helfen durfte. Beim Gedanken an den Kalbsrollbraten, die sauren Nierchen, an die fein geschabten Butterspatzen brachte sie die Rollgerste nicht mehr hinunter.

Es klopfte. Marei, die Bedienung vom Schleibingerbräu trat ein und blickte die Elsbeth prüfend an. „Schlecht schaust aus.“

„Was Gscheits zum Essen bräucht ich. So komm ich nie auf die Füß.“

Marei strich Elsbeth übers Haar. „Komm doch runter zu uns. Ich hab was aus der Wirtschaft mitgebracht.“

Elsbeth schlurfte hinter der Marei die ausgetretene Stiege hinunter. Kam kaum hinein in die Kammer, in der die Marei mit noch drei Bedienungen hauste. Die Kleider hingen an rostigen Haken, für einen Tisch oder Stuhl war kein Platz. Die Bedienungen saßen auf den Betten, hielten die Teller fest auf den Knien.

Elsbeth setzte sich zu ihnen, verschlang gierig das Wammerl, das sie ihr hinschoben. „Grad war der Kramer bei mir.“

Zornig stieß die Marei hervor: „Bei uns war er auch, der Sauhund. Will nächste Woche noch drei Bedienungen bei uns einquartieren. Sagt, es könnten leicht zwei in einem Bett schlafen.“

Elsbeth schleckte das Messer ab. „Wissts, von was ich träum? Von einem Klo im Stiegenhaus. Damit ich mich nicht immer so fürcht, wenn ich nachts raus muss in den stinkigen Verschlag.“

„Schauts die Elsbeth an“, kicherte die Marei. „Willst vielleicht auch noch ein fließendes Wasser wie in den feinen Häusern?“

„Mir tät’s schon reichen, wenn der Brunnen nicht so weit weg wär.“

Marei zog die Plane vom Fenster und ließ frische Luft herein. „Wissts was? Der Baurat Gruber ist Stammgast bei uns. Den frag ich. Vielleicht weiß der eine Wohnung für uns.“

Zinsen

Adele saß mit dem Braumeister Kreitner im „Café Tambosi“ und griff nach dem Schmuckstück, das er ihr über den Tisch zuschob. Sie zwang sich zu einem Lächeln. „So eine schöne Brosche!“ Sie drehte den scheußlichen Klunker in der Hand. Eine grob gefertigte Gemme mit dem Konterfei König Ludwigs, verziert mit billigem Strass. Lohnte kaum den Pfandleiher. Lustlos aß sie ein Stück von dem Apfelkuchen auf ihrem Teller, führte mit abgespreiztem Finger die Tasse zum Mund. Blickte ihrem Verehrer tief in die Augen. „Was tät ich nur ohne Sie?“

„Ein schöner Schmuck für eine schöne Frau.“ Mit aufgeschwemmten Fingern fummelte Kreitner die Brosche an ihre Bluse. Grob zerstach die Nadel den feinen Stoff.

Adele lehnte sich zurück, steckte eine Zigarette in die Elfenbeinspitze und blies den Rauch in die Luft. Worüber sollte sie mit dem Kreitner reden? Über das Wetter? Über das Essen?

Am Nebentisch knallten die Champagnerkorken. Die Offiziere grölten, feierten den neuen Sieg über Frankreich. So ein schneidiger Offizier hätte ihr besser gefallen, doch der Braumeister war der Erste, der angebissen hatte.

Der Ober kam an den Tisch, lächelte süffisant. „Darf es noch was sein?“ Diese Sorte Frau kannte er. Kamen genug her zum Anbandeln mit einem vom Militär.

„Noch einen Schampus.“ In einem Zug leerte Adele das Glas, das ihr der Ober hingestellt hatte. Damit sie ihn besser ertrug, den Kreitner.

„Nennens mich doch Gustl.“ Er rückte näher, pratschte nach ihrem Schenkel: „Ich wüsst schon, was wir zwei jetzt machen könnten. Kommens doch auf ein Stünderl mit zu mir. Ich wohn nicht weit weg. Nur zehn Minuten zu Fuß.“

Adele, eisern entschlossen durchzuhalten, ging mit.

Am Odeonsplatz legte er ihr den Arm um die Schulter und säuselte ihr ins Ohr: „Schöne Sachen werden wir machen.“ Er hakte sich bei ihr unter und tänzelte in freudiger Erwartung neben ihr her bis zu seiner Wohnung in der Filserbräugasse.

„Tretens nur ein.“ Schon schob er sie in den Salon.

Adele blickte sich um. Wenigstens das mit dem Geld stimmte. Dicke Samtvorhänge hingen an den Fenstern, Teppiche bedeckten den Boden. Zögernd legte sie den Mantel ab. Noch konnte sie umkehren. Aber so schlimm würde es schon nicht werden.

