Das Trauma des Krieges - Wolf E. Matzker - E-Book

Das Trauma des Krieges E-Book

Wolf E. Matzker

4,7

Beschreibung

Das vielschichtige Werk "Das Trauma des Krieges" befasst sich mit dem Vater des Autors, der am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hatte. Im Mittelpunkt stehen nicht äußere Aktionen, sondern die negativen Auswirkungen auf die menschliche Seele, also die Verletzungen, die Traumatisierungen. Sowohl die Traumatisierungen durch den Zweiten Weltkrieg als auch die transgenerationalen Aspekte werden vom Autor behandelt. Das Trauma geht immer weiter und der „Krieg gegen die Natur“ hört nicht auf. Damit setzt sich der Autor sehr kritisch auseinander und sucht nach einer Lösung für die aggressive Natur des Menschen. Der Ausbeutungskrieg gegen die Natur ist ein Trauma des Autors und aller Freunde der Erde. Das Werk ist nicht nur ein Buch gegen Gewalt, Brutalität und Unmenschlichkeit, sondern auch eine innere Suche nach einer Erlösung von dem archaischen Muster des Krieges, das den Menschen seit Jahrtausenden beherrscht. Diese sieht der Autor in einer Art Neubeginn der Geschichte, der auf einer echten und ehrlichen spirituellen Friedenskultur basiert.

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Ihr habt gehört, dass euch gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.

Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.

Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden?

Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist.

(Mt 5, 43-48)

für Gerhard Matzker, 1919 - 1998 Aufnahme 1938: Was bringt die Zukunft?

Inhaltsverzeichnis:

Erinnerungen an den Vater

Russland und das Leid der Unschuldigen

Heilung durch gute Literatur

Der Krieg gegen die Natur

Erlösung durch echte Spiritualität

Der Krieg ist die Wahrheit.

Der Krieg ist die Wahrheit auf der Erde. Das wusste schon der griechische Philosoph Heraklit. Es hat sich nichts geändert seitdem.

Der Kampf ist das Trauma. Das endlose Trauma, für das es keine Therapie gibt.

Die Menschen haben alles versucht. Religion, Revolution, Wissenschaft, Kunst. Aber am Ende blieb es doch beim Krieg, mal gewalttätiger, mal weniger gewalttätig, mal offensichtlich, mal mehr verborgen.

Seit Jahrtausenden ist der Krieg zu keinem Ende gekommen. Er hat immer stattgefunden. Zwischendurch gab es mal Waffenstillstand, zum Ausruhen, zum Aufrüsten, damit man wieder losschlagen konnte.

Hass und Aggression wurden nie überwunden. Sie wurden nur subtiler, versteckter, gerissener.

Von der Feindesliebe haben sie alle gehört, auch wenn sie nicht zur Kirche gegangen sind, auch wenn sie die Religion verachteten. Gehört haben sie es alle. Aber sie haben nicht richtig zugehört, sie haben es nicht wirklich verstanden, das höhere Ziel, nämlich vollkommen zu sein wie der himmlische Vater.

Dafür hätte man sich wandeln müssen, sich selbst und die Gesellschaft. Es war einfacher, beim alten Muster zu bleiben. Kain erschlug Abel. Das uralte Muster. Der eine verachtet den anderen, der eine erschlägt den anderen, der eine besiegt den anderen, der eine vernichtet den anderen.

Der Krieg ist die Wahrheit.

Der Krieg ist der Fluch.

Von dem Fluch müssen wir uns befreien.

Wir müssen erlöst werden.

Für die Erlösung müssen wir uns einsetzen.

1. Erinnerungen an den Vater

Sein Vater war schon fünfzehn Jahre tot, aber in der letzten Zeit musste er oft an ihn denken. Er fragte sich, ob es seine Seele war, die ihn rief. Vielleicht war sie noch immer nicht erlöst von dem großen Krieg. Vielleicht war sie noch immer belastet vom Tod, vom erzwungenen Töten, um nicht selbst getötet zu werden.

Sein Vater hatte ein Kriegstrauma. Sein Großvater Alfred hatte ein Kriegstrauma. Er selbst hatte ein Trauma. Es war eine Kette von Traumatisierungen, die sich durch die Zeit zog, die durch die Zeit floss, wie ein träger Fluss, der immer das gleiche Leid schuf, die gleichen Tränen, die gleiche Trauer. Seit Jahrhunderten. Seit Jahrtausenden. Gerne hätte er heute mit seinem Vater gesprochen, aber der war schon seit fünfzehn Jahren tot. Das ewige Leben. Manchmal fand er das nur lächerlich. Was reden sie vom ewigen Leben? Was meinen sie nur damit? Sie sollten vom ewigen Tod reden, von der Flamme des ewigen Todes, der ewigen Wunde, des ewigen Leides. Das ewige Leben! Pah! Im Grunde ist es doch nur eine Illusion, dachte Eckhart bitter.

Sein Vater, oder genauer: die Seele seines Vaters, sie war wohl nicht erlöst. Warum sonst sollte sie ihn rufen?

Aber konnte er sie erlösen?

Hätte sie nicht längst vom Allumfassenden erlöst worden sein müssen?

Das wäre schön, das sollte so sein, dachte er. Das Allumfassende erlöst die leidenden Seelen, schnell und zügig nach dem Tode.

Er hatte nicht das Gefühl. Wenn er an die Verstorbenen dachte, die er in seinem Leben gekannt hatte, nicht nur an seinen leiblichen Vater, dann hatte er einfach nicht das Gefühl von Erlösung. Sondern das Gegenteil, also das Gefühl von unerlösten Seelen.

Die religiösen Leute behaupten trotzig, dass die Erlösung eine Tatsache sei, obgleich es nur ihr Wunsch, ihre Hoffnung ist. So dachte er nicht. Eckhart hatte es anders erfahren. Aber er war auch kein Atheist, der an das leere Nichts glaubte, in dem alles nur ausgelöscht wurde.

