Das unendliche Meer - Rick Yancey - E-Book
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Das unendliche Meer E-Book

Rick Yancey

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Beschreibung

Die erste Welle vernichtete eine halbe Million Menschen, die zweite noch viel mehr. Die dritte Welle dauerte ganze zwölf Wochen an, danach waren vier Milliarden tot. Nach der vierten Welle kann man niemandem mehr trauen. Cassie Sullivan hat überlebt, nur um sich jetzt in einer Welt wiederzufinden, die von Misstrauen, Verrat und Verzweiflung bestimmt wird. Und während die fünfte Welle ihren Verlauf nimmt, halten Cassie, Ben und Ringer ihre kleine Widerstandsgruppe zusammen, um gemeinsam gegen die Anderen zu kämpfen. Sie sind, was von der Menschheit übrig blieb, und sie werden sich so schnell nicht geschlagen geben. Und während Cassie immer noch hofft, dass ihr Retter Evan Walker lebt, wird der Kampf ums Überleben immer aussichtsloser. Bis eines Tages ein Fremder versucht, in ihr Versteck einzudringen...

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Seitenzahl: 445

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Buch

Die Zeit der Fünften Welle ist gekommen, und sie könnte nicht grausamer sein. Die Anderen haben bereits vier Wellen der Zerstörung über die Erde geschickt und Milliarden von Menschen vernichtet. Nur wenige haben überlebt, unter ihnen Cassie, ihr Bruder Sam und Ben. Sie alle konnten dem Lager der Anderen entkommen. Nur ihr Retter Evan Walker hat es nicht geschafft. Eine Tatsache, die Cassie Tag und Nacht beschäftigt. Sie wünscht sich so sehr, dass er lebt und sie finden wird. Doch mit jedem Tag, der vergeht, schwindet ein kleines bisschen ihrer Hoffnung. Zudem bricht auch noch ein Streit darüber aus, wie die Gruppe im Kampf gegen die Anderen weitermachen soll. Dabei wird es von Stunde zu Stunde mehr und mehr ein Kampf ums Überleben, um Vertrauen und um den kleinen Rest von Menschlichkeit, den sie noch in sich bewahren. Cassie weiß, dass sie zusammenhalten müssen, wollen sie auch nur den Hauch einer Chance haben. Doch plötzlich droht ihr Versteck nicht mehr sicher zu sein. Die Fünfte Welle wird auch sie nicht verschonen …

Weitere Informationen zu Rick Yancey sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Rick Yancey

DAS UNENDLICHE MEER

Die Fünfte Welle Band 2

Roman

Ins Deutsche übertragen von Thomas Bauer

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The Infinite Sea«

bei G. P. Putnam’s Sons, Penguin Group (USA) LLC, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag ­keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Copyright © 2014 by Rick Yancey

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Penguin Group (USA) 2014

Design: Allied Integrated Marketing

Redaktion: Alexander Groß

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-13668-0V002

www.goldmann-verlag.de

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Für Sandy, die Hüterin des Unendlichen.

So grenzenlos ist meine Huld, die LiebeSo tief ja wie das Meer. Je mehr ich gebe,Je mehr auch hab ich: Beides ist unendlich.

– William Shakespeare

— Der Weizen —

Es würde keine Ernte geben.

Der Frühjahrsregen weckte schlummernde Schösslinge, und aus der feuchten Erde sprossen hellgrüne Triebe und erhoben sich wie Schlafende, die sich nach einem langen Nickerchen strecken. Als der Frühling dem Sommer wich, wurden die hellgrünen Halme dunkler, verfärbten sich hell- und schließlich goldbraun. Die Tage wurden lang und heiß. Dicke schwarze Wolkentürme brachten Regen, und die braunen Stängel glänzten im fortwährenden Zwielicht, das unter dem Himmelszelt wohnte. Der Weizen wuchs, und seine reifenden Ähren beugten sich im Präriewind – ein wallender Vorhang, ein endloses wogendes Meer, das sich bis zum Horizont erstreckte.

Zur Erntezeit gab es keinen Farmer mehr, der eine Ähre vom Halm hätte pflücken, sie zwischen seinen schwieligen Händen hätte reiben und die Spreu vom Korn hätte blasen können. Es gab keinen Schnitter mehr, der das Korn hätte mähen oder die zarte Schale zwischen seinen Zähnen hätte brechen können. Der Farmer war an der Seuche gestorben, und seine Angehörigen waren in die nächste Stadt geflohen, wo sie ihr ebenfalls erlagen und sich damit unter die Milliarden Menschen reihten, die während der Dritten Welle den Tod fanden. Das alte Haus, das der Großvater des Farmers erbaut hatte, war jetzt eine verlassene Insel, umgeben von einem unendlichen Meer von Braun. Dann wurden die Tage kürzer und die Nächte kühl, und der Weizen knisterte im trockenen Wind.

Der Weizen hatte den Hagel und die Blitze der Sommergewitter überlebt, doch kein Glück der Welt konnte ihn vor der Kälte retten. Als Flüchtlinge in dem alten Haus Zuflucht suchten, war der Weizen bereits tot, erschlagen von der harten Faust eines strengen Frosts.

Fünf Männer und zwei Frauen, einander fremd am Vorabend jener letzten Anbausaison, jetzt durch das unausgesprochene Versprechen verbunden, dass der Geringste von ihnen mehr zähle als die Summe von ihnen allen.

Die Männer hielten abwechselnd Wache auf der Veranda. Untertags zeigte sich der wolkenlose Himmel in einem makellos strahlenden Blau, und die Sonne, die tief über dem Horizont hing, tauchte das matte Braun des Weizens in ein schimmerndes Gold. Die Nächte senkten sich nicht sanft über die Erde herab, sondern schienen wütend auf ihr aufzuschlagen, und das Sternenlicht verwandelte das Goldbraun des Weizens in ein glänzendes Silber.

