Das Übermensch-Programm - Nietzsches Idee des Übermenschen und deren Rezeption im 20. Jahrhundert - Karl Gietler - E-Book

Das Übermensch-Programm - Nietzsches Idee des Übermenschen und deren Rezeption im 20. Jahrhundert E-Book

Karl Gietler

0,0
39,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Doktorarbeit / Dissertation aus dem Jahr 2010 im Fachbereich Philosophie - Philosophie des 20. Jahrhunderts, Note: 2, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (Institut für Philosophie), Sprache: Deutsch, Abstract: Die Arbeit nimmt sich Nietzsches Begriff des Übermenschen vor, wie er vor allem in seinem Werk „Also sprach Zarathustra“ beschrieben wurde. Sie gliedert sich in drei Teile. Teil eins beschreibt die Entwicklung dieser Idee im philosophischen Werk Nietzsches und in welche Problematik sie den Philosophen selbst schließlich führte. Der Begriff des Übermenschen war im 19. Jahrhundert äußerst populär und diente deshalb als Katalysator für kulturkritische und politische Erwartungen. Teil zwei untersucht daher die Rezeption dieser Idee durch zwei exemplarische Denker; auf philosophischer Ebene Martin Heidegger, der in seinem Werk ebenso wie Nietzsche die Abendländische Metaphysik überwinden will und dessen zeitweilige Nähe zum Nationalsozialismus ebenfalls thematisiert wird. Im Bereich der Literatur ist es Hermann Hesse, dessen Werk zeitlebens stark von Nietzsche beeinflusst war und dessen Strategien zur Überwindung des Nihilismus in viele seiner Erzählungen einfließen. Schließlich wird der Frage nachgegangen, inwieweit Nietzsches politische Philosophie und sein antihistorisches, vitalistisches Denken für das nationalsozialistische Geschehen zur Mitte des 20. Jahrhunderts verantwortlich zu machen ist und auf welche Weise seine philosophischen Begriffe in die nationalsozialistische Ideologie Eingang gefunden haben. Die editorische Tätigkeit seiner Schwester Elisabeth spielte in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle. Die nationalsozialistischen Programme wie Eugenik und Menschenzüchtung finden nach dem Krieg ihre unterschwellige Fortsetzung in den genetischen Forschungen der Amerikaner ab den 50er Jahren, angetrieben durch die Sorge um die Qualität des Genpools. Dies wird im dritten Teil der Arbeit behandelt ebenso wie die Rezeption der Philosophie Nietzsches in der Nachkriegszeit; das Hauptaugenmerk liegt hierbei am französischen Nietzscheanismus der Autoren Georges Bataille, Gilles Deleuze und Michel Foucault. Abschließend wird auf die aktuelle Gentechnikdebatte Bezug genommen und auf welche Weise Nietzsches postsubjektivistisches Denken eine gentechnische Menschheitsoptimierung legitimieren könnte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2010

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
Die Zeit
Gott ist tot
Der Übermensch
Der Unmensch
Das Halkyonische
Das Schwergewicht
Der Gekreuzigte
Heidegger und Nietzsche
Heideggers Übermensch
Das Einfache
Das Volk
Hesse und Nietzsche
Zarathustras Wiederkehr
Werde der, der du bist
Vom Demian zum Steppenwolf
Das Glasperlenspiel
Hitler und Nietzsche
Zarathustras Schwester
Nietzsche im Dritten Reich
Zucht und Züchtung
Nietzsche als Protofaschist

Page 2

Nietzsches Idee des Übermenschen und deren Rezeption

1. Begutachter: ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Wilhelm Berger

Institut für Technik und Wissenschaftsforschung (Standort Graz und Klagenfurt)

2. Begutachterin: Univ.-Prof. Dr. Alice Pechriggl Institut für Philosophie

März 2010

Page 3

Danken möchte ich Univ.-Prof. Dr. Alice Pechriggl für die umsichtige Beratung und die detaillierten Anregungen und Hinweise im Rahmen des Graduierungsseminars sowie

ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Wilhelm Berger für die kompetente Betreuung und essentielle Hinweise bezüglich Literatur und Aufbau der Arbeit.

Page 5

Teil 3: Neue Übermenschen - auf der Suche nach dem Subjekt

Georges Bataille: Das souveräne Subjekt 121

Michel Foucault: Das Subjekt zwischen Verschwinden und Autoformation 128

Gilles Deleuze: Das Viele und das Werden 135

Gianni Vattimo: Jenseits vom Subjekt 139 Der Menschenpark 144 Eugenik und Humangenetik 150 Zukunftsmenschen 152

Page 6

Vorwort

Inspiriert von Friedrich Nietzsches fast beschwörendem Ausruf „Einst muss er kommen“ soll hier versucht werden, die Entwicklung der Idee des Übermenschen im Denken Nietzsches aufzuzeigen und der Spur des Übermenschlichen durch den Lauf der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu folgen. An zwei exemplarischen Persönlichkeiten aus den Bereichen Literatur und Philosophie, Hermann Hesse und Martin Heidegger, die auf jeweils besondere Weise in einem Naheverhältnis zum Denken Nietzsches stehen, soll der Einfluss seiner Idee beschrieben werden.

