Das Testament Donadieu - Georges Simenon - E-Book

Das Testament Donadieu E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Als Oscar Donadieu, erfolgreicher Reeder und Oberhaupt einer einflussreichen Großfamilie aus La Rochelle, als vermisst gemeldet wird, ist die Aufregung in der Hafenstadt groß. Wenig später wird der Zweiundsiebzigjährige tot aus einem Kanal geborgen. Unwahrscheinlich, dass es sich um einen Unfall oder um Selbstmord handelt. Er muss ermordet worden sein. Doch von wem? Und dann ist da noch das Testament, das für einen handfesten Skandal sorgt - und das auf einmal alles bröckeln lässt, was sich die stolze Dynastie über Generationen erarbeitet hat ...

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Georges Simenon

Das Testament Donadieu

Die großen Romane – Band 19

Aus dem Französischen von Eugen Helmlé

Mit einem Nachwort von Pia Reinacher

Hoffmann und Campe

Für Professor Lucien Pautrier

in Zuneigung.

G. S.

Ich dachte, es sei jetzt, im Juli 1936, vielleicht noch Zeit, die Geschichte der Donadieus zu schreiben.

Georges Simenon

Erster TeilDie Sonntage von La Rochelle

1

Die Platzanweiserin durchquerte den Vorraum, öffnete die Glastüren sperrangelweit, streckte die Hand vor, um sich zu vergewissern, dass es nicht mehr regnete, und ging wieder hinein, wobei sie ihre schwarze Strickweste über der Brust zuknöpfte. Wie auf ein Signal verließ nun auch die Frau, die Karamellbonbons, Erdnüsse und Nougatstangen verkaufte, den überdachten Türeingang und ging zu ihrem Stand hinüber, den sie am Rande des Bürgersteigs aufgebaut hatte.

Drüben an der Ecke der Rue du Palais, der Polizist … Alles hier war Ritual, griff ineinander, nach verlässlichen Gesetzen. Denn man war in La Rochelle, und das gelbe Band mit der Aufschrift Neues Programm auf den Kinoplakaten genügte, um zu wissen, dass Mittwoch war, während anderswo der Wechsel freitags oder samstags oder montags stattfand.

Über dem Karren der Süßwarenverkäuferin war ein Regenschirm aufgespannt, und die Zuschauer, die endlich aus dem Kino kamen, streckten, wie vorher die Platzanweiserin, die Hand vor. Fünfzig, hundert Personen vielleicht sagten, als sie auf den Bürgersteig traten, der eine zu seiner Frau, die andere zu ihrem Mann:

»Sieh an! Es regnet nicht mehr …«

Aber es war kühl. Es hatte sozusagen keinen Sommer gegeben. Das Casino du Mail hatte vierzehn Tage früher als üblich geschlossen, und schon jetzt, Ende September, hätte man glauben können, man sei mitten im Winter. Und der Himmel war in dieser Nacht zu hell, mit blassen Sternen, unter denen tiefhängende Wolken schnell hinwegzogen.

Zehn Autos, fünfzehn Autos? Anlasser wurden betätigt. Scheinwerfer leuchteten auf, und die Wagen fuhren langsam in dieselbe Richtung, ohne zu hupen, wegen des Polizisten, und gaben erst Vollgas, als sie die Menschenmenge hinter sich gelassen hatten.

Es war ein Mittwoch wie jeder andere. Zwei weitere Dinge wiesen darauf hin, dass man nur in La Rochelle sein konnte. An der Straßenecke schauten die Leute gewohnheitsmäßig zum Uhrturm hinauf: es war fünf Minuten vor Mitternacht. Im Alhambra endete die Vorstellung nie vor elf Uhr wie in anderen Kinos, wegen der Varieténummer, die fest zum Programm gehörte.

Das Zweite war der Lärm, den man schon gar nicht mehr hörte, weil man daran gewöhnt war: ein dumpfes Platschen hinter den Häusern, und dazu, schrill, das Quietschen der Flaschenzüge auf den Fischerbooten. Ohne nachzusehen, wusste jeder, dass das Wasser im Hafenbecken, durch die Flut angestiegen, die Quais erreichte und die Schiffe nun direkt aus dem Pflaster herauszuwachsen schienen.

Unterdessen betrat der Kinobesitzer wie gewohnt den Glaskasten der Kasse, wo eine alte Frau, den Hut bereits auf dem Kopf, ihm den gelben Umschlag mit den Einnahmen und den auf die Rückseite mit Bleistift gekritzelten Zahlenreihen übergab. Sie wechselten ein paar Worte, die von draußen nicht zu verstehen waren. Der Barmann ging als einer der Letzten.

Der Kinobesitzer brauchte nur noch die Türen zu schließen und zum Schlafen in die Kammer hinaufzugehen, die er sich neben der Vorführkabine eingerichtet hatte. Der Kinosaal war kalt und leer, nur eine einzige Nachtlampe ließ noch seine Ausmaße erahnen.

»Gute Nacht, Madame Michat.«

»Gute Nacht, Monsieur Dargens.«

Und schon eilte die Kassiererin davon, wobei sie sich wie jede Nacht an jeder Straßenecke ängstlich umdrehte. An der Ecke zur Rue du Palais stieß sie beinahe mit einem jungen Mann zusammen, der eine Zigarette rauchte und am Rand des Bürgersteigs wartete.

»Oh! Entschuldigen Sie, Monsieur Philippe … Ich habe Sie erst nicht erkannt …«

»War viel los?«, fragte der junge Mann.

»Sechshundertfünfzig Franc.«

Es war Philippe Dargens, der Sohn des Kinobesitzers. Er warf seine Zigarette fort, zündete sich eine neue an und schaute gelangweilt zum Uhrturm hoch. Dann erst bog er langsam in ein Gässchen ein, das in vielen Schleifen zum Stadtpark führte.

Jedermann ging jetzt nach Hause, man hörte Schritte, die plötzlich innehielten, Türen, die auf- und wieder zugingen, Stimmen – die Leute waren sich offenbar nicht bewusst, dass sie nachts in menschenleeren Straßen weithin zu hören waren.

Salzig feuchte Luft, die auf der Haut klebte, zog vom Hafen herüber. Philippe schlug den Kragen seines Regenmantels hoch und beleuchtete seine Armbanduhr mit der Zigarette.

Ein letztes Auto – zwei Scheinwerfer in der Ferne – verließ den Park, wo es noch von den Blättern der Bäume tropfte. Der junge Mann bog nach rechts ab und ging an den Mauern der Gärten entlang. Diese Gärten gehörten zu den Häusern der Rue Réaumur, deren Fronten nach der anderen Seite zeigten, stattliche Häuser, die meisten von ihnen Villen.

Ein kleines Gartentor öffnete sich, eine Gestalt erschien, oder besser, ließ sich erahnen, und der junge Mann schlüpfte in das Dunkel, nachdem er zuvor seine Zigarette weggeworfen und ausgetreten hatte.

»Warum sind Sie gestern nicht gekommen?«, stammelte eine Stimme.

Er zuckte nur die Achseln, was seine Gesprächspartnerin nicht sehen konnte. Um sich verständlich zu machen, kniff er sie in den Arm.

Die Platanen und Kastanienbäume hoben sich dunkel gegen den Nachthimmel ab. Auf den Gartenwegen lag schon welkes Laub. Das Haus im Hintergrund war nur ein Tintenfleck, allein das Schieferdach war von Mondlicht schwach erhellt.

»Bleiben Sie, nur eine Minute …«, flehte die Stimme.

»Pst … Nachher …«

»Hören Sie, Philippe …«

»Pst!«

»Schwören Sie mir …«

Es war ein denkbar unangenehmer Augenblick: Zwanzig Meter Garten waren zurückzulegen, bevor man zu einem weiteren niedrigen Tor gelangte, das in den Nachbargarten führte. Kaum eine Minute! Aber eine Minute, in der sich die schmächtige Gestalt Charlottes an ihn klammerte, flehend und drohend zugleich, eine gefährliche, peinliche, ja unheilvolle Minute.

»Nachher …«

»Am Montag haben Sie dasselbe gesagt, und doch sind Sie weggegangen, ohne …«

Er packte sie an beiden Schultern, schwächlichen Schultern, die in rauen Wollkleidern steckten, und gab ihr einen Kuss irgendwohin, in einen Augenwinkel, was ihn einige Überwindung kostete.

»Pst! … Ich werde bestimmt kommen, ich schwöre es, meine kleine Charlotte …«

Sie zog die Nase hoch. Er wusste genau, dass sie, bis er wiederkam, eine Stunde, zwei Stunden lang weinend und fröstelnd hinter dem Gartentor auf ihn warten würde.

Ihre Sache! Sobald er allein in dem andern Garten war, dachte er schon nicht mehr daran, und sein Gang wurde geschmeidiger und energischer.

Ihr Problem! Anders ließ es sich nicht ausdrücken. Er hatte nicht anders handeln können und mochte lieber nicht an nachher denken und auch nicht an Charlottes klamme Umarmung vorhin und an ihre atemlosen Fragen.

Er streifte Eisenstühle, einen Gartentisch, ging über eine Rasenrabatte, um den knirschenden Kies zu meiden, und sah schon, wie ein Widerschein sich auf der Scheibe bewegte, als er noch etwa vier Meter entfernt war.

Kein Licht im Haus. Das Fenster öffnete sich langsam, wie von selbst, so wie vorher das Tor zum Garten. Ohne sich um die weiße Gestalt zu kümmern, die er im Zimmer erahnte, bog Philippe einen Rosenzweig zurück, den er kannte, wie man den Lichtschalter in seinem Zimmer kennt, setzte den Fuß auf eine steinerne Fensterbank, dann ein Knie auf den Fensterrahmen und war drinnen.

