Das tote Mädchen vom Strand - Lara Dearman - E-Book

Das tote Mädchen vom Strand E-Book

Lara Dearman

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Beschreibung

Ein Mordfall vor dramatischer Kulisse, in den die Sagen der Insel Guernsey verwoben sind.

Fürchte nicht die Dunkelheit. Fürchte das, was sie verbirgt.
Um London zu entfliehen, kehrt die Journalistin Jennifer in ihre Heimat zurück: das pittoreske Guernsey. Doch schon ihre erste Reportage führt sie ins dunkle Herz der Insel. Als Jennifer über ein ertrunkenes Mädchen berichtet, kommt sie einer Serie von Todesfällen auf die Spur. Im Laufe von Jahrzehnten haben immer wieder auffällig attraktive junge blonde Frauen scheinbar durch Unfall oder Selbstmord ihr Leben im Meer verloren. Sie alle trugen dieselben Zeichen auf ihrer Haut. Offenbar gibt es auf der Kanalinsel einen Killer, der seit fünfzig Jahren mordet. Und der in der Welt der Mythen und Legenden von Guernsey zu Hause ist ...

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Seitenzahl: 561

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Lara Dearman

Das tote Mädchen vom Strand

Ein Guernsey-Krimi

Aus dem Englischen con Marie-Luise Bezzenberger

Buch

Als die Journalistin Jennifer auf ihre Heimatinsel Guernsey zurückkehrt, scheint ein beschaulicher Berufsalltag auf sie zu warten. Bis man die Leiche eines jungen Mädchens am Strand entdeckt. Zwar wird der Tod als Selbstmord deklariert, aber eine Bemerkung ihrer Mutter lässt Jennifer aufhorchen: Eine Schulfreundin von ihr sei eines Morgens ertrunken aufgefunden worden, erzählt Margaret Dorey ihrer Tochter. Neugierig geworden sucht Jenny nach Informationen über den Jahrzehnte zurückliegenden Vorfall und bemerkt sofort die Ähnlichkeit der damaligen Toten mit der jungen Frau vom Strand. Und sie kommt weiteren Todesfällen auf die Spur, bis ein schrecklicher Verdacht sie beschleicht: Was, wenn es sich nicht um Unfälle oder Selbstmorde handelte, sondern um Mord? Und wenn der Mörder noch immer sein Unwesen auf Guernsey treibt?

Autorin

Lara Dearman ist auf der Insel Guernsey geboren und aufgewachsen. Sie zog nach England, um Internationale Beziehungen und Französische Literaturgeschichte an der University of Sussex zu studieren. Eine kurze Karriere in der Finanzbranche beendete sie, um für ihre drei Kinder da zu sein. Nachdem sie am Richmond Adult Community College einen Creative-Writing-Kurs besucht hatte, schrieb sie sich an der St. Mary’s University in London für einen Masterstudiengang in Creative Writing ein. 2016 machte sie ihren Abschluss mit Auszeichnung. Im Lauf von fünfzehn Jahren war Lara Dearman von Guernsey über Brighton nach London, Paris, Singapur und zurück nach London gezogen, um sich schließlich mit ihrer Familie in Westchester, New York, niederzulassen. »Das tote Mädchen vom Strand« ist ihr erster Roman und verbindet ihre Liebe zu Guernsey, Mythen und Folklore mit ihrem Interesse an Spannungsliteratur und Serienkillern.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe 2017 by Lara Dearman

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München

Umschlagfoto: Arcangel / Roy Bishop

Redaktion: Julie Hübner

AB · Herstellung: kw

Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-21196-7V002

www.goldmann-verlag.de

Für Andrew, Lily, Charlie und Lena

P’tit a p’tit l’ouaise fait sen nicLittle by little the bird builds her nest

Sir Edgar MacCulloch, Guernsey Folk Lore

Prolog

Sie freut sich aufs Ausgehen. Es ist so lange her, dass es etwas gab, worauf sie sich freuen konnte. Ihr neues Top ist schwarz und aus so einem satinartigen Stoff. Er fühlt sich kühl auf der Haut an. Das Top hat kurze Ärmel und einen tiefen Ausschnitt. Heute Abend ist es frisch draußen, sie wird also eine Jacke anziehen. Und wenn sie in die Bar kommt, wird sie die Jacke ausziehen und ihre Freunde es sehen lassen.

Es ist an der Zeit, es zu zeigen.

Die Narben ziehen sich von der Innenseite des Ellenbogens bis zum Handgelenk hinunter. Sie streicht mit dem Finger an einer davon entlang. Die ist jetzt blassrosa. Fast silbern. Und ganz, ganz dünn. Weil sie ja nie tief geschnitten hat. Nur eben oft.

Ihr Haar ist lang und lockig. Es müsste mal gewaschen werden. Sie bürstet es und flicht es zu einem Zopf. Der hängt ihr über die Schulter. Das sieht süß aus; eine Kleinmädchenfrisur. Jungs stehen auf so was; sie erinnert sich, das mal in einer Zeitschrift gelesen zu haben. Aber man muss jung genug dafür sein. Und dünn. Und hübsch. Zum Glück ist sie alles drei.

Es wird spät. Mum bietet ihr an, sie hinzufahren, aber sie sagt Nein. Das ist doch bloß eine Ausrede, um sie im Auge zu behalten. Sie geht lieber zu Fuß, sagt sie, aber als sie ins Freie tritt, ist es kälter, als sie gedacht hat. Nach fünf Minuten beschließt sie umzukehren. Sie wird sich einen Pulli überziehen und ihrer Mum sagen, dass sie doch gefahren werden möchte. Doch dann hält ein Auto neben ihr. Das Fenster gleitet herunter. Sie braucht ihre Mum also doch nicht.

Ein Schwall kalter Luft lässt sie zu sich kommen. Sie kann nicht richtig sehen. Ihr Kopf dröhnt. Sie ist in dem Auto, aber es fährt nicht. Sie blinzelt heftig, um deutlicher sehen zu können. Dann erinnert sie sich. Er hatte eine Pistole. Er hatte eine Pistole, und damit hat er sie geschlagen. So fest, dass ihr schwarz vor Augen wurde, und jetzt hat sie Blut in den Augen und im Mund, und sie versucht, ihn zu öffnen, zu schreien, doch es geht nicht. Er klemmt irgendwie, und noch ehe sie herausgefunden hat, wie sie ihn aufkriegen kann, ist er wieder da.

Er macht die Tür auf.

Ihre Handgelenke sind mit silbernem Klebeband gefesselt. Es schimmert im Mondlicht. Vorhin hatte sie Angst, bevor er sie geschlagen hat, bevor sie das Bewusstsein verloren hat. Sie hatte Angst, war aber zu höflich, um zu versuchen, aus dem Wagen zu steigen.

Er zerrt sie hinaus.

Sie hat fürchterliche Angst. Er wird sie vergewaltigen und umbringen. Sie wird sterben, weil sie zu höflich war.

Er steht vor ihr. Er lächelt. Und er macht Geräusche.

Er summt.

Sie schreit mit geschlossenem Mund, schreit, bis ihre Kehle brennt, presst den Laut durch die Nase und fuchtelt vergeblich mit den Armen, und er stößt sie gegen das Auto und drückt ihr die Kehle zu, bis das jämmerliche Geräusch, das sie gemacht hat, zum Schweigen gebracht worden ist, ersetzt durch eine lautlose Spur aus Rotz und Blut.

Er streicht ihr übers Haar. Befingert den hübschen Zopf, den, von dem sie gedacht hat, die Jungs würden darauf abfahren. Sie wimmert. Er beugt sich vor, legt die Wange an ihre. Sie spürt seinen Atem, feucht und warm auf ihrer Haut.

Er flüstert.

Pssst. Sei jetzt still. Ich helfe dir.

Er führt sie durch die Nacht, und sie stolpert und sie weint, und dann schubst er sie.

Hinunter.

In die Dunkelheit.

1. Kapitel

Jenny

Donnerstag, 6. November

Es war dasselbe Motorrad. Sie wusste es, noch bevor sie es sah. Das Motorengeräusch hatte etwas Blechernes, so ein hohes Jaulen in dem üblichen Grollen und Dröhnen. Sie schaute in den Rückspiegel, als es um die Ecke bog und in Sicht kam. Eine neonorangefarbene Maschine, ­der Fahrer ganz in Schwarz, dunkler Helm, das verspiegelte Visier her­untergeklappt. Definitiv derselbe. Er folgte ihr, bis sie La Grande Rue erreichte. So wie er es diese Woche jeden Morgen gemacht hatte. Als sie vor der gelben Linie hielt und rechts blinkte, um in Richtung Stadt abzubiegen, überholte er sie und bog nach links ab, auf L’Ancresse zu.

So war das eben auf Guernsey. Ständig begegnete man denselben Leuten. Es gab einen Witz darüber, irgendetwas von wegen sechzigtausend Menschen, die sich an einen Felsen klammerten. Mit gut achtunddreißig Quadratkilometern war die Insel nicht direkt ein Felsen, aber viel fehlte dazu auch nicht. Doch dieses Motorrad hatte etwas Beunruhigendes. Etwas Bedrohliches. Sie folgte ihm.

