Das Tor der 7 Inseln - Kristina Beyer - E-Book

Das Tor der 7 Inseln E-Book

Kristina Beyer

0,0
9,95 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Jules Geheimnis lastet schwer auf ihren Schultern. Sie ist 50 Jahre durch die Zeit gereist, ohne zu wissen wie oder warum. Und irgendjemand hat es auf sie abgesehen. Im Krankenhaus wurde sie nicht nur bestohlen, sondern auch von einem falschen Doktor verhört. Jules Oma, die zum Glück kommt, schmeißt alle Pläne um. Anstatt nach Hause zu fahren, kann Jule vom Festland zurück auf eine der sieben Inseln reisen - Wangerooge. Aber ausgerechnet in eine Klapsmühle? - wie Jule es nennt. Doch genau dort verbirgt sich ein altes Familiengeheimnis. Schon bald geraten die Ereignisse außer Kontrolle und Jule muss mutiger sein als je zuvor. Wie gut, dass sie Freunde findet, die ihr zur Seite stehen!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 304

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Umschlag:

3D-Cover-Layout von Thomas Birklein

Verwendete Fotos von pixabay

Lektorat:

Maxi Drechsler, Berlin

Illustrationen:

Kristina Beyer

Danke:

an Annie Heger für die plattdeutschen Übersetzungen

Satz und Gestaltung:

Stefanie Tegeler, Isensee Verlag Oldenburg

E-BOOK-HERSTELLUNG:

Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-7308-2035-3

© 2023 Isensee Verlag, Haarenstraße 20, 26122 Oldenburg –Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Prolog

Ein turbulenter Morgen

Gummibärchen auf 9 Uhr

Gefährliche Blubberblasen

Tacheles

Die Planänderung

Ein Koffer auf Reisen

Aufbruch ins Ungewisse

Boot oder Koffer

Ein gewagter Sprung

Oma dreht durch!

Keine Mätzchen

Lakritzschnecken

Schweizer Käse

Im Club der Freaks

Spieglein, Spieglein

Das Haus des Grauens

Blindes Vertrauen

Die erste Nacht

Die Limunati Teil 1

Das Rätsel vom Westturm

Der Wal

Ein ungebetener Gast

Die Beichte

Matthiessen

Limunati Teil 2

Das Dilemma

Zurück im Bunker

Die Standpauke

Der Ostensor

Familiengeschichten

Heredes hansae

Die Akte Frieda

Neue Hoffnung

Limunati Teil 3

Im Schatten des Turms

Lauf, Jule, lauf!

Das Auge des Himmels

Anmerkungen der Autorin zu Fakten und Fiktion

Plattdeutsche Sprichwörter und Übersetzungen

Zur Autorin

Bereits erschienen

Das Meer erwachte aus einem trägen Schlaf. Graues Wasser strudelte um Sandbänke, füllte wirbelnd Priele und leckte schließlich gierig am Strand, wo die Wellen dumpf auf die Mauern des alten Turms schlugen. Es klang, als würde jemand eine tiefe Basstrommel anstimmen.

Lange hatte der Turm der See getrotzt. Doch der stete Kampf gegen die Macht der Gezeiten hatte dem alten Gebäude über die Jahrhunderte hinweg arg zugesetzt. Längst vorbei waren die Tage, da der Westturm als Kirche, Lager und Leuchtturm genutzt wurde. Schon lange stiegen sonntags keine Kinder mehr mit gekämmten Haaren und sauber geschrubbten Fingernägeln die Treppe hinauf, um ein „Vater unser“ durch die Zahnlücken zu lispeln. Und ewig schien es her, da das Feuer im Turm den Seeleuten den richtigen Weg durch die Nacht wies. Selbst die Ratten, die sich den Turm erobert hatten, um sich an den zurückgelassenen Habseligkeiten der Menschen gütlich zu tun, mieden inzwischen diesen feuchten, fauligen Ort. Nicht mehr lange und die Nordsee würde dem Gemäuer endgültig den Grund unter den Füßen fortreißen.

Ein Schatten glitt über die morschen Stufen, die bis unter das Dach führten. Es sah aus, als würde ein wandelnder Sack über die Treppen huschen. Nur das Ächzen der uralten Balken und das Keuchen einer rasselnden Lunge verrieten, dass hier ein Mensch unterwegs war. Nun blieb er nach Luft schnappend stehen. Ein rostiges Quietschen und das Anreißen eines Streichholzes waren zu hören. Kurz darauf flackerte eine Laterne auf. Dann stieg die einsame Gestalt weiter nach oben. Die Kapuze des Umhangs tief ins Gesicht gezogen. An den feuchten Wänden waren Zeichen zu erkennen. Kreuze und Striche waren in einzelne Steine geritzt. Und in gleichmäßigen Abständen klafften Löcher im Mauerwerk.

Die Gestalt blieb stehen und seufzte. Der Wind pfiff hier oben eiskalt durch die schmalen Fenster. Nun holte der nächtliche Besucher einen kleinen Hammer unter dem Umhang hervor. In der einen Hand die Laterne, in der anderen das Werkzeug, machte er sich ans Werk. „Es muss ja …“, röchelte es unter der Kapuze hervor. „Es muss, es muss, es muss ja da sein.“

Draußen frischte der Wind auf. Ein Fischerboot pflügte sich durch die Wellen. Gischt stob wie eine zerfetzte weiße Gardine empor und klatschte an Deck auf Netze, Körbe und Ölzeug. Doch plötzlich wurde das Stampfen des Dieselmotors jäh von einem Schrei übertönt. „Onno, dat Düvelswark!“

„Wat?“, brummte eine tiefe Stimme. In der Tür des Führerstands erschien ein Kopf. Der Bart und die Haare grau. Der Kapitän kniff die Augen zusammen und fand den Rufenden vorne am Bug, wo sich seine Silhouette gegen die Dämmerung abhob. Immer wieder deutete der Arm des Seemanns Richtung Turm, der mit seinen drei prägnanten Dachspitzen am Morgenhimmel kratzte.