Irgendwie musste es die Erlösung geben. Eine große Transformation, die das Trauma der Welt überwand. ER hatte die Welt überwunden. Aber wir, was haben wir? Haben wir etwas überwunden? Stecken wir nicht tief im Feuer der Hölle drin auf dieser verfluchten Erde?

Die Natur und vor allem der Wald waren ihm Hoffnung gewesen. Aber der wurde immer nur zerstört. Die Menschen zerstörten die Wälder, die Lungen der Erde. Sie waren wie die Nikotinsüchtigen, die ihre Lungen vergiften, bis sie am Lungenkrebs sterben, erbärmlich und unerlöst.

Sein Trauma war die Zerstörung der Natur, der große Krieg gegen die ganze Natur. Sein Vater hatte das Trauma des Zweiten Weltkrieges. Sein Großvater das Trauma des Ersten Weltkrieges. Er könnte weiter zurück in die Geschichte wandern. Lauter Kriege! Aber die letzten hundert Jahre reichen als Beispiel für eine verdorbene Evolution, für die Hölle des Daseins.

Die anderen sahen es nicht so wie er. Sie betäubten sich. Sie tranken ihren Rotwein oder ihr Bier. Sie sahen sich Shows an. Sie lachten und erzählten alberne Geschichten. Er kannte keine albernen Geschichten. Er sah die Wahrheit. Er hatte schon immer die Wahrheit gesehen. Und den Wahnsinn, denn es war alles ein einziger Wahnsinn: das Töten, das Zerstören, das Vernichten.

Seinen Lieblingswald hatten sie zerstört. Den Lieblingsstrand seiner Kindheit hatten sie zerstört. Die Kastanien seiner Kindheit hatten sie alle abgeholzt. Alte Bäume stören. Die Blätter stören, die Kastanien stören. Weil sie alles stört, zerstören sie ohne Ende.

Sie sind alle krank, dachte er. Aber sie halten natürlich mich für krank. Er wusste es. Sie meinen, sie hätten Therapien, aber tatsächlich haben sie nur Beruhigungsmittel, betäubende Beruhigungsmittel, mit denen sie auch noch große Geschäfte machen.

Wie sollte er seinen toten Vater erlösen?

Er wusste es nicht. Er hatte sich selbst nicht erlösen können. Der Erlöser wollte irgendwie auch ihn nicht erlösen. Kann er nicht oder will er nicht? Und erlöse uns von dem Bösen – aber irgendwie war doch gar nichts erlöst bisher. Es war ja immer weiter gegangen mit dem Leiden, mit dem Töten, mit dem Zerstören.

Die Welt wird von bösen Geistern beherrscht. Die Leute behaupten immer, dass sie an keine Geister glauben würden. Tatsache ist eher, dass sie die Geister nicht sehen wollen.

Nehmen wir nur den bösen Geist der Überwachung, der Kontrolle, nennen wir ihn BIG BROTHER, wie in George Orwells Roman 1984. Schauen wir uns die Amerikaner an, die NSA. Der böse Geist der totalen Kontrolle, hat er nicht in der NS-Zeit sein Unwesen getrieben? Und heute? Hat sich irgendetwas verbessert? Ist es nicht immer noch der gleiche Ungeist? Die Mächtigen wollen das Volk kontrollieren, denn jeder Impuls einer Revolution, einer wirklichen Veränderung, soll möglichst früh erkannt und im Keim erstickt werden. Ob Obama oder Putin, sie sind nicht so unterschiedlich, wie man oberflächlich meinen könnte. Sie wollen die totale Kontrolle. Ihr Bewusstsein ist vom gleichen bösen Geist beherrscht.

Die bösen Geister, die seine Ahnen in den Krieg getrieben haben. Die bösen Geister in seinem Leben. Die bösen Geister in der Wirtschaft und im Leben der Kinder, die in den totalen Krieg der modernen Wirtschaft gejagt werden.

Die bösen Geister müssen erkannt und überwunden werden. Man muss sich von den bösen Geistern befreien, das hatte er schon als Kind gedacht. Der einzige Weg ist die Befreiung von den bösen Geistern. Das aber richtig, nicht nur scheinbar, indem man sich einem anderen, scheinbar guten Geist unterwirft, der sich aber schlussendlich wieder als Täuscher und als Betrüger erweist.

Der einzige Weg war für ihn die Befreiung von den bösen Geistern, ob buddhistisch oder christlich, das war und ist völlig zweitrangig, denn es kommt auf die Befreiung an, nicht auf äußerliche Behauptungen und Riten.

Der böse Geist schafft immer wieder traumatisierte Menschen, missbrauchte Seelen, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart. Alle Institutionen wollen nur funktionierendes Menschenmaterial, das sie möglichst billig bezahlen. Das zeigt sich besonders in Bangladesh und Kambodscha bei den Textilarbeitern. Der böse Geist zeigt sich in allen Bereichen, der Wirtschaft, den Kirchen, den Schulen, den Fabriken, überall. Man will nur funktionierendes Material, keine freien Menschen, keine freien Seelen.

Die Traumatisierungen sind kein individuelles Problem, sondern ein kollektives. Es ist ein Trick des Systems, psychische Störungen vor allem zu individualisieren. Dann fühlt sich der Einzelne krank und meint, er müsse sich therapieren lassen. So wird davon abgelenkt, dass das ganze System krank ist. Das System muss weg, damit es keine Traumatisierungen mehr gibt.

Er war immer gegen das System der Unterdrückung gewesen.

Sein Vater war im System der Nazis ein Jugendlicher. Mit Freunden hatte er einen eigenen Weg gesucht, abseits der sogenannten Hitlerjugend. Aber es war nur ein wenig heimliche Rebellion gewesen. Schließlich kamen doch der Arbeitsdienst und die lange Zeit in der Wehrmacht von 1939 bis 1945. Polen, Frankreich, Norwegen, Russland.

Das Nazireich wird uns ständig im Fernsehen als das Reich des Bösen dargestellt. Warum eigentlich? Sollen wir etwas lernen? Nein, wir sollen eher davon abgelenkt werden, dass wir auch heute ein Reich des Bösen haben, dass auch heute alles von den bösen Geistern beherrscht wird.