Da mit dem Geschehen im Dritten Reich die Übermensch-Idee politisch wirkungsmächtig wird, ist zu untersuchen, auf welche Weise Nietzsches Denken in die NS-Ideologie Eingang gefunden hat und inwiefern Nietzsche als Ideengeber verantwortlich zu machen ist. Mit den Eugenik-Programmen und Menschenzüchtungsphantasien der NS-Zeit erschließt sich eine weitere Betrachtungsebene, welche sich von der Sorge um den Genpool in den USA der 50-er Jahre über die Menschenzüchtungsideen anlässlich des CIBA-Symposions in London 1962 bis in die heutige Gentechnik-Debatte erstreckt. Auf philosophischer Ebene ist der französische Nietzscheanismus der Nachkriegszeit und der darauf folgenden Jahrzehnte zu untersuchen; auf welche Weise die Philosophie Nietzsches und sein Konzept des Übermenschlichen herangezogen wurden, um alternative

Lebenskonzepte zu entwickeln, sowohl was die gesellschaftliche Ebene wie auch den individuellen Bereich betrifft. Dabei stellt sich die Frage nach dem menschlichen Subjekt, welches als metaphysisch legitimiertes von Nietzsche abgelehnt, sich im heutigen Diskurs letztlich in einer Paradoxie wiederfindet.

Nietzsche ist ein gefährlicher Denker, sich auf ihn und seine Texte einzulassen kann zum Wagnis werden, wenn man damit ernst macht, sich dem Paradoxon der Inadäquatheit von Wollen und Sein zu stellen. Denn in Nietzsches Leben ist vorweggenommen, womit die moderne Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts konfrontiert war: ein Leben

Page 7

zu führen ohne göttliche Beglaubigung, ohne metaphysische Sinngebung und deren Tröstungen. Momentan scheint sich die zivilisierte Welt in der postmodernen Beliebigkeit recht gut eingerichtet zu haben, inwiefern sich jedoch die gegenwärtige - hauptsächlich ökonomistische - Sinngebung des Weltganzen als tragfähig erweisen wird, bleibt abzuwarten.

Page 8

Einleitung

Nietzsche steht am Torweg und blickt zurück und nach vorne. Im Rückblick sieht er zweitausend vergangene Jahre ohne einen neuen Gott, blickt er voraus, so sehnt er sich nach einem Wesen, das „der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgibt“ einem übermenschlichen Wesen. Dieser Übermensch ist Nietzsches Reaktion auf den Tod Gottes, auf den Umstand, dass seit der kopernikanischen Wende das geo- und anthropozentrische Weltbild zwar seine Gültigkeit verloren hat, der menschliche Intellekt von dieser Vorstellung aber nicht lassen kann. Das ist der Zustand, den Nietzsche nicht erträgt, der Zwiespalt, den eine Tat erzeugt hat, die zu groß war für den Menschen. Die Vernunft muss sich über den Verlust der göttlichen Beglaubigung selbst belügen; Nietzsche muss diese Fälschungen der Vernunft Kunst nennen und das Dasein einzig als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt darstellen, um nicht an der Geschichte den Verstand zu verlieren. Nietzsche weigert sich, mit weniger als dem Ganzen zufrieden zu sein. Er ist anders, ungleich und verzichtet auf gesellschaftliche Filter wie Moral, soziale Konventionen und einen Glauben, gleichzeitig wird ihm seine Einsamkeit zum Verhängnis. Die Figur eines persischen Weisen wird für ihn zur Maske, um das zur Sprache zu bringen, was er als Wissenschaftler nicht sagen kann, die Unerreichbarkeit und der Mythos jener Figur wird sein Schutz, weil er auf Konvention und Gemeinschaft verzichtet.

Im „Zarathustra“ beschreibt Nietzsche erstmals jenen Typus Mensch, der ein Dasein verkörpert, welches die Nacht der Gottesfinsternis zur Sonne machen soll. Der Übermensch ist für Nietzsche der Gegensatz zu einem Menschenbild, das er den „letzten Menschen“ nennt, der als Endprodukt des abendländischen Rationalisierungsprozesses den Status eines kunstfertigen Tieres erreicht, in dessen Massenexistenz jeder Gedanke an Selbstüberwindung und Höherentwicklung verschwindet. Der Übermensch ist derjenige, der in der Lage ist, nach dem Tod Gottes die Erde zu segnen und das Dasein zu heiligen, und stellt damit die Verkörperung des reinsten Willens zur Macht dar. Dieses Faktum und die dionysische Unbekümmertheit des

Page 9

Übermenschen gerät nun denjenigen Normal- und Letztmenschen, welche keine Hingabe an den Übermensch-Gedanken entwickeln können zum Problem, da sie aus der Perspektive des Übermenschlichen ihre Existenzberechtigung verlieren bzw. allenfalls als Unterbau für eine elitäre Schicht dienen, aus deren Reihen der Übermensch schließlich hervorgehen soll.