Die mechanisierte Welt war gestorben. Erdbeben und Tsunamis hatten die Küstenregionen ausgelöscht. Die Seuche hatte Milliarden verzehrt.

Und die Männer auf der Veranda richteten den Blick auf den Weizen und fragten sich, was wohl als Nächstes kommen mochte.

Eines frühen Nachmittags sah der Mann, der gerade Wache hielt, wie sich das tote Getreidemeer teilte, und wusste, dass sich jemand näherte, dass sich jemand einen Weg durch den Weizen zu dem alten Farmhaus bahnte. Er rief die anderen im Haus, und eine der Frauen kam zu ihm auf die Veranda. Gemeinsam beobachteten sie, wie die hohen Halme in dem braunen Meer versanken, als würde die Erde selbst sie verschlucken. Wer auch immer – oder was auch immer – sich näherte, ragte nicht aus dem Weizen heraus. Der Mann trat von der Veranda und richtete sein Gewehr auf den Weizen. Er wartete auf dem Hof, und die Frau wartete auf der Veranda. Die Übrigen warteten im Haus und pressten ihre Gesichter an die Fensterscheiben. Niemand sagte etwas. Alle warteten darauf, dass sich der Weizenvorhang teilte.

Als es so weit war, kam ein Kind zum Vorschein, und die Stille des Wartens war gebrochen. Die Frau rannte von der Veranda und drückte den Gewehrlauf nach unten. Er ist doch noch ein kleiner Junge. Willst du etwa ein Kind erschießen? Und der Mann verzog das Gesicht vor Unschlüssigkeit und vor Wut darüber, dass er von allem, was er jemals als selbstverständlich betrachtet hatte, hintergangen worden war. Woher wissen wir das?, fragte er die Frau. Wie können wir uns überhaupt noch bei irgendetwas sicher sein? Der kleine Junge kam aus dem Weizen gestolpert und fiel zu Boden. Die Frau rannte zu ihm, hob ihn auf und drückte sein schmutziges Gesicht an ihre Brust, und der Mann mit dem Gewehr stellte sich ihr in den Weg. Er friert. Wir müssen ihn ins Haus bringen. Und der Mann spürte einen gewaltigen Druck in seiner Brust. Er war gefangen zwischen der Welt, wie sie einst gewesen war, und der Welt, wie sie geworden war, zwischen seinem einstigen Ich und seinem jetzigen Ich, und der Preis all der unausgesprochenen Versprechen lastete auf seinem Herzen. Er ist doch noch ein kleiner Junge. Willst du etwa ein Kind erschießen? Die Frau ging an ihm vorbei, die Stufen zur Veranda hinauf ins Haus, und der Mann senkte den Kopf wie im Gebet, dann hob er ihn, als würde er flehen. Er wartete ein paar Minuten, ob noch jemand aus dem Weizen auftauchte, da er nicht glauben wollte, dass ein Kleinkind so lange überlebt hatte, allein und wehrlos, ohne jemanden, der es beschützte. Wie konnte so etwas möglich sein?

Als der Mann das Wohnzimmer des alten Farmhauses betrat, sah er den kleinen Jungen auf dem Schoß der Frau sitzen. Sie hatte ihn in eine Decke gewickelt und ihm Wasser gebracht, kleine, von der Kälte gerötete Finger um die Tasse gelegt. Die anderen hatten sich im Zimmer versammelt, und niemand sagte ein Wort. Alle starrten das Kind voller sprachloser Verwunderung an. Wie konnte so etwas möglich sein? Der Junge wimmerte. Sein Blick huschte von Gesicht zu Gesicht, suchte nach etwas Vertrautem, doch alle waren Fremde für ihn, wie auch sie einander fremd gewesen waren, bevor die Welt geendet hatte. Er klagte, dass er friere und Halsschmerzen habe. Dass er ein schlimmes Aua im Rachen habe.

Die Frau, die den Jungen hielt, brachte ihn dazu, den Mund aufzumachen. Sie sah das entzündete Gewebe hinten in seinem Mund, aber nicht den hauchdünnen Draht, der in seinem Rachen eingebettet war. Sie sah weder den Draht noch die winzige Kapsel am Ende des Drahts. Als sie sich über den Jungen beugte, um ihm prüfend in den Mund zu schauen, konnte sie nicht wissen, dass die dem Kind eingepflanzte Vorrichtung darauf ausgelegt war, das Kohlendioxid in ihrem Atem zu erkennen.

Unser Atem, der Auslöser.

Unser Kind, die Waffe.

Die Explosion machte das alte Farmhaus sofort dem Erdboden gleich.

Beim Weizen dauerte es länger. Vom Farmhaus, den Nebengebäuden und dem Silo, in dem in jedem anderen Jahr die ergiebige Ernte gelagert gewesen war, blieb nichts übrig. Die trockenen, geschmeidigen Halme dagegen wurden von den Flammen verschlungen und verwandelten sich in Asche, und bei Sonnenuntergang fegte eine steife Brise aus Norden über die Prärie, hob die Asche hoch und trug sie hunderte Meilen mit sich, ehe sie wieder vom Himmel fiel wie grauer und schwarzer Schnee, um sich gleichgültig auf kargem Boden niederzulassen.

ERSTES BUCH

—I. TEIL—

DAS RATTENPROBLEM

— 1. Kapitel —

Die Welt ist eine Uhr, die abläuft.