Sein Vater war ein junger Mann im Reich des Bösen, den man dann in den sinnlosen Krieg geschickt hatte. Die Angst und das Grauen, der Terror und der Wahnsinn hatten ihn für den Rest des Lebens geprägt.

Bildung war seine Therapie gewesen. Die eigene, persönliche Bildung und die Bildung seiner Schülerinnen und Schüler. Aufklärung, Information, und die schöne Literatur. Schriftsteller, die noch die Welt verbessern wollten, nicht nur billige Unterhaltungskasper wie heute meist. Brecht, Borchert und Böll zum Beispiel.

Sein Vater war Lehrer gewesen. Zunächst Volksschullehrer in einem kleinen Dorf an einer Zwergschule. Dort hatte er sogar im Schulhaus eine Wohnung gehabt. Später hat er sich dann weiter gebildet, wurde Realschullehrer, Direktor einer Realschule, Bezirksseminarleiter für angehende Realschullehrer.

Über viele Jahre hatte er sich immer weiter gebildet. Er hatte insgesamt fünf Fächer unterrichtet: Deutsch, Geschichte, Religion, Gemeinschaftskunde und Erdkunde. Normalerweise unterrichtete ein Lehrer nur zwei Fächer. Die weiteren Fakultäten hatte er absolviert, brauchte sogar eine Sondererlaubnis dafür, weil das eigentlich nicht vorgesehen war. Es war sein Weg der universellen Bildung gewesen. Auch wenn die Naturwissenschaften nicht sein Thema gewesen waren, so war er in mathematischer Hinsicht nicht unbegabt gewesen und hatte später sogar den Statistik-Schein an der Universität gemacht.

Bildung kann man als Gegenstück zur beschränkten NS-Ideologie sehen, vor allem natürlich Bildung in den Fächern Geschichte und Gemeinschaftskunde, denn ohne ein gewisses kritisches Bewusstsein kann man solche Fächer nicht unterrichten. Auch dann nicht, wenn man konservativ ist, aber sein Vater stand immer der SPD nahe.

Bildung und kritisches Bewusstsein gehörten für ihn zusammen. Auch und gerade die Literatur trug dazu bei. Geschichten und Romane, die sich kritisch mit dem Krieg, mit Verführung und Tod auseinandersetzten. Gedichte wie die von Georg Trakl, den er besonders schätzte, die das Leid, das Trauma zum Ausdruck brachten.

Heutige Psychologen mögen das bei ihren Methoden (man achte einmal auf ihre Begrifflichkeiten, z.B. die häufige Verwendung von „coaching“) nicht sonderlich schätzen, aber Gedichte über und gegen den Krieg waren eine Methode der Bewältigung des Grauens. Sprachliche Ästhetik konnte ein Weg der seelischen Heilung sein.

In der NS-Zeit war keine freie, unabhängige Bildung erwünscht, sondern nur diejenige, die der NS-Ideologie unterworfen war. Vor allem kritische Bücher waren verboten. IM WESTEN NICHTS NEUES war verboten, ein Roman gegen den Krieg, von dem sein Vater ihm zwei Exemplare hinterlassen hatte. Der Krieg war den Nazis geradezu „heilig“, der durfte nicht als völlig sinnlos dargestellt werden.

In heutiger Zeit kann alles publiziert werden, aber viele interessiert es nicht mehr. Ihr Geist ist ganz und gar vom herrschenden Konsumismus eingenommen. Kritisches Bewusstsein ist vielen fremd. Man will sein Vergnügen, man will seinen individuellen Spaß, der als oberstes Individualziel überall propagiert wird.

Sein Vater hatte in seiner Jugend ständig ein anderes Ziel gehört: Deutschland. Deutschlands Größe, die deutsche Rasse, die deutsche Kultur, der Lebensraum der Deutschen. Was hatte er damals gedacht und gefühlt, mit 16, 17, 18 Jahren? Er hatte sicher nicht alles durchschaut, denn er hatte nicht die Informationen. Er war in Berlin aufgewachsen, der deutschen Hauptstadt, der Hauptstadt des Deutschen Reiches, der Stadt, die einmal zu „Germania“ werden sollte. Die Atmosphäre wird ihn beeinflusst haben, auch wenn er kein überzeugter Nazi gewesen war und nicht von einer Karriere bei der SS geträumt hatte. Dafür war er zu klein, hatte braune Augen und schwarze Haare. Er wird erkannt haben, dass er dem nordischen Ideal nicht entsprach. Er war nicht blond, blauäugig und groß.

Die geistige Atmosphäre eines Systems beeinflusst den Menschen, ob er will oder nicht. Wenn man sich ihr ganz entgegenstellt, dann verlangt das psychische Anstrengung, Mut und Kraft, die viele Menschen nicht haben. Viele wissen auch nicht, was die Alternative sein könnte. Sie halten das herrschende System oft für die einzige Möglichkeit. Die Propaganda unterstützt das natürlich, hämmert es der Bevölkerung jeden Tag ein.

Man stelle sich nur einmal einen Moment ein System ohne den Massenkonsum vor. Kann man es sich überhaupt vorstellen? Fängt nicht da schon die Schwierigkeit an? Will man es sich vorstellen, sieht man einen Sinn darin? Will man eine, sagen wir, spirituelle Gesellschaft, die nur eine materielle Grundversorgung anstrebt, aber nicht ständig neue Produkte, neue Angebote, neue Verführungen?

Deutschland ist wieder stark geworden, schrie Hitler in einer seiner Reden. Stark sein als Nation, stark sein als Volk, als „reinrassige Volksgemeinschaft“ - man wollte das, weil man es ständig hörte. Man stimmte dem zu. Sein Vater sicher auch. Zweifel kamen wohl erst im Krieg, durch die grauenhaften Erfahrungen. Oder gegen Ende des Krieges, als seine Heimatstadt zerbombt gewesen war.