„Kiek ins!“, rief der Matrose und taumelte schwankend vom Bug zum Führerstand. „Ik segg di, daar spöökt dat weer!“ Er lehnte sich über die Reling und spuckte ins Wasser. „Düvelswark.“ Sein Gesicht war bleich.

Der Kapitän hing halb aus dem Führerstand heraus und schaute hinüber zum Turm. Wie ein Irrlicht geisterte ein heller Schein an einem der winzigen Fenster vorbei. Dann erschien das flackernde Licht plötzlich in einem der anderen kleinen Fensteröffnungen, nur um gleich darauf wieder zur ersten zurück zu hüpfen.

Der Kapitän trat ganz an Deck und klappte den Kragen seines Mantels hoch. Die beiden Fischer beobachteten, wie das gelbe Lichtlein hin und her wanderte, dunkler wurde, plötzlich wieder aufloderte.

„Dat lett mi dat Blood in de Aders fresen.“ Noch einmal spuckte der Matrose in die See. Der Kapitän tat es ihm nach, kehrte zurück in seinen Führerstand und schlug das Ruder hart nach Steuerbord. Wer das Licht des alten Lampenwärters sah, hieß es, müsse sofort nach Hause umkehren, sonst wäre er für alle Zeiten verdammt. Das bedeutete zwar einen schmerzlichen Fangverlust, aber wer wollte schon riskieren für ewige Zeiten ruhelos auf dem Grund der Nordsee umherzuwandern?

Jule griff nach ihrem Handy und hopste vom Bett. Sie sprang rüber zum Fenster und konnte gerade noch sehen, wie vom Dach des gegenüberliegenden Krankenhaustraktes ein Helikopter abhob. Herbstblätter wirbelten umher. Dann schoss der Hubschrauber über die Dächer von Emden davon.

Jule warf einen kurzen Blick auf das Telefon in ihrer Hand. Seit sie es auf der Insel Baltrum gegen die Wand geschmissen hatte, gab es keinen Klingelton mehr von sich, das Glas war gesplittert, aber es rappelte wie ein aufgescheuchtes Huhn, sobald eine Nachricht eintrudelte.

Planänderung. Hole dich ab. Oma. Jule starrte auf die Nachricht, als bestünde sie aus Hieroglyphen. Wieso Planänderung? Wieso Oma? Jetzt verstand sie gar nichts mehr. Hatte Frau Bleeker nicht vorhin gesagt, ihr Papa sei schon auf dem Weg hierher, um sie abzuholen? Ihr Kopf dröhnte. Wahrscheinlich die Folgen der letzten Tage. Oder war es der Schreck von heute morgen?

Stirnrunzelnd ließ Jule das Handy in ihre Hosentasche gleiten und lehnte den Kopf an das kühle Fensterglas. Ihr war, als könne sie noch immer die Kälte der Nordsee spüren, das Salz, das in ihren Augen gebrannt hatte. Unglaublich, dass das wirklich erst zwei Tage her war! Jule kam es vor wie eine Ewigkeit.

Als sie Edda vor ein paar Tagen auf Baltrum kennengelernt hatte, da waren sie beide zwölf Jahre alt gewesen. Aber jetzt saß Jule hier auf dem Festland im Krankenhaus. Und Edda war älter als Jules Oma! Kein Mensch ahnte, dass die alte Frau Baum und ihre Freundin Edda ein- und dieselbe Person waren. Aber von alledem sollte sie weder ihrer Mama, ihrem Papa oder sonst irgend jemandem erzählen. Edda hatte sie eindringlich davor gewarnt. Es sei zu gefährlich! Und dann war heute morgen prompt dieser falsche Doktor hier im Krankenhaus aufgetaucht und hatte sie ausgequetscht wie eine Zitrone. Jule schaute dem Hubschrauber nach, der nur noch als kleiner Punkt am Horizont zu sehen war. Ob der falsche Doktor Schneider da drin saß?

Sie ging zurück zum Bett und durchforstete noch einmal ihre Sachen. Aber der Schatz, den sie mit Edda zusammen auf Baltrum gefunden hatte, blieb verschwunden. Immerhin hatte sie eine Zeichnung davon angefertigt. Sie zog die Skizze aus ihrer Mappe. Auf dem Zeichenblatt hatte sie auch zwei Worte notiert: Septem insulis. Das war Latein. Sieben Inseln.

Hatte dieses goldene Ding vielleicht etwas mit dem Ganzen zu tun? Je länger Jule darüber nachdachte, desto mehr kam sie zu der Überzeugung, dass es so sein musste. Warum sonst hatte ihr jemand das Ding aus ihrem Rucksack geklaut? Sie schob die Skizze zurück und klappte die Mappe zu.

„Glaubst du auch, dass Papa und Mama von alledem nichts wissen dürfen?“, fragte sie ihren alten Schmuse-Hasen Ruby, der sie vom Bett aus mit kohlschwarzen Augen anschaute. Obwohl sie eigentlich zu alt für ein Kuscheltier war, hatte ihre Mama ihn von zu Hause für Jule mitgebracht. Sein Fell war hauchdünn und an einigen Stellen ganz abgewetzt. Kaputt geschmust im Laufe der Jahre, in den vielen Nächten, in denen Ruby Jule zuhören, sie trösten und beschützen musste.

Wie leicht war es noch vor ein paar Jahren gewesen! Jule war abends mit ihrem Hasen ins Bett gekrochen und am nächsten Tag war die Welt wieder in Ordnung. Aber nun war nichts mehr in Ordnung. Ganz im Gegenteil.

Ruby schaute verwegen. „Dieser Typ hier in der Klinik“, schien er zu sagen, „der dich ausgefragt hat … gar nicht gut.“

„Glaubst du denn, dass er gefährlich ist?“ Jule nahm Ruby in die Hand und schaute ihn forschend an. Wieder war es ihr, als könnte sie ihn denken hören. „Wäre Frau Bleeker heute Morgen nicht im richtigen Moment hereingeplatzt und hätte den falschen Doktor vertrieben, dann …“

„Ja, was dann?“, überlegte Jule laut. Eines stand jedenfalls fest: Was auch immer der falsche Doktor von ihr wollte, er hatte sein Ziel heute nicht erreicht. Aber das würde ihn vermutlich nicht davon abhalten, es noch einmal zu versuchen. Vielleicht würde er sie sogar bis nach Hamburg verfolgen. Jule seufzte. Sie musste ihre Oma davon überzeugen, hier in der Nähe von Edda zu bleiben. Denn Edda war im Augenblick die einzige Person, die wusste, was es mit den Zeitsprüngen auf sich hatte. Aber wie sollte Jule das anstellen? Doch bevor sie sich weiter darüber den Kopf zerbrechen konnte, flog die Tür auf.