Das höre ich am Kratzen der eisigen Finger des Windes an der Fensterscheibe. Das rieche ich an dem schimmligen Teppichboden und den verrottenden Tapeten des alten Hotels. Und das fühle ich in Teacups Brust, wenn sie schläft. Das Hämmern ihres Herzens, der Rhythmus ihres Atems, warm in der bitterkalten Luft: die Uhr, die abläuft.

Auf der anderen Seite des Zimmers hält Cassie Sullivan am Fenster Wache. Mondlicht sickert durch den winzigen Spalt zwischen den Vorhängen hinter ihr, erleuchtet die gefrorenen Atemwolken, die ihr Mund ausstößt. Ihr kleiner Bruder schläft in dem Bett, das am nächsten bei ihr steht, ein winziger Klumpen unter einem Berg von Decken. Fenster, Bett und wieder zurück: Ihr Kopf dreht sich wie ein schwingendes Pendel. Die Drehbewegung ihres Kopfes, der Rhythmus ihres Atems – wie Nuggets, wie Teacups, wie meiner – markieren die Zeit auf der Uhr, die abläuft.

Ich schlüpfe aus dem Bett. Teacup stöhnt im Schlaf und vergräbt sich tiefer unter der Bettdecke. Die Kälte packt mich, schnürt mir die Brust zu, obwohl ich vollständig angezogen bin bis auf meine Stiefel und meinen Parka, den ich mir vom Fußende schnappe. Sullivan sieht mir dabei zu, wie ich die Stiefel anziehe, wie ich meinen Rucksack und mein Gewehr aus dem Schrank hole. Ich gehe zu ihr ans Fenster, da ich das Bedürfnis habe, irgendetwas zu ihr zu sagen, bevor ich aufbreche. Womöglich werden wir uns nie wiedersehen.

»Es geht also los«, sagt sie. Ihre helle Haut leuchtet im milchigen Licht. Ihre Sommersprossen scheinen wie ein Sprühnebel über ihrer Nase und ihren Wangen zu schweben.

Ich rücke das Gewehr zurecht, das ich um die Schulter trage. »Es geht los.«

»Weißt du, Dumbo verstehe ich ja noch. Die großen Ohren. Und Nugget, weil Sam so klein ist. Teacup auch. Zombie ist mir nicht ganz klar – Ben rückt einfach nicht damit raus –, und ich nehme an, Poundcake hat was mit seiner Pummeligkeit zu tun. Aber warum Ringer?«

Ich ahne, wohin das führt. Außer bei Zombie und ihrem Bruder ist sie sich bei niemandem mehr sicher. Der Name Ringer rüttelt ihre Paranoia wach. »Ich bin ein Mensch.«

»Ja.« Sie späht durch den Spalt zwischen den Vorhängen auf den Parkplatz zwei Geschosse weiter unten, auf dem Eis schimmert. »Das hat mir schon mal jemand gesagt. Und ich Blödmann habe es ihm geglaubt.«

»In Anbetracht der Umstände war das gar nicht so blöd.«

»Tu doch nicht so, Ringer«, faucht sie mich an. »Ich weiß, dass du mir das mit Evan nicht glaubst.«

»Dir glaube ich schon. Seine Geschichte ergibt keinen Sinn.«

Ich gehe zur Tür, bevor sie mich zur Schnecke macht. Was Evan Walker anbelangt, bohrt man bei Cassie Sullivan besser nicht nach. Ich nehme ihr das nicht übel. Evan Walker ist der kleine Zweig, der aus der Felswand herauswächst und an dem sie sich festklammert, und seit Evan weg ist, klammert sie sich noch fester daran.

Teacup gibt keinen Mucks von sich, aber ich spüre ihren Blick; ich weiß, dass sie wach ist. Ich gehe zurück zum Bett.

»Nimm mich mit«, flüstert sie.

Ich schüttle den Kopf. Wir haben das schon hundert Mal diskutiert. »Ich bin nicht lange weg. Ein paar Tage.«

»Versprochen?«

Kommt nicht infrage, Teacup. Versprechen sind die einzige Währung, die es noch gibt. Man muss sparsam mit ihnen umgehen. Ihre Unterlippe bebt; ihre Augen werden feucht. »Hey«, sage ich leise. »Was habe ich dir gesagt, Soldat?« Ich widerstehe dem Impuls, sie zu berühren. »Was hat höchste Priorität?«

»Keine negativen Gedanken«, erwidert sie pflichtbewusst.

»Denn negative Gedanken tun was?«

»Sie machen uns weich.«

»Und was passiert, wenn wir weich werden?«

»Dann sterben wir.«

»Und wollen wir sterben?«

Sie schüttelt den Kopf. »Noch nicht.«

Ich berühre ihr Gesicht. Kühle Wange, warme Tränen. Noch nicht. Nachdem auf der Uhr der Menschheit keine Zeit mehr übrig ist, hat dieses kleine Mädchen vermutlich bereits die Mitte seines Lebens erreicht. Sullivan und ich, wir sind alt. Und Zombie? Der Alte der Tage.

Er wartet in der Lobby auf mich und trägt einen Skianorak über einem knallgelben Kapuzensweatshirt, beides in den Hinterlassenschaften im Hotel aufgestöbert. Zombie ist nur mit einem hauchdünnen OP-Kittel bekleidet aus Camp Haven geflüchtet. Unter seinem ungepflegten Bart trägt sein Gesicht das verräterische Scharlachrot von Fieber. Die Schusswunde, die ich ihm verpasst habe und die bei seiner Flucht aus Camp Haven wieder aufgeplatzt ist, wurde von unserem zwölfjährigen Sanitäter verarztet und muss sich entzündet haben. Er lehnt sich gegen den Empfangstresen, presst eine Hand in die Seite und tut so, als wäre alles in Ordnung.