Das halb offene Fenster ließ einen frischen Luftzug herein, die Vorhänge flatterten, und ein Bett, in dem jemand gelegen hatte, kühlte aus, während Philippe sich besorgt fragte, warum die Lippen auf den seinen weniger nachgiebig waren als sonst.

Er wunderte sich auch, dass Martine unter ihrem Nachthemd ihre Unterwäsche anbehalten hatte und dass ihr Körper sich seiner Umarmung widersetzte.

»Was hast du?«, hauchte er, so leise, dass man ihn sehr gut kennen musste, um ihn zu verstehen.

Trotz der Dunkelheit konnte er ihr sehr blasses Gesicht erkennen und ihre fiebrigen Augen, und er spürte – er wusste es einfach! –, dass etwas Ungewöhnliches vorgefallen war.

Er hatte Martine zum Bett hinüberziehen wollen, aber sie schob ihn energisch zum Fenster zurück, wo sie seine Gesichtszüge besser sehen konnte.

»Schau mich an«, sagte sie und umklammerte seine Handgelenke, damit er sie nicht umarmen konnte.

»Was hast du, Martine?«

Und gerade weil sie ihn darum gebeten hatte, wagte er nicht, sie anzuschauen, so als hätte er etwas vor ihr zu verbergen.

»Schau mich an, Philippe …«

In Martines Haltung lag etwas Dramatisches, sie hatte Angst. Ein Knacken, ein etwas lauter gesprochenes Wort, und schon würde das Haus wach werden.

Wer? Martines fünfzehnjähriger dickköpfiger, ewig argwöhnischer Bruder, der im Nebenzimmer lag? Oder ihre Mutter, die zwei Zimmer weiter schlief?

Das Haus war von oben bis unten mit Donadieus bevölkert, mit alten und jungen, mit Brüdern, Söhnen, Schwiegertöchtern, und er stand mit der jüngsten Tochter, der gerade mal siebzehnjährigen Martine, am Fenster.

Es war nicht das erste Mal, aber plötzlich wurde ihm angst und bange vor diesen starren Augen, in denen keine Zärtlichkeit lag.

»Schau mich an!«

Und wieder entwand sie sich ihm, die doch sonst so anschmiegsam war …

»Sei ehrlich, Philippe …«

Anders als sonst war sie es, die die Stimme erhob, auf die Gefahr hin, eine Katastrophe auszulösen, und er wusste nicht, wie er sie zum Schweigen bringen sollte.

»Wo ist mein Vater? Was ist passiert?«

»Dein Vater?«

Er wusste es nicht! Seine Finger verkrampften sich. Vielleicht wäre diese Geschichte anderswo ganz einfach gewesen: ein Missverständnis sicherlich oder aber eine Laune der überreizten, nervösen Martine.

»Antworte!«

»Ich weiß es nicht.«

Wie soll man mit Nachdruck »ich weiß es nicht« sagen, wenn man dabei flüstern muss? Und wie soll man zeigen, dass man wirklich nichts weiß, wenn es ringsumher stockdunkel ist?

»Du wirst dich erkälten«, wagte er zu sagen, als er sah, dass sich ihr Nachthemd bei einem Windstoß bauschte.

»Ich will es wissen, Philippe! Schau nicht weg. Hast du etwas getan, sag?«

»Glaub mir, ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

»Du lügst! … Ich weiß, dass du fähig bist zu lügen … Philippe! …«

Es war ein geradezu verzweifelter Appell. Er sah immer noch den fahlen Fleck des Bettes, und ganz nah, zu nah, ihren bohrenden Blick …

»Philippe! …«

»Ich komme doch gerade aus Bordeaux … Ich habe keine Ahnung …«

Sie war immer noch angespannt. Nun wurde sie auch ungeduldig, und es sah so aus, als wollte sie gleich losweinen oder aus der Haut fahren.

»Hast du deinen Vater nicht gesehen?«

»Doch, fünf Minuten lang, vorhin im Kino.«

»Hat er dir nichts gesagt?«

»Aber nein!«, schrie er fast.

Jetzt schaute sie zu Boden, immer noch unnahbar, immer noch nicht überzeugt.

»Ich weiß nicht mehr …«, stammelte sie. »Wenn es wahr wäre … Dabei könnte ich schwören, dass du …«

Sie rang dramatisch die Hände.

»Martine …«

»Nein … Lass mich los … Nicht jetzt …«

»Was ist denn los?«

Noch ein forschender Blick in das vom Mond nur schwach beschienene Gesicht des jungen Mannes und schließlich eine mutlose Geste.

»Ich weiß es nicht mehr … Ich glaubte … Du bist vielleicht dazu fähig … Ja! Du bist bestimmt zu allem fähig …«

»Martine!«

Das Schlimmste war, dass sie immerzu auf das schlafende Haus achten mussten!

Am Ende gab das Mädchen nach, müde, ohne die Kraft, noch länger zu kämpfen.

»Mein Vater ist seit Samstag verschwunden.«

Und wieder betonte sie dieses Wort, das im Verlaufe ihrer zusammenhanglosen Unterhaltung nun schon mehrmals gefallen war:

»Samstag!«

Der Tag, an dem er zum letzten Mal hergekommen war … Dann war er nach Bordeaux gereist … Und sie … Hatte sie nicht geglaubt, er würde an diesem Abend nicht kommen, er würde nie wiederkommen? …

Er wiederholte verstört:

»… Samstag? …«

Es war Charlotte, die als Erste etwas gewittert hatte. Aber Charlotte witterte tatsächlich immer und überall Unheil.

Am Sonntagmorgen kleidete sich Madame Brun um Viertel vor zehn in dem alten, dreiflügligen Herrschaftshaus, das neben der weniger alten Villa der Donadieus lag, zur Messe an. Es herrschte wie immer eine Stille wie in einem Museum: Spiele von Licht und Schatten, die von den kleinen Butzenscheiben gelenkt wurden, tausend in der Bewegung erstarrte Nippfiguren aus Silber oder Porzellan, aus Perlmutt oder Koralle und an den Wänden auf alten, nachgedunkelten Stichen erstarrtes Lächeln und Unmengen winziger Goldpunkte, die die Zeit darauf hinterlassen hatte.

Charlotte ging in die Siebenuhrmesse. Sie war bereits beim Abendmahl und einkaufen gewesen. Sie hatte sich umgezogen, trug ihr Alltagskleid und half nun Madame Brun in ihr schwarzes Seidenkleid und hakte das breite Moiréband zu, das den Hals ihrer Herrin so gerade und so lang machte wie den der Schwäne im Stadtpark.

»Die Donadieus gehen ohne den Reeder zur Messe!«, bemerkte sie plötzlich, trotz der Nadeln, die sie zwischen den Lippen hielt.

Und Madame Brun hätte sich beinahe gestochen, so erstaunlich war diese Nachricht. Oscar Donadieu, der Reeder genannt, ging nicht an der Spitze seiner ganzen Familie zur Messe!

»Bist du sicher?«

»Madame kann sich ja selbst überzeugen …«

Es war eine Koketterie Charlottes, die mehr Gesellschaftsdame war als Dienstmädchen, dass sie von Zeit zu Zeit die dritte Person Einzahl gebrauchte.

In der stillen Rue Réaumur war gerade die grüne Flügeltür zum Anwesen der Donadieus, an der ein großer kupferner Türklopfer prangte, geöffnet worden.

Auf dem Bürgersteig bildete sich eine Art Prozession, allerdings eine, bei der der liebe Gott fehlte.

Zuerst kam Martine Donadieu in Weiß (das Kleid, das sie an allen Sommersonntagen getragen hatte), ihr Messbuch in der Hand; sie ging neben ihrem Bruder Oscar, der seine ersten langen Hosen trug.

So manches Mal hatte Madame Brun, während die beiden Frauen in einer Ecke ihres Museums nähten und stickten, über die siebzehnjährige Martine gesprochen.

»Ich bin sicher, sie ist die Intelligenteste in der Familie«, sagte sie. »Sie hat den Blick ihres Vaters …«

Und sie sah nicht das bittere Lächeln auf dem reizlosen, verblühten Gesicht von Charlotte.

»Der Junge dagegen scheint bei der Verteilung der geistigen Gaben etwas zu kurz gekommen zu sein. Er wirkt ein wenig einfältig.«

An diesem Sonntag kamen, wie an den andern Sonntagen, hinter Martine und Oscar die Enkelkinder, Jean und Maurice, beide im Matrosenanzug.

Dann die ›Großen‹, Michel Donadieu und seine Frau Éva, die exzentrischer war als die anderen. Der Schwiegersohn, Jean Olsen, und seine Frau Marthe, geborene Donadieu.

Schließlich die Königinmutter, wie Charlotte sagte, Madame Donadieu höchstpersönlich, imposant, gehbehindert, die sich mit Hilfe eines Stocks auf ihren dicken Beinen vorwärtsbewegte.

»Tatsächlich, der Reeder ist nicht da …«

Aber das allein wäre noch nicht beunruhigend gewesen …

Sofort nach der Messe wurde der große blaue Wagen herausgeholt, eine zehnjährige, zehnplätzige alte Limousine mit Kupferscheinwerfern, Polsterkissen und eingehängten Blumenvasen aus Kristall. Michel Donadieu, der älteste Sohn, nahm allein darin Platz und fuhr mit dem Chauffeur weg, während am Fenster der alten Nachbarvilla Madame Brun und Charlotte das Ereignis kommentierten.

»Da ist sicher etwas im Gang!«

Noch nie zuvor war das Haus Donadieu ein Ort für Überraschungen gewesen. Das Kommen und Gehen dort war so streng geregelt, dass man sich danach in La Rochelle ebenso verlässlich richten konnte wie nach der Turmuhr.