„Und Endstation“, flötete eine robuste Krankenschwester und schob ein Krankenhausbett neben das von Jule. In dem Bett saß ein Junge mit kupferroten Haaren. Eine übergroße Tasche lag an seinem Fußende. Der Junge trug eine dunkle Sonnenbrille und hielt in jeder Hand einen Becher mit Eis.

„Das nenne ich Glück am letzten Tag, Friedbert! Zu deiner Linken findest du nämlich ein wirklich hübsches Mädchen. Ich rate dir also, dich wie ein wahrer Gentlemen zu benehmen.“ Die Krankenschwester zwinkerte Jule zu.

„Hi, hübsches Mädchen“, flüsterte Friedbert mit rauer Stimme und grinste in Jules Richtung. Schwester Martina ließ die Bettrollen einrasten. Sie sah aus wie eine Frau aus dem Wrestling. Ihre Oberarme waren mindestens so dick wie ein Baumstamm. Sie schnappte sich die Reisetasche.

„Die Tasche bleibt hier!“, versuchte Friedbert zu protestieren, aber seine Stimme war mehr ein Flüstern. Schwester Martina schüttelte den Kopf und stellte die Tasche in die freie Hälfte des Kleiderschranks. „Der Klingelknopf befindet sich rechts von dir. Adios, Mister Weasley!“ Und mit diesen Worten war sie auch schon wieder verschwunden.

„Na toll“, fluchte Friedbert heiser. Eis tropfte über seine Hände.

„Mister Weasley?“ Jule musste lachen. „Ernsthaft?“

„Ja, ja. Sehr originell. Habe ich natürlich noch nie gehört“, flüsterte er und drehte sich in Jules Richtung. „Nein, ich bin nicht mit Ron Weasley verwandt. Und überhaupt habe ich Harry Potter noch nicht einmal gelesen.“ Er leckte sich das schmelzende Eis abwechselnd vom rechten und linken Handrücken ab. Jule war beeindruckt. Sie kannte niemanden aus ihrer Klasse, der Harry Potter nicht gelesen hatte.

„Ich bin Jule. Hallo … äh Friedbert, richtig?“ Sie konnte sich ein leises Lachen nicht verkneifen. Was für ein bekloppter Name!

„Gestatten: LD“, sagte Friedbert, während er sich bemühte, das tropfende Eis zu kontrollieren.

„LD?“ Jule runzelte die Stirn. „Ich dachte …“

„Vanille-Eis?“, fragte Friedbert und streckte Jule den linken Arm entgegen. „Das bekommst du hier tonnenweise, wenn dir die Mandeln rausgenommen werden.“

„Oh, danke. Meine Lieblingssorte.“ Jule nahm ihm das Eis ab. Eine Weile hörte man nur schmatzendes Schlürfen. Jule schielte zu Friedbert hinüber. Die ganze Situation war irgendwie komisch. Sie hatte noch nie alleine mit einem Jungen zusammen Eis gegessen. Und schon gar nicht mit einem völlig fremden Jungen, der im Krankenhaus eine Sonnenbrille trug.

„Lügen-Detektor“, flüsterte Friedbert plötzlich.

„Was?“ Jule dachte, sie hätte sich verhört.

„LD ist die Abkürzung für Lügen-Detektor. Aber es wird Englisch ausgesprochen, also El-di. Versteht sich von selbst, oder?“

„Mmmh … ok“, sagte Jule und schleckte an ihrem Eis. Der Rotschopf tickte doch nicht ganz richtig!

„Privatermittler“, erklärte er weiter, „wie Sherlock Holmes.“

„Aha …“, machte Jule und rümpfte die Nase. Sie war ein absoluter Fan von Sherlock Holmes. Aber dass sich dieser Friedbert mit dem berühmtesten Detektiv aller Zeiten verglich, war ganz schön anmaßend, wie sie fand. Trotzdem ging sie zum Spaß auf LDs Bemerkung ein. „Ich verstehe“, sagte sie mit ernstem Unterton. „Ermittelst du auch bei Diebstählen?“

„Kommt darauf an, ob der Fall mich interessiert“, erwiderte LD mit einem Schulterzucken.

„Ok“, sagte Jule. „Und wie funktioniert das?“

„Da ich finanziell nicht darauf angewiesen bin, suche ich mir meine Fälle selbst aus.“ Er setzte ein breites Grinsen auf und leckte an seinem Eis. „Wurde denn etwas gestohlen?“, fragte er beiläufig.

„Bedauerlicherweise ja“, sagte Jule und drehte ihren Eisbecher, um den Rand abzulecken.

„Und was?“, fragte LD.

„Meine Ruhe“, sagte Jule lachend.

„Sehr witzig!“ LD verzog den Mund.

„Kleiner Scherz“, entgegnete Jule und überlegte, ob sie es riskieren konnte, LD von dem goldenen Ding zu erzählen. Sie räusperte sich. „Ok, mal im Ernst. Mir wurde tatsächlich etwas geklaut … etwas, das gar nicht mir gehört … besser gesagt, nicht mir allein.“

„Das klingt schon interessanter“, sagte LD und schlürfte an seinem Eis. Er setzte sich im Bett etwas auf. „Erster Schritt ist immer die Suche nach dem Motiv.“

„Wie meinst du das?“, fragte Jule und war ganz Ohr.

„Die Frage aller Fragen lautet immer: Warum?“ LDs Wangen begannen zu glühen. „Warum macht jemand etwas? Was steckt dahinter? Wer profitiert davon?“

„Ich verstehe“, sagte Jule.