»Ich dachte schon, du hättest es dir anders überlegt«, sagt Zombie. Seine dunklen Augen funkeln, als würde er mich auf den Arm nehmen, aber das könnte auch am Fieber liegen.

Ich schüttle den Kopf. »Teacup.«

»Sie kommt schon klar.« Um mich zu beruhigen, lässt er sein Killerlächeln aus dem Käfig. Zombie ist sich anscheinend nicht ganz darüber im Klaren, wie unschätzbar wertvoll Versprechen sind, sonst würde er nicht so beiläufig damit herumwerfen.

»Um Teacup mache ich mir keine Sorgen. Aber du siehst richtig beschissen aus, Zombie.«

»Das liegt am Wetter. Es ist Gift für meinen Teint.« Bei der Pointe springt mich ein weiteres Lächeln an. Er beugt sich vor und versucht, mich dazu zu bringen, es zu erwidern. »Eines Tages, Private Ringer, wirst du über irgendetwas lächeln, das ich sage, und die Welt wird entzweibrechen.«

»Ich bin nicht bereit, eine solche Verantwortung zu übernehmen.«

Er lacht, und vielleicht höre ich tief in seiner Brust ein Rasseln. »Hier.« Er hält mir noch eine Broschüre über die Höhlen hin.

»Ich habe schon eine«, sage ich zu ihm.

»Nimm sie trotzdem, falls du deine verlierst.«

»Ich verliere sie schon nicht, Zombie.«

»Ich schicke Poundcake mit dir mit«, sagt er.

»Nein, das tust du nicht.«

»Ich habe das Kommando. Also tue ich es.«

»Ihr braucht Poundcake hier dringender, als ich ihn da draußen brauche.«

Er nickt. Ihm war klar, dass ich nein sagen würde, aber er konnte sich einen letzten Versuch nicht verkneifen. »Vielleicht sollten wir die Aktion abbrechen«, sagt er. »Eigentlich ist es hier doch gar nicht so schlecht. Etwa tausend Bettwanzen, ein paar hundert Ratten und ein paar Dutzend Leichen, aber die Aussicht ist fantastisch …«

Er macht noch immer Scherze, versucht noch immer, mir ein Lächeln zu entlocken. Er wirft einen Blick auf die Broschüre in seiner Hand. Ganzjährig knapp fünfundzwanzig Grad!

»Bis wir eingeschneit werden oder die Temperatur wieder sinkt. Die Situation ist unerträglich, Zombie. Wir sind schon zu lange hier.«

Ich kapiere das nicht. Wir haben die Sache bis zum Abwinken diskutiert, und jetzt fängt er wieder damit an. Manchmal wundere ich mich schon über Zombie.

»Wir müssen das Risiko eingehen, und du weißt, dass wir da nicht blindlings reinmarschieren können«, fahre ich fort. »Wahrscheinlich verstecken sich noch andere Überlebende in den Höhlen, und die sind vielleicht nicht bereit, uns den roten Teppich auszurollen – vor allem dann nicht, wenn ihnen einer von Sullivans Silencern begegnet ist.«

»Oder Rekruten wie wir«, fügt er hinzu.

»Also schaue ich mich dort um und bin in ein paar Tagen wieder zurück.«

»An dieses Versprechen erinnere ich dich.«

»Das war kein Versprechen.«

Es gibt nichts mehr zu sagen. Es gäbe noch unendlich viel zu sagen. Womöglich sehen wir uns zum letzten Mal, und er denkt offenbar dasselbe, da er sagt: »Danke, dass du mir das Leben gerettet hast.«

»Ich habe dir eine Kugel in die Seite verpasst, und du wirst vielleicht dran sterben.«

Er schüttelt den Kopf. Seine Augen funkeln vor Fieber. Seine Lippen sind grau. Warum mussten sie ihn ausgerechnet Zombie nennen? Das ist wie ein Omen. Als ich ihn das erste Mal sah, machte er Liegestütze auf den Fingerknöcheln im Kasernenhof, das Gesicht vor Wut und Schmerz verzerrt, und unter seinen Fäusten bildeten sich Blutlachen auf dem Asphalt. Wer ist der Typ?, fragte ich. Er heißt Zombie. Er hat gegen die Seuche gekämpft und gewonnen, sagten sie mir, und ich glaubte ihnen nicht. Niemand besiegt die Seuche. Die Seuche ist ein Todesurteil. Und Reznik, der Drill-Ausbilder, beugte sich über ihn und schrie ihn aus voller Kehle an, und Zombie im schlabberigen blauen Overall quälte sich über den Punkt hinaus, an dem auch nur ein einziger weiterer Liegestütz unmöglich ist. Ich weiß nicht, warum ich überrascht war, als er mir befahl, ihn anzuschießen, damit er sein uneinlösbares Versprechen an Nugget einlösen konnte. Wenn man dem Tod ins Auge sieht und der Tod als Erster blinzelt, erscheint nichts mehr unmöglich.

Nicht einmal Gedankenlesen. »Ich weiß, was du denkst«, sagt er.

»Nein. Weißt du nicht.«

»Du fragst dich, ob du mir einen Abschiedskuss geben sollst.«

»Warum tust du das?«, frage ich. »Mit mir flirten.«

Er zuckt mit den Schultern. Sein Grinsen ist schief wie sein Körper, der am Empfangstresen lehnt.