Freies Denken heißt immer, dass man Alternativen denken darf und auch denkt. Freies Denken heißt nicht, einer herrschenden Meinung zuzustimmen, nur weil sie die uneingeschränkte Macht hat. Das gilt für jede Zeit! Das gilt auch für heute! Wer heute JA sagt zu ungehemmter wirtschaftlicher Expansion, zum totalen Konsumismus, zur absoluten Dominanz des Pofitprinzips, der ist so ideologisch verblendet und verführt wie die damaligen Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie.

Zum freien Denken gehört die freie Bildung. In seiner Jugend konnte sein Vater das nicht nutzen, weil eben viele Bücher verboten waren. Nach dem Krieg genoss er die freie Bildung. Er legte sich eine relativ große Bibliothek an. Zu den Fächern, die er unterrichtete, aber auch darüber hinaus, vor allem Bücher zur Kunst.

Was ist davon geblieben? Nicht viel. Seine Bibliothek teilte das Schicksal vieler Bibliotheken. Sie werden aufgelöst, verkauft, verschenkt, nur weniges wird weitergegeben. Heutzutage interessieren sich große Bibliotheken oder Institute meist gar nicht mehr für Privatsammlungen. Es gibt zu viele Angebote. Das Lesen hat auch nicht mehr den Stellenwert wie vor Jahrzehnten, sagen wir im Jahre 1950, als man sich noch nicht jeden Abend einen tumben Krimi oder eine alberne Spielshow im Fernsehen ansehen konnte. Heute lassen sich die Menschen gerne „verblöden“ oder mit Geschichten „berieseln“, die nichts mit ihrem eigenen Leben zu tun haben. Sie tummeln sich in ihrer Phantasie auf Traumschiffen und in Traumhotels herum. Sie merken gar nicht, dass sie Opfer einer herrschenden Ideologie geworden sind.

Für seine Bibliothek ließ sich sein Vater vom Tischler sogar Schränke anfertigen, denn es gab keine großen Möbelhäuser oder Regalsysteme für jedermann. Später landeten die Schränke auf dem Sperrmüll. Der Materialismus endet auf der Müllkippe. Das ist das traurige Resultat. Eine Kriegsideologie wie die der Nazis endet nicht mit dem „Endsieg“, sondern mit der Katastrophe. Ob Müllkippe oder Katastrophe, beides war und ist sinnlos. Das Gesetz, wonach falsche Systeme im Untergang enden, gilt für alle Kulturen und alle Zeiten. Man muss es nur aus der Geschichte lernen. Sofern man aus der Geschichte lernen will!

Die Geschichte sei ein Albtraum, hatte James Joyce einmal gesagt. Die Geschichte ist in der Tat ein Albtraum, der kein Ende findet, wenn man sich die Geschichte der Menschheit anschaut. Wie schon erwähnt, fing es mit Kain und Abel an. Der eine erschlägt den anderen. Warum das alles nur?, hatte er sich schon als Kind gefragt. Warum lässt Gott das alles zu?, hatte er den Pfarrer gefragt. Warum gibt es Kriege? Verdammt, warum habt ihr das alles mitgemacht?, hatte er seinen Vater gefragt, nicht nur einmal, nein, öfter, besonders als er sich für die Kriegsdienstverweigerung entschieden hatte, die sein eigener Vater, der Kriegsdienstteilnehmer, nicht unterstützen wollte.

Aber das ist ein großes Thema für sich, dass die Soldatenväter Söhne zeugten, die radikale Kriegsgegner und Antifaschisten waren.

Der Krieg scheint wie ein Existenzial zu sein, also ein Grundelement der menschlichen Existenz. Und damit natürlich auch das Trauma. So alt wie die Steinzeit. Was mussten die Frauen und Kinder geschrien und geklagt haben, als ihre Männern von einer anderen Horde erschlagen wurden! Was mussten sie geschockt und für den Rest des Lebens traumatisiert worden sein!

Wie will man das jemals heilen, dieses Grundtrauma, das sich durch die Geschichte zieht?

Eigentlich nur durch eine neue, andere Geschichte, bestimmt nicht durch die Therapiespielchen der Psychologen. Einfach lächerlich ist das! Eine neue Geschichte, sie hätte nach 1945 beginnen sollen. Hat sie aber nicht. Es ging gleich weiter. China besetzte Tibet und übte Jahrzehnte in Tibet einen Völkermord und einen Kulturmord sondergleichen aus. Korea, Vietnam, um nur zwei Länder zu nennen. Und natürlich immer wieder Israel, wo man sich wahrlich seit Jahrtausenden die Köpfe einschlägt.

Sein Vater hatte vielleicht geglaubt, man könne durch gute Bildung eine neue Geschichte beginnen. So falsch ist der Gedanke nicht. Gute Bildung gehört sicher dazu. Nur reicht sie aus, wenn die Militärs und die Waffenschmieden weiter ihre bösen Spiele spielen wollen, ihre Gewinnspiele? Nein. Die Bösen müssten verschwinden.

Hitler war nur einer der Bösen. Sein Vater hatte ihm erzählt, dass er am Ende des Krieges gedacht habe: „Gott sei Dank, das Schwein ist tot“. Das werden sicher viele gedacht haben. Nur, das Böse war nicht tot. Es hatten genug Böse überlebt, große Böse, kleine Böse. Sie wollen weiter spielen. Sie wollten nichts lernen, schon gar nicht ändern, sie wollten weiter spielen. Stalin, der rote Böse. Mao, der gelbe Böse. Und die Bösen in den USA, die sich so gerne als Wohltäter der Menschheit tarnten, aber doch auch nur Böse waren.

Sein Vater war kein „großes Tier“ gewesen. Nur ein kleiner Soldat, der im Namen des Führers am Wahnsinn teilnehmen musste – und der überlebt hatte. Nach dem Krieg war die Bildung sein Weg gewesen. Gegen das Böse hilft die Bildung, so mag sein Lebensmotto gelautet haben. Sein Sohn und viele andere Söhne wurden da schon radikaler. Sie wollten die Revolution. Ein ganz anderes System. Weg mit dem ganzen faschistischen System, das war ihr Motto gewesen.