„Zweiter Schritt“, fuhr LD fort und leckte sich wieder Eis vom Handrücken, „ist die Suche nach der Gelegenheit. In deinem Fall also die Frage danach, wer Zugang zu deinen Sachen hatte.“

„Mmmh“, machte Jule. Das waren tatsächlich ein paar sehr hilfreiche Tipps. Aber es würde in ihrem Fall schwierig werden, darauf eine Antwort zu finden. Weder ihr Zimmer, noch ihr Schrank waren verschlossen gewesen. Jeder hätte praktisch an ihren Rucksack gehen können. „Vielleicht der falsche Doktor?“, überlegte sie, ohne zu merken, dass sie das gerade laut gesagt hatte.

„Falscher Doktor?“ LD drehte sich zu ihr und zog seine Augenbrauen so hoch, dass sie über den Rand der Brille zu sehen waren. „Klingt jetzt nach einem äußerst interessanten Fall“, verkündete er mit seiner rauen Stimme. „Und was wurde gestohlen? War es wertvoll?“

„Ach nein“, wiegelte Jule ab. „Es ist eigentlich auch gar nicht so wichtig.“

„Ha!“, triumphierte LD. „Das ist glatt gelogen!“ Er schleckte seinen Becher aus. „Ich kann dir nämlich auf den Kopf zusagen, wann du lügst.“ Er hatte einen provozierenden Unterton in der Stimme. „Darin bin ich Profi.“

„Das glaube ich nicht“, sagte Jule und wischte sich einen Tropfen Eis von der Nasenspitze.

„Try me!“ LD setzte sich auf. In den Gläsern seiner Sonnenbrille spiegelte sich das Neonlicht.

„Ok“, sagte Jule. Das hier war im Moment besser, als sich den Kopf über seltsame Nachrichten zu zerbrechen! Ein bisschen Abwechslung konnte vielleicht nicht schaden. Sie rutschte weiter zu ihm herum. „Meine Eltern lassen sich bald scheiden.“ Das klang zu ihrer eigenen Überraschung dramatischer als gedacht. „Und zum Trost bekomme ich ein eigenes Pony“, fügte sie schnell hinzu und stellte ihren leeren Pappbecher auf dem Nachttisch ab.

„Stimmt“, sagte LD und zerdrückte seinen Becher, „aber nur das mit der Scheidung. Das mit dem Pony ist reines Wunschdenken.“

„Wow.“ Jule klappte die Kinnlade herunter. „Aber vielleicht hast du auch einfach nur gut geraten!“

„Dann versuch’s noch mal! Ich habe heute nämlich nichts Besonderes mehr vor.“ Er leckte sich den linken Zeigefinger ab.

Jule dachte kurz nach. „Ich bin Einzelkind.“

„Wahr“, sagte LD gelangweilt. „Das war nun wirklich einfach.“ Nun kam sein rechter Daumen dran. „Hast du nichts Besseres auf Lager?“

„Ok …“ Jule überlegte, was sie ihm anbieten konnte. „Ich wäre vor ein paar Tagen fast ertrunken.“

„Krass!“ LD nickte anerkennend, als wäre es eine Meisterleistung, wenn man fast ertrank. „Wie ist das denn passiert?“

„Lange Geschichte“, sagte Jule knapp. Langsam wurde sie neugierig. „Wie funktioniert das … so als Lügendetektor?“

„Betriebsgeheimnis“, erklärte LD und verschränkte zufrieden die Arme hinterm Kopf.

„Und du irrst dich nie?“

„Nö, nicht bei so einem Kinderkram. Da musst du mir schon etwas richtig Abgefahrenes bieten! Ich bin nämlich absolute Weltklasse!“ Er grinste selbstzufrieden.

Was für ein Angeber! Jule verdrehte die Augen. „Also gut, du Schlaumeier! Ich bin 50 Jahre durch die Zeit gesprungen.“ Kaum waren ihr die Worte entschlüpft, biss sie sich auf die Unterlippe. Verdammt! Sie hatte doch versprochen nichts zu sagen! Wieso hatte sie sich so provozieren lassen?

LD runzelte die Stirn. Er sah aus, als hätte Jule ihm soeben erklärt, die Erde sei eine Scheibe. Er öffnete den Mund, klappte ihn aber gleich darauf wieder zu. Dann schüttelte er den Kopf. „Hammer!“, sagte er schließlich. „Wie hast du das gemacht?“

„Das mit dem Zeitsprung?“ Jule starrte ihn an.

„Nein“, entgegnete LD, „so perfekt zu lügen … ich meine, so als wäre das in echt passiert!“

„Das ist … äh … auch Betriebsgeheimnis“, ahmte Jule ihn nach und atmete erleichtert aus. LD schaute zerknirscht. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass ihn jemand so aus dem Konzept bringen konnte. „Gibt es in diesem Saftladen eigentlich nichts zu trinken?“, fragte er.

„Warte“, sagte Jule und reichte ihm ihre Wasserflasche. LD machte aber keine Anstalten sie zu nehmen.

„Hier“, sagte Jule ungeduldig und hielt ihm die Flasche vors Gesicht. LD griff daneben. Jule stutzte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie verstand. Deshalb also die dunkle Sonnenbrille! LD war blind. „Oh, das … tut mir leid“, sagte sie kleinlaut. „Ich hatte ja keine Ahnung …“ Sie drückte ihm die Wasserflasche direkt in die Hand.

„Bist also hinter mein kleines Betriebsgeheimnis gekommen“, erklärte LD lächelnd und schraubte die Flasche auf. „Braucht dir nicht leidtun. Kannst ja nix dafür.“ Er nahm einen großen Schluck. Jule schaute ihm dabei zu und wusste nicht, was sie sagen sollte.