»Das ist normal. Vermisst du normal etwa nicht?«, fragt er. Sein Blick bohrt sich tief in meine Augen, immer auf der Suche nach etwas, doch ich weiß nie, wonach. »Du weißt schon, Drive-in und Kino am Samstagabend und Eis-Sandwichs und seinen Twitter-Feed checken.«

Ich schüttle den Kopf. »Ich habe nicht getwittert.«

»Facebook?«

Ich bin langsam etwas genervt. Manchmal kann ich mir nur schwer vorstellen, wie Zombie es so weit geschafft hat. Sich nach etwas zu sehnen, das wir verloren haben, ist dasselbe, wie auf etwas zu hoffen, das niemals eintreten kann. Beides endet in einer Sackgasse der Verzweiflung. »Das ist nicht wichtig«, sage ich. »Nichts davon spielt eine Rolle.«

Zombies Lachen kommt tief aus seinem Bauch. Es sprudelt an die Oberfläche wie die überhitzte Luft einer heißen Quelle, und ich bin plötzlich nicht mehr genervt. Ich weiß, dass er seinen Charme spielen lässt, und irgendwie wird die Wirkung nicht davon gedämpft, dass ich weiß, was er tut. Ein weiterer Grund, warum Zombie ein bisschen unheimlich ist.

»Schon komisch«, sagt er. »Für wie wichtig wir das alles gehalten haben. Weißt du, was wirklich eine Rolle spielt?« Er wartet auf meine Antwort. Ich habe das Gefühl, dass ich für einen Witz herhalten soll, deshalb sage ich gar nichts. »Der zweite Gong.«

Jetzt hat er mich in die Ecke gedrängt. Mir ist klar, dass Manipulation im Spiel ist, aber ich bin nicht imstande, sie zu stoppen. »Der zweite Gong?«

»Das normalste Geräusch der Welt. Und wenn all das vorbei ist, wird es wieder einen zweiten Gong geben.« Er reitet darauf herum. Vielleicht macht er sich Sorgen, dass ich es nicht kapiere. »Denk doch mal nach! Wenn der zweite Gong ertönt, ist wieder alles beim Alten. Schüler strömen in den Unterricht, hocken gelangweilt da, warten auf den Schlussgong und überlegen, was sie am Abend, am Wochenende, in den nächsten fünfzig Jahren machen sollen. Sie werden wie wir von Naturkatastrophen, Epidemien und Weltkriegen erfahren. Du weißt schon: ›Als die Außerirdischen kamen, starben sieben Milliarden Menschen‹, und dann ertönt der Gong, und alle gehen zum Mittagessen und beklagen sich über die pampigen Kroketten. So in etwa: ›Boah, sieben Milliarden Menschen, das ist ganz schön viel. Echt traurig. Isst du alle deine Kroketten?‹ Das ist normal. Das ist es, was eine Rolle spielt.«

Also doch kein Witz. »Pampige Kroketten?«

»Okay, gut. Das ergibt alles keinen Sinn. Ich bin ein Idiot.«

Er lächelt. Sein ungepflegter Bart lässt seine Zähne sehr weiß wirken, und weil er es angesprochen hat, überlege ich tatsächlich, ob ich ihn küssen soll und ob die Bartstoppeln an seiner Oberlippe kitzeln würden.

Ich verdränge den Gedanken. Versprechen sind unschätzbar wertvoll, und ein Kuss ist auch eine Art Versprechen.

— 2. Kapitel —

Ungetrübt durchdringt das Sternenlicht die Schwärze und taucht den Highway in ein Perlweiß. Das vertrocknete Gras leuchtet; die kahlen Bäume schimmern. Abgesehen vom Wind, der über das öde Land fegt, herrscht auf der Welt winterliche Stille.

Ich kauere mich neben einer liegen gebliebenen Geländelimousine hin, um einen letzten Blick zurück zum Hotel zu werfen: ein nichtssagendes zweigeschossiges weißes Rechteck inmitten einer Ansammlung anderer nichtssagender weißer Rechtecke. Nur vier Meilen von dem riesigen Krater entfernt, wo sich einst Camp Haven befand, haben wir es zu Ehren des Architekten dieses riesigen Kraters »Walker Hotel« getauft. Sullivan hat uns gesagt, das Hotel sei der vereinbarte Treffpunkt von ihr und Evan. Ich war der Meinung, dass es sich zu nah am Schauplatz des Verbrechens befindet, zu schwierig zu verteidigen ist und dass Evan Walker sowieso tot ist: Zu einem Treffen gehören immer zwei, erinnerte ich Zombie. Ich wurde überstimmt. Wenn Walker tatsächlich einer von ihnen war, hatte er vielleicht eine Möglichkeit gefunden, um zu überleben.

»Wie denn?«, fragte ich.

»Es gab dort Rettungskapseln«, erwiderte Sullivan.

»Und?«

Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. Sie holte tief Luft. »Und … er könnte sich in einer davon gerettet haben.«

Ich sah sie an. Sie erwiderte meinen Blick. Keine von uns beiden sagte etwas. Dann sagte Zombie: »Na ja, wir müssen irgendwo Zuflucht suchen, Ringer.« Zu diesem Zeitpunkt hatte er die Broschüre über die Höhlen noch nicht gefunden. »Und im Zweifelsfall sollten wir zu seinen Gunsten entscheiden.«

»In welchem Zweifelsfall?«, fragte ich.

»Dass er derjenige ist, der er zu sein behauptet.« Zombie warf Sullivan einen Blick zu, die mich noch immer wütend anstarrte. »Dass er sein Versprechen einlöst.«

»Er hat versprochen, mich zu finden«, erklärte sie.

»Ich habe das Frachtflugzeug gesehen«, sagte ich. »Rettungskapsel habe ich keine gesehen.«

Sullivan errötete unter ihren Sommersprossen. »Nur weil du keine gesehen hast …«

Ich drehte mich zu Zombie. »Das ergibt keinen Sinn. Ein Wesen, das uns tausend Jahre voraus ist, richtet sich gegen seinesgleichen – wozu?«

»In das ›wozu‹ bin ich nicht eingeweiht worden«, erwiderte Zombie mit einem halbherzigen Lächeln.