Andererseits ist aber auch ein individuell gewendetes Verständnis der Übermensch-Idee denk- und beschreibbar, als subjektive Aufforderung autonom über sein Leben zu verfügen und als dynamischer Prozess der Selbstüberwindung, des sich Überschreitens und wieder auf sich selbst Zurückkommens. Nietzsches Formel dafür ist das „Halkyonische“, des „rechtwinklig-seins“ an Leib und Seele, des leichtfüßigen Gleichgewichts des Tanzes und der Anmut. Damit einhergehend ist eine Lebensbejahung, eine Liebe zum Schicksal, einamor fati,welche bedeutet, sein Schicksal nicht nur hinzunehmen, sondern durch ein unbedingtes „Ja“ zu segnen auch in seinen tragischen Aspekten und unter der Belastung des größten „Schwergewichts“ das für Nietzsche denkbar ist, der „ewigen Wiederkehr“, der ultimativen Prüfung für den Übermenschen. Nietzsche selbst kann am Ende seiner Schaffenszeit seine dionysische Weltkonstruktion nicht mehr aufrechterhalten und schwankt vor seinem geistigen Zusammenbruch in seinem Denken zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten.

Die augenscheinliche Tatsache, dass ein Denker und Philosoph an der Welt und seiner Zeit verzweifelte und wahnsinnig wurde, übte zur Zeit des Fin de Siecle und der Umbruchstimmung vor dem ersten Weltkrieg eine starke Faszination auf die Vertreter der europäischen Avantgarde aus. Auf dem Gebiet der Literatur ist es im besonderen Hermann Hesse, der - in seiner Jugend bekennender Nietzsche-Verehrer - den nihilistischen Strömungen seiner Zeit nachspürt und seinen Romanhelden Nietzsche-Strategien zur Überwindung persönlicher Krisen verordnet. Durchgängiges Motiv in Hesses Werken ist eine „Selbstfindung“, ein Erkennen des ureigensten Schicksals; Hesse ist dabei auf der Suche nach dem Menschen im „Hohen Sinne“.

Page 10

Auf dem Gebiet der Philosophie ist es Martin Heidegger, der wie Nietzsche das metaphysische Denken zu überwinden sucht und dabei seine Zeit als Erfüllung der Nietzscheschen Philosophie begreift. Bei ihm wird Nietzsches Übermensch zur „vollendeten Subjektivität“, zum Repräsentanten des Seins, auserkoren zur Herrschaft über die Erde. Heideggers Nähe zum Nationalsozialismus ist dabei ebenso bekannt wie seine spätere Distanzierung von den Geschehnissen. Die auffallende Parallelität zwischen dem politischen Denken Nietzsches und der Ideologie des deutschen Nationalsozialismus hat jedoch nicht in der Philosophie Martin Heideggers ihr Bindeglied, vielmehr war der Boden schon bereitet durch die unter den Soldaten des ersten Weltkrieges weit verbreitete Nietzsche-Lektüre des „Zarathustra“ und die Aneignung Nietzschescher Parolen und Schlagwörter durch

rechtsradikale Gruppierungen in den 1920-er Jahren. Großen Anteil hatte dabei die Nietzsches Denken verfälschende Ausgabe des Buches „Der Wille zur Macht“, welches hauptsächlich von den NS-Ideologen herangezogen wurde. Verantwortlich dafür war Nietzsches Schwester Elisabeth, die damit bewusst die Nähe zum Nationalsozialismus gesucht hat. Nietzsches Forderungen nach einer „großen Politik“ und eines Herrenmenschentums wurden im Dritten Reich unter dem Zeichen des Rassenwahns auf fatale Weise Realität.

Obwohl sogar der französische Hauptankläger beim Nürnberger Prozess Nietzsche zu den Ahnen zählt, auf den sich die NS-Ideologen zu Recht berufen hatten, ist Nietzsche aber keineswegs als alleiniger Wegbereiter des Nationalsozialismus und seinen rassisch motivierten Menschenzüchtungs-und Vernichtungsprogrammen anzusehen.