„Wenn du nichts siehst, dann lernst du doppelt so gut hinzuhören“, sagte LD und wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab. „Es sind winzige Nuancen in der Stimme, die die Lüge verraten. Aber jetzt machen wir quid pro quo!“

„Quid was?“

„Das ist Latein und bedeutet soviel wie Gegenleistung. Jetzt bist du an der Reihe. Wie kann jemand so glaubhaft lügen? Was ist dein Betriebsgeheimnis?“

„Ich … also … äh“, stotterte Jule. LD legte den Kopf schief. „Komm schon! Das hat noch nicht einmal meine Mutter geschafft. Und die kennt mich immerhin schon fast 13 Jahre. Also, raus damit!“, forderte er und schraubte die Flasche wieder zu.

Jule seufzte. Und nun? Was sollte sie sagen? LD würde jede Lüge sofort als solche erkennen. „Ich darf darüber nicht reden“, erklärte sie wahrheitsgemäß. „Bin nämlich … bei so einer Art … Organisation.“

„Verstehe“, sagte LD mit einem fachmännischen Nicken. „Und wie heißt deine Organisation?“

„Meine … äh, ach so … die heißt … äh … Septem insulis.“ Jule kam langsam ganz schön ins Schwitzen. „Das bedeutet: die sieben Inseln“, fügte sie hinzu, um es irgendwie glaubhafter zu machen.

„Noch nie davon gehört“, meinte LD und hielt Jule die Flasche hin. „Aber deine Organisation braucht Nachhilfe in Latein. Das ist nämlich ein ganz dämlicher Name.“

„Wieso?“

„Weil es nicht die sieben Inseln heißt, sondern den siebenInseln.“ LD grinste wie Jules Englischlehrer, wenn sie Vokabeln vertauscht hatte.

„Streber“, gab sie flapsig zurück und nahm ihm die Flasche aus der Hand.

„Die sieben Inseln“, dozierte LD unbeirrt weiter, „das würde septem insulae heißen. Septem insulis ist der Ablativ, das bedeutet, dass da ein Stück vom Satz fehlt …“

„Und du bist Latein-Experte?“

In diesem Moment flog die Tür zum zweiten Mal auf, aber mit deutlich mehr Karacho als vorher.

„Wie schön, wie schön! Ganz ausgezeichnet dieser neumodische Schnickschnack!“ Eine Frau mit silbergrauen Haaren stürmte in den Raum, als wäre er eine Festung, die es zu erobern galt. In kürzester Zeit hatte die ältere Dame alle Stühle, den kleinen Tisch und eine Fensterbank mit Tüten, Taschen und ihrem Mantel belegt. In der Tür stand Schwester Martina und tippte auf das Display eines Tablets. Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sehr Ernsthaftes sagen, aber die Frau kam ihr zuvor. „Danke, ich brauche Sie jetzt nicht mehr.“ Und mit diesen Worten schob sie die verblüffte Krankenschwester hinaus und schloss die Tür.

Jule stellte die Flasche ab und grinste. Die Frau baute sich mit verschränkten Armen und strengem Blick an Jules Bettende auf. „Allen anderen kannst du vielleicht einen Bären aufbinden, meine Liebe,“ sie machte eine Pause, „aber mir machst du nichts vor! Fast ertrunken? Einfach so?“

Jule wurde rot. Doch dann hopste sie vom Bett und warf sich der Frau in die Arme. „Oma! Endlich!“

Die alte Dame lachte herzlich, drückte Jule fest an sich und strich ihr sanft über die Wange. „Meine Jule … ich darf dich einfach nicht alleine lassen!“

„Ach, Oma! Das war alles gar nicht so schlimm, wie Mama es dir vielleicht erzählt hat.“

„Mmmh“, machte ihre Oma und tätschelte Jule den Kopf. „Zwei Tage Krankenhaus und ein Termin beim Psychologen? Klingt mir nicht gerade nach gar nicht so schlimm.“ Sie bugsierte Jule zurück aufs Bett und zog eine Tüte Gummibärchen aus einer der Taschen, die auf dem Tisch gelandet waren. „Ich gehe davon aus, dass es für alles einen triftigen Grund gibt.“ Sie riss die Tüte auf und verstreute Bärchen auf Jules Bettdecke. Dann wandte sie sich Jules Bettnachbarn zu. „Entschuldigung.“ Sie streckte LD die Hand zum Gruß hin. „Ich bin die Oma.“

„El-di“, betonte LD und grüßte, als wäre er ein amerikanischer Polizist, der seinem Chef salutiert. Jules Oma ließ ein paar Gummibärchen in ihre offene Hand fallen und bot sie LD an. Jule zupfte sie am Ärmel und machte wilde Gesten. Als LD keine Reaktion zeigte, hob Jules Oma die Augenbrauen. „Gummibärchen auf 9 Uhr“, erklärte sie. LD grinste. Dann steuerte er zielsicher die Hand von Jules Oma an.

„Danke“, sagte er und stopfte sich alle Bärchen auf einmal in den Mund. „Ich mmmff …. schätze es, mit Profis … mmfff … zusammen zu arbeiten.“

„Keine Ursache“, sagte Jules Oma und fischte sich ein gelbes Gummibärchen von der Decke. Jule war platt. Immer wieder schaffte es ihre Oma sie zu überraschen. Ihre Oma lächelte und schob sich ein grünes Gummibärchen nach. „Nun zu dir“, fuhr sie fort und schaute Jule an. „Deine Eltern meinten, es sei eine wunderbare Überraschung, wenn ich dich abhole.“ Sie hielt kurz inne. „Und ehrlich gesagt, würde ich gerne von dir selbst erfahren, warum du hier im Krankenhaus gelandet bist.“

Jule quetschte ein rotes Gummibärchen zwischen Daumen und Zeigefinger platt. Ihre Oma war extrem beharrlich. Sie würde sich nicht mit Ausreden zufriedengeben. Jule würde sich alle Mühe geben müssen, ihr Geheimnis zu hüten. Gleichzeitig hielt sie es kaum noch im Krankenhaus aus. Sie musste den Dingen auf den Grund gehen. Jetzt könnte sie wirklich Eddas Hilfe gebrauchen!

„Lass dir ruhig Zeit“, sagte ihre Oma und blickte sich suchend um. „Ich bin mal kurz im Waschraum.“ Sie verschwand im Bad. Jule hörte, wie ein Glas mit Leitungswasser gefüllt wurde.

