Der letzte Stern - Rick Yancey - E-Book
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Der letzte Stern E-Book

Rick Yancey

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Beschreibung

Das grandiose Finale der Bestseller-Trilogie

Sie kamen, um uns zu vernichten: die 'Anderen', eine fremde feindliche Macht. Vier Wellen der Zerstörung haben sie bereits über die Erde gebracht. Sie töteten unzählige Menschen, zerstörten Häuser und Städte, verwüsteten ganze Landstriche. Sie verbreiteten ein tödliches Virus und schickten gefährliche Silencer, um jedes noch lebende Wesen aufzuspüren. Jetzt ist die Zeit der fünften Welle gekommen, die Vollendung ihres Plans, alles Menschliche auszurotten. Doch noch gibt es Überlebende: Cassie, Ben und Evan werden weiterkämpfen. Sie wollen die Menschheit nicht aufgeben. Und wenn sie sich selbst dafür opfern müssen ...

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Die Anderen haben den Tod nicht erfunden; sie haben ihn nur perfektioniert. Haben ihm ein Gesicht gegeben, um ihn uns vor die Nase zu halten; denn sie wissen, dass das der einzige Weg ist, um uns zu vernichten. Es wird nicht auf irgendeinem Kontinent oder Ozean enden, nicht auf einem Berg oder einer Ebene, nicht in einem Dschungel oder einer Wüste. Es wird dort enden, wo es begonnen hat, wo es von Anfang an war, auf dem Schlachtfeld des letzten schlagenden menschlichen Herzens.

Vier Tage – mehr bleiben nicht mehr bis zur letzten Welle, der fünften, alles vernichtenden tödlichen Welle, mit der die Anderen alles zerstören und die Menschheit ausrotten wollen. Gemeinsam mit einer Handvoll Getreuen schmiedet Cassie in einer geheimen Unterkunft einen tollkühnen Plan, um im letzten Augenblick doch noch das Blatt zu wenden: Sie werden in die Offensive gehen, ins Herz des feindlichen Lagers vordringen und die Anderen von innen heraus vernichten.

Doch kann solch ein Angriff gelingen? Und sind wirklich alle in ihrer kleinen Truppe auf Cassies Seite? Oder hat der Feind sie schon unterlaufen, heimlich Misstrauen und Zwietracht gesät, seine Spione eingeschleust? Cassie beschließt, das Risiko einzugehen, auch weil es keinen anderen Ausweg zu geben scheint. Und so rüsten sie sich zum letzten großen Kampf – einem Kampf ohne Wiederkehr und mit ungewissem Ausgang …

Weitere Informationen zu Rick Yancey sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Rick Yancey

DERLETZTESTERN

Die Fünfte Welle Band 3

Roman

Ins Deutsche übertragen von Thomas Bauer

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »The Last Star« by G. P. Putnam’s Sons, an imprint of Penguin Random House LLC, New York.
Copyright © der Originalausgabe 2016 by Rick Yancey Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Alexander Groß Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München, nach einem Design von Allied Integrated Marketing Satz: Buch-Werksatt GmbH, Bad Aibling ISBN: 978-3-641-16676-2V003www.goldmann-verlag.de
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Für Sandy

»Die Welt endet. Die Welt beginnt aufs Neue.«

Verzweifle keiner je, dem in der trübsten Nacht

Der Hoffnung letzte Sterne schwinden.

Christoph Martin Wieland

—Das Mädchen, das fliegen konnte—

Vor vielen Jahren, als ihr Vater zehn war, fuhr er mit einem großen gelben Bus zum Planetarium.

Dort explodierte die Decke über ihm in eine Million schimmernder Lichtscherben. Sein Mund klappte auf. Seine kleinen Finger umklammerten den Rand der hölzernen Bank, auf der er saß. Über seinem Kopf rotierten winzige Punkte weißen Feuers, rein wie an dem Tag, als die Erde als geschwärzter, pockennarbiger Fels auftauchte, als durchschnittlicher Planet, der am Rand einer durchschnittlichen Galaxie in einem grenzenlosen Universum einen durchschnittlichen Stern umkreiste.

Der große Wagen. Orion. Der große Bär. Das monotone Geleier des Astronomen. Die nach oben gerichteten Gesichter der Kinder mit offen stehendem Mund und gebanntem Blick. Und der Junge, der sich unter der Unermesslichkeit dieses künstlichen Himmels winzig klein vorkam.

Er würde jenen Tag niemals vergessen.

Jahre später, als seine Tochter noch sehr jung war, lief sie immer auf unsicheren pummeligen Kleinkinderbeinchen auf ihn zu, die festen Ärmchen nach oben gereckt, die Augen vor gespannter Erwartung und Vorfreude leuchtend, Daddy, Daddy rufend, die stummeligen Finger gespreizt, zu ihm ausgestreckt, zum Himmel ausgestreckt.

Und dann sprang sie, warf sich furchtlos ins Leere, denn er war nicht nur ihr Vater – er war Daddy. Er würde sie auffangen; er würde sie nicht fallen lassen.

Rief: Fliegen, Daddy, fliegen!

Und dann hob sie ab, schoss auf die Unermesslichkeit des grenzenlosen Himmels zu, die Arme ausgebreitet, um die Unendlichkeit zu umfassen, den Kopf zurückgeworfen, eilte zu dem Ort, an dem sich Schrecken und Wunder treffen, ihr Kreischen die Essenz ihrer Freude darüber, schwerelos und frei zu sein, in seinen Armen in Sicherheit zu sein, am Leben zu sein.

Cassiopeia.

Von jenem Tag im Planetarium an, als ihr Leben noch fünfzehn Jahre in der Zukunft lag, bestand für ihn kein Zweifel, welchen Namen er ihr geben würde.

— 1. Kapitel —

»ICH SETZE MICH ZU IHNEN«

Das ist mein Leib.

In der tiefsten Kammer der Höhle hebt der Priester die letzte Oblate – sein Vorrat ist erschöpft – zu den Gesteinsformationen, die ihn an das Maul eines Drachen erinnern, das mitten im Brüllen erstarrt ist. Die Auswüchse gleichen Zähnen und funkeln rot und gelb im Schein der Lampe.

Die Katastrophe des göttlichen Opfers durch seine Hand.

Nehmet und esset alle davon…

Dann der Kelch, der die letzten Tropfen Wein enthält.

Nehmet und trinket alle daraus…

Mitternacht Ende November. In den unterirdischen Höhlen wird die kleine Gruppe von Überlebenden warm und unentdeckt bleiben, mit genügend Vorräten bis zum Frühling. An der Seuche ist seit Monaten niemand mehr gestorben. Das Schlimmste scheint überstanden zu sein. Hier sind sie sicher, völlig sicher.

Im Glauben an deine Liebe und deine Gnade esse ich deinen Leib und trinke ich dein Blut…

Sein Flüstern hallt in der Tiefe wider. Es klettert an den glatten Wänden empor, dringt durch den schmalen Gang in die oberen Kammern, wo die anderen Flüchtlinge in einen ruhelosen Schlaf verfallen sind.

Mach, dass mir das keine Verdammnis bringe, sondern Gesundheit für Körper und Geist.

Es gibt kein Brot mehr, keinen Wein. Dieses Abendmahl ist sein letztes.

Möge mir der Leib Christi ewiges Leben bringen.

Das alte Stück Brot, das auf seiner Zunge weich wird.

Möge mir das Blut Christi ewiges Leben bringen.

Die Tropfen sauren Weins, die in seinem Rachen brennen.

Gott in seinem Mund. Gott in seinem leeren Magen.