Sie hielt Abstand, bis sie die Kreuzung bei L’Ancresse erreichten. Nach links führte die Straße breit und schnurgerade nach St. Sampson. Geradeaus ging es auf einem schmalen Weg zur Müllkippe am Mont Cuet. Rechts lag Gemeindeland und dann das Meer. Der Fahrer schaute über die Schulter, als sie hinter ihm vor der gelben Linie hielt, und obwohl sie lediglich das Spiegelbild ihres Wagens in seinem Visier sehen konnte, war Jenny sich sicher, dass er sie anlächelte. Sie verhöhnte. Er ließ den Motor seiner Maschine aufheulen. Eine Abgaswolke quoll aus dem Auspuff. Dann wandte er sich wieder der Straße zu und ließ die Bremse los, schlingerte gefährlich, als er mit quietschenden Reifen aufs Meer zufuhr; ein letzter Blick in ihre Richtung, bevor er verschwand.

Jenny umklammerte das Lenkrad so fest, dass ihr die Finger wehtaten und ihre Hände schwitzten. Sie benahm sich albern. Wahrscheinlich war das nur irgendein Halbwüchsiger, der angeben wollte. Es gab keinen Grund, warum ihr jemand folgen sollte. Nicht hier. Sie wischte sich die Hände an ihren Jeans ab. Öffnete das Fenster, um einen Schwall kühle Luft hereinzulassen. Wendete und fuhr zur Arbeit.

Die Fahrt in die Stadt führte sie nach Süden an der Küste entlang. Die Strände auf dieser Seite der Insel waren steinig, glatte, schwarze Kiesel anstelle von Sand; gelegentlich ragte ein größerer Felsen daraus hervor, oben grün und weiß von Seetang und angetrocknetem Vogeldreck. Bojen, mit denen Krebs- und Hummerreusen markiert waren, sprenkelten das Meer; jahrelanges Sonnenlicht hatte ihre leuchtend rote Oberfläche zu Blassrosa ausbleichen lassen. Dichter am Ufer schaukelten kleine Fischerboote, klapperten und knarrten an ihren Vertäuungen. The Lady Katherine, Margot’s Dream, große Namen, die nicht recht zum bescheidenen Äußeren der verwitterten Kähne passten und von deren rostfleckigen Rümpfen die Farbe abblätterte. Über dem Kanal war der Himmel wolkenlos. Schwache Herbstsonnenstrahlen verhießen einen schönen Tag. Eine frische Brise fegte über die Wasseroberfläche, wehte feine Gischt über die Ufermauer und auf die Windschutzscheibe ihres Autos.

Als sie sich St. Sampson näherte, wurde der Verkehr dichter; die Landstraßen des Vale-Bezirks, ihrer Heimatgemeinde, wichen den verstopften mehrspurigen Straßen der Stadt. Mit einem Auge auf der Uhr, fuhr sie im stockenden Verkehr in Richtung Bulwer Avenue und St. Peter Port, vorbei an einer Reihe zusammengewürfelter Bürogebäude und Wohnblocks. Brandneue Bausünden standen neben den verblassten Überresten prächtiger Hotels, die jetzt leer standen und darauf warteten, in weitere Büros oder Wohnblocks umgewandelt zu werden, oder, wie das Schild einer Baufirma herausposaunte, in

»LUXUS-EIGENTUMSWOHNUNGENMITGRANDIOSEMBLICKAUFDENKANALUNDDIEINSELNHERMUNDSARK«.

Schön, wenn man sich so was leisten konnte, was ihr nicht möglich war. Sie hatte gedacht, London wäre teuer, bis sie wieder auf die Insel gezogen war und festgestellt hatte, dass das Beste, was hier für sie möglich war, eine mickrige Einzimmerwohnung in einem heruntergekommenen Haus in einer der am wenigsten erstrebenswerten Straßen der Stadt war. Und deswegen hockte sie, achtzehn Monate nachdem sie zurückgekommen war und im reifen Alter von fast ­dreißig Jahren, wieder in ihrem alten Zimmer, bei ihrer Mum.

Jenseits einer niedrigen Mauer ging es nur noch im Kriechtempo voran. Es war Flut, und von hier aus sah es so aus, als könne Jenny die Hand ausstrecken und das Meer berühren. In ihrer Kindheit war es für sie ein endloses großes Wunder gewesen. Die Heimat von Meerjungfrauen und versunkenen Städten, von Schmugglern und Schätzen und den Riesentintenfischen, die ihr Dad angeblich oft ganz kurz zu Gesicht bekam, aber niemals fing. Jenny liebte seine Geschichten. Sie saß immer auf seinem Schoß, wenn er mit seinen Freunden Karten spielte, und hörte zu, wie die bärbeißigen Fischer von ihren Booten und über die jüngsten Fischereivorschriften redeten oder über irgendeinen Amateur, der in Schwierigkeiten geraten war und gerettet werden musste. Wenn sie Glück hatte, erzählte einer von ihnen ihr eine richtige Geschichte, von einem Piraten vielleicht, dessen Geist im Wind um den Hafen trieb. Dann kam ihre Mum immer an, schüttelte den Kopf und sagte, sie sollten aufhören, dem armen Mädchen solche albernen Flausen in den Kopf zu setzen. Ob sie denn nicht wussten, dass sie davon Albträume bekam? Aber sie bekam gar keine Albträume davon. Im Gegenteil, die Geschichten erfüllten ihre Gedanken mit Farbe und Licht, und sie träumte von Helden, die Ertrinkende retteten, von bleichen ­Gespenstern auf Phantomschiffen, von hohen schwarzen Masten auf glitzernden Ozeanen.

Jetzt war es anders. Jetzt gab es dort keine Meerjungfrauen, Piraten oder Gespenster mehr. Jetzt war es nur Wasser, schwarz und abweisend, das ihre Bewegungsfreiheit einschränkte.

Ihr kam der Gedanke, dass sie aussteigen und nachsehen sollte, ob da vorn irgendetwas los war, worüber es sich zu berichten lohnte. Selbst ein kleiner Unfall könnte es an ruhigen Tagen auf Seite drei schaffen.

Und auf Guernsey waren die meisten Tage ruhig.

Stattdessen betrachtete sie sich im Spiegel der Sonnenblende. Die Bräune des Sommers verging allmählich. Sie sah blass aus, und ihre Augenbrauen, selbst in den besten Zeiten aufsässig, drohten mit totaler Rebellion. Ihr Haar, noch feucht vom morgendlichen Schwimmen, war dicht und blond. Sie trug es offen. Es war zu kurz. Sie ließ es wachsen. Unwillkürlich fuhr sie mit den Händen hindurch, zerrte an den Spitzen, als könne sie sie damit wieder dorthin locken, wo sie gewesen waren. Vorher. Dann schob sie die Haare hinter die Ohren, streifte dabei die kleine Narbe ganz oben im Nacken. Sie war schlecht verheilt, hatte einen juckenden Wulst hinterlassen. Mit der Zeit würde das vergehen, hatte der Arzt freundlich gesagt. Ihr war klar gewesen, dass er nicht nur die Narbe gemeint hatte.

Der Wagen vor ihr rollte langsam vorwärts. Sie wurden schneller, und sie bog gerade noch rechtzeitig um die Kurve, um zu sehen, wie eine aufgeregte Färse von einem Bauern in Gummistiefeln und einem lachenden Polizisten die Vale Road hinuntergeführt wurde, begleitet von wohlwollendem Hupen und Winken.

Sie hätte aussteigen sollen. Ein rascher Schnappschuss wäre vielleicht auf der Titelseite gelandet.

Die Redaktion der Guernsey News war Teil des Bauprojekts Admiral Park, am Rand der Innenstadt von St. Peter Port. Umgeben von einer seelenlosen Ansammlung verglaster Büroblocks und einer viel befahrenen Hauptstraße, die zu dem brandneuen Supermarkt um die Ecke führte, sprachen in Sachen Lage nur zwei Dinge für die Redaktion: reichlich Parkplätze, und jenseits des stetigen Stroms vorbeifahrender Autos ein Blick aufs Meer. Im Inneren jedoch bot sie viel Vorteilhaftes. Ein Großraumbüro, hell und luftig; ein riesiges Atrium erfüllte es selbst an den allertrübsten Tagen mit Licht. Vom Boden bis zur Decke reichende Fenster säumten die Wand an der zum Meer gelegenen Seite, und auf der anderen spiegelten verglaste Räume das Licht von draußen zurück ins Büro. An sonnigen Tagen und bei Flut spielten kleine Wellen auf sämtlichen Oberflächen.

Ganz hinten, in einem ebenfalls verglasten separaten Raum, standen die Druckerpressen. Jeder, der um sechs Uhr früh im Büro war, konnte fühlen, wie der Boden vibrierte und brummte, wenn die Zeitungen des Tages aus der Presse rollten, ehe sie gestapelt und gebündelt wurden, bereit für die Auslieferung an Kioske und Supermärkte überall auf der Insel. Jenny fand den Geruch einer frisch gedruckten Zeitung wunderbar. Das scharfe, metallische Aroma der Druckfarbe auf dem weichen Papier; es verging wie die Neuigkeiten, wenn der Tag seinen Lauf nahm.

Die Morgenbesprechung hatte sie verpasst, also ging sie geradewegs zu ihrem Schreibtisch. Dort türmten sich Stapel zerknitterter Unterlagen und gezackter, aus einem Notiz­buch gerissener Blätter; das Ganze sah aus wie das blanke Chaos, doch sie hatte ein System und konnte binnen Augenblicken finden, was sie suchte. In der Ecke, neben dem Bildschirm, stand ein Foto von ihrem Dad, Charlie. Es war vor fast zehn Jahren aufgenommen worden; er stand neben seinem Fischerboot Jenny Wren, das gerade frisch gestrichen worden war. Er lächelte, hatte die Mütze tief über die Augen gezogen, um diese vor der gleißenden Sonne zu schützen. An jenem Tag war er später noch mit ihnen nach Herm gefahren, einer winzigen Insel drei Seemeilen vor der Ostküste von Guernsey, und sie hatten am Shell Beach gepicknickt, Sandwiches mit Dosenlachs und Zitronentee mit Milch aus einer Thermosflasche, und sie hatten sich alle einen Sonnenbrand geholt. Das schien eine Ewigkeit her zu sein.