»Seine ganze Geschichte klingt komisch«, sagte ich. »Reines Bewusstsein, das sich in einem menschlichen Körper einnistet – wenn sie keinen Körper brauchen, dann brauchen sie auch keinen Planeten.«

»Vielleicht brauchen sie den Planeten ja für irgendwas anderes.« Zombie gab sich alle Mühe.

»Wofür denn? Um Vieh zu züchten? Um Urlaub zu machen?« Irgendetwas anderes ließ mir keine Ruhe, und eine quengelnde kleine Stimme sagte: Irgendwas ist hier faul. Doch ich konnte nicht genau sagen, worum es sich dabei handelte. Jedes Mal, wenn ich ihm nachjagte, huschte es davon.

»Wir hatten keine Zeit, um alle Details zu besprechen«, fauchte Sullivan. »Ich habe mich darauf konzentriert, meinen kleinen Bruder aus einem Vernichtungslager zu befreien.«

Ich ließ die Sache auf sich beruhen. Ihr Kopf erweckte den Anschein, als würde er jeden Moment explodieren.

Genau diesen Kopf erkenne ich jetzt bei meinem letzten Blick zurück, als Silhouette hinter einem Fenster im Obergeschoss des Hotels, und das ist schlecht, richtig schlecht: Sie gibt ein einfaches Ziel für einen Scharfschützen ab. Der nächste Silencer, dem Sullivan begegnet, ist womöglich nicht so liebestoll wie der erste.

Ich ducke mich in dem schmalen Waldstreifen, der an die Straße grenzt. Die steif gefrorenen Überreste des Herbstes knirschen unter meinen Füßen. Laub, das zu Fäusten geballt scheint, Müll und von Aasfressern verstreute menschliche Knochen. Der kalte Wind riecht leicht nach Rauch. Die Welt wird noch hundert Jahre brennen. Feuer wird alles verschlingen, was wir aus Holz und Plastik, Gummi und Stoff geschaffen haben, dann werden Wasser und Wind und die Zeit Stein und Stahl zu Staub zermahlen. Ist es nicht verwunderlich, dass wir uns von außerirdischen Bomben in Brand gesteckte Städte und Todesstrahlen vorgestellt hatten, wo sie in Wirklichkeit nur Mutter Natur und Zeit brauchten?

Und Sullivan zufolge menschliche Körper, obwohl sie – ebenfalls Sullivan zufolge – eigentlich gar keine menschlichen Körper brauchen.

Eine virtuelle Existenz benötigt keinen realen Planeten.

Als ich das zum ersten Mal sagte, wollte mir Sullivan nicht zuhören, und Zombie tat so, als spiele es keine Rolle. Aus welchem Grund auch immer behauptete er, im Endeffekt würden sie uns alle tot sehen wollen. Alles andere sei nur Getöse.

Mag sein. Aber ich glaube es nicht.

Wegen der Ratten.

Ich habe vergessen, Zombie von den Ratten zu erzählen.

— 3. Kapitel —

Bei Sonnenaufgang erreiche ich den südlichen Stadtrand von Urbana. Die halbe Strecke, genau im Zeitplan.

Aus dem Norden sind Wolken angerollt; die Sonne klettert unter das Himmelszelt und taucht seine Unterseite in ein schillerndes Bordeauxrot. Ich verkrieche mich bis zum Anbruch der Dunkelheit zwischen den Bäumen, dann mache ich mich auf den Weg über die freien Felder im Westen der Stadt und bete, dass sich die Wolkendecke noch eine Weile hält, zumindest so lange, bis ich den Highway auf der anderen Seite gefunden habe. Urbana zu umgehen bedeutet einen Umweg von ein paar Meilen, doch das Einzige, was noch riskanter ist, als eine Stadt tagsüber zu durchqueren, ist, es bei Nacht zu versuchen.

Und alles dreht sich nur ums Risiko.

Vom gefrorenen Boden steigt Nebel auf. Es herrscht bittere Kälte. Sie presst mir die Wangen zusammen, lässt meine Brust bei jedem Atemzug schmerzen. Ich spürte die uralte Sehnsucht nach einem Feuer, die tief in meine Gene eingebettet ist. Feuer zu zähmen war unser erster großer Fortschritt: Feuer schützte uns, hielt uns warm, formte unser Gehirn um, weil wir damit unsere Ernährung von Nüssen und Beeren auf proteinhaltiges Fleisch umstellen konnten. Jetzt ist Feuer eine weitere Waffe im Arsenal unseres Feindes. Da tiefer Winter angebrochen ist, stecken wir zwischen zwei untragbaren Risiken fest: zu erfrieren oder den Feind auf unsere Position aufmerksam zu machen.

Ich sitze mit dem Rücken an einen Baum gelehnt da und hole die Broschüre hervor. Ohios farbenfrohste Höhlen! Zombie hat recht. Ohne Unterschlupf werden wir nicht bis zum Frühling überleben, und die Höhlen sind unsere beste – vielleicht unsere einzige – Chance. Vielleicht wurden sie vom Feind eingenommen oder zerstört. Vielleicht wurden sie von Überlebenden besetzt, die auf Fremde bei Sichtkontakt schießen. Doch mit jedem weiteren Tag, den wir in diesem Hotel bleiben, verzehnfacht sich das Risiko.

Wir haben keine Alternative, wenn es mit den Höhlen nicht klappt. Keine Zuflucht, kein Versteck, und die Vorstellung zu kämpfen ist schlichtweg lächerlich. Die Uhr läuft ab.