Vielmehr kennt der Rassenwahn der Nationalsozialisten viele Ahnherren aus dem Umfeld des Biologismus und einem sozialdarwinistischen Denken, das in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die anerkannte wissenschaftliche Lehrmeinung darstellte. Auch in der Zeit nach dem Krieg blieben die Eugeniker von der Wichtigkeit ihrer Maßnahmen überzeugt. Es war zwar nicht mehr von Rassenreinheit und Herrenmenschentum die Rede, aber die vor allem in den USA entwickelte Atomtechnologie schürte die Sorge um die Qualität des

Page 11

„Genpools“, was in Verbindung mit den rasant fortschreitenden Entwicklungen auf dem Sektor der Gentechnik in den 60-er Jahren anlässlich eines Symposions zu unverblümten Vorschlägen bezüglich Menschenzüchtungen führte - auch seitens einiger Nobelpreisträger. Was das philosophische Erbe Nietzsches in der Nachkriegszeit betrifft, sind vor allem französische Philosophen wie Georges Bataille, Gilles Deleuze und Michel Foucault zu nennen, die am dionysischen Aspekt in Nietzsches Denken anknüpfend alternative Formen einer

gesellschaftlichen und individuellen Existenz suchten und dabei spezielle Interpretationen des übermenschlichen Subjekts entwickelten. In jüngerer Vergangenheit haben sich zum Thema der gentechnischen Menschenoptimierung zwei konträre Positionen herauskristallisiert. Zum einen die Verfechter einer Trennung von „Gewachsenem“ und „Gemachtem“, welche in der gentechnischen Intervention einen unerlaubten Eingriff in das subjektive Selbstverständnis des betreffenden Individuums sehen; zum anderen die auf den Spuren von Nietzsches Subjektkritik wandelnden Befürworter einer liberalen Eugenik, welche die Einteilung der Welt in Subjektives und Objektives, Geist und Materie als veraltete Beschreibung aus dem metaphysischen Zeitalter betrachten. Als Protagonisten dieser konträren Positionen sind Jürgen Habermas und Peter Sloterdijk zu nennen, welche sich um die Millenniumswende eine heftige mediale Kontroverse lieferten. Die Reduktion des menschlichen Subjekts auf sein Genom ergibt schließlich für das individuelle Subjekt die paradoxe Situation, einerseits biologisch determiniert zu sein, andererseits sich dennoch als autonom entscheidungsfähig verhalten zu müssen; ein Umstand, der an der Vision eines gentechnisch optimierten Übermenschen ebenfalls zweifeln lässt.

Page 12

Die Zeit

No compromise- so müsste das Motto für Nietzsches Philosophie lauten. Überall in seinen Schriften stößt man auf diese Haltung, Kompromisse eingehen ist für Nietzsche Bequemlichkeit, das „Blinzeln“ der „Letzten Menschen“, welche das Glück erfunden haben. Das nach dem Prinzip der Wohlfahrt organisierte Leben, das demokratische Glück der möglichst Vielen - für Nietzsche bedeutet eine solche Welt den Triumph des menschlichen Herdentiers. Was aber auch in seinen Schriften deutlich wird: Die Bemühung um Abstand zur Masse, den Vielzuvielen. Nietzsche wollte sich unterscheiden, seine Philosophie bezeugt dieses Bemühen, seine lebenslange Anstrengung der Selbstgestaltung.1

Nietzsches Philosophie ist nichts anderes als … Derlei Aussagen über Nietzsches Philosophisches Werk gibt es mannigfaltige, sie treffen für sich auch zu, denn sie spiegeln die unterschiedlichen

Herangehensweisen der jeweiligen Autoren wieder. Eine mögliche wurde am Anfang erwähnt. Günter Lehmann hingegen meint sinngemäß, Nietzsches Denken und Dichten, Sinnen und Trachten sei - auf einen Punkt gebracht - die Philosophie von ihrem typisch deutschen Kanzel-und Kathederernst zu befreien. Nämlich jenes Ernst- und Wichtignehmen, das mit der verkündeten Lehre „ernst machen“, ihre Denk- und Handlungsanweisungen realisieren will.2Nietzsche selbst verzichtet auf Realisierung. So wie er sich ungleich zur Masse verhält, so steht er disparat zu einer Realität, die in ihm das Unbehagen einer flachen, eindimensionalen Kultur erzeugt. Nietzsche sieht sich einer Epoche gegenüber, in der Positivismus, Empirismus, Ökonomismus und Nützlichkeitsdenken den Zeitgeist vorgeben. Diesen für Nietzsche „apollinischen Zwangs- und Würgekategorien“3, welche dem Menschen

1Vgl. Safranski, R. Nietzsche. S.51

2Vgl. Lehmann, G. Der Übermensch. S.423Ebd. S.22

Page 13

den Instinkt verderben, soll die befreiende Kraft des Dionysischen entgegengesetzt werden. Zudem konstatiert Nietzsche eine Erkrankung der Sprache, eine Zerstörung der anschaulichen Weltbilder durch die Wissenschaft. Das Lebensganze des Menschen ist einerseits sprachlich nicht mehr zu erfassen, andererseits erfährt die Sprache durch die zunehmende Komplexität der Gesellschaft einen Machtzuwachs und wird ideologisch. Nietzsche nennt dies „den Wahnsinn der allgemeinen Begriffe“4