Jenny sah ihre E-Mails durch. Eine von Sarah, die wissen wollte, ob sie sich denn nun jemals auf einen Drink treffen würden. Es kam selten vor, dass Jennys Freundin sich ihre Kinder vom Hals schaffen und die fünfzehn Minuten lange Fahrt in die Stadt unternehmen konnte, um ein Glas Wein zu trinken. Jenny antwortete, dass sie liebend gern etwas trinken gehen und ein wenig schwatzen würde, wenn sie es denn jemals vor neun Uhr abends aus der Redaktion schaffen könnte. Um diese Zeit lag Sarah normalerweise schon halb schlafend auf dem Sofa.

Ihre Quelle bei der Polizei (ein Cousin zweiten Grades, ein freundlicher Detective Constable namens Stephen Marquis, der es genoss, sich auf einen Kaffee mit ihr zu treffen und ihr Informationshäppchen zukommen zu lassen) hatte ihr Fotos von »sonderbaren« Graffiti am Moulin Huet geschickt. Sie wollte sie gerade öffnen, als ihr eine weitere Mail ins Auge fiel. Es war die Adresse. Unbekannt. Könnte Spam sein. Doch sie wusste Bescheid, noch ehe sie daraufklickte.

SCHLAMPE

Hastig schloss sie die Mail, wollte nicht, dass jemand vorbeikam und sie sah. Es fühlte sich nämlich irgendwie beschämend an, angepöbelt zu werden. Die Leute könnten doch denken, sie hätte es verdient. Sie wusste, von wem die Mail war. Oder zumindest wusste sie, wozu sie gedacht war. Sie sollte sie daran erinnern. Dass sie sie beobachteten. Wie genau, wusste sie nicht. Der Motorradfahrer zum Beispiel. Sie versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, dass sie paranoid war. Aber war der Fahrer auch eine Botschaft? Jenny hätte nicht gedacht, dass sie so viel Mühe wert war. Sie verschob die Mail in einen Ordner, den sie Fairfield Road betitelt hatte, und vermied es, erneut an ihrem Haar zu zerren. Sie wandte sich einem Klebezettel zu, den jemand auf ihr Telefon gepappt hatte.

Brian will dich sprechen.

Super. Sie zerknüllte den Zettel und schmiss ihn in den Papierkorb.

Elliot, der neue Reporter, telefonierte und tigerte dabei auf und ab. Er sprach mit irgendjemandem über die »Guernsey den Guernseyern«-Kampagne, eine Anti-Zuwanderer-Bewegung, die gegen den jüngsten Zuzug ausländischer Arbeitskräfte protestierte. Das war eine Story, die Jenny hatte haben wollen, doch sie war Elliot gegeben worden, als eine Art Initiation in die Welt der Inselpolitik. Er war ungefähr so alt wie sie, nahm sie an, Ende zwanzig, vielleicht auch dreißig. Stammte von hier, war jedoch aufgrund irgendwelcher komplizierten familiären Verhältnisse, die sie noch nicht verstanden hatte, in England aufgewachsen und erst vor Kurzem auf die Insel zurückgekehrt. Er war freundlich. Und sah auf so eine gesunde Pfadfinderart auch gut aus: kantiger Kiefer, glattrasiert, ordentlich gekleidet, das schmal geschnittene Hemd in die Jeans gesteckt, die Ärmel über knackigen Armen hochgekrempelt. Sie war nicht die Einzige, der das aufgefallen war. Die beiden Praktikantinnen liefen jedes Mal rot an, wenn er sie ansprach, und sie hatte mitbekommen, wie Marjorie, die für den ­Kopierer und die Ablage zuständige Sekretärin, die schon halb in Rente war, über einen seiner schlechten Witze gekichert und ihm dann einen Kaffee gemacht hatte. Den hatte sie ihm an den Schreibtisch gebracht, als wären dies die gottverdammten Fünfzigerjahre. Allerdings war es schwer, ihm das übelzunehmen. Er hatte ein irritierend einnehmendes Wesen.

Elliot blieb stehen, als er vorbeikam. Das tat er oft. Hockte sich auf das Ende ihres Schreibtischs. Jenny konnte ein paar Bartstoppeln sehen, die ihm beim morgendlichen Rasieren entgangen waren, dicht unter dem linken Ohr, und sie stellte sich vor, wie sie mit dem Finger über seinen Kiefer strich, die rauen Stoppeln und dann die glatte Haut spürte. Sie merkte, wie sie rot wurde; sie war ja genauso schlimm wie die Praktikantinnen. Sogar noch schlimmer. Die konnten sich wenigstens auf ihr Alter berufen.

»Du solltest aufpassen«, meinte er. »Brian ist auf dem Kriegspfad.«

»Was passt ihm denn jetzt wieder nicht?«

»Nicht genug gute Storys. Ich schwör’s, Mark hatte nach der Besprechung Tränen in den Augen.«

Das war nichts Neues. Niemand konnte verstehen, wie der sanfte Mark es zum Nachrichtenredakteur gebracht hatte; man konnte nur mutmaßen, dass es daran lag, dass er so ein Weichei war. So hatte Brian freie Hand, die Zeitung so zu führen, wie es ihm passte.

»Er will dich sprechen.«

»Hmm?«

»Brian. Er will dich sprechen. Ich hab dir einen Zettel hingelegt. Sobald du kommst, hat er gesagt.« Elliot zwinkerte ihr zu, als er ging.

Ein Augenzwinkern, dachte Jenny, konnte entweder frech oder lüstern sein. Elliot schaffte es irgendwie, es liebenswert wirken zu lassen.

Brian Ozanne schaute von seinem Laptop auf und lächelte schmallippig. Als Herausgeber der einzigen Tageszeitung der Insel hielt er sich für einen kleinen Star. Er musste mindestens sechzig sein, sah aber mit seinem dichten, glänzenden Haar und seiner Haut, die genau im richtigen, leicht sonnengebräunten Ton leuchtete, um Jahre jünger aus. Insgeheim hegte Jenny den starken Verdacht, dass hier eine Anti-Grau-Tönung und Spraybräune in Gebrauch waren. Ein Foto von seiner Frau nahm den Ehrenplatz auf seinem Schreibtisch ein. Brian organisierte zu ihrem Andenken jedes Jahr eine Spendenaktion für die Krebsforschung. Jeder in der Redaktion beteiligte sich an gesponserten Schweige-Aktionen oder kam im Pyjama zur Arbeit oder rasierte sich Bart oder Schnurrbart ab. Brian beaufsichtigte das Ganze stets persönlich, drängte alle, noch mehr Geld einzutreiben, den Spendenrekord des letzten Jahres zu ­brechen, und dann legte er noch einmal so viel drauf, wie zusammengekommen war. Was ja auch alles schön und gut war, nur bestand er jedes Jahr auf einem doppelseitigen Artikel darüber im Nachrichtenteil, einschließlich eines Interviews und eines Fotos von ihm, wie er geschniegelt und gestylt einem Vertreter der jeweiligen Wohltätigkeitsorganisation den Scheck überreichte. Es war zum Brechen.

»Also, Jennifer.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, die Fingerspitzen unter dem Kinn aneinandergelegt. »Was meinen Sie denn, wie Sie sich so machen?«

Das war eine typische Brian-Frage und würde zweifellos zu irgendeiner Standpauke führen. Aber Jenny fand, dass sie sich durchaus gut machte. Also sagte sie ihm das.

»Prima, Brian, vielen Dank. Ich hab ein paar tolle Kontakte geknüpft, ein paar gute Artikel abgeliefert. Mark ist mit meiner Arbeit anscheinend sehr zufrieden.«

»Natürlich. Alles, was Sie abliefern, ist qualitativ gut. Das bestreitet auch niemand. Hier geht’s auch nicht um Qualität, nein, nein, nein.« Er schüttelte den Kopf. »Hier geht’s um Quantität.« Er hielt kurz inne. »Ganz ehrlich, Jennifer, Sie liefern einfach nicht genug.« Er hob die Hand, um ihren Einwand abzuwehren. »Ich weiß, Sie hängen sich rein. Sie arbeiten lange. Aber Sie werden klüger arbeiten müssen. Um Ihren Output zu steigern. Und seit heute Morgen fehlt uns ein Reporter – eins von den ­Mädels ist krankgeschrieben. Das können Sie übernehmen. Fangen Sie mit dem Feuerwerk beim Castle am Wochenende an. Auf Feuerwerk steht doch jeder.« Er nahm sein Blackberry zur Hand und fing an, eine Nachricht zu beantworten; das war wohl das Zeichen, dass die Besprechung zu Ende war.

Es war sinnlos, Brian zu widersprechen. Er war seit dreißig Jahren Herausgeber der News, wie er jedem ständig unter die Nase rieb. Außerdem war er auch ein bisschen ein Drecksack im Machtrausch und verhandelte für gewöhnlich nicht. Wenn Jenny ihren Job behalten wollte, und im Moment war sie sich da nicht so ganz sicher, dann musste sie ihn bei Laune halten. Sie wandte sich zum Gehen.