Der Priester weint.

Er gießt ein paar Tropfen Wasser in den Kelch. Seine Hand zittert. Er trinkt das wertvolle, mit Wasser vermengte Blut, dann wischt er den Kelch mit dem Purifikatorium aus.

Es ist vollbracht. Das immerwährende Opfer ist vorüber. Er tupft sich die Wangen mit demselben Tuch ab, mit dem er den Kelch ausgewischt hat. Menschliche Tränen und das Blut Gottes untrennbar vereint. Daran ist nichts neu.

Er wischt die Hostienschale mit dem Purifikatorium ab, dann legt er das Tuch in den Kelch und stellt ihn beiseite. Er zieht die grüne Stola von seinem Hals, faltet sie gewissenhaft zusammen, küsst sie. Er liebte alles am Priesteramt. Am meisten liebte er die Messe.

Sein Kragen ist feucht von Schweiß und Tränen und locker um seinen Hals: Er hat seit dem Ausbruch der Seuche fünfzehn Pfund abgenommen und seinen Pfarrbezirk verlassen, um die hundert Meilen zu den Höhlen im Norden von Urbana zurückzulegen. Unterwegs schlossen sich ihm viele an – insgesamt mehr als fünfzig, wobei zweiunddreißig von ihnen an der Infektion starben, bevor sie sich in Sicherheit bringen konnten. Als ihr Tod nahte, gab er ihnen die letzte Ölung, ob katholisch, protestantisch, jüdisch spielte keine Rolle: Möge der Herr in seiner Liebe und Gnade dir helfen… Zeichnete ihnen mit dem Daumen ein Kreuz auf die heiße Stirn. Möge der Herr, der dich von deinen Sünden erlöst, dich erretten…

Das Blut, das aus ihren Augen sickerte, vermischte sich mit dem Öl, das er auf ihre Lider rieb. Und Rauch rollte über freie Felder, hing in Wäldern und bedeckte Straßen wie im tiefen Winter Eis träge Flüsse. Brände in Columbus. Brände in Springfield und Dayton. In Huber Heights, London und Fairborn. In Franklin, Middletown und Xenia. Am Abend tauchte das Licht von tausend Feuern den Rauch in ein dunkles Orange, und der Himmel senkte sich bis wenige Zentimeter über ihre Köpfe. Der Priester schlurfte durch die schwelende Landschaft, eine Hand ausgestreckt und sich mit der anderen einen Lumpen vor Mund und Nase haltend, während ihm Tränen des Protests die Wangen hinunterströmten. Verkrustetes Blut unter seinen Fingernägeln, getrocknetes Blut in den Linien auf seinen Handflächen und in den Sohlen seiner Schuhe. Nicht mehr weit, spornte er seine Gefährten an. Geht weiter. Unterwegs gab ihm jemand den Spitznamen »Pater Moses«, da er seine Begleiter aus dem Dunkel des Rauchs und dem Feuer ins gelobte Land von »Ohios farbenfrohsten Höhlen« führte.

Natürlich waren dort bereits Menschen, die sie bei ihrem Eintreffen begrüßten. Der Priester hatte damit gerechnet. Eine Höhle brennt nicht. Sie ist wetterfest. Das Beste ist, sie ist leicht zu verteidigen. Nach der Ankunft der Anderen waren Höhlen nach Militärstützpunkten und Regierungsgebäuden die beliebtesten Zufluchtsstätten.

Vorräte waren gebunkert worden, Wasser und unverderbliche Nahrungsmittel, Decken, Verbandsmaterial und Medikamente. Und Waffen natürlich, Gewehre und Pistolen, Schrotflinten und viele Messer. Die Kranken wurden oberirdisch im Begrüßungszentrum unter Quarantäne gestellt, wo sie auf Pritschen lagen, die zwischen den Regalen des Souvenirshops aufgestellt worden waren, und der Priester besuchte sie jeden Tag, sprach mit ihnen, betete mit ihnen, nahm ihnen die Beichte ab, spendete die Kommunion, flüsterte die Dinge, die sie hören wollten: Per sacrosancta humanae reparationis mysteria… Durch die heiligen Mysterien der Erlösung des Menschen…

Hunderte starben, bevor das Sterben vorüber war. Sie hoben südlich des Begrüßungszentrums eine drei Meter breite und neun Meter tiefe Grube aus, um die Toten darin zu verbrennen. Das Feuer schwelte Tag und Nacht, und der Geruch von verbranntem Fleisch war so alltäglich geworden, dass sie es kaum noch zur Kenntnis nahmen.

Inzwischen ist November, und in der tiefsten Kammer erhebt sich der Priester. Er ist nicht groß, trotzdem muss er sich ducken, um sich nicht den Kopf am Dach der Höhle oder an den steinernen Zähnen anzuschlagen, mit denen der Gaumen des Drachen gespickt ist.

Die Messe ist beendet, gehet hin in Frieden.

Er lässt den Kelch und das Purifikatorium zurück, die Hostienschale und seine Stola. Diese sind jetzt Reliquien, Gegenstände aus einer Zeit, die mit Lichtgeschwindigkeit in die Vergangenheit zurückweicht. Wir haben als Höhlenbewohner begonnen, denkt der Priester, und in Höhlen sind wir zurückgekehrt.

Selbst die längste Reise beschreibt einen Kreis, und die Geschichte kehrt immer an den Ort zurück, an dem sie begonnen hat. Aus dem Messbuch: »Bedenke, Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehrst.«

Und der Priester erhebt sich wie ein Taucher, der zum Himmelsgewölbe emporgleitet, das über der Wasseroberfläche funkelt.

In dem langen Gang, der sich zwischen weinenden Steinwänden sanft nach oben schlängelt, ist der Boden glatt wie eine Kegelbahn. Nur wenige Monate zuvor gingen hier Schulkinder bei Ausflügen im Gänsemarsch, strichen mit den Fingern an der Felswand entlang und hielten in den Schatten, die sich in den Nischen sammeln, nach Monstern Ausschau. Sie waren jung genug, um noch an Monster zu glauben.

Und der Priester steigt wie ein Leviathan aus der lichtlosen Tiefe auf.

Der Weg zur Oberfläche führt vorbei an der Caveman’s Couch und dem Crystal King, in den Big Room, den Hauptaufenthaltsraum der Flüchtlinge, und schließlich in den Palace of the Gods, den Bereich der Höhlen, den er am liebsten mag, wo Kristallformationen wie gefrorene Scherben aus Mondlicht schimmern und die Decke sinnlich wogt wie auf den Strand rollende Wellen. Hier, in der Nähe der Oberfläche, ist die Luft dünner, trockener, eingefärbt vom Rauch der Feuer, die noch immer von der Welt genährt werden, der sie den Rücken gekehrt haben.

Herr, segne diese Asche, mit der wir zeigen, dass wir Staub sind.

Gebetsfetzen gehen ihm durch den Kopf. Bruchstücke von Liedern. Litaneien und Segnungen und die Worte der Absolution: Gott schenke dir Verzeihung und Frieden, und ich spreche dich los von deinen Sünden… Und aus der Bibel: »Zu den Gründen der Berge sank ich hinab. Der Erde Riegel waren hinter mir auf ewig geschlossen.«

Im Rauchfass verbrennt Weihrauch. Weiches Frühlingssonnenlicht wird von Buntglas gebrochen. Kirchenbänke, die an Sonntagen knarren wie der Rumpf eines uralten Schiffes weit draußen auf dem Meer. Der getragene Rhythmus der Jahreszeiten, der Kalender, der sein Leben vom Kleinkindalter an bestimmte: Advent, Weihnachten, Fastenzeit, Ostern. Ihm ist bewusst, er hat die falschen Dinge geliebt, die Rituale und Traditionen, den Pomp und Prunk, den Außenstehende der Kirche seit jeher vorwerfen. Er bewunderte die Form, nicht den Inhalt; das Brot, nicht den Leib.