„Weltgewandte Frau, deine Oma“, sagte LD. „Kennt sich auf Anhieb aus!“

„Was hat das mit den Uhrzeiten auf sich?“, wollte Jule wissen.

„Ganz einfach“, erklärte er. „Du teilst den Raum um dich herum auf wie eine Uhr. Immer von dir aus betrachtet natürlich.“ Er streckte den Zeigefinger vor sich aus. „Geradeaus wäre 12 Uhr, rechts ist 3 Uhr und links von dir …“, sein Finger schwenkte in Jules Richtung, „eben 9 Uhr.“

„Nicht schlecht.“ Jule war beeindruckt.

„Psst“, machte LD und winkte Jule zu sich. Sie beugte sich zu ihm hinüber.

„Ich weiß ja nicht, wie deine Oma sonst so drauf ist“, flüsterte er, „aber die Sache mit deinen Eltern ist gelogen.“

„Was?“ Jule verlor fast das Gleichgewicht.

„Dieses Leitungswasser ist ganz hervorragend.“ Ihre Oma stand plötzlich im Türrahmen und hob ein Glas hoch. Dann wandte sie sich an LD. „Junger Mann, würdest du uns kurz entschuldigen?“

„Sicher“, sagte LD nickend. Jules Oma stellte das Glas auf dem Tisch ab. Dann winkte sie Jule zu sich. „Gehen wir ein Stück“, sagte sie und öffnete die Tür.

Im alten Binnenhafen von Emden schaukelten ein paar Sportboote am Steg. Möwen standen auf den Anlegepfählen, als hätte man sie für malerische Urlaubsfotos dort festgeklebt. An den Segelschiffen ließ der Wind die Seile an den Masten klappern. Bald schon würden alle Boote für den Winter aus dem Wasser geholt werden. Doch noch herrschte hier und da geschäftiges Treiben. Auf den Booten wurde geputzt, geschliffen, gemalt oder in Stand gesetzt, was über die Sommersaison kaputtgegangen war.

Ein rot-weißes Motorboot lag etwas abseits an einem Steg. Auf dem Oberdeck des Schiffes befanden sich seltsame Apparaturen. Ein Radargerät streckte seinen Flügel in die Luft. Kugelförmige Aufbauten dominierten Heck und Bug. Und da, wo sich bei anderen Booten oft eine Liegefläche für Sonnenhungrige befand, stand hier eine stabile weiße Blechkiste.

Eine Möwe ließ sich auf dem Wasser direkt neben dem Boot nieder. Plötzlich schoss sie wieder hoch und schrie empört. Unter ihr stiegen dicke Luftblasen an die Wasseroberfläche.

In der Kajüte des rot-weißen Bootes versuchte ein älterer Mann mit Glatze eine Seekarte vor sich auf dem Tisch auszubreiten. Doch das war ein ziemlich schwieriges Unterfangen. Überall stapelten sich Aktenordner und lose Blätter, dazwischen leere Kaffeetassen und angebissene Pizzastücke.

Doktor Baum strich die Karte umständlich glatt und starrte auf die Notizen, die seitlich an den Rand gekritzelt waren. Bei der Insel Norderney waren mehrere Zahlen notiert und wieder durchgestrichen worden. Die Insel Baltrum war rot eingekreist, daneben die Jahreszahlen 2017 und 1967. Und direkt darunter, doppelt unterstrichen die Frage: zwangsläufige Verkettung?

„Ordnung“, murmelte Doktor Baum. „Was ist das Ordnungsprinzip?“ Aber damit meinte er weder einen Plan zum Aufräumen noch zum Putzen.

Er sammelte die leeren Tassen ein und drehte sich zur Kombüse. Ein dumpfer Knall erschütterte das Boot. Doktor Baum taumelte und schlug mit dem Kopf hart gegen den Verbandskasten, der neben ihm an der Wand hing.

„Was zum …?“ Doch weiter kam er nicht. Wasser schoss in die Kajüte und flutete innerhalb von Sekunden den Holzboden. Eine Schrecksekunde lang starrte Doktor Baum auf seine rot-weißen Turnschuhe, die bereits komplett unter Wasser standen. Er ließ die Becher fallen und hechtete zur Achterkabine. Ein Loch, so groß wie ein Basketball, klaffte in der Bordwand. Das Motorboot neigte sich langsam, aber unaufhörlich zur Seite. Doktor Baum riss Jacken und Decken aus einem Schrank und versuchte damit das Leck zu stopfen. Er sah hektisch um sich, rannte zurück in den Kartenraum, riss ein Laptop vom Tisch und klemmte sich gleichzeitig drei Aktenordner unter den Arm. Damit stolperte er den Niedergang hinauf. An Deck schmiss er alles ins Cockpit, den Platz, wo das Ruder war. Als er von den Stufen des Niedergangs zurück in die Kajüte sprang, reichte ihm das Wasser bereits bis zu den Knien. Pizzastücke schwammen wie kleine Boote umher. „Nein, nein, nein!“, schrie Baum.

Hastig watete er weiter bis ins Vorschiff. Neben Plastikbechern, Zetteln und Sitzkissen, dümpelte ein silberfarbener Koffer auf dem Wasser. Nur noch eine Armlänge trennte ihn davon. Im Koffer lagen die Ergebnisse jahrelanger Forschung.

Ein zweite Explosion! Das Boot sackte nach hinten ab. Doktor Baum haute es mit einem lauten Platsch von den Füßen. Polster, Sitzkissen, Becher, Bücher und der Koffer schwappten über ihn hinweg in den Kartenraum. Und noch bevor er wieder auftauchen konnte, rutschte eine schwere Metallkiste an ihm vorbei und drückte die Tür hinter ihm zu. Das Splittern von Holz war zu hören. Es rumpelte, es quietschte und ächzte. Es klang, als würde das Boot vor Schmerz aufschreien.

Baum kam auf die Füße. Das Wasser reichte ihm inzwischen bis zur Brust. Er versuchte die Tür zu öffnen, aber gegen die schwere Kiste und die Massen von Wasser hatte er keine Chance.