»Ach, und Jennifer?«

»Ja, Brian?«

Er schaute noch immer auf sein Handy. »Gestern hab ich einen Anruf bekommen. Auf meiner Direktleitung, das ist ziemlich ungewöhnlich; Sie wissen ja, normalerweise werden meine Anrufe von Rose durchgestellt.« Jenny nickte und überlegte, ob Brian ihr jetzt einen Vermittlungsfehler der Telefonzentrale anhängen wollte.

»Es war jemand, der nach Ihnen gefragt hat. Ein junger Mann.«

»Und wer?« Die Frage blieb Jenny fast in der Kehle stecken, und Brian blickte mit zusammengekniffenen Augen auf.

»Ich habe keine Ahnung. Wie ich dem Anrufer gesagt habe, bin ich nicht Ihr Privatsekretär. Sorgen Sie freund­licherweise dafür, dass so was nicht wieder vorkommt.«

Jenny brachte nur mit Mühe ein Nicken zustande.

Sie setzte sich wieder an ihren Schreibtisch und starrte auf den Bildschirm. Öffnete den Ordner Fairfield Road. Darin waren jetzt zehn E-Mails, einschließlich der von heute. Sie scrollte die Liste hinunter:

SCHLAMPE

SCHLAMPE

SCHLAMPE

SCHLAMPE

SCHLAMPE

SCHLAMPE

SCHLAMPE

SCHLAMPE

SCHLAMPE

SCHLAMPE

2. Kapitel

Matt

Die Straße zum Pleinmont Point war für Autos gesperrt, also fuhr Matt seinen alten Fiesta in die nächste Parklücke, gegenüber vom Imperial Hotel, und machte den Motor aus. Er kurbelte das Fenster herunter und zündete sich eine Zigarette an. Wellen brachen sich laut unter ihm am Ufer. Von hier aus zog sich die Westküste hin, ein langer Sandstrand nach dem anderen, Rocquaine, Vazon, Cobo, bis im Norden Felsen und Kiesel den Sand verdrängten. Er rauchte seine Zigarette zu Ende, löste seinen Pferdeschwanz und ließ sein langes, schlaffes Haar um sein Gesicht hängen. Seine Ohren waren zu groß. Zugehängt sahen sie besser aus. Wegen seiner Stirn konnte er nichts machen, die glühte vor Akne. Im Haaransatz hatte er Spuren der Abdeckcreme, mit der er experimentiert hatte.

Schiss. Wegen eines Mädchens. Erbärmlich.

Draußen war der Abend kalt. Entlang der Ufermauer versammelten sie sich in kleinen Grüppchen, von Taschenlampen beleuchtet, die sie auf die Mauer legten. Schwarze Klamotten, schwarze Mäntel, schwarze Stiefel mit Nieten, Ketten und Schnallen.

Er ging zu der Stelle unter den Bäumen hinüber, wo sich seine Freunde jeden Freitag trafen. Lauren war schon da; sie hockte neben einem tragbaren Grill, hörte Neonfly und trank aus einer Bierdose. Ihre Brüste drängten sich gegen das enge schwarze Top. Er überlegte, ob das wohl Absicht war, ob sie wusste, dass ihre T-Shirts zu klein waren. Wahrscheinlich. Sie war das, was sein Dad ein Flittchen nennen würde. Keine Schlampe. Ein Flittchen. Das war etwas anderes.

Matt setzte sich neben Sam.

»Hi, Matt.« Lauren lächelte ihn an. Ihre Lippen waren voll und weich. Blowjob-Lippen. Sie hatte ein bisschen Lippenstift an den Zähnen. Sie reichte ihm ein Bier. Mit brennenden Wangen nuschelte er »danke« und trank einen Schluck. Sam ließ sich darüber aus, wie scheiße sein Leben doch war, wie unfassbar ihn das College ankotzte, wie sehr er seinen Dad hasste. Irgendjemand hatte andere Musik aufgelegt. Slipknot. Eine Wolkenbank zog vom Meer herein. Es würde regnen. Matt klappte den Mantelkragen hoch.

»Jedenfalls, ich bin dann mal weg, Alter. Lauren und ich wollten gerade ’n bisschen spazieren gehen.« Sam stand auf, streckte Lauren die Hand hin und zog sie an seine Seite.

»Hier, nimm ruhig.« Er reichte Matt den Rest seines Joints, und Matt sah ihnen nach.

Dieses Arschloch. Sam wusste doch, dass er auf Lauren stand. Matt hatte seit Wochen von nichts anderem geredet. Er rieb sich die Augen, strich sich das Haar zurück und zerrte das Gummiband so fest darum, dass ihm die Kopfhaut wehtat. Dann packte er seine Bierdose und spürte, wie das dünne Aluminium unter seinen Fingern nachgab. Er drückte zu, zerquetschte die Dose und schmiss sie in die Luft, so hoch, wie er nur konnte. Bier spritzte heraus, als sie durch die Luft flog, ehe sie auf dem Asphalt über die Straße hopste und vor den Füßen eines vor Piercings starrenden Jungen landete.

»Hey, pass doch auf, Arschgesicht!«

»’tschuldigung«, brummelte Matt.

Er trank noch vier Dosen Bier und rauchte den Joint zu Ende. Schickte einem Kumpel eine SMS, der ihn überreden wollte, in die Stadt zu kommen. Doch Matt war klar, dass er jetzt deutlich zu viel intus hatte und erst wieder nüchtern werden musste, bevor er sich hinters Steuer setzte, also spielte er Infinity Blade, bis sein Handy einen niedrigen Akku-Stand anzeigte. Er schmiss es neben sich ins Gras und legte sich auf den Rücken, schaute zum Himmel empor. Der sah total abgefahren aus, denn obwohl es Nacht war und er eigentlich schwarz sein sollte, leuchteten die tiefhängenden Wolken weiß im Mondlicht, und die Vögel – oder waren das Fledermäuse? Er wusste nicht genau, ob Vögel nachts schliefen – waren schwarze Flatterschemen am Himmel. Davon wurde ihm schwindlig, also schloss er die Augen, eingelullt vom rhythmischen Death Metal-Hämmern, das von den anderen Gruppen zu ihm herüberwehte, und dem Rauschen des Meeres.

Es war still. Er setzte sich auf. Der Grill war ausgebrannt, unter den weißen Ascheflocken war kaum noch orangerote Glut zu sehen. Er tastete nach seinem Handy, schaltete die Taschenlampe ein. Laurens und Sams Sachen waren noch da, doch von den beiden war nichts zu sehen. Die anderen waren fast alle weg. Ein Pärchen knutschte wenig enthusiastisch auf einer Kühlerhaube; er hatte den Kopf an ihrem Hals vergraben, während sie gleichzeitig an ihrem Handy und in seinem Schritt herumfummelte. Matt schaute weg, erregt und peinlich berührt.

Ein Stück weiter die Straße hinauf gab eine an der Mauer zusammengekrümmte Gestalt stöhnende Geräusche von sich. Matt stand auf, schüttelte den Kopf, atmete ein paar Mal tief durch und stolperte hinüber. Er hatte vor ein paar Jahren beim St. John’s Rettungsdienst einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht, Teil eines inzwischen längst nicht mehr existierenden Duke of Edinburgh-Preises, und in solchen Situationen fühlte er sich immer ein wenig verantwortlich. Er hockte sich vor der Gestalt hin. Ein Junge, konnte nicht älter sein als vierzehn. Kotze sprenkelte den Asphalt an der Stelle, wo er zusammengeklappt war. Matt stupste ihn mit dem Stiefel an. Nichts. Er stupste noch einmal, fester diesmal, bis der Junge »Lass mich in Ruhe« nuschelte und sich herumrollte, mitten hinein in eine Lache seiner eigenen Kotze.

Matt trat zurück und sah sich um. Bierdosen und im Wind treibende Pommestüten, Zigarettenkippen auf dem Asphalt, Kotzepfützen. Früher hatte es ihm hier gefallen. Er war immer mit seinem Lenkdrachen hierhergekommen. Bei Fort Pezeries wehte immer eine schöne Brise. Jetzt schau sich einer an, was die daraus gemacht hatten. Es war ekelhaft. Und Sam versaute wahrscheinlich gerade die Klippen mit seinen benutzten Gummis. Eigentlich könnte er ihm auch jetzt gleich sagen, dass er ihn mal kreuzweise konnte. Mit einem energischen Zurückwerfen seiner fettigen Haare machte Matt sich auf den Weg in die Nacht.

Er ging von dem Parkplatz weg in Richtung Pezeries Point, leuchtete sich mit dem Handy und folgte der Asphaltstraße, bis er zu der Wiese vor der National Trust kam. Das war eine Abkürzung zum Fort, wo er Sam und Lauren vermutete. Also verließ er die Sicherheit des festen Asphalts und trat auf das dichte, federnde Gras, das seinem Gang etwas unerwünscht Wippendes verlieh und ihm die Knöchel in alle möglichen unerwarteten Richtungen verdrehte. Unsicher ging er weiter, stolperte fast, als ein Kaninchen aus dem Unterholz rannte, und das Tier blieb wie angewurzelt stehen. Seine Augen schimmerten weiß. Er leuchtete mit dem Handy umher, versuchte, sich darüber klar zu werden, wo genau er sich befand. Ein Schild zur Rechten warnte vor einer senkrechten Felswand, die zum Meer hin abfiel. Das ließ ihn schlagartig nüchtern werden. Im Dunkeln auf den Klippen herumzulaufen war wohl keine gute Idee, dachte er, also ging er zur Straße zurück und folgte ihr nach Fort Pezeries, einer verfallenen Burg oder Festung; er wusste nicht genau, was der Unterschied war. Die Außenmauern waren wieder aufgebaut worden, und man konnte hinaufsteigen und oben entlanglaufen. Bestimmt waren sie da drin. Vögelten wahrscheinlich an einer der Kanonen. Oder vielleicht blies Lauren Sam ja einen, während der an der Mauer der Waffenkammer lehnte und über die Rocquaine Bay hinausschaute. Matt blieb stehen. Lauschte. Wellen, die gegen Felsen krachten. Das nervöse Piepsen von Austernfischern. Das Rascheln von Farn.