Er schreckt vor diesem Allgemeinen zurück, es stellt für ihn eine Vergewaltigung des Lebenstriebs dar. Seine Erfahrung mit dem kapitalistischen Gesellschaftssystem, auf dem sich das Allgemeine und die Gesellschaft begründet ist die, dass es gemessen an Nietzsches Ideal nicht funktioniert. Der Mensch in der Gesellschaft dieses Allgemeinen ist korrumpiert, hat sich mit der Lüge arrangiert und ist zu kritisieren. Die Zeit des gläubigen und hoffenden Bürger-Individuums geht zu Ende, nach der Bismarckschen Reichsgründung herrschen

zentralisierter Spätkapitalismus und kommerzialisierte Massenkultur. Leere und Langeweile breiten sich aus, wo vormals utopischer Geist das Denken prägte.5Das Allgemeine, Gleiche, Wiederholbare sind für Nietzsche Kategorien, die für eine erstarrte und anonym gewordene kapitalistische Gesellschaft stehen, geprägt durch Institutionalisierung, Verwaltung und Massenbetrieb. Seine Rebellion dagegen ist ein ästhetischer und künstlerischer Lebensentwurf, Nietzsches

Aufsässigkeit gegenüber den Zuständen nimmt in der Figur des Dionysos Gestalt an.6

4Nietzsche, F. KSA 1 (UB IV, Richard Wagner in Bayreuth), S.455 [Zitate aus Nietzsches Werken, im Folgenden KSA]

5„Ein neues Mittelalter … befürchte ich nicht, aber eine immer ödere, eine immer frechere „Jetztzeit“ in entsetzlicher Steigerung: Zweckmäßigkeit überall und ein völliges Abdorren aller tiefsten Kräfte, aller künstlerischen, schaffenden Fähigkeit; wer wird noch so abgeschlossen in reinen Gebieten leben dürfen, wie unsere großen Befreier, Goethe und seine Genossen, es vermochten?“ KSA 15 (Chronik zu Nietzsches Leben) S.26 (Brief Erwin Rohdes an Nietzsche 11.Dez.1870)6Vgl. Lehmann, G. a.a.O. S.28 ff

Page 14

Dionysos

Den Gedanken des Dionysischen entwickelt Nietzsche erstmals in seiner Schrift „Die Geburt der Tragödie“. Hier wird der Frage nachgegangen, ob nicht vielleicht der Sieg des Optimismus, der Vernünftigkeit und des Utilitarismus ein Symptom der absinkenden Kraft und des nahenden Alters einer Gesellschaft sei. Für Nietzsche hat die Moral als metaphysische Kraft der Sinngebung ausgedient, er stellt die Kunst als eigentliche metaphysische Tätigkeit des Menschen in den Mittelpunkt und postuliert: „dass nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist.“7Dieses Buch kennt, wie Nietzsche in der Vorrede „Versuch einer Selbstkritik“ anmerkt, nur einen „Künstler-Sinn“ hinter allem Geschehen, eine „Artisten-Metaphysik“, einen Geist, der sich gegen eine moralische Ausdeutung der Welt zur Wehr setzt. Nietzsche bringt hier eine Gesinnung jenseits von Gut und Böse zum Ausdruck, welche die Moral selbst herabsetzt und einreiht unter die Täuschungen wie Schein, Wahn, Irrtum und Zurechtmachung. Dieses widermoralische Denken richtet er vor allem und in erster Linie gegen „das Christentum als die ausschweifendste Durchfigurirung des moralischen Themas, welche die Menschheit bisher anzuhören bekommen hat.“8

Zu seiner in der „Geburt der Tragödie“ entworfenen ästhetischen Weltauslegung und Rechtfertigung gäbe es, so Nietzsche, keinen größeren Gegensatz als das Christentum, welches mit seinen Gebotennurmoralisch sein will und jede Kunst verdamme und verurteile. Hinter dieser Kunstfeindlichkeit wittert Nietzsche das Lebensfeindliche, den rachsüchtigen Widerwillen gegen das Leben selbst, einen Hass auf die Welt und eine Furcht vor Schönheit und Sinnlichkeit. Das Christentum hätte, um dieses Diesseits besser verleumden zu können, ein Jenseits erfunden, was eigentlich ein Verlangen ins Ausruhen, ins Nichts, ein Wille zum Untergang, ein Zeichen von Erkrankung, von Müdigkeit und Erschöpfung sei. Vor dieser christlichen und unbedingten Moral muss das Leben unvermeidlich im Unrecht sein, da das Leben prinzipiell

7KSA 1 (GT, Versuch einer Selbstkritik) S.178Ebd. S.18

Page 15

unmoralisch ist. Nietzsche erkennt in dieser Moral einen Willen zur Verneinung des Lebens, einen Nihilismus, den er als heimlichen Instinkt der Verkleinerung und Vernichtung und somit als ultimative Gefahr sieht. Mit seinem untrüglichen, dem Leben fürsprechenden Instinkt wendet sich Nietzsche in der „Geburt der Tragödie“ gegen diese christliche Moral und erfindet sich eine antichristliche, rein artistische Lehre - die dionysische.9