Die umliegenden Schwimmstege im Hafen kamen schaukelnd in Bewegung. Menschen rannten und schrien wild durcheinander. Hektisch wurden Leinen und Seile gegriffen. Doch angekommen an der Unglücksstelle, konnten die Leute nur noch hilflos dabei zusehen, wie das rot-weiße Boot langsam im Hafen versank.

Niemand nahm in dem Chaos die aufsteigenden Luft-blasen eines Tauchers wahr. Niemand, außer einem gut gekleideten Herrn, der die ganze Szene vom Deck einer luxuriösen dunkelgrauen Motorjacht mit dem Fernglas beobachtete. Er lachte, setzte das Fernglas ab und schüttelte den Kopf. „Schmidt“, rief er in die Kajüte hinab, „gehen wir fischen!“

„Fischen?“ Ein älterer Mann mit Brille und grauem Schnurrbart erschien an Deck. „Aber Herr Senator, ich dachte …“ Er schaute verunsichert. „Was fischen wir denn?“

„Verräter“, ließ der Senator donnernd erklingen und lachte. „Verräter, mein lieber Schmidt!“

Jule wollte mit ihrer Oma eben in den Aufzug zum Krankenhaus-Café steigen, als ihnen Frau Doktor Bleeker aus dem Fahrstuhl entgegentrat. Sie hielt einen dicken Stapel mit rosafarbenen Akten in den Armen.

„Oh, das trifft sich ja gut.“ Sie lächelte Jule an. „Ich war gerade auf dem Weg zu dir.“ Doch mit Blick auf Jules Oma zog sie die Augenbrauen zusammen. „Und Sie sind …?“ Die Fahrstuhltür schob sich mit einem Ping wieder zu. Frau Bleeker hüpfte erschrocken einen kleinen Schritt nach vorne in den Flur.

„Das ist meine Oma“, sagte Jule und hakte sich bei ihrer Oma ein. „Ganz ehrlich, kein Grund zur Sorge.“

„Ach so, und ich dachte schon …“ Frau Bleeker sah erleichtert aus.

Jules Oma scannte die Ärztin mit ihrem gefürchteten Röntgenblick. Den kannte Jule nur zu gut. Der ging einem durch und durch. Mit diesem Blick hatte ihre Oma schon so manchen Verkäufer in den Wahnsinn getrieben, wenn es um angebliche Rabatte ging. Frau Bleeker wurde rot. „Entschuldigung“, sagte sie, klemmte die Akten unter den linken Arm und reichte Jules Oma die Hand. „Ich bin Doktor Bleeker. Ich habe mich um Jule gekümmert.“

„Freut mich“, sagte Jules Oma und ließ ein Lächeln über ihr Gesicht huschen. Sie schüttelte Frau Bleeker kräftig die Hand. „Das haben Sie sicher hervorragend gemacht. Eine ganz wunderbare Klinik haben Sie hier.“

„Oh, vielen Dank“, erwiderte Frau Bleeker und errötete noch mehr. Etwas unschlüssig fuhr sie fort. „Ehrlich gesagt, bin ich ein wenig irritiert. Ich dachte, Jules Vater wollte …“

„Ursprünglich ja“, fiel Jules Oma ihr ins Wort, „aber Jules Mutter ist Ärztin und vertraut in dieser Sache der fachlichen Einschätzung Ihres Kollegen.“ Sie räusperte sich. „Keine Sorge, es ist alles mit Jules Vater geklärt.“

„Ja, natürlich.“ Frau Bleeker wirkte trotzdem verwirrt. Genau wie Jule. Sie hatte das Gefühl, dass hier gerade irgendetwas Seltsames ablief.

„Ach … und dieser Zwischenfall heute morgen“, fuhr Jules Oma fort, „wird doch wohl hoffentlich von Ihnen weiter verfolgt!“ Schon hatte sie ihren Röntgenblick wieder drauf. Frau Bleeker strich sich nervös mit dem Zeigefinger über den Mund. „Natürlich! Was es aber auch für Sachen gibt!“ Sie lachte, aber es klang merkwürdig verkrampft. „Wir hatten bisher noch nie mit solchen Dingen wie Hausfriedensbruch zu tun.“ Frau Bleeker versuchte dem Blick von Jules Oma standzuhalten. Jule erwartete jeden Moment, dass Omas Röntgenblick wie ein Laserschwert durch Frau Bleeker hindurchfahren und sie in der Mitte zerteilen würde. Frau Bleeker hob entschuldigend die Schultern. „Diese sensationshungrigen Presse-Heinis haben ja heutzutage überhaupt keine Skrupel mehr. Es ist mir äußerst unangenehm, wie Sie sich vorstellen können. Er hat Jules Akte gestohlen.“

„Und Sie meinen, das war ein Journalist?“ Jules Oma schien skeptisch.

„Ja natürlich, denken Sie nicht? Der arme Doktor Schneider … er war fast zwei Stunden im Putzmittelraum eingesperrt.“ Frau Bleeker wechselte den Aktenstapel von links nach rechts und schaute auf ihre Armbanduhr. „Er ist jetzt allerdings bei der Polizei und macht eine Zeugenaussage. Aber, wenn Sie mir folgen möchten, klären wir die Formalitäten in meinem Büro.“

„Ich bitte darum!“, sagte Jules Oma entschlossen. Frau Bleeker machte Anstalten zu gehen, aber Jule griff nach ihrem Ärmel. „Hat sich vielleicht Frau Baum gemeldet? Sie wissen schon, oder?“ Sie ließ den Ärmel der Ärztin los und zupfte ihn glatt. „Die mich aus der Nordsee gerettet hat.“

„Aber natürlich“, entgegnete Frau Bleeker. „Das war ja wohl eine hollywoodreife Rettung, wie man hört. Darum ist die Presse ja so angestachelt. Wir hatten wirklich Mühe, diese Leute abzuwimmeln … mit mehr oder weniger Erfolg.“ Sie lächelte mühsam. „Frau Baum“, fuhr sie mit Blick auf Jule fort, „gehört zu den Leuten in den rot-weißen Overalls. Wie heißen die denn noch?“ Sie schaute hoch zur Decke, als ob die Antwort dort zu finden sei. „ChronoS. Richtig! Mit einem großen S am Ende und so einem komischen Logo.“

„Und?“, wollte Jule wissen. „Hat sie sich noch einmal gemeldet?“

„Nicht, dass ich wüsste. Tut mir leid.“ Frau Bleeker hob erneut die Schultern. „Aber sie hat sicher eine Menge zu tun“, fügte sie tröstend hinzu.