Das machte ihn nicht zu einem schlechten Priester. Er war ruhig und bescheiden und seiner Berufung treu ergeben. Er genoss es, Menschen zu helfen. Die Wochen in der Höhle gehörten zu den erfülltesten in seinem ganzen Leben. Leid bringt Gott in sein natürliches Zuhause, in die Krippe von Schrecken und Verwirrung, von Schmerz und Verlust, wo er geboren wurde. Dreh die Währung des Leids um, denkt der Priester, und du bekommst sein Gesicht zu sehen.

Ein Wachposten sitzt unmittelbar hinter dem Eingang über dem Palace of the Gods. Seine gedrungene Silhouette zeichnet sich vor dem Sternenzelt ab. Ein steifer Nordwind, der den Winter prophezeit, hat den Himmel leer gefegt. Der Mann trägt eine Baseballkappe, die er tief in die Stirn gezogen hat, und eine abgenutzte Lederjacke. Er hat ein Fernglas in der Hand. Auf seinem Schoß ruht ein Gewehr.

Der Mann grüßt den Priester mit einem Nicken. »Wo ist denn Ihr Mantel, Pater? Es ist kalt heute Abend.«

Der Priester lächelt matt. »Ich fürchte, den habe ich Agatha geliehen.«

Der Mann schnaubt leise. Agatha ist die Nörglerin der Gruppe. Sie friert immer. Hat immer Hunger. Hat immer irgendetwas. Er hebt sein Fernglas an die Augen und sucht den Himmel ab.

»Haben Sie noch mehr von ihnen gesehen?«, fragt der Priester. Das erste gräulich silberfarbene Objekt haben sie eine Woche zuvor entdeckt, als es mehrere Minuten lang regungslos über den Höhlen schwebte, ehe es lautlos senkrecht nach oben schoss und zu einem winzigen Wundmal in der blauen Weite wurde. Zwei Tage später tauchte ein anderes – oder dasselbe – auf und glitt geräuschlos über sie hinweg, bis es hinter dem Horizont versank. An der Herkunft dieser seltsamen Luftfahrzeuge bestand kein Zweifel – die Höhlenbewohner wussten, dass sie nicht terrestrisch waren. Was ihnen Angst machte, war das Mysterium ihres Zwecks.

Der Mann lässt sein Fernglas sinken und reibt sich die Augen. »Was ist denn los, Pater? Können Sie nicht schlafen?«

»Oh, ich schlafe in letzter Zeit nicht viel«, entgegnet der Priester. Dann fügt er hinzu: »So viel zu tun.« Er möchte nicht, dass der Mann denkt, er würde sich beklagen.

»In Schützengräben gibt es keine Atheisten.« Das Klischee hängt wie ein ranziger Geruch in der Luft.

»In Höhlen auch nicht«, sagt der Priester. Seit sie sich zum ersten Mal begegnet sind, bemüht er sich, diesen Mann besser kennenzulernen, doch er gleicht einem verschlossenen Raum, dessen Tür sicher verriegelt ist mit Wut und Trauer und der verzweifelten Furcht von Todgeweihten, deren Uhr abgelaufen ist. Seit Monaten gibt es davor kein Entkommen. Für einige ist der Tod die Hebamme für die Hoffnung. Für andere ist er deren Vollstrecker.

Der Mann holt eine Packung Kaugummis aus der Brusttasche, wickelt vorsichtig einen Streifen aus und faltet ihn in den Mund. Bevor er die Packung wieder in die Tasche steckt, zählt er die verbliebenen Streifen. Dem Priester bietet er keinen an.

»Meine letzte Packung«, erklärt der Mann. Er verlagert auf dem kalten Stein sein Gewicht.

»Ich verstehe schon«, sagt der Priester.

»Wirklich?« Der Kiefer des Mannes bewegt sich in einem hypnotischen Rhythmus, während er kaut. »Verstehen Sie das wirklich?«

Das trockene Brot, der saure Wein: Er hat den Geschmack noch auf der Zunge. Das Brot hätte gebrochen werden können; der Wein hätte geteilt werden können. Er hätte die Messe nicht alleine feiern müssen. »Ich glaube schon«, erwidert der kleine Priester.

»Ich nicht«, sagt der Mann langsam und bedächtig. »Ich glaube an verdammt noch mal gar nichts.«

Der Priester errötet. Sein leises, verlegenes Lachen klingt wie das Trippeln von Kinderfüßen auf einer langen Treppe. Er fasst sich nervös an den Kragen.

»Als der Strom ausfiel, glaubte ich, das wäre nur vorübergehend«, sagt der Mann mit dem Gewehr. »Das glaubten alle. Der Strom fällt aus, dann gibt es wieder Strom. Das ist Glaube, nicht wahr?« Er kaut seinen Kaugummi, auf der linken Seite, auf der rechten Seite, schiebt den grünen Klumpen mit der Zunge hin und her. »Dann trudelt von den Küsten die Nachricht ein, dass es keine Küsten mehr gibt. Reno hat auf einmal beste Uferlage. Und wenn schon? Das ist schließlich nicht das erste Erdbeben. Nicht der erste Tsunami. Wer braucht schon New York? Was ist an Kalifornien so besonders? Wir rappeln uns schon wieder auf. Wir rappeln uns immer wieder auf. Daran habe ich geglaubt.« Der Wachposten nickt und starrt den Nachthimmel an, die kalten, leuchtenden Sterne. Den Blick nach oben gerichtet, die Stimme gesenkt. »Dann wurden die Ersten krank. Antibiotika. Quarantäne. Desinfektionsmittel. Wir setzten Schutzmasken auf und wuschen uns die Hände, bis sich unsere Haut schälte. Die meisten von uns starben trotzdem.«

Und der Mann mit dem Gewehr betrachtet die Sterne, als erwarte er, dass sie sich aus der Schwärze lösen und zur Erde fallen. Warum sollten sie das nicht tun?

»Meine Nachbarn. Meine Freunde. Meine Frau und meine Kinder. Ich wusste, dass nicht alle sterben würden. Es konnten doch unmöglich alle sterben? Einige würden krank werden, aber die meisten werden gesund bleiben, und allen übrigen wird es wieder besser gehen, nicht wahr? Das ist Glaube. Das ist es, was wir glaubten.« Der Mann zieht ein großes Jagdmesser aus dem Stiefel und fängt an, sich mit seiner Spitze die Fingernägel zu säubern. »Das ist Glaube: Man wächst auf, man geht zur Schule. Sucht sich einen Job. Heiratet. Gründet eine Familie.« Er vollendet die Arbeit an einer Hand, einen Nagel für jeden Übergangsritus, dann beginnt er mit der anderen. »Die eigenen Kinder wachsen auf. Sie gehen zur Schule. Suchen sich einen Job. Sie heiraten. Sie gründen eine Familie.« Kratz, kratz. Kratz, kratz, kratz. Er schiebt mit dem Ballen der Hand, in der er das Messer hält, seine Mütze nach hinten. »Ich war nie ein religiöser Mensch. Habe seit zwanzig Jahren keine Kirche mehr von innen gesehen. Aber ich weiß, was Glaube ist, Pater. Ich weiß, was es heißt, an etwas zu glauben. Das Licht geht aus, dann geht es wieder an. Die Flut strömt herein, dann fließt sie wieder ab. Leute werden krank, dann werden sie wieder gesund. Das Leben geht weiter. Das ist wahrer Glaube, oder? Wenn Sie Ihren Hokuspokus über Himmel und Hölle, Sünde und Erlösung über Bord werfen, bleibt Ihnen das. Daran glaubt sogar der kirchenfeindlichste Atheist: Das Leben wird weitergehen.«