Als ich Zombie darauf hingewiesen habe, meinte er, ich würde mir zu viele Gedanken machen. Er lächelte. Dann hörte er auf zu lächeln und sagte: »Lass sie nicht in deinen Kopf rein.« Als wäre das Ganze ein Football-Match, und ich bräuchte in der Halbzeitpause aufmunternde Worte. Vergiss einfach, dass es sechsundfünfzig zu null steht. Spiel für deinen Stolz! In Momenten wie diesem würde ich ihn am liebsten ohrfeigen – nicht dass eine Ohrfeige wirklich etwas ändern würde, aber ich würde mich besser fühlen.

Die Brise schläft ein. Eine erwartungsvolle Stille liegt in der Luft, die Ruhe vor dem Sturm. Falls es schneit, sitzen wir in der Falle. Ich hier im Wald, Zombie im Hotel. Ich bin immer noch etwa zwanzig Meilen von den Höhlen entfernt – soll ich mich bei Tag auf die freien Felder wagen, oder soll ich darauf hoffen, dass der Schnee noch mindestens bis Einbruch der Dunkelheit ausbleibt?

Zurück zu dem R-Wort. Alles dreht sich nur um das Risiko. Nicht nur um unseres. Auch um ihres: beim Einnisten in menschliche Körper, beim Bau von Vernichtungslagern, bei der Ausbildung von Kindern zur Vollendung des Völkermords, alles wahnsinnig riskant, wahnwitzig riskant. Wie Evan Walker: widersprüchlich, unlogisch und einfach nur verdammt seltsam. Die ersten Attacken waren brutal in ihrer Effizienz und löschten achtundneunzig Prozent von uns aus, und selbst die Vierte Welle ergab einen gewissen Sinn: Es ist schwierig, mit vereinten Kräften Widerstand zu leisten, wenn man einander nicht vertrauen kann. Doch danach gerät ihre brillante Strategie langsam ins Wanken. Zehntausend Jahre, um die Auslöschung der Menschheit auf der Erde zu planen, und das ist das Beste, was ihnen einfällt? Seit Teacup und der Nacht der Ratten geht mir diese Frage immer und immer wieder durch den Kopf.

Tiefer im Wald, hinter mir und zu meiner Linken, durchbricht ein leises Stöhnen die Stille. Ich erkenne das Geräusch sofort; seit sie gekommen sind, habe ich es tausend Mal gehört. In den Anfangstagen war es fast allgegenwärtig, ein stetiges Hintergrundgeräusch wie das Brummen des Verkehrs auf einem stark befahrenen Highway: das Geräusch eines Menschen, der Schmerzen leidet.

Ich hole das Okular aus meinem Rucksack und platziere die Linse gewissenhaft vor meinem linken Auge. Bedächtig. Ohne Panik. Panik schaltet Neuronen ab. Ich stehe auf, kontrolliere den Verschluss an meinem Gewehr und husche zwischen den Bäumen hindurch zu dem Geräusch, wobei ich die Umgebung nach dem verräterischen grünen Leuchten eines »Befallenen« absuche. Nebel umhüllt die Bäume; die Welt ist in Weiß getüncht. Meine Schritte donnern auf dem gefrorenen Boden. Jeder meiner Atemzüge gleicht einem Überschallknall.

Der zarte weiße Vorhang teilt sich, und zwanzig Meter entfernt sehe ich eine Gestalt zusammengesunken unter einem Baum sitzen, den Kopf zurückgelehnt, die Hände in den Schoß gepresst. Ihr Kopf leuchtet in meinem Okular nicht auf, was bedeutet, dass es sich nicht um eine Zivilperson handelt; er gehört der Fünften Welle an.

Ich ziele mit meinem Gewehr auf seinen Kopf. »Deine Hände! Zeig mir deine Hände!«

Sein Mund steht offen. Seine leeren Augen betrachten den Himmel durch kahle Äste, auf denen Eis glitzert. Ich nähere mich ihm. Ein Gewehr, das identisch ist mit meinem, liegt neben ihm auf dem Boden. Er greift nicht danach.

»Wo ist der Rest deiner Einheit?«, frage ich. Er antwortet nicht.

Ich lasse meine Waffe sinken. Wie dumm von mir. Bei dieser Kälte würde ich seinen Atem sehen, und er atmet nicht. Bei dem Stöhnen, das ich gehört habe, muss es sich um seinen letzten Atemzug gehandelt haben. Ich drehe mich langsam einmal um die eigene Achse, halte die Luft an, sehe aber nichts außer Bäumen und Nebel, höre nichts außer meinem eigenen Blut, das in meinen Ohren rauscht. Dann steige ich über den Leichnam, wobei ich mich zwinge, nichts zu überhasten, alles zur Kenntnis zu nehmen. Keine Panik. Panik tötet.

Das gleiche Gewehr wie meines. Der gleiche Kampfanzug. Und neben ihm liegt ein Okular auf dem Boden. Er gehört zweifellos zur Fünften Welle.

Ich studiere sein Gesicht. Irgendwie kommt er mir bekannt vor. Ich schätze ihn auf zwölf oder dreizehn, ungefähr so alt wie Dumbo. Ich knie mich neben ihn und presse die Finger an seinen Hals. Kein Puls. Ich öffne seine Jacke und ziehe sein blutdurchtränktes Shirt nach oben, um mir die Wunde anzusehen. Er wurde von einer einzigen großkalibrigen Patrone in den Bauch getroffen.

Von einem Schuss, den ich nicht gehört habe. Entweder liegt er schon eine ganze Weile hier, oder der Schütze benutzt einen Schalldämpfer.

Silencer.