Nietzsche beschreibt das Hervorbringen und die Weiterentwicklung der Kunst als abhängig von zwei Prinzipien, welche die Namen der beiden griechischen Kunstgottheiten tragen: dem Apollinischen und dem Dionysischen. Apollo als der Gott der bildnerischen Künste wird der Kunstwelt des Traumes, des schönen Scheins, aber auch der maßvollen Begrenzung zugeordnet. Nietzsche sieht in Apollo die Verkörperung jenes Schopenhauerschenprincipio individuationis,auf welchem vertrauend der Mensch in einer Welt von Qualen, vergleichbar mit einem Schiffer, der vertrauend auf sein schwaches Boot, inmitten eines sturmgepeitschten Meeres sitzt. Wird nun diese ruhige, vertrauende Anschauung erschüttert, so tritt an deren Stelle ein Grauen, welchesgepaart mit der „wonnevollen Verzückung“, die der Mensch beim Zerbrechen des principio individuationis erfährt - einen Blick in das Wesen des Dionysischen gewährt und vergleichbar ist mit einem Zustand des Rausches. Nietzsche nennt verschiedene Mittel dieser Rauscherzeugung, von „narkotischen Getränken“ über das „gewaltige, die ganze Natur lustvoll durchdringende Nahen des Frühlings“10bis zum dionysischen Rausch der Sankt-Johann und Sankt-Veittänzer. In poetischen Worten beschreibt Nietzsche diesen Zustand: „Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und friedfertig nahen die Raubthiere der Felsen und der Wüste. Mit Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysus überschüttet:

9KSA 1 (GT, Versuch einer Selbstkritik) S.18-1910KSA 1 (GT) S.29

Page 16

unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger.“11Jeder ist mit seinem Nächsten versöhnt und verschmolzen, der Schleier der Maja zerrissen, die Individuen vereint in einer höheren Gemeinsamkeit. Der Mensch selbst wird zum Kunstwerk, in den Schauern des Rausches offenbart sich das Ur-Eine.12

Die Verrückung der Apollinischen Illusion und Verschönung einer eigentlich grausigen Leidenswelt wird von Nietzsche als gesteigerte Lust und Verzückung aufgefasst. Analog dazu bedeutet für Nietzsche die Musik Richard Wagners einen künstlerischen Ausdruck dieses dionysischen Rausches. Der apollinische Traumschleier der Maja wird zerrissen, die dionysisch beseelte Wirklichkeit kommt zum Vorschein. Hier findet Nietzsche wertschaffende Mächte am Werk, welche bisher verdrängt, verdeckt und entstellt, aber nunmehr als eigenständige Werte zu erkennen und zur Entfaltung zu bringen sind. Das Wollen des Dionysos durchbricht die apollinische Anschauung, damit wird das Dionysische zum neuen Bezugssystem eines ästhetischen Urteils, zurwahrenästhetischen Beschaffenheit der Welt.13Doch diese dionysische Wirklichkeit muss der Mensch erst aushalten können. Auszuhalten sind dabei eine nie gekannte Lust, gleichwie einen Ekel. Mit der dionysischenunio mysticader Individuen verschwinden die Schranken des individuellen Bewusstseins, nach dem lustvollen Rausch wird das Alltagsbewusstsein als Ekel empfunden: “In der Bewußtheit der einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt der Mensch nur das Entsetzliche oder Absurde des Seins, … es ekelt ihn.“14Was ist nun das Entsetzliche, die Wahrheit des Dionysischen oder die Niederungen des Alltags, nachdem man die dionysischen Wonnen gekostet hat? Nietzsche beschreibt hier ein zweifaches Entsetzen: vom

Alltagsbewusstsein gesehen ist das Dionysische entsetzlich, vom dionysischen Bewusstsein her betrachtet zeigt sich das Alltägliche, das Gewöhnliche als unerträglich: „Das bewusste Leben bewegt sich zwischen beiden Möglichkeiten. Es ist dies aber eine Bewegung, die eher

11KSA 1(GT) S.2912Vgl. Ebd. S.25 ff.13Vgl. Lehmann, G. a.a.O. S.2114KSA 1 (GT) S.57