Noch etwas anderes.

Knisternde Zweige.

Kaninchen. Hier wimmelte es von Kaninchen. Er erinnerte sich noch, wie er hier oben mal eins gefunden und gedacht hatte, es wäre zahm. Er hatte sich gebückt, um es zu streicheln, und hatte gesehen, dass es Myxomatose hatte; es war blind, und sein Fell war voller offener Geschwüre. Er hatte gewusst, dass er es eigentlich töten sollte, um es von seinem Elend zu erlösen, aber er konnte es nicht und hatte es blindlings ins Unterholz hinken lassen. Bei der Erinnerung wurde ihm übel. Was machte er hier eigentlich, verdammte Scheiße? Er musste hier weg. Den Weg zurück, den er gekommen war, allerdings war er vom Pfad abgekommen und war sich nicht mehr sicher, in welcher Richtung der lag, und plötzlich versank alles in Finsternis. Scheiße. Er drückte auf den Anschaltknopf seines Handys, doch er wusste, dass es keinen Sinn hatte. Dann ging er ein paar Schritte und stolperte über einen Felsen, der senkrecht aus dem Boden hervorragte. Dann über noch einen. Ein Kreis aus Felsen. Er wusste, wo er war.

La Table des Pions oder der Feenring, wie alle ihn nannten, war eine grobe, in ein grasbewachsenes Plateau gehauene Plattform, umgeben von einem Ring aus Steinen. Auf der einen Seite bildete dichtes Gestrüpp aus Farnkraut und Ginster einen natürlichen Windschutz, auf der anderen führte eine grasbedeckte Landzunge zu senkrecht abfallenden Klippen, und dort unten lag das Meer. Die Plattform war als Picknickplatz für Amtsträger geschaffen worden, die vor Hunderten von Jahren die Straßen der Inseln ins­piziert hatten, doch die Inselbewohner zogen die anderen Geschichten vor, die sich um diesen Ort rankten. Geschichten von Hexen. Und vom Teufel. Der Teufel kam hierher, als Ziege oder Wolf getarnt oder auch als großer schwarzer Hund, und tanzte mit den Hexen. Irgendwo gab es hier auch einen Tunnel. Keinen echten, soweit Matt wusste, aber der Legende nach benutzten alle Kumpels des Teufels Tunnel, um von Ort zu Ort zu gelangen. Die Eingänge waren Höhlen in den Klippen, die tief unter die Erde führten. Geschichten. Aber Matt bekam das Bild von Schatten, die in dunklen Höhlen lauerten, nicht aus dem Kopf. Er stellte sich vor, wie sie auf den Strand hinausschwärmten, direkt hier unter ihm, und die Klippen heraufgeklettert kamen. Wie sie ihn fanden und ihn in Stücke rissen, und er wusste, dass das der Joint war, das Gras, das ihn paranoid machte, doch er wollte weg. Eine noch dickere Wolkenbank rollte vom Meer heran und löschte das bleiche Mondlicht aus. Er drehte sich um. Versuchte, sich zu orientieren.

Noch mehr knackende Zweige. Noch mehr Kaninchen.

Flüstern. Bloß der Wind.

Nur war jetzt auch Gelächter dabei, da war er sich ganz sicher. Raues, hustendes Gelächter.

Sein Feuerzeug fiel ihm wieder ein, und er tastete mit zitternder Hand in seiner Tasche danach.

Wieder dieses Geräusch. Irre, schrill, jetzt mehr ein Schrei als Gelächter. Er hielt das Feuerzeug hoch, schwang es wild durch die Luft, doch er konnte es nur gerade eben lange genug in Gang halten, um etwas Blasses in der Mitte des Ringes zu erkennen, mit verschwommenen Rändern. Einen Moment lang dachte er wirklich, er würde sich gleich in die Hose pissen.

Er wollte rufen, wollte hören, ob Sam und Lauren in der Nähe waren, doch er hatte Angst, ein Geräusch zu machen. Instinktiv hatte er das Gefühl, dass er still sein sollte. Mühsam brachte er seine Hand zur Ruhe. Hielt das Feuerzeug vor sich, auch wenn es nicht brannte, als könnte es ihm irgendwie Schutz bieten. Feuer. Hexen fürchteten sich vor Feuer. Er schüttelte den Kopf. Es gab doch gar keine Scheißhexen. Aber irgendetwas war dort. Etwas war in dem Kreis. Er hatte es doch ganz kurz gesehen. Und er hatte so ein Gefühl, ein grauenvolles, eiskaltes Gefühl, dass es etwas Schreckliches war, etwas Schlimmeres, als er jemals gesehen hatte. Er trat einen Schritt näher. Ließ das Feuerzeug aufflammen.

Die Gestalt lag flach auf dem Rücken, Arme und Beine ausgestreckt. Matt konnte kaum atmen. Galle brannte ihm ganz hinten im Rachen, und er hustete, dann schlug er die Hand vor den Mund, verzweifelt bemüht, das Geräusch zu dämpfen. Er wollte davonlaufen, doch er zwang sich nä­her zu treten, noch näher, sich vorzubeugen, die Flamme zu senken, sodass er alles richtig sehen konnte.

Es war grotesk. Gliedmaßen und Kopf waren unnatürlich groß; fest mit Schnur umwickelte Knöchel und Handgelenke, die abrupt endeten, weil Hände und Füße fehlten. Noch auffälliger jedoch waren die Haare. Sorgfältig um den geschwollenen Kopf herum aufgefächert, erzeugte der Wider­schein der Flamme in jedem einzelnen blondierten Haar einen unheimlichen Heiligenschein-Effekt. Matt gab einen unverständlichen Laut von sich, halb Seufzer und halb Auflachen, und sank auf die Knie.

Es war eine Guy Fawkes-Strohpuppe, ausgestopft und verschnürt und fertig für das Freudenfeuer. Der Kopf, aus einem mit Stroh ausgestopften Jutesack, war der einer Frau; das Gesicht war wie ein Cartoon darauf gemalt: große blaue Augen mit übertrieben langen Wimpern, rot geschminkte Wangen und knallrote Lippen, die zu ihm emporlächelten. Die Strohpuppe trug ein langärmeliges weißes Shirt, und in den rechten Arm hatte jemand vier Striche geritzt, drei senkrechte und einen waagerechten darunter. Stroh stach aus den Schnitten hervor, und einzelne Halme lagen im Gras um die Puppe herum.

Geräusche, hinter ihm. Taumelnd kam Matt auf die Beine, fuhr herum.

»Scheiße, Alter, was machst’n da?« Es war Sam, eine Taschenlampe in der Hand. Er sah zerzaust aus, und Lauren lehnte sich an ihn. Sie hatte Farnblätter im Haar.

»Es ist eine Guy Fawkes-Puppe.« Matts Stimme war hoch und heiser. Er räusperte sich. »Hat mir einen Scheißschrecken eingejagt.«

Sam schlenderte herbei, um die Puppe zu betrachten, zuckte die Achseln.

»Wahrscheinlich haben die bloß irgendwelche Spinner hier liegen lassen, die versuchen, damit die Leute zu ver­arschen. Komm mit zurück und trink noch ’n Bier.« Sam und Lauren gingen Arm in Arm davon. Eine einsame Möwe flog über sie hinweg, ein weißes Aufblitzen, und entließ ihren harschen Schrei in die Nacht.

Matt kauerte sich wieder neben die Strohpuppe. Es war doch schade, sie einfach so verkommen zu lassen. Er hielt das Feuerzeug ans Ende des rechten Beines und sah zu, wie der Hosensaum schrumpfte und zurückwich; jeder Faden leuchtete kurz auf, ehe er wegschmolz. Die Flammen, von dem Stoff genährt, wurden rasch größer. Er sah zu, wie der aus Stroh und Zeitungen gemachte Körper sich wand und drehte, als wehre er sich gegen das Feuer. Das Gesicht mit diesen großen blauen Augen, die seine nicht losließen, sah beinahe so aus, als versuche es, ihm irgendetwas zu sagen, und einen Moment lang wollte er die Puppe retten.

Doch es war zu spät. Das Feuer verzehrte alles.