Oscar Donadieu war der Reeder. Ein Vorbild, das Oberhaupt der Familie, oder besser, des Clans – was schon allein daraus ersichtlich wurde, dass sich ihm fünf andere protestantische Familien (alle auch Reeder!) angeschlossen hatten, als er vor fünfzehn Jahren zum Katholizismus übergetreten war.

Und er war eine Stütze der Gesellschaft: ein Klotz von einem Meter achtzig, kerzengerade gewachsen, unerschütterlich trotz seiner zweiundsiebzig Jahre, unerschütterlich auch in seinen Überzeugungen und in seiner Moral, sodass er bei allen Konflikten als Schiedsrichter gerufen wurde.

Die eigentliche Festung Donadieu lag nicht in der Rue Réaumur. Sie erhob sich am Quai Vallin, vor dem Hafen: ein strenges, vierstöckiges Gebäude, in das kaum Sonne fiel und wo jedes der dreißig Büros wie eine Sakristei war.

Gegenüber die Kohlenhaufen: die Kohle der Donadieus. Kohlenschiffe, die gerade entladen wurden: die Kohlenschiffe der Donadieus. Fischkutter, die vor Eisenbahnwaggons und Kühlwagen verankert waren: die Fischkutter, Eisenbahnwaggons und Kühlwagen der Donadieus!

Jeden Morgen um zehn vor acht verließen drei Männer das Haus in der Rue Réaumur: der Reeder, sein Sohn Michel, der ihm trotz seiner siebenunddreißig Jahre wie ein schüchterner Schüler hinterhertrabte, und sein Schwiegersohn Olsen, der ein echter Donadieu geworden war, zuverlässig und ehrbar.

Jeder von ihnen belegte am Quai Vallin ein Stockwerk, eine Abteilung, ein Büro mit gepolsterter Tür.

Auch im Haus bewohnte jeder von ihnen eine Etage: der Reeder mit seiner Frau und seinen beiden jüngsten Kindern, Martine und Oscar, das Erdgeschoss; Michel, der älteste Sohn, mit seiner Frau und seinen beiden Kindern den ersten Stock; Olsen und seine Frau, geborene Donadieu, mit ihrem siebenjährigen Sohn den zweiten Stock.

Madame Brun und Charlotte kannten, Stunde für Stunde, Minute für Minute, alle Rituale des Hauses. Und jetzt war der Reeder am Sonntagabend noch nicht nach Hause gekommen, und am Montag gingen der Sohn und der Schwiegersohn nicht zur gewohnten Zeit ins Büro, sondern diskutierten lange im Park miteinander.

»Glaubst du, dass er verreist ist?«, fragte Madame Brun Charlotte.

Und Charlotte spitz:

»Dann wären sie nicht so aufgeregt!«

»Na, was meinst du?«

»Wer weiß, wer weiß …«

Das war ihre stehende Redensart. Eine merkwürdige Person, diese Charlotte. Sie war klein, fast wie ein Zwerg, und hatte ein zerknittertes Gesicht mit scharfen Zügen. Bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahr war sie Dienstmädchen in einem Kloster gewesen, dann war etwas Schlimmes passiert, über das sie nie sprach, eine Unterleibsoperation, und Madame Brun hatte sie bei sich aufgenommen. Charlotte war wie substanzlos, geschlechtslos, allein darauf bedacht, ihrer Herrin zu dienen, ihr die Stunden zu verschönern in dem riesigen leeren Haus, das von einem Gärtnerehepaar, das in dem Pavillon im Hof wohnte, wie von Schäferhunden bewacht wurde.

Dienstagmittag. Charlotte ruft:

»Kommen Sie, schnell!«

Sie hat die dritte Person vergessen, sie ist aufgeregt. Und dazu besteht in der Tat Anlass! Michel Donadieu kommt in Begleitung des Staatsanwalts, Monsieur Jeannet, aus der Stadt zurück, und man kann sich vorstellen, dass in dem Salon im Erdgeschoss, wo Töchter und Schwiegertochter, Söhne und Mutter sich versammelt haben, ein großer Kriegsrat abgehalten wird.

»Wenn da ein Unglück passiert ist, würde mich das nicht wundern …«

Hatte Charlotte wirklich die Gabe des Zweiten Gesichts? Von einem tatsächlichen Unglück war noch nichts bekannt. Trotzdem war Oscar Donadieu, der Fels, ganz plötzlich verschwunden!

Am Samstagabend war er wie gewöhnlich zum Cercle Rochelais an der Place d’Armes aufgebrochen. Samstags, und nur an diesem Tag, weil er sonntags nicht arbeitete, konnte er bis Mitternacht wegbleiben und Bridge spielen, einen halben Centime pro Punkt.

Am Sonntagmorgen war er allerdings noch nicht wieder zu Hause. Man hatte nicht gewagt, die Messe zu versäumen. Aber sofort danach war Michel, der Älteste, zu dem kleinen Schloss der Familie in Esnandes gefahren, nachdem man vergeblich versucht hatte, dort jemanden telefonisch zu erreichen.

»Nichts!«, hatte er verkündet, als er zurückkam.

Es war der einzige Tag in der Woche, an dem sich die drei Haushalte traditionell auf Oscar Donadieus Befehl im Erdgeschoss versammelten. Man hatte die Lage erörtert. Die Schwiegertochter hatte den Vorschlag gemacht, die Polizei zu benachrichtigen, aber sie war nur eine Schwiegertochter, die den Reeder schlecht kannte, sonst hätte sie nicht so gesprochen.

Vor allem kein Skandal. Oscar Donadieu war der Herr im Hause. Er allein konnte darüber entscheiden, was zu tun war. Doch er war nicht da …

Am Montag hatte Charlotte von ihren vielen Beobachtungsposten in der Nachbarvilla aus ein für einen Wochentag ungewohnt reges Hin und Her zwischen den Stockwerken festgestellt.

Und schließlich der Besuch des Staatsanwalts …

»… diskrete Nachforschungen … kein Wort darüber in den Zeitungen …«

Und an diesem Mittwoch, um ein Uhr morgens, vergaß Martine Donadieu die Liebe, vergaß das Bett mit den kühlen Laken und bombardierte Philippe mit Fragen, wie bei einem Verhör, wobei sie ihre Stimme nur mit Mühe dämpfen konnte.

»Bist du sicher, dass dein Vater dir nichts gesagt hat?«

»Ganz sicher.«

»Er ist der Letzte, der meinen Vater gesehen hat … Sie haben zusammen den Club verlassen …«

Welche Verdächtigungen, welche Mutmaßungen verrieten diese Worte doch! Philippe selbst war nicht mehr so unbefangen wie zuvor. Seine Stirn legte sich in Falten.

»Ist eine Untersuchung eingeleitet worden?«, fragte er.

»Ja, in aller Diskretion … Man hat sie beide weggehen sehen … Seitdem …«

Sie vergaßen die anderen Hausbewohner, und ihre Stimmen wurden, ohne dass sie es merkten, lauter.

»Mein Vater ist nicht fähig …«

»Philippe! Sieh mich wieder an …«

Zu viel war geschehen, zu schnell, in zu kurzer Zeit! Sie standen hier voreinander, fast wie Feinde. Es hätte langer Erklärungen und Beteuerungen bedurft, Offenheit und Ehrlichkeit.

»Martine! …«

Schon begann sie weich zu werden. Sie konnte nicht mehr länger so stehen bleiben, barfuß, angespannt, und er spürte, dass sie sich gleich in seine Arme schmiegen würde.

»Ich schwöre dir beim Leben meiner Mutter …«, begann er.

Er hielt plötzlich inne. Auch Martine erstarrte. Unter der Tür wurde plötzlich ein Lichtstreif sichtbar, der länger wurde, einen Winkel bildete, dann zwei. Die Flügeltür ging auf.

Instinktiv klammerte sich Martine an Philippe, der nicht die Geistesgegenwart besaß, sich hinter dem Vorhang zu verstecken.

»Was ist?«

Es war unheimlich: die Silhouette dieses großen Jungen im Schlafanzug, der mit zusammengekniffenen Augen aus seinem hellen Zimmer in das dunkle seiner Schwester trat.

»Martine!«, rief er mit schläfriger Stimme, die wie aus einem Traum zu kommen schien.

»Pst! … Ich bin hier …«

Die Liebenden wagten nicht, sich zu bewegen. Immer noch verschlafen, tastete Kiki sich barfuß vorwärts und sah Philippe ins Gesicht.

»Kiki! …«

So nannte man den Jungen im Haus, als ob der Vorname seines Vaters zu schwer für ihn sei.

»Kiki! … Bitte …«

Worauf er plötzlich losschluchzte und sich gleichzeitig, damit ihn keiner hörte, die Hand vor den Mund hielt, während ihn seine Schwester in die Arme nahm.

»Pssst! … Dass Maman nichts hört … Kiki! …«

Er bekam Schluckauf. In seiner Verzweiflung ließ er sich sogar auf den Fußboden gleiten, und seine Schwester legte sich neben ihn, während sie Philippe zuflüsterte:

»Geh … Ich kümmere mich um ihn …«

»Aber …«

»Nein! … Du siehst doch …«

Jedes Mal, wenn der Junge den Eindringling anschaute, wurde er von regelrechten Krämpfen geschüttelt.

»Geh! …«

Philippe stieg über die Fensterbrüstung, spürte wieder den feuchten Boden, die welken, weichen Blätter.

Er hatte eine wahnsinnige Angst gehabt, doch nun war er auf einmal ganz ruhig und unbeteiligt.

›Soll sie zusehen, wie sie klarkommt!‹, dachte er.