„Kommens weiter.“ Kreitner drängte sie ins Schlafgemach und drückte sie aufs Bett.

Adele schloss die Augen.

Aufgeregt fummelte er seine Hose herunter, schob ihren Rock hoch. Lag schwer auf ihr. Sie drehte den Kopf zur Seite, ihr graute vor den klebrigen Borsten in seiner Nase.

Mit den Beinen schabte er über ihre Schenkel, fuhr mit schwitzigen Händen über ihre Brüste.

Adele sah den Speichel, der ihm im Mundwinkel hing. „Runter! Sofort gehst runter!“ Sie stemmte ihn zur Seite und sprang auf.

„Was hast denn?“

„Ich kann nicht.“ Sie rannte zurück in den Salon, nahm ihren Mantel, schlug die Tür hinter sich zu und verließ das Haus.

Auf der Straße lehnte sie sich an eine Hauswand, strich die Strümpfe glatt, steckte die Bluse ordentlich in den Rock. Damit man nicht sah, dass die drei unteren Knöpfe fehlten. Die hatte der Kreitner auf dem Gewissen. Zu geil zum Aufknöpfen, hatte er die Bluse zerrissen. Sie ordnete ihr Haar und atmete tief durch. Jetzt brauchte sie einen Schnaps.

Am Frauenplatz stieß sie die Tür zum „Goldenen Licht“ auf und setzte sich an einen Tisch. „Alois, einen Enzian. Einen doppelten.“

Alois warf den Lappen hin, mit dem er den Zapfhahn polierte. „Willst wieder anschreiben lassen?“

„Heut zahl ich gleich.“ Sie kippte den Schnaps hinunter. Wie Feuer brannte er ihr in der Kehle. Brannte sie weg, die Schmach mit dem Kreitner.

„Bring mir noch einen.“

„Heut bist aber durstig.“ Alois stellte ihr noch einen Doppelten hin und schlurfte zurück hinter den Tresen.

„Zum Wohl, du armes Luder!“ Adele prostete dem ausgestopften Hirschkopf zu, der mit glasigen Augen von der getäfelten Wand stierte. Sonst war niemand da zum Anstoßen. Ein paar Männer grölten beim Schafkopf, klatschten die Karten auf den Tisch. Für sie interessierte sich keiner.

Wie sollte es nur weitergehen? Nur noch vierzig Gulden hatte sie und einen ganzen Monat Mietrückstand beim Bögner. Alles hatte sie dem verranzten Wucherer schon hingetragen: die silbernen Löffel, ihren letzten Schmuck. Und was am schlimmsten war: die goldene Kette, ein Erbstück ihres Vaters. Ganze dreißig Prozent Zins schlug der Blutsauger auf die Auslösesumme. Sie zog die zerknitterten Pfandscheine aus der Tasche, wendete sie hin und her, strich sie mit dem Fingernagel glatt.

Die Zinsen! Warum war sie da nicht früher draufgekommen? „Alois, setz dich her zu mir. Ich hab eine Idee.“

Der Wirt ließ sich nieder, zog einen Tabakbeutel aus der Hosentasche, stopfte die Pfeife mit billigem Verschnitt. „Willst doch wieder anschreiben lassen?“

„Nix da. Pass auf: Wenn du mir zehn Gulden leihst, zahl ich sie dir nach einem Monat zurück und obendrauf noch zwanzig Prozent Zinsen. Ich zahl dir also insgesamt zwölf Gulden zurück. Dann hast zwei Gulden verdient fürs Nixtun.“

„Eine dümmere Idee hast nicht? Weißt es genau: Ohne Arbeit kein Geld.“

„Mit Arbeit wirst nicht reich. Spekulieren musst. Probier’s aus. Zwei Gulden kriegst für umsonst. Und wennst mir fünfzig Gulden leihst, kriegst nach vier Wochen sechzig zurück. Nur fürs Hinwarten, dass dein Geld mehr wird.“

Jetzt brauchte auch der Alois einen Enzian. Seit der neuen Gewerbeordnung kam er auf keinen grünen Zweig mehr. Der amtlich festgesetzte Brot- und Fleischpreis war abgeschafft, die Preise schnellten in die Höhe, Brot und Fleisch waren kaum noch zu bezahlen. Auch die Brauereien verlangten mehr fürs Bier, das sie ihm lieferten. Einen halben Kreuzer musste er aufschlagen auf die Halbe. Die Gäste wichen aus aufs billige Dünnbier. Viel verdient war nicht daran.