Sullivan zufolge hat Evan Walker eine ganze Einheit ausgelöscht, nachts, verletzt und im Alleingang, sozusagen als Aufwärmübung für die Sprengung einer ganzen militärischen Einrichtung. Damals konnte ich Cassies Geschichte kaum glauben. Jetzt habe ich einen toten Soldaten vor mir. Ohne seine Einheit. Und ich bin allein mit der Stille im Wald und dem milchig-weißen Nebelschleier.

Mit einem Mal erscheint das Ganze nicht mehr so weit hergeholt.

Schnell denken. Nicht in Panik geraten. Wie beim Schach. Die Chancen abwägen. Das Risiko ausloten.

Ich habe zwei Optionen: Mich nicht von der Stelle rühren, bis irgendwas passiert oder die Dunkelheit anbricht. Oder aus dem Wald verschwinden, und zwar schnell. Derjenige, der ihn getötet hat, könnte meilenweit weg sein oder hinter dem nächsten Baum kauern und darauf warten, dass er freie Schusslinie hat.

Die Möglichkeiten vervielfachen sich. Wo sind die anderen Mitglieder seiner Einheit? Tot? Machen sie Jagd auf die Person, die ihn erschossen hat? Was ist, wenn es sich bei der Person, die ihn erschossen hat, um einen Rekruten-Kameraden handelt, der die Dorothy gemacht hat? Vergiss seine Einheit. Was ist, wenn Verstärkung eintrifft?

Ich zücke mein Messer. Seit ich ihn gefunden habe, sind fünf Minuten vergangen. Wenn jemand wüsste, dass ich hier bin, wäre ich bereits tot. Ich werde warten, bis es dunkel ist, muss mich aber darauf gefasst machen, dass ein weiterer Brecher der Fünften Welle auf mich zugerollt kommt.

Ich taste seinen Nacken ab, bis ich die winzige Erhebung unter der Narbe finde. Ruhe bewahren. Das ist wie Schach. Zug und Gegenzug.

Ich schneide langsam an der Narbe entlang und pule die Kapsel mit der Messerspitze heraus, auf der sie von einem Tropfen Blut gehalten wird. Damit wir immer wissen, wo du dich aufhältst. Damit wir dafür sorgen können, dass du in Sicherheit bist.

Risiko. Das Risiko, in einem Okular aufzuleuchten. Das entgegengesetzte Risiko, dass mir der Feind mit einem Knopfdruck das Gehirn verschmort.

Die Kapsel in ihrem Bett aus Blut. Die schreckliche Stille des Waldes, die beißende Kälte und der Nebel, der sich zwischen Ästen windet wie sich verschränkende Finger. Und in meinem Kopf Zombies Stimme: Du machst dir zu viele Gedanken.

Ich stecke mir die Kapsel zwischen Wange und Zahnfleisch. Bescheuert. Ich hätte sie vorher abwischen sollen. Ich schmecke das Blut des Jungen.

— 4. Kapitel —

Ich bin nicht allein.

Ich kann ihn weder sehen noch hören, aber ich spüre ihn. Das Gefühl, beobachtet zu werden, verursacht auf jedem Quadratzentimeter meines Körpers ein Prickeln. Ein inzwischen unangenehm vertrautes Gefühl, das vom allerersten Moment an vorhanden war. Allein die Tatsache, dass das Mutterschiff während der ersten zehn Tage lautlos in der Umlaufbahn schwebte, sorgte für Risse im menschlichen Gebäude. Für eine andere Art von viraler Seuche: Unsicherheit, Angst, Panik. Verstopfte Highways, verlassene Flughäfen, überfüllte Notaufnahmen, Verwaltungsstillstand, Ausgangssperre, Lebensmittel- und Treibstoffengpässe, Kriegsrecht an manchen Orten, Gesetzlosigkeit an anderen. Die Gazelle schnuppert. Die schreckliche Stille vor dem Angriff. Nach zehn Jahrtausenden wussten wir wieder, wie es sich anfühlt, Beute zu sein.

In den Bäumen tummeln sich Krähen. Glänzende schwarze Köpfe, leere schwarze Augen. Ihre buckeligen Silhouetten erinnern mich an kleine alte Männer auf Parkbänken. Zu hunderten hocken sie in den Bäumen und hüpfen auf dem Boden herum. Ich werfe einen Blick auf den Toten neben mir, dessen Augen genauso leer und unergründlich sind wie die der Krähen. Ich weiß, warum die Vögel hier sind. Sie haben Hunger.

Ich auch, deshalb krame ich meinen Plastikbeutel mit Trockenfleisch und erst vor kurzem abgelaufenen Gummibärchen hervor. Essen stellt ebenfalls ein Risiko dar, weil ich dazu den Peilsender aus dem Mund nehmen muss, aber ich muss wachsam bleiben, und um wachsam bleiben zu können, brauche ich Nahrung. Die Krähen beobachten mich, neigen ihre Köpfe, als würden sie angestrengt versuchen, mich kauen zu hören. Ihr Fettsäcke. Wie hungrig könnt ihr schon sein? Die Angriffe haben ihnen Millionen Tonnen Fleisch geliefert. Auf dem Höhepunkt der Seuche verdunkelten sie in riesigen Schwärmen den Himmel, deren Schatten über die schwelende Landschaft rasten. Krähen und andere Aasvögel schlossen den Kreis der Dritten Welle. Sie ernährten sich von infizierten Leichen, dann brachten sie das Virus zu anderen Futterplätzen.

Ich könnte mich auch täuschen. Vielleicht sind wir doch allein, der tote Junge und ich. Je mehr Sekunden verstreichen, desto sicherer fühle ich mich. Falls mich jemand beobachtet, hat er nur aus einem Grund noch nicht geschossen: Er wartet, ob noch mehr bescheuerte Kinder »Soldat, zeig dich« spielen.

ENDE DER LESEPROBE