Page 17

einem Zerrissenwerden gleicht. Hingerissen vom Dionysischen, mit dem das Leben Fühlung behalten muss, um nicht zu veröden; und zugleich angewiesen auf die zivilisatorischen Schutzvorrichtungen, um nicht der auflösenden Gewalt des Dionysischen preisgegeben zu sein.“15Die apollinische Ordnung, welche den Schleier über die dionysische Verzückung breitet, dient als Rückversicherung um nicht vom Chaos fortgerissen zu werden. Nietzsche selbst sollte dieses Schicksal letztlich ereilen. Denn mit der Radikalisierung seiner Kritik an den apollinischen Ordnungs- und Zwangskategorien wird das Dionysische in Nietzsches Denken übermächtig. Je gründlicher er sich vom apollinischen Blendwerk und Wertesystem befreit und zum Freidenker wird, umso übermächtiger wird die Last der dionysischen Entgrenzung und des Chaos. Solange er die apollinische Ordnungswelt als Rückhalt behält, ist es ihm möglich, in einer Doppelsicht „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen, die Kunst aber unter der des Lebens….“16Apollinisches und Dionysisches vereinen sich in der Kunst. Indem Nietzsche den apollinischen Rückhalt aufgibt, wird aus dem „Eingeweihten und Jünger Dionysos“17dessen Opfer. Damit hört für ihn der Bezug zur Realität auf, seine Philosophie wechselt in den Mythos über. In dieser Situation entsteht Nietzsches Hauptwerk: „Also sprach Zarathustra“.18

Zarathustra

Nietzsches dionysische Hoffnungen werden enttäuscht. Sowohl vom „deutschen Wesen“ als auch von der „deutschen Musik“. In seinem der Geburt der Tragödie vorangestellten „Versuch einer Selbstkritik“ bedauert er die Vermischung des grandiosen griechischen Problems mit den modernen Zuständen: „Dass ich Hoffnungen anknüpfte, wo Nichts zu hoffen war, wo Alles allzudeutlich auf ein Ende hinwies!“19und die „fehlerhafte Nutzanwendung“ seiner philosophischen Erkenntnisse.

15Safranski, R. Romantik. S.294

16KSA 1 (GT, Versuch einer Selbstkritik) S.1417KSA 5 (GM) S.23818Vgl. Lehmann, G. a.a.O. S.2219KSA 1 (GT, Versuch einer Selbstkritik) S.20

Page 18

Nietzsche sucht in der Wagnerschen Musik den „metaphysischen Trost“20den für ihn nur die Kunst gewährt, der aber rein ästhetisch ist und zeitlich befristet bleibt: „Wie im Traume ist die Schätzung der Dinge, solange wir uns im Banne der Kunst festgehalten fühlen, verändert“.21Wagner ist für Nietzsche die Erlöserfigur vom apollinischen Alltag, denn „wir brauchen gerade den All-Dramatiker, damit er uns aus der furchtbaren Spannung wenigstens auf Stunden erlöse“.22Dieser metaphysische Trost ist kein religiöser, sondern ein ästhetischer und steht im krassen Gegensatz zur christlichen Moral, welche auf Weltverbesserung und Schlichtung der Probleme hofft. Dieser Moral - so Nietzsche - fehlt es aber an „dionysischer Weisheit“,23sie blickt nicht in die Abgründe des Lebens, was nämlich nur die dionysische Kunst tut.24Aber die Freundschaft Nietzsches mit Richard Wagner zerbricht, weil Wagner - im Gegensatz zu Nietzsche - nicht willens ist, die dionysische Totalität auf sich zu nehmen. Wagner als Musiker muss seinem Publikum gefällig sein, ein Rückzug aus der (apollinischen) Gesellschaft hätte seinen Ruin bedeutet.

Nietzsches Besuch in Bayreuth besiegelt den Bruch; enttäuscht vom ganzen Rummel, der Hofhaltung Wagners auf dem grünen Hügel, der schlechten Inszenierung, entsetzt von der „wohlgelaunten, saturierten und durchaus nicht erlösungsbedürftigen“25Society reist Nietzsche nach wenigen Tagen ab. Wagner hat in seinen Augen die dionysische Musik verraten und verkauft. Der dionysische Geist der Musik wird zukünftig den Sänger und Tänzer Zarathustra beseelen. Der Bruch Nietzsches mit Richard Wagner geschah in dem Moment als er erkannte, dass der Meister und vor allem seine Anhängerschaft die Kunst sakralisierten, d.h. das Artifizielle verehrten als käme es vom Himmel. Nietzsche macht Wagner nicht nur zum Vorwurf, dass er mit dem christlichen Erlösungsmythos imParsifal„vor dem Christlichen

20KSA 1 (GT) S.114

21Ebd. S.45222Ebd. S.46923Ebd. S.12824Vgl. Safranski, R. a.a.O. S.28925Ebd. S.291