„Geh, Adele, bist doch selber immer abgebrannt. Woher soll ich wissen, dass mein Geld nicht einfach weg ist?“

„Jetzt sei halt nicht so. Meine Schulden bei dir hab ich allerweil noch bezahlt. Komm, probier’s halt aus.“

Bedächtig zog der Alois an seiner Pfeife. Zwei Gulden für umsonst, das wär schon was. Die Kinder brauchten dringend neue Schuhe. Beim Jüngsten bohrten sich schon die Zehen durchs Leder. Alois gab sich einen Ruck und ging hinter den Tresen. Auf dem untersten Brett, ganz hinten zwischen den Handtüchern und den leeren Senfgläsern hatte er sie versteckt, die Schachtel mit der letzten Reserve. Er zögerte, dann nahm er zwanzig Gulden heraus und ging zurück an den Tisch.

„Meine Annamirl darf’s nicht wissen. Weh, du sagst ihr was.“

Doch die Annamirl hatte ihre Ohren überall. Schon schaute sie durch die Küchendurchreiche. „Loisi, was besprichst mit der?“

„Pass du lieber auf, dass das Essen nicht anbrennt!“ Er ging zur Durchreiche, zog an der hölzernen Klappe. Wie ein Fallbeil sauste sie herunter.

Zögernd schob er Adele die zwanzig Gulden hin. „Mehr hab ich nicht. Aber eins sag ich dir: Wennst nicht pünktlich zahlst, dann kannst was erleben.“

Lächelnd strich sich Adele die Locken aus dem Gesicht. „Wart’s ab.“

In ihrem Zimmer beim Bögner steckte sie die zwanzig Gulden in einen Beutel und legte vier Gulden von ihrem eigenen Geld dazu. Schob alles tief in die Kommode. An das Geld durfte sie auf keinen Fall heran. Sie zählte die Münzen, die sie für die kommenden vier Wochen noch zur Verfügung hatte. Sechsunddreißig Gulden und zwanzig Kreuzer. So knapp war sie noch nie drangewesen. Nicht einmal in ihrer schlimmsten Zeit in Berlin. Aber wenn sie den Monat durchstand, wäre sie vielleicht aus dem Gröbsten raus. Dann würde sie den Alois ausbezahlen und ihn dazu bringen, dass er es herumerzählte. Dass bei ihr gut zu verdienen war. Und wenn genug Leute Geld bei ihr anlegten, konnte sie die ausbezahlen, die es samt Zinsen zurückwollten. Dann wär Schluss mit der Knauserei. Mit der billigen Wurst, den Fettgrieben, dem billigen Wein, der ihr den Magen versäuerte. Und ein neues Gewand wäre auch wieder drin.

Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit sparte sie von nun an eisern. Aß in den billigsten Wirtschaften, fütterte den Basti mit Schlachtabfällen, die ihr der Metzger zusteckte. Widerstand der Versuchung, den Laden des Hofschneiders zu betreten und die kostbare Riegelhaube anzuprobieren.

Genau vier Wochen später klopfte Alois an ihrer Zimmertür. Sichtlich zermürbt von der Angst um sein Geld, stieß er hervor: „Heut auf den Tag genau sind’s vier Wochen. Jetzt zahlst mich aus.“

Adele zog ihn ins Zimmer. „Setz dich erst einmal hin. Heut bist du mein Gast.“ Sie füllte zwei Becher mit Zwetschgenschnaps. „Prost. Auf unser Geschäft.“

„Mein Geld will ich und keinen Schnaps.“

Sie ging zur Kommode und holte den Beutel. Zählte ihm zwanzig Gulden hin. „Da hast sie wieder. Und diese vier Gulden kriegst obendrauf. Genau wie ich’s versprochen hab. Kannst dir leicht ausrechnen, was du verdienst, wennst mir mehr bringst. Und weißt was? Wenn du mir Leute herschaffst, die ihr Geld bei mir anlegen, kriegst zehn Prozent von dem angelegten Geld. Könntest leicht reich werden dabei.“

„Zehn Prozent für einen jeden?“ Wie im Fieber glänzten Alois’ Augen. „Schlag ein. Ein Teufelsweib bist. Ein echtes Teufelsweib!“

In seiner Wirtschaft versteckte er den Beutel wieder unter dem Tresen. Ging in die Küche, in der die Annamirl Zwiebeln für eine angebräunte Brotsuppe schnitt. „Du, Frau. Ich hab uns was extrig verdient.“

Annamirl, erschöpft, weil ihr Jüngster die ganze Nacht gehustet hatte, schaute nur kurz auf.

Stockend beichtete er. Dass er die Reserve genommen, sie bei der Spitzederin angelegt hatte. Dass sie jetzt reich werden könnten, ohne die Plackerei von früh bis spät.

Die sonst so gutmütige Annamirl plärrte: „Was hast gemacht? Wo hast es hingetragen, unser Geld? Zu so einer Matz?“

„Jetzt beruhig dich doch. Weißt selber, dass es mit der Wirtschaft den Bach runtergeht. Und die Kinder? Wenn der Winter kommt, habens nicht einmal ein warmes Sach!“

Annamirl warf die Zwiebeln ins heiße Fett, dass es nur so zischte. „Du machst ja eh, was du willst.“

Immer öfter setzte sich der Alois nun zu seinen Gästen. Gab eine Runde aus. Erzählte unter dem Siegel der Verschwiegenheit, was er bei der Spitzederin verdient hatte.