Vom Garten aus konnte er noch den Lichtausschnitt der Tür erahnen. Er ging schnell. Er stieß das Gartentürchen auf, das sich hinter ihm schloss, ohne dass er es berührte.

Da rief bereits eine andere Stimme seinen Namen:

»Philippe!«

»Ja …«

»Komm! …«

Zuerst erschien ihm das unmöglich, abstoßend. Er hatte den Eindruck, eine Bombe zurückgelassen zu haben, die jede Sekunde explodieren konnte. Er war darauf gefasst, überall im Haus Licht angehen und Gestalten ziellos umherlaufen zu sehen.

Aber nein! Er hörte nichts als das gewaltige Rauschen des Meeres und das Quietschen der Flaschenzüge, das dem Schrei der Seemöwen glich.

Ihm war klar, was er tat. Er wusste nur nicht, wohin er ging. Er hatte Angst. Er begriff die Bedeutung eines Wortes, das sich ihm als Zusammenfassung all dessen aufdrängte, was er eben erlebt hatte und noch erlebte: widerwärtig.

Widerwärtig, dass er, um zu Martine zu gelangen, sich seit mehreren Monaten die Komplizenschaft Charlottes erkaufte! Und wie erkaufte? Nicht mit Geld, sondern mit geheuchelter Zärtlichkeit! Nicht einmal …

Indem er bewusst, im Grunde hinterhältig, die Sinne des Dienstmädchens weckte, ihr Bedürfnis nach menschlicher Wärme …

Wie die andern Male zog sie ihn zu einem kleinen Gartenhäuschen, das mitten im Park stand und von Kletterrosen umrankt war. Die Rosensträucher hatten ihre Blätter und Blüten verloren, und das Gartenhäuschen glich einem aufgespannten Regenschirm ohne Bespannung. Die feuchte Brise zog ungehindert herein. Das Sofa aus Korbweide war mit einem dünnen Wasserfilm bedeckt.

»Hör zu, Philippe …«

Wie die andere! Was wollten sie ihn nur beide hören lassen?

»Ich bin ganz unglücklich … Ich kann nicht mehr … Philippe! …«

Sie sagte das jedes Mal. Zum Glück sah er sie nicht! In früheren Nächten hatte er es vermocht, mit ihr zu reden, Mund an Mund, ihren mageren Körper an sich zu drücken, unwahrscheinliche Dinge zu erzählen:

»Verstehst du denn nicht, dass ich in meiner Situation …«

Nein! Diesmal wartete er auf eine Explosion, doch das Haus nebenan blieb dunkel. Entgegen seiner Erwartung wurden die Fenster nicht eines nach dem andern hell …

Was mochte Martine zu ihrem Bruder Oscar sagen, auf dem Boden, wo sie neben ihm lag? Sicher mussten beide immer wieder weinen. Sicher flehte Martine ihren Bruder an, sie nicht zu verraten, und stammelte all die Sätze, deren man sich später schämt. Oscar dagegen schlug wahrscheinlich um sich wie in einem seiner Alpträume; denn der Junge schlafwandelte, weshalb seine Eltern vor seinem Fenster Gitter hatten anbringen lassen.

Die Königinmutter schlief.

»Philippe! … Ich spüre genau, dass Sie sie lieben … dass Sie mich nur ausnutzen …«

»Aber nein«, wiederholte er mechanisch.

»Ich weiß nicht, wozu ich fähig bin … Was hat sie zu Ihnen gesagt? Was habt ihr beide getan? …«

»Halt den Mund!«

»Ich habe mir gedacht … Monsieur Donadieu ist nicht zurückgekommen … Philippe! …«

Aus ihrer Stimme hörte er denselben Verdacht heraus wie bei Martine, und einen Augenblick verharrte er wie betäubt in der feuchten Dunkelheit, unter den dräuenden Wolken, die allzu schnell an dem fast klaren Himmel dahineilten.

»Lass mich …«

»Ich habe lange nachgedacht … Ich will Ihnen etwas sagen …«

Das machte ihm Angst. Nein! Man durfte Charlotte keine Zeit lassen nachzudenken. Um seines Friedens willen durchstand er, immer noch in der Erwartung, dass nebenan das Licht aufflammte, eine der schmachvollsten Stunden seines Lebens.

2

Die Leiche Oscar Donadieus wurde am Donnerstag um neun Uhr morgens von einem Fuhrmann gefunden. Es regnete, aber der Himmel leuchtete so weiß, dass man die Augen zusammenkneifen musste und sich sämtliche Konturen hart abzeichneten. Weiß waren auch die meisten Häuserfassaden von La Rochelle, während das vom Nordostwind aufgewühlte Meer bis zu den Türmen hin graue Wellen mit weißen Schaumkronen spülte.

Die Stadt glich an diesem Morgen dem La Rochelle auf den alten Stichen von Madame Brun. Es herrschte Ebbe, das Hafenbecken war fast trocken. Die Fischerboote lagen im Schlick, den man jetzt gut sehen konnte, kompakt und von schmalen Wassergräben durchzogen.

In einem Schaufenster räumte eine Verkäuferin in schwarzer Schürze Schuhe weg. Seit acht Uhr morgens war Michel Donadieu im ersten Stock des Büros am Quai Vallin auf seinem Posten. Ein- oder zweimal hatte er nach der Uhr gesehen, um den passenden Augenblick zu erwischen, an dem er den Staatsanwalt anrufen und ihn um Neuigkeiten bitten konnte.

Doch seit einigen Minuten dachte er nicht mehr daran, denn Benoît, der Kassierer, war mit den Zahlungsanweisungen gekommen, die unterschrieben werden mussten. Benoît, der seit mindestens dreißig Jahren im Haus war, hatte Mundgeruch. Wenn Michel Donadieu, wie jetzt, an seinem Schreibtisch saß, beugte sich der Kassierer herab, um ihm ein Blatt nach dem anderen zur Unterschrift zuzuschieben. Man hatte Benoît diesbezüglich nie etwas zu sagen gewagt, und daran dachte Donadieu um Punkt neun Uhr, während er die Seiten abzeichnete.

Jean Olsen, sein Schwager, der die Fischereiabteilung leitete, war gerade zum Bahnhof gerufen worden, wo es Schwierigkeiten mit einem Kühlwagen gab.

Bigois, der Fuhrmann, kam aus einer kleinen Kneipe gegenüber der Fischhalle. Die Peitsche über der Schulter, stapfte er vor seinem Pferd her und beugte sich, als er am Quai entlangging, vor, um auszuspucken.

Er sah etwas Gelbliches im Schlick. Es war ein leichter Mantel, und als Bigois aufmerksam hinschaute, war er überzeugt, eine Hand zu erkennen.

»Mann! Eine Wasserleiche …!«, brummte er, ohne seine Fassung zu verlieren.

Und mit denselben Worten verkündete er die Neuigkeit dem Polizisten an der Ecke, den Schnurrbart noch feucht von Weißwein.

Die Stelle war denkbar schlecht gewählt. Der schwärzliche Schlick dort war vielleicht einen Meter dick. Der Polizist sah unschlüssig drein und wandte sich dann an zwei Fischer, die stehen geblieben waren.

»Jetzt brauchten wir ein Beiboot«, sagte einer von ihnen.

Der Polizist wusste zwar nicht, was das war, aber er pflichtete ihm bei und fragte den Fischer, ob er denn eines habe.

»Natürlich nicht!«

»Wer hat denn so ein Beiboot?«

Es standen schon zehn Personen um sie herum, die, ohne recht zu wissen, was hier los war, die reglose Gestalt betrachteten. Da niemand die Initiative ergriff, passierte erst einmal nichts. Es war wieder der Fischer, der erklärte:

»Wenn wir ihn dalassen, wird ihn die Flut fortspülen …«

Darauf beschloss der Polizist, von einem Café aus im Kommissariat anzurufen. Als er zurückkam, hatte man ein Beiboot aufgetrieben, eine Art kleines und sehr flaches Boot, das dafür gebaut war, über Schlick zu gleiten. Ein alter Mann mit einem Südwester steuerte es bis an die Leiche heran, doch gelang es ihm nicht, sie zu heben, denn Oscar Donadieu steckte im Schlick fest.

Das Ganze dauerte eine gute Viertelstunde, im Regen, und der Fahrer des Autobusses nach Rochefort fluchte, weil er abfahren musste, bevor die Aktion vorbei war. Der Kommissar war inzwischen ebenfalls angekommen, und wie die andern musste er oben am Quai stehen bleiben, während unten im Schlick die Seeleute ein Tau um den Leichnam banden, um ihn hochzuziehen.

In diesem Augenblick erkannte man Oscar Donadieu, und der Kommissar, der sich seiner Verantwortung bewusst wurde, verlor die Beherrschung, vor allem, weil der Leichnam, als man ihn an der Mauer hochzog, übel zugerichtet wurde.

Um ihn nicht auf dem Boden liegen zu lassen, hatten ihn die Männer auf Bigois’ Karren gelegt, und als Decke hatten sie eine Plane gefunden, die nach Fisch roch. Dann war der Kommissar zu den Büros am Quai Vallin geeilt, wobei er, je näher er kam, seinen Schritt immer mehr verlangsamte, um wichtig und würdevoll zu erscheinen. Er wurde von Michel Donadieu empfangen, der immer noch Zahlungsanweisungen unterschrieb, die ihm sein Kassierer vorlegte, und einige Augenblicke brauchte, bevor er begriff.

»Ich habe die traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen …«

An den Wänden hing eine Tapete, die in Farbe und Prägung den Anschein von Cordoba-Leder erwecken sollte. Gerahmte Aquarelle zeigten die Schiffe der Donadieus. Und Michel, mit deutlichen Geheimratsecken, am kleinen Finger einen schweren Siegelring, stand auf. Er war ebenso verlegen wie der Kommissar, denn er wusste nicht, was man in solchen Fällen tut.