»Ja«, stimmt der Priester zu. »Das Leben wird weitergehen.«

Der Wachposten bleckt die Zähne. Er stößt das Messer in Richtung Brust des Priesters und faucht: »Sie haben kein verdammtes Wort von dem gehört, was ich gesagt habe. Sehen Sie, das ist der Grund, warum ich Ihresgleichen nicht ausstehen kann. Sie zünden Ihre Kerzen an, murmeln Ihre lateinischen Zaubersprüche und beten zu einem Gott, den es gar nicht gibt, dem es egal ist oder der einfach nur verrückt oder grausam oder beides ist. Die Welt steht in Flammen, und Sie preisen das Arschloch, das den Brand entweder gelegt hat oder das Feuer brennen lässt.«

Der kleine Priester hat die Hände erhoben, die Hände, die das Brot und den Wein gesegnet haben, als wolle er dem Mann zeigen, dass sie leer sind, dass er es nicht böse meint.

»Ich behaupte nicht, dass ich weiß, was Gott will«, setzt der Priester an und lässt die Hände sinken. Den Blick auf das Messer gerichtet, zitiert er aus dem Buch Hiob: »Darum bekenne ich, dass ich habe unweise geredet, was mir zu hoch ist und ich nicht verstehe.«

Der Mann starrt ihn einen sehr langen, sehr unbehaglichen Moment an, völlig regungslos bis auf seinen Kiefer, der den bereits geschmacklosen Klumpen Kaugummi bearbeitet.

»Ich werde ehrlich zu Ihnen sein, Pater«, sagt er nüchtern. »Am liebsten würde ich Sie auf der Stelle töten.«

Der Priester nickt traurig. »Ich fürchte, dazu könnte es kommen. Sobald Ihnen die Wahrheit bewusst wird.« Er nimmt dem Mann das Messer aus der zitternden Hand und berührt ihn an der Schulter.

Der Mann zuckt zusammen, weicht aber nicht zurück. »Was ist denn die Wahrheit?«, fragt er im Flüsterton.

»Das«, entgegnet der kleine Priester und rammt dem Mann das Messer tief in die Brust.

Die Klinge ist sehr scharf – sie dringt mit Leichtigkeit durch das Hemd des Mannes und gleitet zwischen seine Rippen, ehe sie sich mehrere Zentimeter tief in sein Herz bohrt.

Der Priester zieht den Mann an seine Brust heran und küsst ihn auf den Scheitel. Gott schenke dir Verzeihung und Frieden.

Es ist schnell vorbei. Der Kaugummi fällt aus dem erschlafften Mund des Mannes, und der Priester hebt ihn auf und wirft ihn zum Höhleneingang hinaus. Er legt den Mann auf dem kalten Steinboden ab, dann richtet er sich wieder auf. In seiner Hand schimmert das feuchte Messer. Das ist das Blut des neuen und ewigen Bundes…

Der Priester betrachtet das Gesicht des Toten, und sein Herz brennt vor Wut und Ekel. Das menschliche Gesicht ist hässlich, unerträglich grotesk. Er braucht seine Abscheu nicht mehr zu verbergen.

Der kleine Priester kehrt in den Big Room zurück, folgt einem ausgetretenen Pfad in die Hauptkammer, wo die anderen in unruhigem Schlaf zucken und sich hin und her wälzen. Alle bis auf Agatha, die an der hinteren Wand der Kammer lehnt, eine zierliche Frau, die in der pelzgefütterten Jacke, die ihr der kleine Priester gegeben hat, verloren wirkt, ihr ungewaschenes, gekräuseltes Haar ein Wirbelsturm aus Grau und Schwarz. Schmutz hat sich in den tiefen Falten ihres wettergegerbten Gesichts eingenistet, um einen Mund, der eines längst verlorenen künstlichen Gebisses beraubt ist, und um Augen, die zwischen Falten hängender Haut begraben sind.

Das ist die Menschheit, denkt der Priester. Das ist ihr Gesicht.

»Sind Sie es, Pater?« Ihre Stimme ist kaum hörbar, das Piepsen einer Maus, der schrille Schrei einer Ratte.

Und das ist die Stimme der Menschheit, denkt der Priester.

»Ja, Agatha. Ich bin’s.«

Sie blinzelt die menschliche Maske an, die er seit früher Kindheit trägt und die jetzt von Schatten verdunkelt ist. »Ich kann nicht schlafen, Pater. Setzen Sie sich eine Weile zu mir?«

»Ja, Agatha. Ich setze mich zu Ihnen.«

— 2. Kapitel —

Er trägt die sterblichen Überreste seiner Opfer an die Oberfläche, jeweils zwei, eines unter jedem Arm, und wirft sie in die Grube, lässt sie ohne jede Zeremonie fallen, ehe er wieder hinabsteigt und die nächste Ladung holt. Nach Agatha tötete er die übrigen im Schlaf. Niemand ist aufgewacht. Der Priester arbeitete leise, schnell, mit sicherer, ruhiger Hand, und das einzige Geräusch war das Flüstern reißenden Stoffes, als das Messer in die Herzen aller sechsundvierzig sank, bis sein Herz das einzige war, das noch schlug.

In der Morgendämmerung fängt es an zu schneien. Er bleibt einen Moment draußen stehen und hebt das Gesicht zu einem Himmel, der leer und grau ist. Auf seinen blassen Wangen lassen sich Schneeflocken nieder. Sein letzter Winter für sehr lange Zeit: Bei Tagundnachtgleiche wird die Kapsel kommen, um ihn zum Mutterschiff zurückzubringen, wo er warten wird, bis diejenigen, die sie für diese Aufgabe ausgebildet haben, die finale Säuberung der Erde von der menschlichen Plage vollenden. Sobald er sich an Bord des Schiffes befindet, wird er aus der Ruhe der Leere zusehen, wie sie die Bomben werfen, die jede Stadt auf der Welt auslöschen und die Spuren der menschlichen Zivilisation hinwegfegen werden. Die Apokalypse, von der die Menschheit von Anbeginn ihres Bewusstseins geträumt hat, wird letzten Endes auf die Erde gebracht werden – nicht von einem erzürnten Gott, sondern gleichgültig, mit einer Kälte wie der des kleinen Priesters, als er seinen Opfern das Messer ins Herz stieß.

Die Schneeflocken schmelzen auf seinem nach oben gerichteten Gesicht. Noch vier Monate bis zum Ende des Winters. Hundertzwanzig Tage, bis die Bomben fallen, dann wird die Fünfte Welle losgetreten, von den menschlichen Schachfiguren, die sie darauf abgerichtet haben, ihresgleichen zu töten. Bis dahin wird der Priester weiterhin sämtliche Überlebende niedermetzeln, die sich in sein Territorium verirren.

Beinahe vorbei. Beinahe da.

Der kleine Priester steigt in den Palace of the Gods hinab und bricht sein Fasten.

— 3. Kapitel —

RINGER

Neben mir flüsterte Razor: »Lauf.«

Seine Handfeuerwaffe explodierte neben meinem Ohr. Sein Ziel war das kleinste Ding, das die Summe aller Dinge ist, seine Kugel das Schwert, das die Kette durchtrennte, die mich mit ihr verband.