Die Männer beratschlagten sich. Wenn es beim Alois geklappt hatte, warum nicht auch bei ihnen? Ihren Weibern verheimlichten sie, dass sie zur Spitzeder gingen, ihr was vom sauer Ersparten brachten. Zurückgelegt für die Aussteuer der Tochter, die neue Dachrinne, den Beschlag fürs Pferd. Als die Ersten ihr Geld zurückbekamen und die versprochenen Zinsen obendrein, gab es kein Halten mehr.

Immer mehr schlichen nach Einbruch der Dunkelheit die Treppe beim Bögner hinauf. Senkten gschamig den Blick, wenn sie auf der Stiege einen Bekannten trafen. Klopften an bei Adele.

Dass es bei ihm jetzt zuging wie in einem Taubenschlag, passte dem Bögner nicht. Der Zimmerzins war längst fällig und an die räudigen Hundsviecher, die sie auf der Straße auflas, mochte er gar nicht denken. Zwei Stück hatte sie in der letzten Woche angeschleppt. Der mit dem zerbissenen Schwanz hatte ihm doch glatt in den Vorraum gebrunzt. Schimpfend ging der Bögner hinauf und betrat, ohne anzuklopfen, das Zimmer. „Meine Miete will ich. Und zwar gleich. Und die Viecher schaffst sofort aus dem Haus.“

Adele, die gerade ein neues Kleid anprobierte, verschwand hinter dem Paravent. „Ich hab doch gesagt, dass Sie das Geld nächste Woche kriegen.“

„Nicht nächste Woche will ich’s, sondern gleich. Und dass du’s weißt: Mit den Männerbesuchen ist Schluss. Die Leut zerreißen sich schon das Maul.“

Sie knöpfte das Kleid zu und kam hinter dem Paravent hervor. „Vorschriften lass ich mir keine machen.“

„Von mir schon.“ Der Bögner setzte sich auf einen Stuhl und trommelte mit den Fingern auf der Lehne herum. „Also, was ist? Zahlst jetzt oder nicht?“

Adele zählte ihm die Gulden hin, die sie vor zwei Stunden eingenommen hatte. „Sind Sie jetzt zufrieden?“

Der Bögner strich die Münzen ein und ging wortlos zur Tür. Drehte sich um. „Ausziehn tust trotzdem. Lieber heut als morgen.“

Nachdem er gegangen war, nippte Adele an einem Glas Portwein. Hoffentlich kam jetzt keiner, der sein Geld zurückwollte. Damit ihr Plan aufging, mussten noch viel mehr Leute Geld bei ihr anlegen.

Entschlossen stieß Adele die Tür zum „Goldenen Licht“ auf. „Alois, bring mir ein Bier. Und dann setz dich her. Ich hab was zu bereden.“

Alois schielte zur Küchendurchreiche. „Dass bloß die Annamirl nix merkt.“

„Was hältst davon, wenn ich mein Geschäft zu dir in die Wirtschaft verleg?“

„Der Annamirl wird’s nicht recht sein.“

„Musst es ihr halt schmackhaft machen. Sagst ihr, je mehr Leut in die Wirtschaft kommen, desto mehr bleibt hängen für euch.“

Nach kurzem Zögern gab der Alois klein bei. „Also gut. Aber wir richten eine feste Zeit ein. Jeden Nachmittag von vier bis sechs. Und du setzt dich ins hintere Eck, damit dich nicht gleich jeder sieht, der hereinkommt.“

Jeden Nachmittag, außer am Sonntag, saß Adele jetzt im „Goldenen Licht“. Schnell sprach es sich herum, wo sie anzutreffen war. Die Männer tranken doppelt so viel wie sonst, schielten ins hintere Eck, bis sie sich hintrauten zu ihr.

Die Annamirl grantelte in der Küche vor sich hin. Aber die Kinder hatten jetzt neue Schuhe und der Flori hatte sogar eine Medizin gegen den Keuchhusten. Doch jedes Mal, wenn die Spitzederin die Wirtsstube betrat, schlug die Annamirl ein Kreuz und zündete die geweihte Kerze an.

„Herr Wirt! Einen Frankenwein.“

Alois polierte ein Glas, hielt es gegen das Licht, wischte eine Fettschliere weg. Musterte aus dem Augenwinkel den Gast. Schon drei Tage hintereinander war der Unbekannte gekommen. Legte jedes Mal seinen Zylinderhut auf die Bank, zupfte die weißen Manschetten zurecht und ließ Adele nicht aus den Augen.