»Rufen Sie am Bahnhof an, damit man dort meinem Schwager Bescheid sagt!«, sagte er zu seinem Kassierer.

Es war ihm lieber, wenn sein Schwager ebenfalls anwesend war. Beinahe hätte er sogar bei seiner Mutter anrufen lassen, doch dann dachte er, dass das sicherlich nicht passend wäre.

»Was meinen Sie, wo man ihn hinbringen soll?«

»Wo ist er jetzt?«

Beschämt antwortete der Kommissar:

»Auf dem Karren!«

»Wo ist der Karren?«

»Dort …«, sagte er und streckte die Hand in Richtung des andern Endes des Quais aus.

Sie sahen aus dem Fenster und entdeckten Bigois’ Karren direkt vor dem Haus. Michel Donadieu wischte sich aus Verlegenheit mit dem Taschentuch übers Gesicht. Er hätte gern geweint. Unter anderen Umständen hätte er sicherlich geweint, aber die Ungeheuerlichkeit des Ereignisses verhinderte es.

»Wenn es nicht Ihr Vater wäre, hätte ich ihn in die Leichenhalle bringen lassen, aber …«

Nein, ausgeschlossen! Andererseits war es vielleicht verboten, ihn nach Hause zu überführen.

»Monsieur Jean kommt sofort«, verkündete der Kassierer, der den Bahnhofsvorsteher am Telefon gehabt hatte.

»Verbinden Sie mich bitte mit dem Staatsanwalt …«

Kein Angestellter im ganzen Gebäude arbeitete noch. Eine Frau, die gekommen war, um Kohlen zu bestellen, wartete vergeblich, dass sich jemand um sie kümmerte. Draußen gingen die Leute aus Respekt nicht allzu nahe an den Karren heran, und manche hielten es für schicklich, unter dem Regenschirm ihre Kopfbedeckung abzunehmen.

»Hallo! … Ja … Natürlich … Das ist durchaus möglich, ja …«

Michel Donadieu wandte sich an den Kommissar.

»Der Staatsanwalt sagt mir gerade, dass wir ihn hier aufbahren können, bis der Gerichtsmediziner kommt … In Anbetracht der Umstände …«

Und so wurde Oscar Donadieu von zwei Angestellten und Bigois, der geschickter war, hereingetragen und in sein Büro gebracht. Bigois hatte den Leichnam auf den Akazienschreibtisch legen wollen, da der Tote aber schmutzig und nass war, hatte er ihn schließlich doch auf den Boden gelegt. Jean Olsen kam vom Bahnhof zurück. Er nahm ebenfalls den Hut ab und fragte:

»Hat man Maman Bescheid gesagt?«

»Noch nicht.«

Ein Morgen, wie man ihn zum Glück nicht oft erlebte. Da niemand darauf vorbereitet war, wusste auch niemand, was zu tun war; die Tränen kamen immer noch nicht, und die Angestellten wussten nicht, wie sie ihr Beileid aussprechen sollten. Was die Büros betraf, so war es der Hausmeister, der den Vorschlag machte, ein Schild Wegen Trauerfall geschlossen an die Tür zu hängen.

»Ja, ganz richtig«, pflichtete Michel bei. »Wir schließen doch, nicht wahr, Jean?«

Und die Angestellten? Sollte man sie nach Hause schicken oder hinter geschlossenen Läden weiterarbeiten lassen?

»Ich muss meinen Monatsabschluss vorbereiten«, erklärte der Kassierer.

»Dann bleiben Sie! Die andern sollen gehen! Ich meine die, die nicht unbedingt hier gebraucht werden … Guten Tag, Monsieur Jeannet …«

Endlich war der Staatsanwalt gekommen. In seiner Begleitung war ein riesengroßer Mensch mit gerötetem Teint, offenbar der Gerichtsmediziner.

»Ich teile aus tiefstem Herzen …«

Man teilte vor allem die Verlegenheit, die durch die unvorhergesehene Situation entstanden war.

»Könnte man ihn nicht auf einen Tisch legen?«, ließ sich der Arzt vernehmen und zog seinen Überzieher aus.

Und Bigois, der Fuhrmann, stand immer noch da, vielleicht weil er auf ein Trinkgeld wartete. Gibt man in solchen Fällen Trinkgeld? Michel wusste es nicht, unter den gegebenen Umständen tat er lieber gar nichts.

»Es ist vielleicht besser, wenn Sie nicht dabeibleiben …«

Die drei Männer, Michel, sein Schwager Jean Olsen und der Staatsanwalt, zogen sich in Michels Büro zurück. Michel bot Zigaretten an. Die Unterhaltung wurde zwangloser.

»Glauben Sie, dass der Leichnam seit Samstag im Wasser gelegen hat?«

»Das Merkwürdige ist ja, dass die Strömung ihn nicht ins offene Meer hinausgetrieben hat …«

Nein! Das war nicht merkwürdig. Die Fahrrinne des Hafens von La Rochelle, zwischen den beiden Türmen, ist sehr schmal, und der alte Donadieu war sicherlich von der Flut von einem Quai zum andern getrieben worden, bis ihn der Zufall bei Ebbe im Schlick landen ließ.

Michel Donadieu war dick und schlaff, aber sehr gepflegt. Er tupfte sich unaufhörlich das Gesicht ab, denn er bekam leicht Hitzewallungen, wegen seines schwachen Herzens, das schlecht arbeitete.

»Ich müsste meiner Mutter Bescheid sagen …«

Man durfte es nicht sagen, nicht einmal denken, aber trotzdem war es fast eine Erleichterung, dass man endlich wusste, was aus Oscar Donadieu geworden war.

Noch einige Minuten Geduld: Sobald der Gerichtsmediziner mit seiner Untersuchung fertig wäre, könnte man völlig beruhigt sein.

Er rief von unten herauf, rief aber nur den Staatsanwalt, der sich mit ihm in dem Zimmer einschloss, in dem der Leichnam lag. Olsen, der erst zweiunddreißig Jahre alt war, marschierte auf und ab. Michel schnitt Grimassen und hätte endlich gern geweint, und sei es auch nur, um sein Gewissen zu beruhigen.

Als der Staatsanwalt in Begleitung des massigen Arztes zurückkam, hatte er ein höchst amtliches Gesicht aufgesetzt.

»Ich bitte um Entschuldigung für diese Amtshandlung«, murmelte er. »Die Situation ist heikel. Der Doktor bestand darauf, dass ich selbst einen Blick auf die Leiche werfe – ich bitte um Verzeihung, dass ich so direkt bin …«

»Aber ich bitte Sie …«

»Es ist schwierig, bei dem bereits fortgeschrittenen Verwesungszustand … Sie entschuldigen, nicht wahr? … Wie gesagt, es ist schwierig, sich eine genaue Meinung zu bilden … Eine Autopsie ist notwendig, und ich würde gegen meine Pflicht verstoßen, wenn ich nicht darauf bestehen würde … Trotzdem scheinen wir es, auf den ersten Blick, nicht mit einem Verbrechen zu tun zu haben …«

Die Zeit der Ungewissheit war vorüber. Jetzt kam die offizielle Phase, die viel einfacher war, da man wusste, woran man sich zu halten hatte. Ein Leichenwagen des Krankenhauses holte den Toten ab. Michel Donadieu und Olsen kehrten genau um Viertel vor elf in die Rue Réaumur zurück.

Gewöhnlich ging jeder geradewegs in seine Wohnung, aber diesmal blieben sie im Erdgeschoss, wo Augustin, der Diener, gerade den Salon bohnerte.

»Ist Madame nicht hier?«

»Madame ist in ihrem Zimmer.«

»Lass ihr ausrichten, dass wir sie zu sprechen wünschen.«

Zuerst kam jedoch Martine herein, mit einem Notenheft in der Hand.

»Sie haben Papas Leiche gefunden!«, verkündete Michel einfach.

Sie hatte keine Zeit, nach Einzelheiten zu fragen. Madame Donadieu trat ebenfalls herein, in einem himmelblauen Morgenrock, eine Spitzenhaube auf dem Haar. Sie schaute die drei an, atmete lauter, legte die Hände auf die Brust.

»Sagt es schnell! … Ich habe es heute Nacht geträumt … Euer Vater? …«

Endlich war es ein echter Trauerfall. Michel stürzte sich in die Arme seiner Mutter. Dann fiel diese in Ohnmacht, und Martine ging in die Küche Essig holen. Éva, Michels Frau, kam nachsehen, was los war, weinte ebenfalls und rief:

»Die Kinder dürfen nicht herunterkommen …«

Die Köchin weinte. Niemand war dort, wo er hingehörte. Man rempelte sich an, und schließlich saßen sie alle in einer Ecke des Salons, der Teppich war dort noch zum Bohnern aufgerollt.

»Und Kiki weiß noch nichts …«, wimmerte Madame Donadieu. »Wo ist er eigentlich?«

Man erfuhr, dass er am Morgen weggegangen war, ohne etwas zu sagen, ganz gegen seine Gewohnheit.

Als er zurückkam, bleich, mit Schlamm an den Schuhen und nassen Haaren – denn er hatte nicht einmal seine Mütze aufgesetzt –, fand er das Haus in tiefer Trauer.

»Essen Sie ein wenig … Sie müssen sich stärken …«, leierte die Köchin herunter.

Niemand mochte etwas zu sich nehmen, außer Michel, der immer Hunger hatte und ein bisschen kaltes Rindfleisch aß, ohne Brot, im Stehen.