3. Kapitel

Jenny

Samstag, 8. November

Im Pyjama, einem, den sie schon seit Jahren hatte – verwaschenes kariertes Hemd und weite ­Hose – kam sie in die Küche. Ihr Haar ein zerzaustes Gewirr, dunkle Ringe unter den Augen. Es war erst kurz nach sechs, aber Margaret stand bereits an der Spüle. Ordentlich gekleidet in einen wollenen Rock und eine bedruckte Bluse, deren Ärmel sie bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt hatte, streifte sie gerade ein Paar leuchtend gelbe Gummihandschuhe über. Sie weigerte sich, die Spülmaschine zu benutzen. Das sei doch Verschwendung, meinte sie; es hätte doch keinen Sinn, die Maschine für ein paar Teller und ein bisschen Besteck laufen zu lassen. Heutzutage hatte vieles keinen Sinn, jedenfalls nach Margarets Ansicht nicht. Mit Sicherheit alles, was das Leben leichter machte, und ganz sicher alles Frivole oder Lustige. Das war so, seit Charlie umgekommen war. Sie tauchte die Hände ins Seifenwasser und klirrte mit Tassen und Tellern, als sie jedes einzelne Stück herauszog, mit einem Schwamm daran herumwischte und dabei das Ganze mit einer Art hochkonzentrierter, hektischer Energie auflud.

Margaret Dorey hatte reichlich Energie. Früher hatte sie so viel zu tun gehabt. Charlie brauchte ein Lunchpaket, eine Thermosflasche, ein T-Shirt musste für ihn gebügelt oder eine verschwundene Socke gefunden werden. Er ließ sein Frühstücksgeschirr stehen, und sie räumte es weg. Sie erledigte die Wäsche und plante noch vor Mittag das Abendessen, damit sie einkaufen gehen konnte, falls sie irgendetwas brauchte. Jetzt hatte sie nur noch Jenny.

Sie stand früh auf und kleidete sich sorgfältig an, hielt vielleicht sogar noch mehr auf ihr Äußeres als vorher, versicherte Jenny, dass sie sich nicht gehenlassen würde, nur weil sie Witwe war. Sie hielt das Haus makellos sauber und in Ordnung. Und sie war auf den Beinen. Andauernd. Im Haus hinauf und hinunter, zu jeder Tages- und Nachtzeit, zappelig und seufzend, rieb eine Schliere von einem Bilderrahmen, arrangierte die Sachen auf dem Kaminsims neu, machte sich unzählige Tassen Tee und trank sie nur halb aus, weil sie von allen möglichen anderen banalen Aufgaben abgelenkt wurde. Es machte einen schon wahnsinnig, ihr dabei zuzusehen. Für Margaret selbst war es bestimmt noch schlimmer, dachte Jenny im Stillen.

Jenny schenkte sich Saft ein und setzte sich an den Tisch, vor eine zusammengefaltete Ausgabe der Daily Mail. Sie nahm sie zur Hand und blätterte die ersten paar Seiten durch, ehe sie sie mit einem übertriebenen Seufzer wieder auf den Tisch schmiss.

»Ich weiß echt nicht, wie du diesen Quatsch lesen kannst.«

»Ich weiß halt gern, was in der Welt so passiert.«

»Na, das wirst du da drin ja wohl kaum rausfinden, oder?« Jenny war klar, dass sie sich zickig anhörte. »Entschuldige, ich bin müde.«

»Hab ich dich gestern Nacht etwa wieder aufgeweckt, Liebes?« Margaret drehte sich um. Sie sah jünger aus als fünfundfünfzig, aber die Jahre holten sie rasch ein. Ihr schwarzes Haar war von silbernen Strähnen durchzogen, die Falten um ihre Augen wurden tiefer, und ihr Gesicht war verhärmt. Und sie hatte so sehr abgenommen. Nicht nur vom Körper her; es war, als wäre irgendetwas, das tief in ihr verankert gewesen war, einfach davongetrieben. Zum ersten Mal war Jenny das bei Charlies Beerdigung aufgefallen. Sie hatte Margarets Arm genommen, damit sie nicht stolperte. Ihre Mutter war dünn und gebrechlich gewesen. Wie ein Vogel. Leichtigkeit und Knochen.

»Du nicht«, antwortete sie. »Diese verdammten Kids haben mal wieder mitten in der Nacht ein Feuerwerk veranstaltet.« Sie würde Margaret nicht sagen, dass sie schlecht schlief. Dass sie seit Kurzem mitten in der Nacht aufwachte, von einer kalten, klammen Furcht erfasst, die sie seit Jahren nicht mehr verspürt hatte. Margaret fand auch so genug, worüber sie sich Sorgen machen konnte, ohne dass Jenny etwas dazu beitrug.

Ihre Mutter wandte sich wieder dem Geschirr zu. »Hast du irgendwelche Pläne fürs Wochenende, Liebes?«, erkundigte sie sich. »Ich habe neulich Sarah getroffen, mit den Kleinen. Dafür, dass sie drei Kinder hat, sieht sie toll aus, muss ich sagen. Sie hat gesagt, ihr beide wollt etwas trinken gehen. Das wäre doch nett. Weißt du, du solltest ein bisschen öfter ausgehen. Dich ein bisschen amüsieren, ein paar Leute kennenlernen.«

»Ich kenne jede Menge Leute, Mum. Mach dir um mich keine Sorgen. Und ich gehe ja auch mit Sarah was trinken. Sobald ich Zeit habe. Ich muss heute in die Redaktion; ich schreibe über das Feuerwerk oben beim Castle. Aber erst gehe ich noch schnell schwimmen.«

»Doch nicht etwa wieder im Meer? Warum gehst du nicht ins Schwimmbad, wie normale Menschen?« Margaret setzte eine verzweifelte Miene auf, reserviert für das, was sie als Jennys abwegigste Schnapsideen betrachtete. Es war eine Miene, die Charlie oft zu sehen bekommen hatte, und unwillkürlich musste Jenny lächeln.

»Das Schwimmbad ist was für Memmen, Mum, das weißt du doch.« Jenny trank ihren Saft aus und ließ das leere Glas ins Spülbecken plumpsen. »Warum kommst du nicht mit zum Feuerwerk, Mum? Viel zu tun habe ich da nicht; wir könnten uns was zu essen holen, wenn ich fertig bin. Man weiß ja nie, frische Luft, ein Gläschen Wein, vielleicht schläfst du danach ja sogar ein bisschen.«

Margaret zögerte. »Heute Abend? Ich weiß nicht recht. Tante Pat hat etwas davon gesagt, dass sie vielleicht anrufen will.« In letzter Zeit hatte sie gesellschaftlichen Kontakt möglichst vermieden, hatte jedes Mal Ausreden vorgebracht, wenn Jenny vorschlug, dass sie essen oder ins Kino gehen oder irgendetwas tun könnten, was sie früher oft als Familie unternommen hatten.

»Echt jetzt, Mum? Wann hast du das letzte Mal mit ihr telefoniert, vor drei Tagen?«

»Ist ja gut, Jenny«, gab Margaret gereizt zurück.

»Denkst du drüber nach?«

Margaret schüttelte ihre seifigen Hände über der Spüle, streifte die Handschuhe ab und hängte sie zum Trocknen über den Wasserhahn.

»Ich denke drüber nach. Und jetzt solltest du dich besser nach Pembroke aufmachen, bevor’s da zu voll wird. Ich habe gehört, im November ist da in aller Herrgottsfrühe immer eine Menge los.«

»Sehr witzig, Mum.«

Margaret wusste sehr gut, dass Jenny seit Wochen keine Menschenseele am Strand gesehen hatte.

Die verfallenen Mauern des Vale Castle, die über der felsigen Bucht von Bordeaux Harbour aufragten, waren mit bunten Laternenketten geschmückt. Hinter ihnen, durch einen steinernen Bogen zu sehen, war der Schlosshof voller Menschen. Maskierte Jongleure und Feuerschlucker wanderten durch die Menge, und das Geschrei aufgeregter Kinder übertönte das Stimmengewirr der Besucherscharen. Hinter einer Reihe Metallgitter wurde neben einer kleinen Bühne ein Berg aus zertrümmerten Paletten und Treibholz aufgetürmt: das Freudenfeuer, das seine Guy Fawkes-Puppe erwartete. Daneben drängten sich einige Teenager in Rockband-T-Shirts in einer Ecke, tranken aus einer Colaflasche und rauchten Selbstgedrehte. Jenny lächelte. Es kam ihr vor, als sei sie erst gestern noch eine von ihnen gewesen, und einen Augenblick lang rechnete sie fast damit, die Gesichter alter Freunde zu sehen, ehe ihr wieder einfiel, dass die ja jetzt alle erwachsen waren und dass die Hälfte von ihnen wahrscheinlich mit ihren Kindern zu Hause hockte.

Es war ein vollkommener Abend; das Wetter war das reinste Herbst-Klischee. Die einzigen Wolken am sternenhellen Himmel kamen aus dem hohen Schornstein des Kraftwerks, das, hinter ihnen gerade eben noch zu sehen, seinen stetigen Dunststrom in die Nacht hinauswisperte.

Jenny schaute zu Margaret hinüber. Sie war tatsächlich mitgekommen. Und nicht nur das, sie sah auch gelöst aus. Sogar fröhlich. Ihre Wangen waren rosig von der Kälte. Jenny verspürte ein Aufwallen von Zuneigung, sie hakte sich bei ihrer Mutter unter und zog sie dicht zu sich heran. Sie konnte die Wolle ihres Mantels riechen und darunter einen ganz schwachen Hauch von Waschpulver und Parfum, tröstlich und vertraut.

»Ich bin froh, dass du mich in deinem vollgepackten Zeitplan unterbringen konntest. Werden die Eastenders dich nicht vermissen?«

»Hör bloß auf, Jennifer Dorey.« Margaret reckte die Nase hoch. »Du weißt doch, dass ich Feuerwerk gern mag. Und ich weiß, dass du recht hast, ich muss wirklich anfangen, ein bisschen öfter auszugehen. Genau wie du. Ich bin alt, ich habe eine Ausrede. Und außerdem ist heute Samstag, da läuft Eastenders gar nicht.«

Sie setzten sich auf eine Steinbrüstung in der Nähe des Eingangs und aßen Hotdogs. Ein Geiger und ein Flötist spielten ganz in der Nähe und sammelten in einem offenen Geigenkasten Kleingeld.