„Loisi, komm her“, zischte Annamirl aus der Durchreiche und deutete auf den Gast. „Der kommt mir komisch vor. Weißt du, was der bei uns will? Ein Hiesiger ist der auf jeden Fall nicht.“

„Was weiß denn ich? Und red nicht so laut.“

Die Annamirl flüsterte: „Ich hab’s dir gleich gesagt, dass es nicht gut geht mit der ihren Geschäften bei uns.“

„Reg dich nicht auf. Werd schon herausfinden, wer der ist.“

Alois füllte das Glas mit dem teuren Frankenwein, stellte es dem Gast mit einem „Zum Wohl, der Herr“ auf den Tisch und ging zu Adele ins hintere Eck.

Adele, die gerade ihr Geld zählte, blickte auf. „Was willst?“

„Schau bloß nicht hin. Da drüben sitzt einer, der dich genau beobachtet.“

Sofort musterte Adele den Gast. Der hob das Glas und nickte ihr zu. „Den kenn ich nicht. Meinst, der will was von mir?“

Alois schnalzte mit der Zunge. „Vielleicht gefallst ihm.“

„Davon kann ich auch nicht abbeißen.“ Zufrieden mit den Einnahmen schob sie dem Alois drei Gulden hin. „Die gibst der Annamirl. Damit sie nicht immer über mich schimpft.“

Ihr Blick glitt nach unten. „Komm Basti, wir gehn.“ Sie deckte ein Tuch über den geldgefüllten Weidenkorb, nahm ihn beim Henkel und stand auf.

Basti kroch unter der Bank hervor, schnuffelte herum, schnuffelte hin zu dem vornehmen Herrn. „Sofort kommst her.“ Adele zog den Basti zu sich und legte ihn an die Leine. „Entschuldigen Sie. Das macht er sonst nie.“

„Lassen Sie ihn doch. Ist doch so ein schöner Hund. Darf ich Sie zu einem Wein einladen?“

Adele zögerte, stellte den Korb auf den Boden. „Viel Zeit hab ich aber nicht.“

Der Fremde erhob sich, verbeugte sich. „Gestatten: Vicenti. Notar.“

Adele zuckte zusammen. Ein Notar. Das konnte nichts Gutes bedeuten. „Wie komm ich zu der Ehre?“

„Ich beobachte Sie schon länger. Und wenn ich ehrlich sein darf: Sie gefallen mir. Und es imponiert mir, wie Sie in einer so einfachen Umgebung Ihre Geschäfte tätigen.“

Erleichtert atmete sie auf. Hob das Weinglas, das Alois mit einem verschwörerischen Zwinkern auf den Tisch gestellt hatte. „Also dann, auf Ihr Wohl.“

„Auf Ihr Wohl, schöne Frau.“

Sie trank einen Schluck und verzog das Gesicht. „Ganz schön sauer. Ehrlich gesagt, ein Bier ist mir lieber. Alois! Bring mir eine Halbe. Und ein Gröstl. Wollens auch eins?“

„Gut. Ihnen zuliebe esse ich auch eins.“

„Sei so gut und bring uns zwei Gröstl“, rief Adele dem Alois zu und wandte sich wieder an den Vicenti: „Sind Sie aus München?“

„Nein. Ich stamme aus Florenz. Seit fünf Jahren führe ich eine eigene Kanzlei in München.“

„Und? Rentiert sich’s?“

Vicenti nickte. „Wird ja überall gebaut. Und die Banken schießen nur so aus dem Boden. Da wird ein Notar immer gebraucht.“

Während sie sich unterhielten, servierte Alois das Essen.

Vicenti stocherte in den Bratkartoffeln herum, schob die Blutwurst angewidert an den Tellerrand.

„Schmeckts Ihnen nicht?“

„Das Münchner Essen vertrag ich nicht. Immer schwimmt alles im Fett.“

Sie lachte und schaute verstohlen zur Küche. „Wenn das die Wirtin hört. Gebens die Wurst doch dem Hund. Aber unauffällig, damit sie’s nicht sieht.“

Adele wischte ihren Teller mit einem Stück Brot aus. „Wie lang beobachten Sie mich denn schon?“

„Ich habe Sie einige Male in der Stadt gesehen. Und dann, wie Sie ins ‚Goldene Licht‘ gegangen sind.“ Er schaute auf den Basti. „Sie mögen Tiere?“

Adele streichelte den Basti, der im schönsten Sitz auf noch ein Bröckerl Blutwurst wartete. „Tiere sind mir das Höchste. Und grad die Hunde. Die sind einem immer treu.“

Tief blickte Vicenti ihr in die Augen. „Es gibt auch Männer, die treu sind.“ Er ergriff ihre Hand, bemerkte die abgekauten Nägel. Ganz so souverän wie sie tat, war sie anscheinend doch nicht. „Dürfte ich Sie einmal zum Essen einladen? Meine Köchin kocht vorzüglich.“

„Vielleicht. Aber jetzt muss ich gehn.“

Zurück in ihrem Zimmer legte Adele den Mantel auf einen Stuhl und griff nach der Dose mit dem Zuckergebäck. So ein notariger Beschützer wär nicht schlecht. Aber wie der sie angeschaut hatte. In seine Wohnung gehen? Niemals. So was wie mit dem Kreitner brauchte sie nicht noch einmal.