»Wann bringen sie ihn her?«

»Sobald sie fertig sind mit der … der …«

Keiner wagte, das Wort Autopsie auszusprechen. Éva Donadieu, Michels Frau, ging ab und zu hinauf in ihre Wohnung, um sich um ihre zweijährige Tochter zu kümmern. Ihr Sohn Jean und Olsens Sohn Maurice mischten sich schließlich unter die Erwachsenen und vergrößerten die Unordnung noch. Am beeindruckendsten war es, Martine und ihren Bruder Kiki zu sehen, die beide ganz verstört aussahen. Dann verschwand Martine, und erst lange danach fand man sie auf ihrem Bett, einen Zipfel des Kopfkissens zwischen die Zähne gepresst.

Der Courrier Rochelais schrieb:

… Wenn Monsieur Oscar Donadieu den Club an der Place d’Armes verließ, machte er, anstatt direkt durch die Rue Réaumur nach Hause zu gehen, gewöhnlich eine Runde um die Quais und ging dabei an seinen Lagerschuppen vorbei … In der Dunkelheit ist er wahrscheinlich …

Ja. Der Reeder hatte seine Gewohnheiten, um nicht zu sagen, seine Marotten. Und dies war eine davon. Sicherlich gab es ihm neue Kraft, wenn er vor dem Zubettgehen am Quai Vallin seine eindrucksvollen Büros, die Dächer seiner vielen Lagerschuppen und die Schornsteine seiner Schiffe betrachtete.

Im Club sprach man wenig darüber. Dort verkehrten nur Männer von fünfzig Jahren und mehr, vor allem Männer im Alter Donadieus, die weniger um der Begegnungen willen hierherkamen, als um in ihren angestammten Sesseln zu versinken, ihren Zeitungen, in einer Atmosphäre, die nichts mit ihrem Zuhause, ihrer Familie zu tun hatte.

Es waren wichtige Persönlichkeiten, und das spürte man an ihrer Ruhe, an ihrer Feierlichkeit, an der Vorsicht, mit der sie selbst die unwichtigsten Themen angingen.

Und sie kannten sich zu gut, um sich in Geschwätz zu verlieren. Die meisten hatten sich bereits als Kinder gekannt, und durch Eheschließungen waren sie schließlich alle mehr oder weniger miteinander verschwägert.

Da Oscar Donadieu der Präsident des Clubs war, beschloss das Komitee bei seiner Zusammenkunft am Donnerstag um fünf Uhr, den Club zum Ausdruck der Anteilnahme für eine Woche zu schließen. Dann stimmte man mit der gleichen Gelassenheit für die Ausgabe von fünfhundert Franc für einen Kranz.

Frédéric Dargens war anwesend und stimmte mit den andern ab. Alles verlief so problemlos, dass ein Außenstehender nichts Ungewöhnliches vermutet hätte, am wenigsten, dass Dargens erst eine Stunde zuvor das Büro des Staatsanwalts verlassen hatte.

Allerdings war da eine gewisse Hast beim Hinausgehen, um Dargens nicht die Hand drücken zu müssen. Flüchtige Blicke auf sein ebenmäßiges Gesicht, die angegrauten Schläfen, auf seinen wohlgeformten, intelligenten Mund.

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie herbitten ließ, aber man hat mir versichert, dass Sie am Samstag gemeinsam mit Oscar Donadieu den Club verließen.«

Auch der Staatsanwalt wahrte die Form. Gewiss, die ganze Stadt, in all ihrer Gediegenheit und Ehrbarkeit, bedauerte zutiefst, dass Dargens Besitzer eines Kinos war. Eines Kinos, in dem obendrein zwischen zwei Filmen Tänzerinnen oder Taschenspieler ihre Künste zum Besten gaben.

Es war auch bedauerlich, dass er als Bohemien lebte, in seinem Lichtspieltheater hauste, ohne sich um seinen Sohn Philippe zu sorgen.

Es gab noch viele andere bedauerliche Dinge. Zeigte sich Dargens nicht auf der Straße und im Café mit Sängerinnen und Tanzgirls? Fuhr er nicht sogar mit ihnen im Auto in die Spielcasinos der Umgebung? Und dann noch seine allzu pariserische Art, sich zu kleiden, die sich so deutlich von den Gepflogenheiten der feinen Gesellschaft von La Rochelle abhob.

Trotzdem war er Teil dieser Gesellschaft. Sein Vater war vor Donadieu Präsident des Clubs und einer seiner Gründer gewesen. Und das Bankhaus Dargens war bis zum vergangenen Jahr die respektabelste aller Privatbanken gewesen, der die großen Familien aus der Gegend stets den Vorzug vor den Pariser Kreditanstalten gegeben hatten.

Gewiss, die Bank hatte Pleite gemacht! Aber das war Pech gewesen. Die Experten hatten die Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit Dargens’ anerkennen müssen, zudem hatte Dargens von sich aus alles verkauft, was er besaß, seine Autos, seine Pferde, sein Schloss in Marsilly und die moderne Villa, die er sich im neuen Viertel hatte bauen lassen.

Was man ihm vorwerfen konnte, war nur diese Idee, ausgerechnet ein Kino aufzumachen …

»Ich bin tatsächlich mit Donadieu weggegangen, Herr Staatsanwalt. Wir sind zusammen bis zur Ecke Rue Gargoulleau gelaufen. Dort ist er nach links abgebogen und hat mir gute Nacht gewünscht …«

»Sind Sie nach Hause gegangen?«

»Ins Kino, ja!«

Warum an dieses peinliche Detail erinnern?

»Führte Ihr Weg nicht auch durch die Rue Gargoulleau?«

»Das stimmt. Aber Sie kannten ja Oscar Donadieu. Ich habe gemerkt, dass er lieber ein Stück allein gehen wollte, und bin in die Rue du Palais eingebogen.«

»Hat Oscar Donadieu bei Ihrem Bankrott viel Geld verloren?«

»Er hat achtzig Prozent erstattet bekommen, wie alle Gläubiger.«

Es war unerfreulich, Dargens zu verhören, weil er so klug und so vornehm war. Unweigerlich erlag man seinem Charme, einem Charme, der vielleicht daher rührte, dass er mit seinem Lebenswandel nie ganz nach La Rochelle gepasst hatte. Zwanzig Jahre zuvor hatte ihn seine Frau, die aus einer der ersten Familien der Gegend stammte, wegen eines Zahnarztes verlassen, und das war schwer zu begreifen, denn seitdem widerstanden nur wenige Frauen den Verführungskünsten Dargens’.

»Ich möchte Sie noch einmal um Verzeihung bitten, dass ich Ihnen diese Fragen stelle. Ich will vermeiden, dass es später zu der geringsten böswilligen Unterstellung kommen kann …«

Als Frédéric Dargens aus dem Club kam, begab er sich mit der üblichen Ungezwungenheit in die Rue Réaumur und ließ sich bei den Donadieus melden. Es war vielleicht die schwierigste Stunde des ganzen Tages. Der Staatsanwalt hatte ihnen am Telefon mitgeteilt, dass der Gerichtsmediziner auf einen Unfalltod schloss, da man am Körper des Toten keine Anzeichen von Gewaltanwendung hatte feststellen können.

So verlor das Ereignis endlich an Ungeheuerlichkeit, und gleichzeitig wurden auch die Sorgen der Familie Donadieu kleiner, profaner.

Als Dargens in den riesigen Korridor trat, stand die Tür zum Salon offen, und Michel telefonierte gerade mit schriller Stimme:

»Ja, Sie müssten sofort kommen und einige Muster schwarzen Cheviot-Stoff mitbringen … Es sind … warten Sie … zwei, drei … drei Herrenanzüge und zwei Kinderanzüge … Für morgen Abend, ja …«

Über einem Sofa war ein schwarzes Kleid ausgebreitet. Madame Donadieu nahm es zusammen mit ihrer Schwiegertochter in Augenschein.

»Wirklich nicht, Maman«, sagte Éva, »ich kann es nicht mehr anziehen.«

Der erste Blick, dem Dargens begegnete, war der Blick Martines, und diese machte sofort kehrt und ging in ihr Zimmer, wo sie sich einschloss.

»Ich bin gekommen …«, begann der Besucher.

Er war unschlüssig, zögerte.

»Mein armer Frédéric! …«, sagte Madame Donadieu, die langsam nicht mehr wusste, wo ihr der Kopf stand.

Michel verlangte unterdessen eine andere Nummer, während Olsen im Telefonbuch blätterte.

»Ich bin gekommen, um mich zur Verfügung zu stellen … Ich übernehme alle Besorgungen, die zu erledigen sind … Sie brauchen nur etwas zu sagen …«

Aber man kümmerte sich schon nicht mehr um ihn oder tat zumindest so. Er blieb noch etwa eine Viertelstunde, dann verabschiedete er sich, ohne die geringste Verlegenheit zu zeigen, während der Bestattungsunternehmer hereingeführt wurde.

In der Nachbarvilla zog sich Madame Brun schwarz an, um den Donadieus einen Beileidsbesuch abzustatten.

Es regnete immer noch. Ein Krankenpfleger flickte den Leichnam Oscar Donadieus so gut es ging zusammen, bevor er der Familie übergeben wurde.

Die Fenster der Kanzlei von Maître Goussard hatten grüne Butzenscheiben, und die Gesichter der dahinter Versammelten waren starr und unwirklich. Würde Martine mit ihren verweinten Augen und ihrem zarten weißen Hals, der aus einem schwarzen Mantel ragte, je etwas anderes sein als ein junges Mädchen mit verkrampften Fingern?

Und ihr Bruder, in seinem schwarzen Anzug noch magerer, die Nase, so schien es, ein wenig schief im Gesicht, würde er je ein Mann werden wie die anderen?