»Weißt du noch, wie Dad immer hinten im Garten Feuer­werk gemacht hat?«, fragte Margaret.

»Ja. Damals gab’s keinerlei Sicherheitsvorkehrungen, stimmt’s? Wir hatten Glück, dass uns nicht die Köpfe weggesprengt worden sind.«

»Die Feuerräder, vor denen hatte ich Angst. Nie hat er die Dinger richtig festgenagelt. Man wusste nie, in welche Richtung sie wegfliegen. Und die Guy Fawkes-Feuer! Die waren doch immer vollkommen außer Kontrolle, überall sind Funken rumgeflogen. Ich hatte Todesangst, dass das Haus abbrennt.«

»Ich hab mich immer im Schuppen versteckt, während er die Raketen angezündet hat«, fügte Jenny hinzu. »Ich hab aus dem Fenster geschaut, bis ich gesehen hab, dass er weit genug weg war, und bin dann gerade noch rechtzeitig rausgerannt, um zu sehen, wie sie den ganzen Himmel erleuchtet haben. Das war toll.« Sie legte den Kopf auf die Schulter ihrer Mutter.

Deputy Ferbrache, einer der gewählten Repräsentanten der Gemeinde, drängte sich durch die Menge, korpulent und ganz erfüllt von seiner eigenen Wichtigkeit. Jenny hatte vor Kurzem mit ihm über eine Bürgerinitiative zur Strandreinigung gesprochen, doch er hatte sich dabei die meiste Zeit über seine Personalagentur ausgelassen. Die meisten Deputys auf der Insel hatten einen Beruf, den sie mit ihren Regierungspflichten zu vereinbaren versuchten. Das erklärte zum Teil, wie die Dinge auf der Insel funktionierten, nämlich für gewöhnlich auf gut Glück oder gar nicht. Ein kleines Mädchen, das vor Stolz strahlte, folgte Deputy Ferbrache: die Gewinnerin des Wettbewerbs um die am besten gekleidete Strohpuppe. Dann war noch die Mutter des Mädchens dabei, die die Kreation des Kindes in den Armen trug. Die Strohpuppe war ein knallpinkfar­benes Wirrwarr aus Schnüren, Stroh und Schleifen, mit ­wallendem schwarzem Haar. Jenny hatte sie alle für ihren Artikel interviewt.

Deputy Ferbrache hieß alle willkommen. Glückwunsch für die kleine Lily für ihre fantastische Guy Fawkes-Puppe, war die etwa nicht fantastisch? Alles klatschte und jubelte, als Lily ein Gutschein für Machon’s Spielwarengeschäft überreicht wurde. Zeit, das Feuer anzuzünden! Noch mehr Jubel, als der Deputy die Strohpuppe nahm, die Holzleiter neben dem Scheiterhaufen erklomm und sie obendrauf warf. Lauter Applaus, und dann leckten plötzlich mit einem Knall Flammen an dem Holz. Sachtes Rutschen und Knistern, als das Feuer zupackte. Binnen Minuten loderte es hell und hüllte die Zuschauer mit seiner Wärme und seinem flackernden Licht ein. Rauchschleier trieben durch die Menge und brachten den süßen Geruch von Zedern- und Kiefernholz mit.

Die Strohpuppe fing als Letztes Feuer; das Gebilde aus Nylon und Stroh brannte leichter und heller als das Holz unter ihm. Ein Engel auf einem Weihnachtsbaum, trockenes Fleisch waberte und schmolz unter dem Jubel des Publikums. Als das Feuer richtig im Gange war, begann das Feuerwerk. Ein kleiner Junge, der in Dufflecoat, Schal und Mütze eingepackt ganz in der Nähe stand, fing an zu weinen. Jenny wollte schon zu ihm gehen, doch eine dicke, fröhliche Frau in einem etwas verfrühten Weihnachtspullover nahm ihn auf den Arm.

»Hörst du das?«, fragte Margaret.

»Was soll ich hören?«

»Da schreit jemand.«

»Die schreien doch alle.«

Doch Margaret hatte der Menge den Rücken zugewandt. »Nicht hier.«

Jenny wies ihre Mutter an zu bleiben, wo sie war. Außerhalb der Burgmauern war es viel dunkler. Sie holte ihre Taschenlampe aus der Handtasche und schaltete sie ein. Die Lampe war klein, aber stark. Sie hatte sie immer dabei, benutzte sie aber nur selten; sie zog es vor, Situationen, in denen sie sie vielleicht brauchen könnte, zu meiden.

Der nächste Schrei kam vom Strand her. Jenny wurde die Brust eng. Sie hatte Angst, aber nicht so viel Angst wie der- oder diejenige dort unten. Sie achtete nicht auf den gepflasterten Weg, der sich zur Straße hinunterwand, sondern rannte stattdessen geradewegs den grasbewachsenen Hügel hinunter, mitten durch dichtes Ginstergestrüpp. Dornen rissen an ihren Jeans, aber wenigstens bremsten sie ihren Abstieg so weit, dass sie am Fuß des Hügels nicht die steile Böschung hinunterstürzte und auf der Straße landete.

Wieder Schreie. Definitiv eine Frau. Nicht mehr so dringlich, fand Jenny, aber trotzdem voller Angst. Sie rannte über die Straße und drängte sich durch die Reihe dicht stehender Kiefern auf der anderen Seite auf einen sandigen Weg, der von großen Granitblöcken gesäumt wurde. Diesem Weg könnte sie bis zur Slipanlage folgen, aber über die Felsen zu klettern ging schneller. Sie zog sich auf einen der Blöcke hinauf und mühte sich ab, die Taschenlampe nicht zu verlieren, während sie an dem glatten Stein nach einem Halt für ihre Füße suchte. Dann rutschte sie auf der anderen Seite hinunter und stolperte, als sie auf weichem, trockenem Sand landete.

Eine Frau stand schluchzend auf halbem Weg den Strand hinunter, dort, wo der Sand fester wurde, ehe er dem kiesigen Meeresgrund Platz machte. Sie wurde vom gelben Schein des Kraftwerks hinter ihnen beleuchtet und trug Laufkluft; eine dunkle Weste mit Reißverschluss über einem langärmeligen Top, enge Leggins und eine wollene Pudelmütze. Der Bommel daran leuchtete weiß; der Schwanz eines aufgescheuchten Kaninchens.

»Ich bin einfach über sie gefallen. Bin glatt über sie gefallen. Hab sie nicht gesehen«, flüsterte sie und starrte eine Gestalt zu ihren Füßen an. Jenny leuchtete dorthin und überflutete die Gestalt mit grellweißem Licht.

Es war eine Frau. Zwanzig, vielleicht auch jünger. Sie war schön und triefnass – und tot.

4. Kapitel

Michael

Detective Chief Inspector Michael Gilbert war nicht nahe am Wasser gebaut. Im Krankenhaus hatte er geweint, als man ihm seine neugeborene Tochter Ellen in den Arm gelegt hatte, in eine gelbe Decke gewickelt. Ihr Gesicht war rot und verzerrt gewesen, und die winzigen Ärmchen hatten sich gegen das Eingewickeltsein gewehrt. Er hatte sich rasch die Augen mit dem Handballen abgewischt, ehe Sheila oder die Hebamme es merken konnten. Achtzehn Jahre später hatte er ihren Tod beweint. Nur ein ganz kleines bisschen. Und auch nicht gleich, als er es erfahren hatte. Da war er kalt und tränenlos gewesen. Innerlich taub, das war wohl die richtige Bezeichnung dafür, obgleich er Jahre gebraucht hatte, um das zu begreifen, um zu akzeptieren, dass er unter Schock gestanden hatte und nicht etwa gefühlskalt gewesen war. Daher war es verblüffend, dass er über den Tod einer Wildfremden große, dicke Tränen vergoss. Diesmal machte er sich nicht die Mühe, sie wegzu­wischen. Es war dunkel, und niemand sah ihm zu.

Er schaffte es, ein paar schroffe Anweisungen verständlich hervorzubringen und all die Gaffer zu vertreiben, die sich oben auf der Böschung versammelt hatten, mit ihren Handys herumfuchtelten und versuchten zu filmen, was immer da unter ihnen auch vorging. Die hätten sofort weggeschickt werden müssen, dachte Michael. Das Letzte, was sie brauchten, waren Bilder einer toten jungen Frau, die irgendwo durchs Internet geisterten. Er sagte dem flügelschlagenden Detective Constable, der als Erster vor Ort gewesen war und gerade dabei war, jegliches Beweismaterial zu zertrampeln, er solle Absperrband besorgen und das Gebiet weiträumig absperren. Und dann sah er sie richtig an.