Sie zerkrümelte ein Kipferl und ging zu der Voliere, in der eine junge Amsel aufgeregt hin und her hüpfte. Laut tschilpend, einen Flügel abgeknickt, hatte sie den Vogel am Wegrand gefunden, ihn vorsichtig in ein Tuch gewickelt, nach Hause getragen und jeden Tag gefüttert. Mit eingeweichten Brotkrumen und klein geschnittenen Regenwürmern. Bis sein Flügel geheilt war.

Sie stellte die Voliere ans geöffnete Fenster und löste den Haken an der Käfigtür. Lockte: „Komm. Jetzt darfst fliegen. Frei sollst sein.“

Der Vogel hüpfte heraus, setzte sich aufs Fensterbrett, spreizte die Flügel und flog davon.

Knöcherl

Regen, nichts als Regen. In den Straßen stank die Kloake, Ratzenkadaver, die Bäuche aufgebläht, flackten in ausgespülten Rinnen. Wer bei dem Sauwetter nicht aus dem Haus musste, blieb daheim.

Nur der Gerber Hannes huschte durch die Sendlinger Straße. Er schlug den Kragen seiner durchnässten Joppe hoch und wischte sich den Regen aus dem Gesicht. Grad froh war er, dass ihm niemand begegnete. Er war es leid, dass alle sich die Nase zuhielten, wenn er an ihnen vorüberging. Wusste selber, wie pestilenzisch er stank wegen der Arbeit in der Gerberei. Früher hatte er sich noch jeden Abend in den Zuber gehockt, die Haut mit der Wurzelbürste geschrubbt. Das machte er schon lange nicht mehr. Gegen den fauligen Geruch half alles nichts. Sogar aus dem Herbergshaus, wo er sich mit einem Fuhrkutscher ein Bett geteilt hatte, hatten sie ihn rausgeschmissen. Musste jetzt in einem Verschlag an der Kreppe hausen.

Dabei konnte er von Glück sagen, dass er den Milzbrand überlebt hatte. Nur durch Gottes Gnade war das brennende Fieber zurückgegangen, waren die aufgeplatzten Geschwüre grindig abgeheilt. Der Lohmühlenbesitzer wusste genau, was er jetzt an ihm hatte. Denn die wenigen Gerber, die das teuflische Feuer überstanden, waren gegen den Milzbrand gefeit. Starben ihm nicht mehr weg wie die Fliegen. Sogar ein paar Kreuzer mehr zahlte er ihm seitdem. Aber was nützten ihm die paar Kreuzer? Eine Frau würde er nie kriegen. So ein stinkendes Mannsbild? Pfui Teufel!

Hannes betrat die Asamkirche und bekreuzigte sich. Hinter dem Portal starrte ihn die Büste des Luziferischen aus hohlen Augen an. Verzog grinsend die fleischlosen Lippen. Schwang die Schere, bereit, den Lebensfaden verdammter Sünder zu durchtrennen.

Hannes tauchte die Hand ins Weihwasserbecken, bekreuzigte sich noch einmal und ging nach vorn in die Kirchenbank. Sank auf die Knie. „Vater im Himmel, vergib uns unsere Schuld.“ Reuig betete er um die Vergebung seiner Sünden. Schwer glitten die Holzperlen des Rosenkranzes durch seine abgearbeiteten Hände. „Heilige Maria Muttergottes, bitt für uns.“

Was war nur in ihn gefahren? Gestern Nacht, als er ausgerechnet in den Garten der Walburga geschlichen war, um ihrem Huhn den Garaus zu machen? Noch nie hatte ihn jemand erwischt, wenn er Hühner einfing, ihnen ruckzuck den Hals umdrehte, um sie unter den Finsteren Bögen zu verkaufen. Aber das Viech von der Walburga hatte geplärrt wie am Spieß. Wie eine Furie war die Alte aus dem Haus geschossen.

„Elendiger Hühnerdieb, elendiger! Mein letztes Huhn! Verflucht sollst sein bis in alle Ewigkeit. Im Höllenfeuer sollst schmoren bis zum Jüngsten Tag!“

Vor lauter Schreck hatte er das halbtote Huhn fallen lassen, war gerannt, so schnell er konnte. Ein Fluch von der Walburga wog schwer. Wusste doch jeder, dass sie eine Hex war. Mit ihren Kräutern, die Wunder bewirkten. Hatte sie nicht auch bei ihm ein Wunder vollbracht? Als sie ihm wegen dem Milzbrand das Bein abnehmen wollten, das brandig verfärbte? Tagelang hatte Walburga ihm breiige Umschläge aufgelegt, Gebete gemurmelt, ihm bittere Tränke eingeflößt. Bis er gesund war. Und jetzt verdammte ihn ihr Fluch.