Page 19

Kreuze nieder(sank)“,26sondern dass er vergaß, selbst der Produzent dieses christlichen Erlösungsmythos zu sein. Nietzsche schätzt ein Artistentum, welches den Mythos als eigene Kreation begreift, aber nicht dasjenige, das ihm zum Opfer fällt, indem es an ihn glaubt. Nietzsche als Dionysiker möchte Souverän des eigenen Mythos bleiben. Der Wille zum Schein, den man sich nicht eingesteht, wird zum Selbstbetrug. Bleibt man Herr über diesen Schein und nimmt ihn in eigene Regie, wird er zum Element der Lebenssteigerung.27Dies ist der selbst produzierte diesseitige Trost: „Ihr solltet vorerst die Kunst des diesseitigen Trostes lernen, - ihr solltet lachen lernen, meine jungen Freunde, wenn anders ihr durchaus Pessimisten bleiben wollt; vielleicht dass ihr darauf hin, als Lachende, irgendwann einmal alle metaphysische Trösterei zum Teufel schickt - und die Metaphysik voran!“28Die Jünger Zarathustras sollen - im Gegensatz zu den Wagnerianern - den metaphysischen Trost nicht mehr nötig haben. Nietzsches Figur des Zarathustra ist die Verkörperung des philosophischen Gedankens, die Sinngebung und Gestaltung des eigenen Lebens bewusst in die Hand zu nehmen. „Also sprach Zarathustra“ ist ein Hymnus auf die göttliche Unschuld des Lebens, auf eine Heiligung des Diesseits. Alle jenseitigen und transzendenten Werte und Mächte, welche der Mensch vor sich hingestellt hat und nun anbetet, sollen als eigene Kreationen erkannt und in sich selbst zurückgenommen, zurückgefordert werden: „All die Schönheit und Erhabenheit, die wir den wirklichen und eingebildeten Dingen geliehen haben, will ich zurückfordern als Eigenthum und Erzeugniß des Menschen … Der Mensch als Dichter, als Denker, als Gott, als Liebe, als Macht … daß er es war, der das geschaffen hat, was er bewunderte.“29Der „Zarathustra“ war für Nietzsche ein Glücksfall. In diesem Werk konnte er zweierlei zur Sprache bringen: Die Sprachlosigkeit - weil Inkommensurabilität - des Dionysischen und seine eigene existenzielle Sprachlosigkeit, resultierend aus seiner gesellschaftlichen Abschottung

26KSA 6 (Nietzsche contra Wagner) S.43127Vgl. Safranski, R. a.a.O. S.296 ff28KSA 1 (GT, Versuch einer Selbstkritik) S.2229KSA 13 (N 1887-1889) S.41

Page 20

und geistigen Disparität. Im Zarathustra befreit sich Nietzsche von der Last seiner dionysischen Vereinsamung, in der Gestalt dieses persischen Propheten und in seinen Reden kann das Dionysische kommuniziert werden und entzieht sich aber gleichzeitig der Realisierung durch Verlagerung in den Mythos, worauf noch zurückzukommen sein wird.

„Also sprach Zarathustra“ ist sicher als Nietzsches Hauptwerk anzusehen, es ist vom Aufbau und Inhalt her am ehesten paradigmatisch für Nietzsches Denken und Leben. Die vorangehenden Schriften können dagegen als Vorbereitung betrachtet werden, vor allem was den unterschwelligen thematischen Zusammenhang mit der

„Geburt der Tragödie“ und die inhaltliche Übereinstimmung mit jenseits von „Gut und Böse“ betrifft.30Die bereits erwähnte disparate Stellung Nietzsches zu seinem zeitgenössischen und gesellschaftlichen Umfeld spiegelt sich auch in seinem philosophischen Denken wieder.31Nietzsche ist ein exemplarischer Fall individuell gelebter Identität von Denken und Sein, er lebt jedoch ohne die Schutzmechanismen gesellschaftlicher Normen und Konventionen. Diese unvergleichbare Situation, seine „azurne Einsamkeit“32findet im „Zarathustra“ ihren Ausdruck und ihre Anschauung, kann jedoch nicht auf der Ebene von Logik und Vernunft mitgeteilt werden. Der „Zarathustra“ stellt somit die Grenze der in einem Werk realisierten Darstellung von Nietzsches Leben und Denken dar.33Wie Nietzsches Existenz bleibt auch sein „Zarathustra“ letztlich inkommensurabel. Von der Struktur her ein Monolog, ist er einer Kommunikation sich zugleich anbietend und verweigernd. Nietzsches philosophisches Ideenmaterial - seine Hauptgedanken - fügen sich hier zu einem Ganzen, stützen sich gegenseitig, wie wir später sehen werden, stellen aber dennoch keine

30Vgl. KSA 4 (Z, Nachwort) S.411,413

31„… die veränderte Art zu denken und zu empfinden, welche ich seit sechs Jahren auch schriftlich zum Ausdruck brachte, hat mich im Dasein erhalten und mich beinahe gesund gemacht. Was geht es mich an, wenn meine Freunde behaupten, diese meine jetzige „Freigeisterei“ sei ein exzentrischer, mit den Zähnen festgehaltener Entschluß und meiner eigenen Neigung abgerungen und angezwungen? Gut, es mag eine „zweite Natur“ sein: aber ich will schon noch beweisen, daß ich mit dieser zweiten Natur erst in den eigentlichen Besitz meiner ersten Natur getreten bin.“ KSA 15 (Chronik zu Nietzsches Leben) S.132 (Brief an Hans von Bülow Dez.1882)