Diese beiden sahen irgendwie rührend aus. Man hätte meinen können, dass auf ihnen das ganze Gewicht von Donadieus Tod lastete, dass sie die einzigen Waisen waren, die einzigen Opfer.

Hinter ihnen gab sich ihr Onkel aus Cognac, Batillat, der gerichtlich bestellte Vormund, betont düster.

Am ungezwungensten war Madame Donadieu. Sie schaute offen den Notar an, der das Testament mit kalkulierter Langsamkeit öffnete, während Michel Donadieu und Olsen, die das Schwarz eleganter machte, ihr Möglichstes taten, um gleichgültig zu erscheinen.

»Dieses Testament ist mir vor zwei Jahren von dem Verstorbenen übergeben worden, und alles gibt zu der Vermutung Anlass, dass kein späteres Testament existiert …«

Der Notar wartete, und Madame Donadieu nickte nur.

Die Verlesung erfolgte mit monotoner Stimme, wie es sich gehört. Auf eine mehr oder weniger bedeutsame Silbe folgte die nächste, bis zu dem Augenblick, als …

»Wie, bitte!«, entfuhr es Madame Donadieu.

»Ich wiederhole: … hinterlasse die Gesamtheit meines Vermögens meinen Kindern Michel, Marthe, verheiratete Olsen, Martine und Oscar …«

Michel musste sich regelrecht zwingen, sich nicht nach seiner Mutter umzudrehen, der es wohl den Atem verschlagen hatte.

»… Die beweglichen und unbeweglichen Güter dürfen nicht vor der gesetzlichen Volljährigkeit aller Kinder aufgeteilt und verkauft werden …«

Michel runzelte die Stirn, als wollte er besser verstehen, und Madame Donadieu stützte sich noch stärker auf ihren Stock.

»… falls dringende Umstände die Liquidierung eines Teils der Güter vor der Volljährigkeit des letzten der Erben erforderlich machen sollten, müsste dieser Verkauf die Gesamtheit der Güter betreffen und sowohl die Handelsgeschäfte als auch die verschiedenen Immobilien und Besitzungen einbeziehen, die …«

Plötzlich merkte Martine, dass etwas Sonderbares vor sich ging. Sie schaute ihre Mutter an, versuchte, den Sinn der Worte zu begreifen.

»… meine Frau erhält auf Lebenszeit die Nutznießung des vierten Teils der …«

Langsam fuhr sich Madame Donadieu an die Stirn, verbarg ihre Augen und blieb unbeweglich sitzen, während der Notar, verlegen die rituellen Formeln stammelnd, zu Ende las.

Michel stand als Erster auf und stotterte verlegen:

»Maman …«

Aber diese sah nicht auf und verbarg immer noch ihr Gesicht in den Händen.

»Man könnte vielleicht etwas lüften«, sagte der Notar.

Und Martine, die aufgestanden war, fragte:

»Was heißt das eigentlich?«

Olsen bedeutete ihr zu schweigen, aber sie fuhr fort:

»Ist Maman enterbt?«

Darauf zeigte Madame Donadieu endlich ihr Gesicht, das eine seltsame Ruhe ausstrahlte und in dem keine Spur von Tränen zu sehen war.

»Ja!«, sagte sie schließlich.

»Maman …«, mischte sich Michel verlegen ein. »Darum geht es doch gar nicht. Du hast immerhin die Nutznießung und …«

Der Notar stand herum und wusste nicht, wohin er sich verkriechen sollte. Als Schwiegersohn wagte es Olsen nicht, sich einzumischen.

»Komm, Maman! Lass uns zu Hause darüber reden …«

»Worüber reden?«

»Wir werden uns schon einigen …«, fuhr Michel fort.

Der Onkel war sprachlos, und der Junge, Kiki, schaute alle mit argwöhnischen Blicken an.

Wie brachte es Madame Donadieu fertig zu lächeln? Sie stand mühsam auf, wobei sie sich auf ihren Stock stützte, und murmelte:

»Den vierten Teil der Nutznießung! …«

Sie kümmerte sich um niemanden mehr. Sie ging auf die Tür zu, und nie war sie so groß erschienen, so imposant.

»Maman! …«, rief Martine und brach in Tränen aus.

»Maman! …«, rief auch Kiki, den ihre Unerschütterlichkeit kopflos machte.

Sie zögerte zuerst, sich nach ihnen umzudrehen, und als sie es doch tat, sah sie sie kalt, geradezu hart an.

»Was habt ihr?«

»Maman! …«

Martine bekam einen Weinkrampf, während ihr Onkel versuchte, sie zu beruhigen. Michel wurde ungeduldig.

»Na, Martine! Sei nicht kindisch! Wir werden darüber nachher noch reden …«

Im Büro nebenan hörte man das Klappern der Schreibmaschinen. Sie mussten dieses Büro, in dem vier Anwaltsgehilfen und eine Stenotypistin arbeiteten, durchqueren.

An der offenen Tür wandte sich Madame Donadieu ihrer Tochter zu:

»Zeigen Sie etwas mehr Würde, ja?«

Sie siezte ihre Kinder selten, und wenn, dann nur bei wichtigen Gelegenheiten oder wenn sie zornig war. Draußen vor dem Bürgersteig wartete im Wagen Augustin, Diener und Chauffeur in einer Person, zum Einsatz. Es war fünf Uhr nachmittags. Ein Karussell mit Holzpferdchen, ein ganz kleines Kinderkarussell, war auf dem nahegelegenen Platz aufgebaut und drehte sich leer.

Martine rannte durch die Kanzlei, die Hände vor dem Gesicht, um ihre Tränen zu verbergen. Und als sie nach Hause kamen, erlitt sie einen Nervenzusammenbruch. Es war nicht der erste. Ihr ganzer Körper zitterte. Sie presste die Zähne so fest aufeinander, dass sie knirschten. Dann wurde ihr Körper von krampfartigen Zuckungen geschüttelt, und sie versuchte, sich die Fingernägel ins Fleisch zu bohren!

»Jetzt reicht’s mit dem Theater, ja?«, sagte ihre Mutter bloß.

Darauf schrie sie, wälzte sich am Boden und versuchte, das Kleid von Madame Donadieu zu packen.

»Bitte, ruf deine Frau!«, bat Michel seinen Schwager.

Denn nur Marthe hatte einigen Einfluss auf ihre Schwester. Der Junge hatte sich in eine Ecke gekauert, wo er wie benommen sitzen blieb.

Olsen lief ins Treppenhaus und rief:

»Marthe! … Komm herunter, schnell …«

Es roch noch nach den Kerzen und den Chrysanthemen vom Vortag. Aber im Haus herrschte wieder Ordnung. Madame Donadieu nahm ihren schwarzen Hut ab, zog ihre Handschuhe aus und sah sich gelassen um.

»Ich möchte ein wenig Ruhe haben«, sagte sie mit einer Stimme, die man nicht an ihr kannte.

An der Wand im Salon zeigte ein großes Ölporträt sie an der Seite ihres Mannes. Sie hielt einen Rosenstrauß in der Hand. Das Bild hatten ihr die Kinder zur silbernen Hochzeit geschenkt.

Das war nun schon über zehn Jahre her, aber Oscar Donadieu, im schwarzen Anzug, die Rosette der Ehrenlegion im Knopfloch, war damals schon derselbe wie am Tag vor seinem Tod, kalt und massig, mit einem Blick, den vielleicht niemand je verstanden hatte.

Martine, die am Boden lag, schrie weiter:

»Ich will nicht! … Ich will nicht …«

Und ihre Schwester Marthe, die dem Vater glich und dessen Gelassenheit geerbt hatte, versuchte sie aufzuheben, wobei sie fragte:

»Was hat sie denn?«

»Nichts … Wir werden es dir erklären …«

Das alles zog sich in die Länge. Madame Donadieu saß unter dem Porträt, ihren Stock in der Hand, und wurde langsam ungeduldig.

»Bin ich hier noch zu Hause oder nicht?«

Martine hörte es, stand mit einem Satz auf, schaute ihre Mutter an, das Porträt, den ganzen Salon, in dem sie bis dahin gelebt hatte.

»Maman …«, begann sie keuchend.

»Ich bitte darum, dass man mich allein lässt.«

Zu viel hatte sich in allzu kurzer Zeit ereignet. Alle waren außer sich, hatten rote Backen, keiner wusste mehr weiter.

»Komm«, sagte Olsen vorsichtig zu seiner Frau und zog sie mit ins Vestibül, dann zur Treppe.

»Was hat sie denn?«

»Ich werde es dir erklären …«

Michel war bereits verschwunden. Der Onkel begab sich ins Esszimmer, wo es nichts zu tun gab.

Martine stürzte nach einem letzten Blick auf ihre Mutter, einem Blick, in dem eine letzte Hoffnung flackerte, die aber sofort wieder erlosch, in ihr Zimmer, und im Salon blieb unter dem Porträt nur noch Madame Donadieu zurück und am andern Ende, in einem Sessel, der Junge, der zitterte, vielleicht aus Angst, und seine Mutter mit großen Augen betrachtete.

»Du auch …«, sagte sie ungeduldig.

Und da er nicht verstand, wurde sie wütend.

»Ja, geh schon! … Geh doch …«

Niemand aß etwas an diesem Abend, außer den Olsens im zweiten Stock, die ihre Kinder zu Bett gebracht hatten, um ungestört reden zu können.

Im ersten Stock hatte Michel wieder seine Herzkrämpfe, die er zwar nur selten bekam, die ihm aber zusetzten und ihn aufstöhnen ließen.