Sie war schön. Seiner Schätzung nach nicht älter als zwanzig. So blass. Weiße Haut. Blaue Lippen. Sie trug ein kurzärmeliges Oberteil. Auf der Innenseite ihres rechten Armes waren Striche. Er ging neben ihr in die Hocke. Kratzer. Nein, tiefer. Schnittwunden. Definitiv mit Absicht zugefügt. Sie sahen frisch aus. Er holte sein Handy heraus und machte eine Nahaufnahme davon. Dann tastete er in seinen Taschen nach einem Stift und schob damit sachte ein paar Haarsträhnen von ihrem Gesicht. Er machte noch ein paar Fotos. Schließlich trat er zurück und sah sich nach einem Mantel oder dergleichen um. Es war doch viel zu kalt, als dass sie ohne Mantel oder Jacke draußen gewesen wäre. Wie aufs Stichwort hob ein kalter Windstoß von unten seine Jacke an und blies eine Handvoll trockene Blätter über seinen Schuh. Sie sah so durchgefroren aus. Und sie lag da so unbequem; die Kiesel unter ihr waren so hart. Er wollte sie in eine weiche gelbe Decke wickeln und sie nach Hause bringen, zu ihrer Mutter.

Es gab zwei Zeuginnen. Die eine war völlig hysterisch, eine spätabendliche Joggerin in allem, was an Sportklamotten gerade ganz neu auf dem Markt war. Sie hatte eine wirre Aussage gemacht, bevor sie beinahe in Ohnmacht gefallen und in einem Krankenwagen weggekarrt worden war, eine Aluminiumdecke um die Schultern gelegt, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen. Die andere Zeugin war viel interessanter. Eine Frau mit eckigen Gesichtszügen, attraktiv, wenngleich nicht direkt hübsch. Eindrucksvoll war wahrscheinlich das richtige Wort; ziemlich groß und blond, das sonnengesträhnte Haar kurz, scharfe, intelligente Augen. Sie machte eine kurze, aber detaillierte Aussage. Jennifer Dorey. Die Journalistin. Charlie Doreys Tochter, wenn er sich nicht irrte. Darauf sprach er sie allerdings nicht an. Sie hatte für einen Abend genug zu verarbeiten.

Als das Zelt stand und die Kollegen von der Spuren­sicherung dort drinnen zugange waren, ging Michael ein Stück am Ufer entlang. Die Flut kam langsam herein. Sie würden sich beeilen müssen.

Er blickte zu den Booten hinaus, die im Hafen vor Anker lagen; schwarze Schatten auf dem Wasser, die Ränder im schwachen Mondlicht sichtbar. Das Mädchen könnte auf einem davon gewesen sein, dachte er, könnte, vielleicht ­betrunken, ins Wasser gefallen und dann am Ufer angeschwemmt worden sein. Teenager benutzten leere Boote manchmal als Liebeslauben. Schon viele Bootsbesitzer hatten der Polizei von leeren Bierdosen und benutzten Kondomen berichtet, die sie am Sonntagmorgen auf dem Deck gefunden hatten. Aber das war in der Stadt, wo man nur über das Tor zum Jachthafen zu springen und auf ein Boot zu steigen brauchte. Hier müsste man eins an Land ziehen. Und rund um die Mauern des Castle gab es doch reichlich lauschige Plätzchen für einen Quicky – warum sich die Mühe machen? Vielleicht war sie ja ganz woanders auf einem Boot gewesen und über Bord gegangen. Eine Möglichkeit. Vielleicht ein spätabendlicher Angelausflug, obwohl sie für so etwas ja definitiv nicht richtig angezogen war. Und irgendjemand hätte das doch gemeldet, es hätte einen Rettungseinsatz gegeben, und er hatte ganz sicher von nichts dergleichen gehört.

Es sei denn, sie war allein gewesen. Und es gab nur einige wenige Gründe, wieso eine junge Frau sich am Meer aufhalten sollte, ganz allein und an einem kalten Abend wie diesem.

Selbstmord. Davon gab es mehr, als die Leute ahnten. Oder zumindest mehr, als sie sich gern vorstellen wollten. In manchen Jahren bis zu vier oder fünf. Meistens Männer in mittleren Jahren, aber sie hatten auch schon eine erkleckliche Anzahl Teenager gehabt. Vielleicht hatte das ja etwas mit dem Übergang zu tun, dachte er: vom Kind zum Erwachsenen, von jung zu alt. Schwierige Zeiten. Ertrinken war eine populäre Todesart. Irgendetwas war wohl für einen Inselbewohner passend daran, sich dem Meer zu überlassen. Und er konnte sich vorstellen, dass das durchaus dem Hang eines halbwüchsigen jungen Mädchens zum Drama entsprach.

Michael zog seinen Mantel um sich. Es gab sehr viel angenehmere Möglichkeiten zu sterben. Zumindest wärmere. Er dachte darüber nach. Der erste Leichnam, den er nach dem seiner Tochter gesehen hatte, hatte im Rahmen der Küchentür eines Cottages in St. Martin gebaumelt. ­Irgend so ein Typ, dessen Frau und Kinder ihn verlassen hatten. Verdammter Idiot, hatte Michael gedacht, sich umzubringen, wenn seine Familie nur ein paar Kilometer weit weg war, wenn er seine Kinder noch immer hätte lieben, sie in den Armen hätte halten und mit ihnen reden, wenn er sie hätte aufwachsen sehen können. Michael hatte danach noch tagelang auf dem Revier herumgetobt, und ihm war erst nach dem zehnten Bier bei einer seiner zunehmend regelmäßigen Sauftouren klar geworden, dass das, was er empfand, gar keine Wut war. Es war Neid.

Er ging zu dem Zelt zurück, wo es unter den Polizei­scheinwerfern jetzt taghell war. Größtenteils grober Sand und Kieselsteine, ganz oben an der grasbewachsenen Böschung ein Streifen weicher Sand. Dieser Strand war kein Touristenziel. Er war klein und ungepflegt und lag zu nahe bei der Müllkippe. Wenn der Wind an warmen Tagen aus der richtigen Richtung kam, konnte man sie riechen, süßlich und faulig. Er war oft mit Ellen hergekommen, als sie noch klein war, und jedes Mal, wenn sie die Müllkippe riechen konnten, hatte er gefragt: »Warst du das?«, und sie hatte sich halb totgelacht. Er lächelte. Das hier war ein Strand für Einheimische. Ein Fischereihafen, nichts Schickes. Nicht wie die Jachthäfen in der Stadt, neben den Geschäften und dem Nachtleben von St. Peter Port, oder wie die Beaucette Marina, von hier aus ein kleines Stück die Küste hinauf, mit dem Hummer-Restaurant und der Champagnerbar. Aber hier war es hübsch. Altmodisch. Er sah etwas Grünes zwischen den Steinen glitzern. Meerglas. Scherben zerbrochener Flaschen, von den Wellen zu glatten, undurchsichtigen Kieseln geschliffen. Er bückte sich und hob es auf. Ein schönes Stück, so groß wie eine Fünfzig Pence-Münze; es fühlte sich seidig und kalt an. Er rieb mit dem Daumen darüber und steckte es in die Tasche.

Die Kollegen von der Spurensicherung waren fast fertig. Er konnte hören, wie sie die Reißverschlüsse ihrer Taschen zuzogen, und streckte den Kopf ins Zelt.

»Wie läuft’s, Jungs?«

»Wir sind so gut wie fertig. Haben ein paar Zigarettenkippen eingetütet, und jetzt lassen wir sie abtransportieren, wenn Sie hier so weit sind?«

Wieder betrachtete er das Mädchen, und ihm fiel auf, wie friedlich sie aussah. Als hätte sie sich nur kurz hingelegt, um sich auszuruhen, und durchaus die Absicht gehabt, wieder aufzustehen. Ganz sicher hatte sie nicht lange im Wasser gelegen.

Zum zweiten Mal an diesem Abend dachte er an Charlie Dorey. Daran, was das Meer einem Leichnam antun konnte. Die Leute glaubten, Leichen trieben an der Oberfläche, doch das taten sie nicht, nicht gleich. Sie sanken, bis sie auf dem Meeresboden aufkamen, und stiegen erst nach tagelanger Verwesung wieder empor, von Gasen aufgebläht. Wenn sie an die Oberfläche kamen, war die Haut grün und löste sich ab, hing lose an Händen und Füßen. Abscheren nannte man das. Und das galt nur für die Teile, die nicht weggefressen worden waren. Von denselben Fischen, die vielleicht irgendjemand später in dieser Woche auf seinem Abendbrotteller wiederfinden würde.

Fast war er dankbar, dass dieser Leichnam noch Augen in den Höhlen und Fleisch auf den Knochen hatte.

5. Kapitel

Juli 1959

Der Brocken trockene Kuhscheiße traf ihn seitlich am Kopf, dicht über dem rechten Ohr. Es tat nicht weh. Er drehte sich um. Es waren mehr als sonst, sieben, nein, acht, der Jüngste nicht älter als zehn, der Älteste vielleicht fünfzehn. Er ging weiter. Er wusste, dass sie ihm folgen würden.

Ein scharfer Schmerz am Hinterkopf; die Wucht brachte ihn ins Stolpern, und er fiel auf die Knie. Ein Stein. Auf dieser Wiese gab es keine Steine. Sie waren vorbereitet. Er konnte spüren, wie das Blut ihm den Nacken hinunterlief. Er stand auf und ging weiter. Noch mehr Steine, aber keiner traf so wirkungsvoll wie der erste. Einer an die Schulter, einer gegen den Rücken; er fühlte sie kaum. Er ging weiter. Rennen tat er nie. Sie brüllten.

»Dreckiges Nazi-Balg! Deine Mutter ist eine Hure. Sie hätte dich Fritz nennen sollen!«

Als er das Tor am Ende der Wiese erreichte, wurde ihnen das Ganze endlich langweilig. Den Rest des Heimwegs ging er allein, mit Blut am Kragen und Pisse in der Hose.