Teacup.

Als Razor starb, blickte er mit seinen weichen, ausdrucksstarken Augen zu mir auf und flüsterte: »Du bist frei. Lauf.«

Ich lief.

— 4. Kapitel —

Ich durchbreche die Fensterscheibe des Kontrollturms, und der Boden rast mir entgegen, um mich zu empfangen.

Wenn ich auf dem Asphalt lande, werde ich mir keinen einzigen Knochen brechen. Ich werde keinen Schmerz spüren. Ich wurde vom Feind aufgerüstet, um tiefere Stürze als diesen zu überstehen. Mein letzter Fall begann in einer Höhe von tausendfünfhundert Metern. Dieser ist ein Kinderspiel.

Ich lande, rolle auf die Füße und renne um den Turm herum, dann die Rollbahn entlang zu der Betonbarriere und dem mit Stacheldraht gekrönten Zaun. Der Wind schreit mir in die Ohren. Ich bin jetzt schneller als das schnellste Tier auf der Erde. Ein Gepard ist im Vergleich zu mir eine Schildkröte.

Es besteht kein Zweifel daran, dass mich die Wachposten an der Umzäunung sehen und der Mann im Kontrollturm ebenfalls, aber es wird kein Schuss abgegeben, kein Befehl erteilt, mich unschädlich zu machen. Ich rase auf das Ende der Rollbahn zu wie eine Kugel durch einen Gewehrlauf.

Sie können dich nicht erwischen. Wie sollten sie dich jemals erwischen?

Noch bevor ich auf dem Boden aufgekommen bin, hat der Prozessor, der in mein Gehirn eingebettet ist, die Berechnungen angestellt und die entsprechenden Informationen an die zigtausend mikroskopisch kleinen Drohnen weitergegeben, die für mein Muskelsystem zuständig sind. Über Geschwindigkeit, Timing oder Angriffspunkte brauche ich nicht nachzudenken – das tut die Zentrale für mich.

Ende der Rollbahn: Ich springe. Mein Fußballen landet für einen Augenblick auf der Betonbarriere, dann drückt er sich ab, um mich in Richtung Zaun zu katapultieren. Der Stacheldraht rast auf mein Gesicht zu. Meine Finger greifen in die fünf Zentimeter breite Lücke zwischen der Wicklung und der obersten Stange, um mich eine Rückwärtsrolle ausführen zu lassen. Ich fliege mit den Füßen voraus, im Hohlkreuz und mit ausgestreckten Armen über den Zaun.

Ich überstehe die Landung, beschleunige abermals auf Höchstgeschwindigkeit und lege die hundert Meter Freifläche zwischen Zaun und Wald in weniger als vier Sekunden zurück. Mir fliegen keine Kugeln hinterher. Kein Hubschrauber steigt auf, um mir zu folgen. Die Bäume schließen sich hinter mir, als würde ein Vorhang zugezogen, und ich habe sicheren Halt auf dem rutschigen, unebenen Boden. Ich erreiche den Fluss, dessen schwarzes Wasser schnell dahinströmt. Meine Füße scheinen seine Oberfläche kaum zu durchbrechen, als ich ihn überquere.

Auf der anderen Seite weicht der Wald freier Tundra, die sich meilenweit ohne Unterbrechung bis zum nördlichen Horizont erstreckt, eine grenzenlose Wildnis, in der ich mich verlieren werde, unentdeckt, unbehelligt.

Frei.

Ich laufe stundenlang. Das Zwölfte System trägt mich. Es stärkt meine Gelenke und Knochen. Es unterstützt meine Muskulatur, gibt mir Kraft und Ausdauer, annulliert meine Schmerzen. Ich brauche mich bloß zu ergeben. Ich brauche bloß zu vertrauen, dann werde ich durchhalten.

VQP. Im Schein hundert brennender Leichname ritzte sich Razor diese drei Buchstaben in den Arm. VQP. Es siegt, wer erdulden kann.

Manche Dinge, sagte er zu mir am Abend vor seinem Tod, bis hin zu den kleinsten Dingen, sind die Summe aller Dinge wert.

Razor war bewusst, dass ich niemals fliehen und Teacup zurücklassen und leiden lassen würde. Ich hätte wissen müssen, dass er mich retten würde, indem er mich hintergeht: Das hatte er von Anfang an getan. Er tötete Teacup, damit ich überleben konnte.

Die nichtssagende Landschaft erstreckt sich in alle Richtungen. Die Sonne sackt zum Rand des wolkenlosen Himmels ab. Der bitterkalte Wind, der mir ins Gesicht beißt, lässt meine Tränen im Fallen gefrieren. Das Zwölfte System kann einen vor dem Schmerz schützen, der dem Körper zusetzt, doch es ist hilflos gegen den Schmerz, der die Seele heimsucht.

Stunden später laufe ich noch immer, während das letzte Licht am Himmel verblasst und die ersten Sterne erscheinen. Und da ist das Mutterschiff, das über dem Horizont schwebt und wie ein lidloses grünes Auge herabstarrt. Man kann nicht vor ihm davonlaufen. Man kann sich nicht vor ihm verstecken. Es ist unerreichbar, unangreifbar. Wenn der letzte Mensch längst zu Staub zerfallen ist, wird es immer noch da sein, unerbittlich, unergründlich, unbegreiflich: Gott wurde entthront.

Und ich laufe weiter. Durch eine urwüchsige Landschaft, die nicht von irgendwelchen menschengemachten Dingen gezeichnet ist, durch eine Welt, wie sie war, bevor Vertrauen und Kooperation die Bestie Fortschritt entfesselten. Die Welt wird jetzt wieder so, wie sie war, bevor wir sie kannten. Paradies verloren. Paradies zurückgegeben. Ich erinnere mich an Voschs Lächeln, traurig und verbittert. Eine Erlöserin. Ist es das, was ich bin?

Während ich auf nichts zulaufe, vor nichts weglaufe, durch eine leere Landschaft von makelloser Weiße unter der Unermesslichkeit eines gleichgültigen Himmels laufe, verstehe ich. Ich glaube, ich begreife.

Die menschliche Population wird auf eine vertretbare Größe reduziert und dann ihrer Menschlichkeit beraubt, denn Vertrauen und Kooperation stellen die größte Bedrohung für das empfindliche Gleichgewicht der Natur dar, sind die inakzeptablen Sünden, von denen die Welt an den Rand des Abgrunds gedrängt wurde. Die Anderen kamen zu dem Schluss, dass der einzige Weg zur Rettung der Welt darin besteht, die Zivilisation auszulöschen. Nicht von außen, sondern von innen. Und dass der einzige Weg zur Auslöschung der menschlichen Zivilisation darin besteht, die menschliche Natur zu verändern.

— 5. Kapitel —

Ich lief weiter in die Wildnis. Noch immer verfolgte mich niemand. Als die Tage verstrichen, machte ich mir weniger Gedanken darüber, dass jeden Moment Hubschrauber herabstoßen und Angriffstrupps absetzen könnten, sondern eher darüber, wie ich warm bleiben und an frisches Wasser und Protein gelangen konnte, die ich zur Versorgung des labilen Wirts des Zwölften Systems benötigte. Ich grub Löcher, um mich darin zu verstecken, baute Unterstände, um darunter zu schlafen. Ich schnitzte aus Ästen Speere und machte Jagd auf Hasen und Elche, deren Fleisch ich roh aß. Ich wagte es nicht, Feuer zu machen, obwohl ich dazu in der Lage gewesen wäre; der Feind hatte es mich in Camp Haven gelehrt. Der Feind hatte mich alles gelehrt, was ich wissen musste, um in der Wildnis zu überleben, und mich dann mit außerirdischer Technologie ausgestattet, die meinem Körper dabei hilft, sich ihr anzupassen. Er hatte mich gelehrt, wie man tötet und wie man vermeidet, getötet zu werden. Er hatte mich gelehrt, was die Menschen nach zehn Jahrhunderten Kooperation und Vertrauen vergessen hatten. Er hatte mich gelehrt, was Furcht ist.