Eine neue Geschichte kann man nur mit Gott beginnen. Das mag sich abgedroschen anhören und die Atheisten werden aufstöhnen. Man kann natürlich keine neue Geschichte mit einem zornigen, rechthaberischen Kriegsgott beginnen. Das wäre das falsche Gottesbild, das leider immer noch durch die Köpfe der Menschen geistert. Das falsche Gottesbild müsste man erst einmal hinter sich lassen, sonst schreibt man weiter auf die Raketen: God is on our side.

Das falsche Gottesbild kann man nur durch Bildung erkennen. Wenn man es erkannt hat, muss man sich davon verabschieden. Und das heißt konkret: sich vom alten Testament und den rigiden Gottesvorstellungen zu verabschieden.

Man muss sich ganz und vollständig zum Gottesbild von Jesus bekennen, dem gütigen, verzeihenden, toleranten Gott des Himmels. Aber wir kennen alle, wenn wir genug gebildet sind, was die Geschichte der letzten zweitausend Jahre betrifft, dass dies nicht geschehen ist. Hätten wir eine andere Geschichte gehabt, dann hätte Bob Dylan nicht seinen Protestsong WITH GOD ON OUR SIDE schreiben und singen müssen.

Die Amerikaner, die sich immer noch als Weltmacht schlechthin begreifen, als Römische Macht der Neuzeit, sie kämpfen überall with God on their side. Gegen die Nazis, gegen die Kommunisten, gegen die Terroristen, gegen alle, die das kapitalistische Weltsystem abschaffen wollen. Deshalb haben sie ja ihre NSA.

Als Jugendlicher hatte er sich immer gefragt, warum man nach 1945, nach dem ganzen mörderischen Wahnsinn, keinen richtigen Neustart begonnen hatte. Manche wollten das, aber es waren zu wenige, und viele von ihnen waren machtlos, ohne Einfluss. Sie hatten nur ihre guten Bücher, ihre schöne Literatur, ihre Philosophie, ihre Theologie des Friedens.

Die Mehrheit dachte anders. Die Mehrheit war realistisch. Die Russen waren gefährlich, sie konnten das kleine Deutschland von Konrad Adenauer überrennen, also brauchte man eine Bundeswehr, also brauchte man Atomraketen. Also blieb es beim alten Denken: Die gegen uns und wir gegen die da drüben.

Die Nazis hatten ein totalitäres Ziel für sich, für Deutschland, wie Hitler immer gesagt hatte. Deutschland, es ging immer um Deutschland. Es war um Herrschaft und Macht gegangen. Man wollte mehr Macht, einen größeren Herrschaftsbereich. Man sah sich selbst als die bessere Rasse an, also hatte man jedes Recht zum Kampf, zum Krieg. Die anderen waren minderwertig, waren „Untermenschen“.

Wenn man diese Ideologie ständig vermittelt bekommt, in den Zeitungen, im Radio, in der Schule, wird man davon nicht, mehr oder weniger, beeinflusst? Wie weit wurde sein Vater davon tatsächlich beeinflusst? Haben er und seine Freunde die NS-Ideologie übernommen, teilweise, ganz, oder waren sie kritisch distanziert? Oder nur ein wenig desinteressiert? Wo genau standen sie politisch?

Er wusste es nicht. Er konnte sich an die Gespräche mit seinem Vater nicht mehr gut erinnern. Er war sich nicht sicher, ob sein Vater überhaupt eine klare Position gehabt hatte. Wahrscheinlich hatte er keine gehabt, jedenfalls keine eindeutige Einstellung dagegen, keine eindeutig humanistische Einstellung.

Eine neue Geschichte, um darauf zurückzukommen, müsste mit einer universal humanistischen Einstellung beginnen. Religionen führen leider immer zu Antihaltungen, zu Streit. Da sich das Christentum nicht eindeutig für den Humanismus entschieden hatte, war eben kein richtiger Neustart nach 1945 möglich gewesen. Man hätte sich konsequent für den Humanismus entscheiden müssen – und damit gegen den Kapitalismus, der eben niemals humanistisch sein kann und wird, weil das höchste Prinzip der Profit ist, nicht das Gemeinwohl, nicht die Gemeinschaft, nicht das Miteinander, nicht das Teilen!

Sein Vater schien ihm heute in den Jahren 1935 bis 1939 nicht sehr politisch gewesen zu sein. Vielleicht dachte er nur, dass die Ideologie von Rasse, Lebensraum und Krieg ein wenig extrem sei, aber im Prinzip schon in Ordnung, denn es ging in der Geschichte und im Leben doch immer um Kampf, ums Überleben. Man nahm das allgemein als gegeben hin, hielt es für die menschliche Natur. In heutiger Zeit stellt auch kaum jemand den Konkurrenzkampf in Frage. Man findet es in Ordnung, dass sich Firmen bekämpfen, dass es Sieger und Verlierer gibt. Man bejubelt die Sieger, wie im Sport, und achtet nicht weiter auf die vielen Verlierer. Man kann es so sehen: Es ist alles eine Art Sport. Der Bessere gewinnt eben. Der Deutsche ist der Bessere. Er muss gewinnen und er hat das Recht auf den Gewinn. Vielleicht hatten sein Vater und seine Freunde so gedacht.

Die Olympiade 1936 in Berlin mag zu diesem Denken beigetragen haben. In einem alten Fotoalbum seines Vaters fand er einige Bilder von der Olympiade. Das große Spektakel lenkte von der wahren Brutalität ab. Es war ein großes Fest. Deutschland gegen die ganze Welt. Überall wehten die Hakenkreuzfahnen. Rot, weiß und schwarz das Symbol. Das Symbol der Kraft und Stärke, das sich in die linke Richtung dreht, und damit in die Richtung der Destruktion. Ob sein Vater das erkannt hatte? Wohl kaum. Die Olympiade konnte und sollte die Illusion erwecken, man sei mit der Welt in einem sportlichen Wettstreit, man kämpfe nur um Medaillen, Bronze, Silber und Gold. Wie schön! Wie toll! Die Mächtigen der Welt haben das Volk mit Spielen schon immer abgelenkt von der Wahrheit der Brutalität. Es ist doch alles lustig und macht einen Heidenspaß! Die Römer ließen in ihrem Kolosseum eine Unmenge an Gladiatoren und wilden Tieren abschlachten. Heute ist man zivilisiert! Man kämpft nur um Medaillen. Man ist sportlich und fair. Wie weit hatten sein Vater und seine Freunde das Theater durchschaut?