Sein Blick fiel auf den Seitenaltar. In dem gläsernen Sarkophag ruhte, gebettet auf Spitzenkissen, das Skelett des heiligen Viktor. Hannes stand auf und besah sich den Heiligen genauer. Das fleischlose Gerippe, sorgsam umwickelt mit brokatenen Bordüren, und das eingetrocknete, mit einem Krönchen verzierte Haupt, ruhten friedlich auf dem Kissen. Um die Fingerglieder wanden sich glitzernde Perlenketten, um die Beine zart gehäkelte Goldfäden.

Hannes stutzte. Mit dem großen Zeh stimmte was nicht. Ganz komisch stand er ab, nur ein dünner Silberdraht hielt ihn noch am Fuß. Hannes blickte sich um. Der Mesner, vorhin noch mit den Altarkerzen beschäftigt, war in die Sakristei verschwunden. Hannes stieg auf den Altartisch, zog sein Taschenmesser aus der Hose, klappte es auf und schob die Klinge vorsichtig in die goldene Lötnaht des Sarkophagdeckels. Drückte ein bisschen nach, nackelte ein bisschen herum, dann ging es ganz leicht. Er hob den Deckel, beugte sich in den Sarkophag, drehte am Zeh, löste ihn und nahm ihn an sich. Klappte den Deckel leise zu und sprang vom Altartisch herunter.

Ehrfürchtig betrachtete er die Kostbarkeit. Wenn man durch die Heilige Wandlung und den Verzehr einer Hostie göttliche Gnade erlangen konnte, dann bestimmt noch mehr durch den Zeh eines Heiligen. Entschlossen steckte er den Zeh in den Mund, schob ihn mit der Zunge von einer Backe zur anderen, dann biss er kräftig zu. Bekreuzigte sich und schluckte den Zeh hinunter. Spürte sofort: Er würde der himmlischen Seligkeit teilhaftig. Voller Inbrunst gelobte er: Nie mehr würde er den Armen etwas wegnehmen, nur noch den Reichen.

Mit den besten Vorsätzen machte Hannes sich auf zu seiner Arbeit in der Gerberei. Mit einem Schaber kratzte er Fleischreste von den Tierhäuten. Vorsichtig, damit sie keine Risse bekamen. Er wuchtete die Häute in den Kälkbottich, tauchte sie mit einem Holzprügel ein in die ätzende Brüh. Er schabte, rührte, stundenlang. Streckte den wundgearbeiteten Rücken. Für heute war Schluss. Wässern und aufspannen würde er die Häute morgen.

Er zog den Lederschurz aus und zwängte die aufgequollenen Füße in derbe Holzschuhe. Nichts wie weg! Hin zu seinen Kumpanen unter den Finsteren Bögen. Jeden Abend traf er sie, die Bettler, Säufer und Krüppel, die mit ihrem Diebesgut prahlten. Es verschacherten an die Hehler, die dort ab Einbruch der Dunkelheit herumschlichen. Von den Ausgestoßenen störte sich keiner an seinem Gestank.

„Da, nehmts.“ Hannes knöpfte die Enden des zerschlissenen Tuchs auseinander.

Gierig stürzten sich die Bettler auf Wurstzipfel, Knochen zum Abfieseln und die Brotkanten, die Hannes hinter einer Wirtschaft aufgeklaubt hatte. „Und? Gibt’s was Neues?“

„Könnt schon sein.“ Der Krüppel, der seinen Armstumpf jeden Tag vor der Frauenkirche in die Höh reckte, raunte: „Vom ‚Goldenen Licht‘ kommt immer eine heraus. Mit einem Korb in der Hand. Rat einmal, was in dem drin ist.“

„Jetzt red endlich!“ Ungeduldig trat Hannes von einem Fuß auf den anderen. „Sonst kannst dein Essen morgen vergessen.“

„Lauter Geld ist drin. Hab’s mit eigenen Augen gesehn.“

„Verzähl doch keinen Schmarrn.“

„Geh doch hin und schau’s dir selber an.“ Der Krüppelige rülpste und lehnte sich beleidigt an die Wand.