Ihre Oma legte beide Hände auf Jules Schultern. „Geh doch schon mal nach unten in die Cafeteria“, sagte sie und strich ihr über das Haar. „Ich habe einiges mit Frau Bleeker zu besprechen. Und danach reden wir Tacheles.“

Die beiden Frauen gingen mit zügigen Schritten den Flur entlang und verschwanden nach rechts in einen Gang. Jule drückte den Knopf für den Aufzug. Tacheles, das bedeutete so viel wie Klartext reden. Das könnte wirklich schwierig werden. Ihre Oma hatte einen Riecher für Geheimnisse und Flunkerei. Genauso wie LD. Die beiden würden ein gutes Team abgeben!

Das Krankenhaus-Café war fast leer. Es hatte den Charme einer Mensa. Nicht wirklich gemütlich, sondern irgendwie nur funktional. Die Möbel aus hellem Kiefernholz. Die Stühle mit geblümten Polstern. In einer Ecke lief stumm der Fernseher. Hinter dem Tresen sortierte eine Frau in hellblauer Kittelschürze Teller in ein Regal. In einer anderen Ecke vor einem Kunstdruck mit dem berühmten Nachtcafé von van Gogh saßen zwei ältere Herren. Ihre Krücken lehnten neben ihnen an der Wand. Jule musste an Opa Francesco denken. Wie er mit seinem Stock gefuchtelt hatte und völlig ausgerastet war, als sie ihn auf Baltrum nach Edda gefragt hatte.

Jule suchte einen Tisch am Fenster aus und ließ sich auf den Stuhl plumpsen. Sie musste unbedingt mit Edda sprechen. Sie konnte unmöglich jetzt mit Oma nach Hause fahren! Warum hatte Edda sich nicht schon längst gemeldet? Sie hatte doch versprochen, dass sie Jule bald alles erklären würde. Aber was bedeutete bald? Heute, morgen, in zwei Tagen? Plötzlich fragte sich Jule, was sie überhaupt von Edda wusste. Meeresgeologin, hatte Frau Bleeker gesagt. Und, dass sie zu den Leuten von ChronoS gehörte.

Jule zog ihr Handy aus der Hosentasche, gab die Worte Edda Baum, Meeresgeologin in die Internet-Suchmaschine ein und filterte nach Bildern. Eine Unmenge von Fotos erschien. Auf fast allen war Edda irgendwo am Meer, auf einem Schiff, am Strand oder in einem Labor zu sehen. Mal hatte sie einen Schutzhelm und Schutzkleidung an, mal einen weißen Kittel. Auf vielen Bildern war sie im Taucheranzug. Auf anderen schüttelte sie Hände oder hielt offenbar irgendwo einen Vortrag.

Wie es schien, hatte Edda ihr Leben dem Meer gewidmet. Jule fand einen Artikel, in dem Edda über die Einzigartigkeit des Wattenmeeres und die Folgen des Klimawandels berichtete. In vielen anderen Artikeln ging es auch um Umweltschutz.

Sie hat sich nicht verändert, dachte Jule. Sie musste daran denken, wie sie Edda das erste Mal begegnet war. Barfuß und im gelben Regenmantel, auf der Suche nach Möwe, war sie aus den Dünen gekommen. Schon als Kind hatte sie sich um die Tiere gekümmert.

Ab dem Jahr 2001 gab es Fotos, auf denen Edda zusammen mit ChronoS abgebildet war. Dort stand, dass sie dem internationalen Forscherteam um einen Doktor Baum beigetreten sei. Hatte Edda den etwa geheiratet? Jedenfalls hatte sie gesagt, sie hieße jetzt mit Nachnamen nicht mehr Ulrichs, sondern Baum. Jule klickte sich durch die Bilderflut. Hier war sogar ein Gruppenfoto mit den Leuten, die sie auf Baltrum gesehen hatte. Der Junge mit den dunklen Locken hieß Luis Marinelli und war offenbar so etwas wie ein junges Genie in Sachen Computer. Die Frau mit dem schwarzen Bubikopf hieß Stella Hütterli und kam aus der Schweiz. Allesamt Physiker und Zeitforschende. Begriffe wie Quantenphysik und Quantenmechanik tauchten in Zusammenhang mit ChronoS immer wieder auf. Aber es gab auch Fotos mit Leuten, die Banner und Schilder hochhielten. Schützt unsere Tiere stand auf einem Schild. Umweltkiller war auf einem anderen zu lesen. Jule klickte auf den Filter für Videos. Doch in diesem Moment wurde der Fernseher plötzlich laut. Sie schaute hinüber zum Flachbildschirm an der Wand. Die Frau in hellblauer Kittelschürze stand mit der Fernbedienung davor. Die beiden Herren in der Ecke machten lange Hälse.

„… wie soeben bekannt wurde“, hörte man die Stimme eines Nachrichtensprechers, „ist die Ursache des Unglücks noch nicht geklärt. Ein Selbstverschulden der Schiffseigner wird allerdings ausgeschlossen.“

Die beiden Männer mit den Krücken drehten ihre Stühle Richtung Fernseher. Jule lehnte sich ein Stück zur Seite, um einen freien Blick auf den Apparat zu erhalten. Der Reporter im Vordergrund machte eine sehr ernste Miene. Jule konnte im Hintergrund einige Gebäude und Boote erkennen. Ein Mann mit Glatze saß auf einem schaukelnden Steg. Jemand legte ihm eine Wolldecke um die Schultern. In der Hand hielt er einen Pappbecher. Neben ihm stapelten sich Aktenordner, Kissen, Polster und eine aufgeweichte Pizzaschachtel.