Die Freunde an der Ostsee

Mohrchen, Ratze und Tommi

drei Freunde standen am Meer

und schauten in die Ferne

in ihre dunkle Zukunft

die sie vielleicht ahnten

oder vor der sie sich fürchteten

die Zukunft des Krieges

den Kampf und den Tod

man schaut immer aufs weite

Meer des eigenen Schicksals

weiß niemals was kommen wird

aber am Ende ist man

doch verschwunden im Wind

Heute sind sie alle tot. Sein Vater, seine Freunde. Worüber mochten sie sich am Meer, an der Ostsee, in Heidebrink auf der Insel Wollin, die heute zu Polen gehört, unterhalten haben? Über ihre Lebensträume, über Mädchen, über den NS-Staat, über den kommenden Krieg?

„Es war üblich, dass nach dem Mittagessen die Jungen in der Düne saßen, mit Blick aufs Meer. Den Zeltplatz konnten sie allein lassen, dorthin verirrte sich kaum ein Mensch. Natürlich kamen sie in ihren Gesprächen oft auf die Jugendbewegung zurück.

Stäbchen (ein rauchender Vetter seines Vaters) verteidigte die HJ. „Sie ist doch nun mal der Zusammenschluss der deutschen Jugend. Sicher, manches gefällt mir auch nicht: So ein Bannlager z.B. mit 1.000 Hitlerjungen, viele Heimabende mit politischen Themen.“

„Und das Militärische! Antreten! Rechts um, links um. Nichts für mich!“, ergänzte George. (So nannte sich sein Vater in seinen Aufzeichnungen.)

„Ja, und warum muss alles ausgerichtet sein? Im Gleichschritt marschieren? Es gab viele Bünde, Gruppen, die verschieden waren, ihr eigenes Leben führen wollten.“ Tommi ereiferte sich ordentlich. Ratze und Georg stimmten zu. Die Gründe, die zur Ablehnung der HJ führten, hatten sie oft genug erörtert.

Doch jetzt wollten alle nur die schöne Zeit am Meer genießen. Es war ihre persönliche Fahrt, die sie vorbereitet, für die sie gespart hatten.“ (G.M., S.108)

Offensichtlich fanden sein Vater und seine Freunde das „Militärische“ nicht gut. Den Zwang, die Unterordnung, vielleicht auch das Führerprinzip, den strikten Gehorsam, wenn man einen Befehl erhalten hatte. In seinen Aufzeichnungen wird das nur angerissen. Auf jeden Fall scheint ihnen ihre eigene, persönliche Sommerfahrt an die Ostsee (1935) wichtig gewesen zu sein. Individuell und in kleiner Gruppe!

Ein Jahr später reisten sie ein zweites Mal an die Ostsee, nach Karlshagen auf der Insel Usedom, aber ihre individuelle Fahrt wurde brutal zerstört.

Gerhard Matzker

Brutalität im Bannlager

Die Landschaft bei Karlshagen war ein Erlebnis für die Jungen. Hochstämmiger Kiefernwald zog sich parallel zum weißen Sandstrand hin. Kleine Kiefern und Fichten, versetzt mit Birken, bildeten den Waldessaum, der bis auf 20 m an die See heranreichte. Dazwischen führte ein Weg, mehr eine Schneise, zum nächsten Seebad, Zinnowitz. Der Strand war menschenleer, kein bunter Strandkorb unterbrach das weißgelbe Band. Karlshafen war als Seebad noch nicht entdeckt, kein Tourismus.

Schnell war ein guter Zeltplatz in der Kleinwaldzone gefunden. Vom Weg aus konnte das in einer flachen Mulde stehende Zelt kaum gesehen werden. Nach der zur See hin offenen Seite blickte man zwischen einigen lichten Birken hindurch weit über das Wasser bis an den Horizont.

Da das aus mehreren Bahnen geknöpfte Zelt für vier Personen gedacht war, gab es genug Platz, um die wenigen Sachen unterzubringen. Eine große Überraschung brachte Abba mit. Er hatte seine Zeltbahn mit Ornamenten stilisierter Tiere bemalt.

„Mensch, sieht das prima aus!“, begeisterte sich Ratze, „der Greif, einfach toll!“

„Und der Löwenkopf erst“, George bückte sich, um die Einzelheiten genau zu sehen.

„Ich habe ein bisschen aus dem 'Eisbrecher' geklaut, ein bisschen selbst erdacht“, freute sich Abba über die Anerkennung.

„Prima hingekriegt!“

„Die Vorbilder hast du richtig schön vergrößert.“

Die Jungen kannten natürlich die Zeitschrift 'Eisbrecher', sie erschien längst nicht mehr, war verboten worden. Aber bei den ehemaligen Pfadfindern machten die alten Hefte noch immer die Runde, standen hoch im Kurs.

„Wenn die HJ das Zelt sieht, dann wissen sie gleich, wer drin wohnt“, unkte George.

„Natürlich die Illegalen“, fuhr Ratze fort. „Auf sowas ist der Streifendienst immer scharf.“ (Illegal sind die Jugendgruppen außerhalb der Hitlerjugend, HJ. Anmerkung d. Autors.)