„Ich werd das ‚Goldene Licht‘ im Aug behalten. Und weh, du hast gelogen! Weiß sonst noch jemand was?“

Ein Verbuckelter, der zahnlos das Brät aus einer Wursthaut zuzelte: „Könnt sein, dass es auch beim Kramer was zum Holen gibt. Lauter neue Möbel habens hingeschafft.“

Hannes stopfte das Tuch in die Hosentasche. „Haltets die Augen offen, sonst bring ich euch nix mehr.“

Hannes ging durchs Tal und weiter bis zur Isar, wo er fast täglich mit den Beutelschneidern übte. So was wie neulich durfte ihm nicht mehr passieren. Auf dem Marienplatz war ihm ein gut gekleideter Herr aufgefallen, aus dessen Manteltasche ein Lederbeutel herausschaute. Er nix wie hin. Als er die Finger fast schon am Beutel hatte, war er mit dem Daumen am Stoff hängengeblieben. Den Schlag, den ihm der Herr ins Gesicht versetzt hatte, spürte er heute noch. Doch die Ohrfeige war nicht das Schlimmste gewesen, sondern der empörte Ruf: „Ein Dieb! Haltet den Dieb!“ Und das ausgerechnet vor der Hauptwache. Nur mit knapper Mühe konnte er in die Weinstraße flüchten.

Doch seit er mit den Dieben probte, die zum Üben Glöckerl an eine alte Hose banden und diese an einen Ast hängten, war ihm so ein Missgeschick nicht mehr passiert.

Hannes spuckte in die Hände: „Und? Hat’s schon einer geschafft?“

Ein Haderlump schwenkte seine leere Bierflasche. „Bis jetzt noch nicht.“

„Dann lassts mich mal.“ Hannes rieb seine Finger, spreizte sie, beugte sie. Stellte sich vor die Hose, die sanft im Wind schaukelte.

„Wenn die so wackelt, dann schaffst es nie.“ Gespannt beobachteten ihn die Diebe, hielten die Luft an, um auch das leiseste Glöckerl zu hören.

Geschickt fingerte Hannes in die Hosentasche, zog zwischen Zeige- und Mittelfinger den Kreuzer hervor. Warf ihn johlend in die Luft. „Das macht mir keiner nach.“

„Dafür bin ich schneller als wie du, wenn’s ums Weglaufen geht. Aber jetzt gib her.“ Mit geübtem Griff nahm ihm der Haderlump den Kreuzer wieder ab.

„So haben wir nicht gewettet!“ Hannes schlug ihm das Geldstück aus der Hand, fing es in der Luft auf und schloss die Finger fest um seinen Gewinn.

Ein Bettler kam mit erhobener Faust auf Hannes zu. „Uns was wegnehmen willst? Wo du einer von uns bist? Das trau dich!“

Hannes wich einen Schritt zurück. „Du kannst mich mal.“ Rasch ließ er den Kreuzer in seiner Hosentasche verschwinden. „Jetzt geh ich auf ein Bier. Dafür kommt mir das Geld grad recht.“

„Du Sauhund!“ Der Bettler holte aus zum Schlag, Hannes duckte sich weg und machte sich, ohne auf das Geschrei der heruntergerissenen Gesellen zu achten, davon.

„Gustl, schieb eine Halbe rüber.“

Gustl, der im Erdgeschoss eines Herbergshauses einen Gassenausschank betrieb, von dem aus er die ganze Straße überblicken konnte, schob das Bierseidel über den Tresen. „Kannst auch zahlen?“

„Für ein Bier reicht’s.“

Der Gustl schlug nach der Schmeißfliege, die über den Tresen brummte. „Ich weiß nicht mehr, wie’s weitergehen soll. Jetzt wohnt auch noch die Großmutter mitsamt ihrer Schwindsucht bei uns. Mit einem Vorhang haben wir ihr ein Zimmereck abgeteilt. Kannst dich kaum noch rühren in der Kammer. Schlafen kannst auch nicht mehr. Mit der ihrer Husterei die ganze Nacht.“

„Wenigstens hast ein Dach überm Kopf.“

„Aber was für eins. Beim letzten Unwetter ist uns die Kammer vollgelaufen. Jetzt ist der Schwamm in alle Wänd. Schaus dir doch an.“ Er deutete auf die windschiefen, aneinandergebazten Häuser. Die Regentraufen schepperten im Wind, in den Fenstern schlackerten zerrissene Planen. Ein kleines Mädel bog um die Ecke.

„Hannerl!“, rief der Gustl wütend. „Sofort kommst her! Schau dich bloß an. Von oben bis unten bist voller Dreck.“ Er gab dem Mädel eine Ohrfeige, dass es nur so schallte.

„Ich kann doch nix dafür. Ausgerutscht beim Fangermandl bin ich.“ Schluchzend wischte sich das Hannerl den Rotz von der Nase. Presste ein Holzscheit mit aufgemalten Augen an sich.

Ihre vier Brüder kamen daher gerannt, blieben stocksteif stehen und hielten Abstand zum Vater. Sogar die Hunde, die im Unrat scharrten, verdrückten sich.