3

Noch bevor er hörte, wie die kleine Tür zwischen dem Alhambra und der benachbarten Konditorei geöffnet wurde, hatte Frédéric Dargens bereits Schritte vernommen, zuerst weit weg auf der Straße, dann kamen sie immer näher, und da wusste er, dass es sein Sohn war.

Er wusste so vieles, und das nur, weil er wenig schlief und erst zu Bett ging, wenn die andern Leute aufwachten. Man konnte das nicht ahnen, denn er ging zur selben Zeit nach Hause wie alle anderen. Auf dem Sofa, das ihm als Bett diente, begann er dann zu lesen, und das kleinste Geräusch in der Stadt fiel ihm auf.

Aber erst später, wenn er alle Lichter gelöscht hatte, sich hinlegte und auf den Schlaf wartete, wurde er ungewöhnlich hellhörig. Er nahm keine Schlafmittel. Er gehörte nicht zu denen, die gegen ihre Schlaflosigkeit ankämpfen und über sie sprechen oder am Morgen müde, verklebte Augen zeigen.

Er schlief eben nicht, das war alles. Er wartete, reglos auf seinem Sofa liegend, häufig mit offenen Augen. Wenn die Flut stieg, hörte er die Fischerboote hinausfahren, und er erkannte die verschiedenen Sirenen der Fischtrawler.

Dann, sobald die ersten Geräusche der Stadt zu hören waren, schlummerte er schließlich ein, wie eine Wache, die man von ihrem Posten ablöst. Er stand gegen zehn Uhr auf, und jeder meinte, dass er sich ein schönes Leben machte, selbst sein Sohn, der nichts von dieser Schlaflosigkeit wusste.

Es war jetzt der fünfte Tag oder eher die fünfte Nacht in Folge, dass Philippe erst gegen ein Uhr morgens heimkam. Er hatte diese Gewohnheit zwei Tage nach der Beerdigung Oscar Donadieus angenommen. Frédéric lag wach im Dunkeln und versuchte zu verstehen.

Diesmal verhielt sich Philippe beim Nachhausekommen anders als die Nächte zuvor, denn er vergaß, die Sicherheitskette vorzulegen, und suchte eine ganze Weile aufgeregt nach dem Lichtschalter.

Ohne sich zu bewegen, folgte ihm sein Vater in Gedanken Schritt für Schritt. Der Korridor war schmal und mit Kisten und Dekorationsstoffen vollgestopft, denn das Alhambra war noch nicht ganz fertiggestellt, und einige der alten Gemäuer des Vorgängerbaus standen noch.

Philippe ging gewöhnlich auf Zehenspitzen, doch diesmal gab er sich keine Mühe, er stieß gegen einen Stapel Bretter, stieg, ohne achtzugeben, die Treppe hinauf, drückte mit dem Fuß die erste Tür auf, die zur Loge des Kinos führte.

›Er hat vergessen, das Licht zu löschen‹, dachte Frédéric.

Er musste einen Teil des Zuschauerraums durchqueren, Stufen hinaufklettern, gewissermaßen in die Kulissen neben der Vorführkabine gehen, dann durch die Kammer, in der sein Vater schlief, bevor er zu einer anderen Kammer gelangte, die man ihm als Schlafzimmer hergerichtet hatte.

Er ahnte nicht, dass Frédéric die Augen offen hatte. Er ging vorbei, schloss seine Tür und verhielt sich auch weiterhin anders als sonst, denn ohne sich auszuziehen, warf er sich aufs Bett. Einige Sekunden später besann er sich jedoch, setzte sich auf, um seine Schuhe auszuziehen, die lärmend zu Boden fielen.

In diesem Augenblick spitzte Frédéric die Ohren, denn er hörte, wie sein Sohn Selbstgespräche führte, wie er Worte brummte, Drohungen gleich. In einem Augenblick schließlich, in dem sein Vater am wenigsten darauf gefasst war, brach der junge Mann in heiseres Schluchzen aus und schlug mit der Faust auf sein Kissen.

Jetzt richtete sich der Vater lautlos auf und setzte sich auf den Rand des Sofas, ängstlich wie ein Tier, das in der Nacht von fern her die Klage eines seiner Jungen hört.

Er hatte Philippe nie weinen sehen oder hören. Er hatte nie geglaubt, dass so etwas passieren könnte. Es hatte eine merkwürdige Wirkung auf ihn, und in seine Rührung mischte sich vielleicht auch ein wenig Genugtuung.

Der junge Mann sprach immer noch vor sich hin, zwischen Schluchzern, aber sein Vater konnte nicht verstehen, was er sagte. Unter der Tür sah Frédéric einen Lichtstreifen, und schließlich stand er auf, fast gegen seinen Willen, angezogen von diesem unerwarteten Klagen.

Ein letztes Schamgefühl hielt ihn zurück. So wie er sich nie über seine Schlaflosigkeit beklagt hatte, so hatte er auch nie mit irgendjemandem über intime Dinge gesprochen, und Szenen, bei denen sich Tränen mit wirren Worten und heftigen Gefühlsausbrüchen vermischten, waren ihm zuwider.

Er blieb noch einmal stehen, die Hand auf dem Türknauf. Schließlich stieß er die Tür unsicher auf, sah zum Eisenbett, auf dem sein Sohn völlig angekleidet lag. Philippe, der sich bereits aufrichtete, blickte böse, sein Gesicht war tränenüberströmt, die Krawatte heruntergerissen.

»Was willst du?«, brüllte der junge Mann.

Sein Vater zündete sich, um Haltung zu bewahren, eine Zigarette an. Er hatte sich die Zeit genommen, seinen Morgenmantel über seinen unifarbenen Seidenpyjama zu werfen. Auch das war für ihn eine Frage des Anstands.

Der Kontrast zwischen diesem Mann im allzu eleganten Morgenmantel, einem ausgesprochenen Theater-Morgenmantel, und den beiden schäbigen Zimmern, in denen sich Filmspulen, Telefonbücher, alle Arten alten Papiers teilweise sogar auf dem Fußboden stapelten, war verblüffend.

»Was willst du?«

Wie um zu zeigen, dass er bleiben wollte, räumte Dargens einen Stuhl frei und setzte sich, wobei er nach einem Angriffspunkt suchte, während der junge Mann die Zähne zusammenbiss.

»Hat sie nicht aufgemacht?«, fragte er schließlich, fast bedauernd.

Seit zwanzig Jahren, genau genommen seit seine Frau weggegangen war, hatte er mit niemandem mehr über Herzensangelegenheiten gesprochen. Nicht etwa, weil er verbittert war. Im Gegenteil! Wenn sein Lächeln auch etwas ironisch war, wie das der »Lebemänner« vom Theater, so lag doch eine große Nachsicht darin, sogar eine gewisse Zärtlichkeit, die aller Welt galt, den kleinen Tänzerinnen in ihren abgerissenen Kleidern wie seinen Platzanweiserinnen und den Bettlern auf der Straße.

Dieses Mal war es sein Sohn, den er so ansah – zum ersten Mal sah er ihn mit aufrichtiger Besorgnis an.

»Wusstest du Bescheid?« Der junge Mann zuckte zusammen, bereits in der Defensive. »Wer hat es dir gesagt? Was hat man dir erzählt?«

»Das ist unwichtig.«

»Ich will wissen, wer es dir gesagt hat …«

»Niemand, mein Junge!«

»Dann hast du mir nachspioniert?«

Was für ein komisches Wort! Und was für eine peinliche Situation für Dargens, der gewissermaßen nie ein Gespräch unter vier Augen mit seinem Sohn gehabt hatte! Er hatte ihn aufwachsen sehen, hatte ihn leben sehen, ohne sich das Recht zuzugestehen, in die eine oder andere Richtung einzugreifen. Auch das gehörte zu seinem Schamgefühl, und jetzt schrie Philippe ihn wütend und verächtlich an:

»Du hast mir nachspioniert!«

»Keineswegs … Es war reiner Zufall …«

»Was weißt du genau?«

Der Vater musste fast lächeln, denn dieses Wort war so typisch für Philippe. Im Augenblick davor war er noch in Tränen aufgelöst. Die heftigste Verzweiflung schien ihn zu erschüttern, doch sobald man ihn nur leicht berührte, zuckte er zusammen, stellte eine genaue Frage, wollte die Karten des Gegners sehen, bevor er weitermachte! Dargens’ Lächeln war ein wenig traurig, ein wenig enttäuscht.

»Alles, mein Junge! Mach dir keine Sorgen! Seit fünf Tagen bleibt das Fenster geschlossen, nicht wahr?«

»Warst du dort?«

»Aber nein! Bloß, ich weiß …«

Es stimmte! Seit fünf Tagen durchquerte Philippe zur gewohnten Stunde den Garten von Madame Brun und erduldete die klammen Zärtlichkeiten Charlottes; seit fünf Tagen näherte er sich lautlos dem Fenster und fand es verschlossen. Heute Nacht noch hatte er an die Scheibe geklopft, entschlossen, einen Skandal heraufzubeschwören.

Das Schlimmste war, Charlotte hinter der kleinen Gartentür lauernd wiederzufinden, zu wissen, dass sie Bescheid wusste und dass sich ihr kleines Herz mit Hoffnung füllte!

Stundenlang hatte Philippe am helllichten Tag an der Straßenecke gewartet, aber Martine war nicht aus dem Haus gegangen. Beinahe hätte er sich am selben Morgen als gewöhnlicher Besucher im Haus eingefunden. Aber er erinnerte sich an den Zorn Oscar Donadieus, an die Worte, die er eines Tages vor der ganzen Familie ausgesprochen hatte:

»Wenn dieser Taugenichts das Pech hat, noch einmal seinen Fuß in mein Haus zu setzen, fliegt er durchs Fenster hinaus!«