Das Leben ist ein Kreislauf, der von Furcht bestimmt ist. Die Furcht vor dem Räuber. Die Furcht der Beute. Ohne Furcht gäbe es kein Leben. Ich habe einmal versucht, Zombie das zu erklären, aber ich glaube nicht, dass er es verstanden hat.

Ich überstand vierzig Tage in der Wildnis. Und nein, die Symbolik entging mir nicht.

Ich hätte auch noch länger durchgehalten. Das Zwölfte System hätte mich weit über hundert Jahre aufrechterhalten. Königin Marika, die einsame alte Jägerin, eine seelenlose Hülle, die an den getrockneten Knochen toter Tiere nagt, die unangefochtene Herrscherin über ein bedeutungsloses Gebiet, bis das System schließlich zusammengebrochen und ihr Körper zerfallen oder von Aasfressern zerpflückt worden wäre und ihre Knochen wie ungelesene Runen über eine verlassene Landschaft verstreut herumgelegen hätten.

Ich kehrte um. Dann wurde mir mit einem Mal bewusst, warum sie nicht kamen.

Vosch war mir zwei Züge voraus; das war er schon immer gewesen. Teacup war tot, aber ich war nach wie vor an ein Versprechen gebunden, das ich niemals einem Menschen gegeben hatte, der wahrscheinlich ebenfalls tot war. Doch Wahrscheinlichkeit war bedeutungslos geworden.

Er wusste, ich konnte Zombie nicht im Stich lassen, solange die Möglichkeit bestand, ihn zu retten.

Und es gab nur einen Weg, wie ich ihn retten konnte; das wusste Vosch ebenfalls.

Ich musste Evan Walker töten.

I. TEIL

DER ERSTE TAG

— 6. Kapitel —

CASSIE

Ich werde Evan Walker umbringen.

Diesen grüblerischen, undurchschaubaren, egozentrischen, heimlichtuerischen Mistkerl. Ich werde seine arme, gepeinigte, menschlich-außerirdische Zwitterseele von ihren Qualen erlösen. Du bist die Eintagsfliege. Du bist das, wofür es sich lohnt zu sterben. Ich bin aufgewacht, als ich mich in dir gesehen habe. Oh, ich kotze gleich.

Gestern Abend habe ich Sams gebadet – das erste Mal seit drei Wochen –, und er hätte mir beinahe die Nase gebrochen, oder sollte ich sagen, mir die Nase wieder gebrochen, da Evans Exfreundin (oder Sexfreundin oder was auch immer sie war) sie mir zuerst gebrochen hatte, indem sie mich mit dem Gesicht gegen eine Tür rammte, hinter der sich mein kleiner Bruder befand, der kleine Scheißer, den ich retten wollte, und derselbe kleine Scheißer, der sie mir beinahe noch einmal gebrochen hätte. Ironisch, oder? Wahrscheinlich verbirgt sich dahinter auch irgendeine Symbolik, aber es ist schon spät, und ich habe seit ungefähr drei Tagen nicht mehr geschlafen, also Schwamm drüber.

Zurück zu Evan und warum ich ihn umbringen werde.

Im Grunde genommen liegt es am Alphabet.

Nachdem mir Sam auf die Nase geschlagen hatte, bin ich aus dem Badezimmer gestürmt, pitschnass, und dabei gegen Ben Parishs Brust geprallt. Ben ist im Flur herumgeschlichen, als ob alles, was mit Sam zu tun hat, seine Verantwortung wäre, während besagter kleiner Scheißer hinter meinem Rücken – dem einzigen trockenen Teil meines Körpers, nachdem ich versucht hatte, ihm seinen zu waschen – Obszönitäten schrie und Ben Parish, die lebende Erinnerung an das Lieblingssprichwort meines Vaters, dass es besser ist, Glück zu haben, als schlau zu sein, mich mit einem lächerlichen Was ist los?-Blick bedachte, der so irrsinnig niedlich war, dass ich am liebsten ihm die Nase gebrochen hätte, damit er nicht mehr so verdammt Ben-Parish-mäßig aussieht.

»Du solltest eigentlich tot sein«, sagte ich zu ihm. Mir ist bewusst, ich habe gerade geschrieben, dass ich Evan töten wollte, aber man muss verstehen … Ach, egal. Das hier wird sowieso nie jemand lesen. Wenn ich tot bin, wird es niemanden mehr geben, der lesen kann. Also ist es nicht für euch geschrieben, zukünftige Leser, da es euch nicht geben wird. Es ist für mich.

»Schon möglich«, sagte Ben.

»Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand, den ich von vorher kenne, jetzt noch hier ist?«

Er dachte darüber nach. Oder tat so, als würde er darüber nachdenken. Er ist schließlich ein Mann. »Ungefähr sieben Milliarden zu eins?«

»Ich glaube eher, sieben Milliarden zu zwei, Ben«, sagte ich. »Oder drei Komma fünf Milliarden zu eins.«

»Wow. So hoch?« Er deutete mit einem Nicken auf die Badezimmertür. »Was ist denn mit Nugget los?«

»Sam. Er heißt Sam. Nenn ihn noch einmal Nugget, und ich ramme dir das Knie in deine beiden Nuggets.«

Er lächelte. Dann tat er entweder so, als würde er erst einen Augenblick später verstehen, was ich sagte, oder er verstand sofort, was ich sagte. Auf jeden Fall verwandelte sich sein Lächeln in einen schmallippigen Gesichtsausdruck verletzten Stolzes. »Die sind ein bisschen größer als Nuggets. Ein bisschen.« Dann klick!, und das Lächeln blitzte wieder auf. »Soll ich mal mit ihm reden?«

Ich sagte ihm, dass es mir schnurzpiepegal wäre, was er tat; schließlich hatte ich Wichtigeres zu tun, wie zum Beispiel, Evan Walker umzubringen.

Ich stürmte den Flur hinunter, ins Wohnzimmer, noch immer nahe genug – oder nicht weit genug weg –, um Sam schreien zu hören: »Ist mir egal, Zombie! Ist mir egal, ist mir egal! Ich hasse sie!«, vorbei an Dumbo und Megan, die auf dem Sofa saßen und an einem Puzzle arbeiteten, das irgendjemand im Kinderzimmer gefunden hatte, eine Szene aus einem Disney-Zeichentrickfilm oder etwas Ähnlichem, und sie wandten den Blick ab, als ich an ihnen vorbeischoss, als wollten sie sagen: Lass dich nicht stören, wir halten dich nicht auf, alles okay, niemand hat irgendwas gesehen.

Draußen auf der Veranda ist es höllisch kalt, weil sich der Frühling weigert zu kommen. Der Frühling wird nie kommen, weil ihm Ausrottungsaktionen auf den Keks gehen. Oder die Anderen haben eine neue Eiszeit arrangiert, weil sie dazu in der Lage sind, denn warum sollten sie sich mit todgeweihten Menschen zufriedengeben, wenn sie frierende, verhungernde und jämmerliche todgeweihte Menschen haben können? So ist es doch viel befriedigender.