„Dazu kariert und Lilienknöpfe“

Kaum hatten sie alles fertig eingerichtet, fing es an zu regnen. Zum Baden hatte keiner mehr Lust. Jeder zog sich warm für die Nacht an. Jetzt konnten vor dem Einschlafen die Trampererlebnisse ausgetauscht werden. Bei den Berichten zeigte sich bald, dass die Reiserei einfacher gewesen war, als sie es sich vorgestellt hatten. Richtig erzählenswerte, spannende Erlebnisse hatte es nicht gegeben. Die einzelnen Teilstrecken waren ohne viel Wartezeiten dazwischen zurückgelegt worden.

„Die Autofahrer waren alle ganz freundlich“, stellte George fest.

„Bei mir auch.“

„Einer hat mich sogar zum Kaffee eingeladen.“

„Aber mich hat gewundert, dass die Autofahrer alle, die mit Tornister unterwegs sind, für Hitlerjungen halten.“

„Na klar, alles staatliche Jugendorganisationen“, grinste Ratze.

„Für die meisten sind die Fahrten doch eine Erfindung des Jungvolks oder der HJ.“

„Wer weiß schon was von Illegalen?“

„Und was sind wir?“, fragte Georg. „Offiziell gehören wir doch jetzt der HJ an.“

„Ja, die sich vor dem Massenbetrieb gedrückt haben,“ ergänzte Abba. „Also doch was Illegales.“

Am nächsten Morgen erwachten sie bei strahlendem Sonnenschein. Dann das erste Mal in der Ostsee. Kein Mensch war am Strand zu sehen, die See lag glatt bis zum Horizont. Lediglich eine kleine Dünung zeigte, dass sie atmete. Schnell wurde das Frühstück verzehrt. Jeder hatte noch etwas 'Hasenbrot' von zu Hause. Zum Kochen hatte keiner richtige Lust. Der Kakao wurde gar nicht erst ausgepackt. In der Feldflasche fand sich noch etwas zum Trinken, das genügte erst einmal.

Anschließend ging's zur Besichtigung des Ortes. Viel gab es allerdings nicht zu sehen, nur wenige Häuser entlang der Straße zum Nachbarort, kleinere Gebäude an einem Platz. Abba entdeckte am Rande von Karlshagen ein Reichsarbeitsdienstlager und hatte sofort eine Idee: „Kauft ihr inzwischen ein bisschen ein, ich guck mal da rüber“, ließ die beiden stehen. Er schaffte es tatsächlich, dass die drei jeden Mittag zum Arbeitsdienstessen erscheinen durften. Reste aus den großen Kübeln blieben immer genug, um jedem der drei noch einen Schlag ins Kochgeschirr zu geben. Damit war die Mittagsverpflegung gesichert.

Nachmittags regnete es wieder. Jetzt begann die Langeweile für die nächsten Tage. Sie saßen mehr im Zelt, als dass sie sich draußen aufhielten. „Wir spielen Skat, Dauerskat, vom Kreuzjungen aus 32 mal rum“, versuchte Georg die Nörgelei der anderen zu unterdrücken. Mittags gingen sie zum Arbeitsdienstlager, in Regenpausen zur Handlung, um Brot und Vierfruchtmarmelade einzukaufen.

Eines Morgens kam eine Gruppe Jungmädel an den Strand. Da sie keinerlei Gepäck bei sich hatte, musste sie in der Nähe ihr Lager haben, denn wo sollten sie sonst in dem kleinen Ort wohnen? Das machte die Freunde natürlich neugierig. Schnell war der Lagerplatz ausgemacht, der sich in einer Mulde am Rande des Weges nach Zinnowitz befand. Einige Jungmädel waren gerade dabei, die Zeltbahnen zu einem 12er-Tipi zusammenzuknöpfen.

„Viel verstehen die nicht davon“, stellte Ratze sofort sachkundig fest und machte die anderen darauf aufmerksam, dass die Bahnen nicht richtig lagen.

„Die haben noch keine fertigen Zelte“, staunte Abba, „ist doch sonst üblich.“

Alle drei flachsten herum und machten ihre Witze. „Macht es doch besser“, rief ihnen ein Mädchen zu. „Rumquatschen kann jeder.“

Die Jungen lachten nur, ließen sich das aber nicht zweimal sagen. Schnell waren die Zeltbahnen umgeknöpft, die Mittelstange eingesetzt, die Häringe vertaut. Die üblichen Häringe waren zu kurz, um im weichen Waldboden Halt zu finden. Bevor Abba und George dazu kamen, längere Stöcke aufzutreiben, kamen die anderen Mädchen zurück.

Schon am Gesicht der Scharführerin war zu erkennen, was sie von dem Besuch der drei Jungen hielt. „Was wollt ihr hier? Ihr braucht nicht zu helfen!“, fauchte sie sie an.

„Heute kommt noch eine Jungvolkgruppe, die hilft uns,“ sagte eine andere Führerin, ebenfalls nicht gerade freundlich. „Die Jungen können das schon.“

Da ihre Hilfe unerwünscht war, trollten sich die drei lachend von dannen, nicht ohne vorher noch Ratschläge erteilt zu haben: Kein Feuer im Wald machen, den Griesbrei umrühren, damit er nicht anbrennt, den Kakao nicht kochen lassen.

Es gefiel ihnen gar nicht, weitere Zeltplätze in ihrer Nähe zu wissen. Die Ruhe der vergangenen Tage hatte ihnen gut gefallen. Dann hatte Abba wieder eine Idee: „Die Jungvolkgruppe überfallen wir gleich heute Nacht. Ich bin gespannt, was die Pimpfe machen, wenn das Zelt über ihren Köpfen zusammenbricht.“

„Meinst du?“, Ratze machte ein bedenkliches Gesicht. „Das könnte Folgen haben. 1933 oder 1934 ist vorbei, als sich Gruppen gegenseitig befehdeten, Zeltplätze überfielen.“

„Und dann die Wimpel klauten, wie damals bei den Königsreitern“, ergänzte Georg lachend. „Hinterher war alles wieder in Butter.“

Ratze zögerte noch: „Hier ist das schon etwas anderes. Wir als Privatpersonen greifen Jungvolk an.“

„Ach was“, gab Abba den Ausschlag. „Das gehört zum Lagerleben dazu.“

„Aber nur bei den Jungen, nicht etwa bei den Mädchen“, sagte Ratze abschließend. Diese Bemerkung hielten die anderen für überflüssig.