Er stützte sich auf das Geländer, um seinen kaputten Knöchel zu entlasten. Der Gewehrkolben schmiegte sich unter seine Achsel, und er trug seine Uniform, die aus zerknittertem Karohemd und eng anliegenden Jeans bestand. Sein Gesicht leuchtete, als er mich die Fliegengittertür aufstoßen sah. Seine Augen saugten mich förmlich auf. Oh, wie Evan-esk, dass er nach mir dürstet wie jemand, der in der Wüste vergeblich nach einer Oase sucht.

Ich ohrfeigte ihn.

»Warum hast du mich gerade geschlagen?«, fragte er, nachdem er zehntausendjährige außerirdische Lebenserfahrung ergebnislos nach einer Antwort durchforstet hatte.

»Weißt du, warum ich nass bin?«, fragte ich ihn.

Er schüttelte den Kopf. »Warum bist du nass?«

»Weil ich meinen kleinen Bruder gebadet habe. Und warum habe ich ihn gebadet?«

»Weil er schmutzig war?«

»Aus demselben Grund, aus dem ich dieses Drecksloch eine Woche lang geputzt habe, nachdem wir eingezogen sind.« Grace mochte eine aufgeladene, technologisch aufgerüstete außerirdisch-menschliche Mischform mit dem Aussehen einer norwegischen Eisprinzessin und dem passenden Herzen gewesen sein, aber sie war eine fürchterliche Haushälterin gewesen. In jeder Ecke türmte sich Staub wie Schneeverwehungen auf, Schimmel wuchs auf Schimmel, und die Küche hätte jeden Messie erröten lassen. »Weil Menschen so etwas tun, Evan. Wir leben nicht im Dreck. Wir baden. Wir waschen uns die Haare, und wir putzen uns die Zähne, und wir rasieren unerwünschte Haare …«

»Sam muss sich rasieren?« Der Versuch, witzig zu sein.

Bescheuerte Idee.

»Halt den Mund! Jetzt rede ich. Wenn ich rede, bist du still. Wenn du redest, bin ich still. Das ist noch etwas, was Menschen tun. Sie behandeln sich gegenseitig mit Respekt. Respekt, Evan.«

Er nickte traurig. »Respekt«, echote er – was mich noch wütender machte. Er manipulierte mich.

»Es dreht sich alles um Respekt. Sauber zu sein und nicht zu stinken wie ein Schwein, hat etwas mit Respekt zu tun.«

»Schweine stinken nicht.«

»Halt. Den. Mund.«

»Na ja, ich bin auf einer Farm aufgewachsen, das ist alles.«

Ich schüttelte den Kopf. »Oh, nein, das ist nicht alles. Das ist nicht mal die Hälfte. Der Teil von dir, den ich geohrfeigt habe, ist nicht auf irgendeiner gottverdammten Farm aufgewachsen.«

Er lehnte sein Gewehr an das Geländer, kam zur Hollywoodschaukel gehumpelt und setzte sich. Starrte in die Ferne. »Es ist nicht meine Schuld, dass Sam gebadet werden musste.«

»Natürlich ist es deine Schuld. Das alles ist deine Schuld.«

Er sah mich an, und sein Tonfall klang kontrolliert. »Cassie, ich glaube, du solltest jetzt wieder reingehen.«

»Wieso, bevor du ausrastest? Oh, bitte, raste doch einmal aus. Ich würde wahnsinnig gerne wissen, wie das aussieht.«

»Du frierst.«

»Nein, tue ich nicht.« Ich stand in meinen nassen Klamotten vor ihm, und mir wurde bewusst, wie stark ich zitterte. Eiskaltes Wasser rann mir am Nacken hinunter und bahnte sich den Weg an meiner Wirbelsäule entlang. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und zwang meine (frisch geputzten, sehr sauberen) Zähne dazu, nicht mehr zu klappern.

»Sam hat das Abc vergessen«, teilte ich ihm mit.

Er starrte mich vier lange Sekunden an. »Entschuldige, was?«

»Das Abc. Du weißt schon, das Alphabet, du intergalaktischer Schweinehirte.«

»Tja.« Sein Blick wanderte von meinem Gesicht über den leeren Hof zu der leeren Straße, die sich zum leeren Horizont erstreckte, hinter dem sich weitere leere Straßen und Wälder und Felder und Ortschaften und Städte befanden, die ganze Welt ein großer ausgehöhlter Flaschenkürbis, ein Mülleimer voller Leere. Geleert von seinesgleichen, den Was-auch-immer-er-war, bevor er in einen menschlichen Körper schlüpfte wie eine Hand in eine Handpuppe.

Er beugte sich vor, streifte seine Jacke ab – dieselbe bescheuerte Bowlingjacke mit The Urbana Pinheads-Aufdruck, in der er in dem alten Hotel aufgetaucht war – und hielt sie mir hin.

»Bitte?«

Vielleicht hätte ich sie nicht nehmen sollen. Ich meine, das Muster wiederholte sich ständig: Ich friere, er wärmt mich. Ich bin verletzt, er heilt mich. Ich habe Hunger, er füttert mich. Ich bin geknickt, er richtet mich wieder auf. Ich bin wie ein Loch am Strand, das sich immer wieder mit Wasser füllt.

Ich bin nicht gerade groß; die Jacke verschlang mich regelrecht. Und die Wärme seines Körpers, die ebenfalls. Das beruhigte mich – nicht unbedingt die Tatsache, dass die Wärme von seinem Körper stammte, sondern die Wärme an sich.

»Was Menschen noch tun, ist, das Alphabet zu lernen«, sagte ich. »Damit sie lesen können. Damit sie Dinge lernen können. Dinge wie Geschichte und Mathematik und Naturwissenschaft und fast alles andere, was man aufzählen kann, darunter auch wirklich wichtige Dinge wie Kunst und Kultur und Glaube und warum manches geschieht und warum manches andere nicht und warum überhaupt irgendwas existiert.«

Meine Stimme versagte. Ungebeten tauchte wieder das Bild meines Vaters auf, der nach der Dritten Welle einen roten, mit Büchern beladenen Wagen zog, und sein Vortrag über den Erhalt von Wissen und den Wiederaufbau der Zivilisation, nachdem man das lästige kleine Außerirdischenproblem losgeworden war. Mein Gott, wie traurig, wie erbärmlich: ein Mann mit schütterem Haar und gebeugten Schultern, der eine Wagenladung geplünderter Büchereibücher hinter sich her ziehend durch menschenleere Straßen schlurfte. Während sich andere Konservendosen, Waffen und Eisenwaren unter den Nagel rissen, um ihr Zuhause gegen Räuber zu befestigen, kam mein Vater zu dem Schluss, es wäre das Klügste, Lesestoff zu horten.

»Er kann es doch wieder lernen«, schlug Evan vor. »Du kannst es ihm beibringen.«

Es bedurfte meiner gesamten Beherrschung, nicht noch einmal zuzuschlagen. Früher hatte ich geglaubt, ich wäre die letzte Person auf Erden, was mich zur gesamten Menschheit machte. Evan ist nicht der Einzige, der eine nicht zu begleichende Schuld hat. Ich bin die Menschheit, er ist sie, und nach allem, was sie uns angetan haben, sollte die Menschheit ihnen jeden Knochen im Körper brechen.