„Na klar!“

„Selbstverständlich!“

„Abends gegen 22.00 Uhr zogen sie los, jeder mit einem größeren Stock bewaffnet, um ihn als Hebel für die herauszureißenden Häringe zu nutzen. Lautlos näherten sie sich dem Zelt, nahmen an drei Ecken Aufstellung, um vorsichtig die Vertauung zu lösen. Auf Abbas Kommando brüllten alle drei los, schlugen gegen die Plane und legten so das Zelt flach. Sofort lautes Schimpfen, zwischendurch ein Schrei, ein Fluch. Lachend liefen die „Sieger“ davon, nicht ohne vorher kräftig gebrüllt zu haben: „Ihr Kümmerlinge, ihr Schwächlinge, ihr Mieslinge, ihr Weichlinge!“

Georg schrieb am nächsten Morgen in sein Fahrtentagebuch: „12er-Zelt des Jungvolks aufgedroschen.“ Diese Formulierung sollte später noch eine wichtige Rolle spielen.

Und dann kam der folgenschwere Abend. Das Wetter war umgeschlagen, keine Wolken mehr am Himmel. Die See lag ruhig, die Wasseroberfläche glatt, wie in einer Badewanne. Die drei wollten das gute Wetter nutzen, einmal weit hinausschwimmen, um von dort aus den breiten Küstensaum betrachten zu können. In wenigen Stößen entfernen sie sich vom seichten Ufer, hielten hin und wieder an, sahen sich um, ob hinter der leichten Biegung der Küste Zinnowitz schon auftauchte. Aber der Badeort war zu weit entfernt. So schwammen sie langsam wieder zurück, schwatzten miteinander und fühlten sich in dem glasklaren Wasser sauwohl.

George erreichte als erster das Ufer. Lief die kleine Böschung zum Zeltplatz hinauf und erstarrte. Das Zelt mit den Zeltstöcken und Häringen war weg, die Unterlage noch vorhanden. Ihre Sachen lagen herum, durcheinander geworfen.

„Unser Zelt,“ schrie er, „unser Zelt! Es ist weg. Das muss einer geklaut haben.“

„Was? Unser Zelt? Alles weg?“, keuchte Abba heran. „Und unsere Sachen?“

„Scheinen alle da zu sein.“

Inzwischen war auch Ratze herangesaust. „Verdammter Mist! Wer kann das gewesen sein?“

George vermutete, dass es das Jungvolk war. „Die wollten sich rächen.“

„Quatsch, die hätten das Zelt eingerissen, aber nicht geklaut.“

„Glaube ich auch.“

„Aber wer? Unsere Sachen sind doch wertvoller als die Zeltplanen.“

„Das können nur Jungs gewesen sein, bestimmt!“

In Windeseile trockneten sie sich notdürftig ab, zogen sich etwas an, warfen die übrigen Sachen schnell zusammen und liefen in Richtung Dorf, um eventuell dort den Dieb zu erreichen. Hinterher konnte sie immer noch zum Jungvolklager laufen, das genau entgegengesetzt lag, denn keiner glaubte so recht, dass die Pimpfe etwas damit zu tun hatten.

Im Ort – es war keine halbe Stunde vergangen – entdeckte Abba zwei Jugendliche in HJ-Uniform. Einer von ihnen trug ein Bündel über der Schulter, eine graue Rolle, aus der ein langer Stock herausragte.

„Da, da! Nichts wie hin!“

Ehe die beiden anderen verstanden, was Abba meinte, lief der schon auf die beiden Hitlerjungen zu. Sofort folgten Georg und Ratze und sahen jetzt auch das Bündel.

„Unser Zelt!“

„Bestimmt unser Zelt!“

Inzwischen hatte Abba die Hitlerjungen erreicht, sprang den einen von hinten an und riss ihm das Bündel von der Schulter. „Du Hund!“, schrie er. „Zelt klauen! Was wollt ihr mit unserem Zelt?“

So wütend hatten ihn seine Freunde noch nie gesehen. Ehe es zu einer tätlichen Auseinandersetzung kommen konnte, rissen Georg und Ratze Abba zurück. Sie fürchteten, er würde in seiner Wut zuschlagen. Er als Zivilist einen Uniformträger. Feindlich standen sich die beiden Parteien gegenüber. Jeder wartete, was der andere tun würde. Ratze stieß Georg an und wollte ihn darauf hinweisen, was dieser schon gesehen hatte: Beide waren HJ-Führer mit grüner Schnur und gehörten zum Streifendienst, hatten mit dem Jungvolk also nichts zu tun.

„Ihr habt hier überhaupt nicht zu zelten, wisst ihr nicht, dass es verboten ist?, versuchte der eine die drei einzuschüchtern. „Habt ihr eine Genehmigung der Ortsbehörde?“

Um die hatten sie sich wirklich nicht bemüht, ihr kleines Zelt einfach aufgebaut. Wen sollte es stören? Kurbetrieb gab es hier nicht.

„Was geht es euch an, wo wir zelten?“

„Seid ihr von der Polizei?“

„Ihr habt uns gar nichts zu sagen.“

„Wir sind privat hier, nicht etwa in Uniform.“

„Ihr könnt nicht einfach unser Zelt wegnehmen.“

„Das ist Diebstahl.“

Die drei redeten wild durcheinander, die anderen zeigten sich wenig beeindruckt. Abba wurde immer wütender und wollte wieder auf den einen losgehen. Georg hielt ihn fest.

„Mensch, hör auf, lass sein! Das gibt nur Ärger.“

Ratze versuchte einzulenken: „Wir können ja die Sache in Ruhe klären.“

„Wir gehören doch auch zur HJ“, warf Georg dazwischen.

Die beiden HJ-Führer hatten ihre Zweifel. „Ihr Angehörige der HJ?“

„In diesem Aufzug?“

„Diese karierten Hemden.“

„Illegale seid ihr!“