»Das ist nicht der Punkt«, entgegnete ich. »Der Punkt ist, dass ich nicht verstehe, warum du es so gemacht hast. Du hättest uns doch alle töten können, ohne dabei so verdammt grausam zu sein. Weißt du, was ich heute Abend herausgefunden habe – abgesehen davon, dass mich mein kleiner Bruder nicht ausstehen kann? Er hat nicht nur das Abc vergessen. Er erinnert sich nicht mehr, wie unsere Mom ausgesehen hat. Er erinnert sich nicht mehr an das Gesicht seiner eigenen Mutter.«

Dann verlor ich die Beherrschung. Ich wickelte mich fest in der bescheuerten Pinheads-Jacke ein und heulte, weil es mir inzwischen egal war, ob Evan sah, dass ich die Beherrschung verlor, denn wenn mich jemand dabei sehen sollte, dann war er es, der Heckenschütze, der aus der Ferne mordete und gemütlich in seinem Farmhaus hockte, während das Mutterschiff zweihundert Meilen über seinem Kopf drei eskalierende Wellen der Vernichtung auslöste. Fünfhunderttausend beim ersten Angriff, Millionen beim zweiten, Milliarden beim dritten. Und während die Welt in Flammen stand, räucherte Evan Walker Rehbrust, spazierte gemächlich im Wald umher, lungerte vor einem behaglichen Kaminfeuer herum und polierte dabei seine perfekten Fingernägel.

Es wurde Zeit, dass er das Gesicht menschlichen Leidens aus der Nähe zu sehen bekam. Zu lange war er wie das Mutterschiff gewesen, war über dem Grauen geschwebt, unerreichbar und fern; er musste es sehen, es berühren, es an seine perfekt geformte, vollkommen ungebrochene Nase pressen und riechen.

So wie Sammy. Mir war danach, nach drinnen zu laufen, ihn zu packen, aus der Wanne zu heben und ihn nackt auf die Veranda zu zerren, wo Evan Walker seine knochigen Rippen zählen und seine winzigen Handgelenke anfassen und mit den Fingern über seine eingefallenen Schläfen streichen konnte. Wo er die Wunden und Narben des kleinen Jungen untersuchen konnte, den er gequält hatte, des Kindes, dessen Erinnerungen er ausgelöscht und dessen Herz er mit Hass und Hoffnungslosigkeit und sinnloser Wut gefüllt hatte.

Evan machte Anstalten, sich zu erheben – zweifellos, um mich in seine Arme zu ziehen, um mir übers Haar zu streichen und meine Tränen zu trocknen und zu murmeln, dass alles gut werden würde, denn das ist sein Modus Operandi –, doch dann überlegte er es sich anders und setzte sich wieder hin.

»Ich habe es dir doch erklärt, Cassie«, sagte er leise. »Ich wollte nicht, dass es so läuft. Ich habe dagegen gekämpft.«

»Bis du schließlich mitgemacht hast.« Ich versuchte immer noch, mich wieder in den Griff zu bekommen. Schließlich hörte sich wie ein dreisilbiges Wort an. »Und was meinst du damit, du wolltest nicht, dass es ›so‹ läuft?«

Er verlagerte sein Gewicht. Die Schaukel knarrte. Sein Blick schweifte wieder zu der leeren Straße. »Wir hätten auf unbestimmte Zeit unter euch leben können. Im Verborgenen, nicht wahrnehmbar. Wir hätten in Hauptrollen in eurer Gesellschaft schlüpfen können. Wir hätten unser Wissen mit euch teilen können, um euer Potenzial exponentiell zu erweitern, eure Evolution zu beschleunigen. Möglicherweise hätten wir euch die eine Sache geben können, die ihr euch immer gewünscht, aber nie bekommen habt.«

»Was denn?« Ich zog meine laufende Nase hoch; ich hatte kein Taschentuch, und es war mir egal, dass das unappetitlich war. Die Ankunft hatte die Definition von unappetitlich völlig verändert.

»Frieden«, entgegnete er.

»Möglicherweise. Möglicherweise.«

Er nickte. »Als diese Option abgelehnt wurde, habe ich mich für etwas … Schnelleres stark gemacht.«

»Etwas Schnelleres?«

»Für einen Asteroiden. Ihr hättet weder die technischen Mittel besessen, um ihn zu stoppen, noch genug Zeit gehabt, wenn ihr sie besessen hättet. Das wäre eine einfache Lösung gewesen, aber keine saubere. Die Welt wäre tausend Jahre lang nicht bewohnbar gewesen.«

»Und warum spielt das eine Rolle? Du bist doch reines Bewusstsein, bist unsterblich wie Götter. Was sind für dich schon tausend Jahre?«

Die Antwort auf diese Frage war anscheinend äußerst kompliziert. Oder er wollte sie mir nicht geben.

Dann sagte er: »Wir hatten zehntausend Jahre lang die Sache, von der ihr zehntausend Jahre lang nur geträumt habt.« Er stieß ein kurzes, humorloses Lachen aus. »Ein Dasein ohne Schmerz, ohne Hunger, ohne irgendwelche körperlichen Bedürfnisse. Doch Unsterblichkeit hat ihren Preis. Ohne Körper mussten wir auf die Dinge verzichten, die dieser mit sich bringt. Dinge wie Unabhängigkeit und Nächstenliebe. Mitgefühl.« Er öffnete die Hände, als wollte er mir zeigen, dass sie leer waren. »Sam ist nicht der Einzige, der das Abc vergessen hat.«

»Ich hasse dich«, sagte ich.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, das tust du nicht.«

»Ich möchte dich hassen.«

»Ich hoffe, es gelingt dir nicht.«

»Lüg dich doch nicht selbst an, Evan. Du liebst mich nicht – du liebst deine Vorstellung von mir. Du hast in deinem Kopf alles durcheinandergebracht. Du liebst, was ich darstelle.«

Er neigte den Kopf, und seine braunen Augen funkelten heller als die Sterne. »Was stellst du denn dar, Cassie?«

»Das, von dem du dachtest, du hättest es verloren. Das, von dem du dachtest, du würdest es nie haben. Ich bin das nicht; ich bin nur ich.«

»Und was bist du?«

Ich wusste, was er meinte. Und ich hatte natürlich keine Ahnung, was er meinte. Das war sie, die Sache zwischen uns beiden, die Sache, die keiner von uns genau ausmachen konnte, die unlösbare Bindung zwischen Liebe und Furcht. Evan ist die Liebe. Ich bin die Furcht.

— 7. Kapitel —

Ben hatte darauf gewartet, sich in dem Moment, in dem ich wieder nach drinnen ging, auf mich zu stürzen. Ich wusste, dass er darauf gewartet hatte, weil er sich in dem Moment, in dem ich wieder nach drinnen ging, auf mich stürzte.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich.

Ich rieb mir die Tränen von den Wangen und lachte. Klar, Parish, abgesehen von dieser ganzen lästigen apokalyptischen Außerirdischengeschichte ist alles großartig.

»Je mehr er erklärt, desto weniger verstehe ich«, murmelte ich.

»Ich habe dir doch gesagt, mit dem Typen stimmt irgendwas nicht«, entgegnete er und gab sich dabei alle Mühe, nicht Ich habe dir doch gesagt zu sagen. Okay, nicht wirklich. Genau genommen sagte er es.

»Was würdest du tun, wenn du zehntausend Jahre lang keinen Körper hättest und dann plötzlich einen hättest?«, fragte ich.

Er neigte den Kopf und unterdrückte ein Lächeln. »Aufs Klo gehen, wahrscheinlich.«

Dumbo und Megan hatten sich aus dem Staub gemacht. Wir waren allein. Ben stand beim offenen Kamin, und ein goldfarbenes Licht tanzte über sein Gesicht, das in den sechs Wochen, seit wir uns in Graces sicherem Haus verschanzten, wieder etwas fülliger geworden war. Eine Menge Ruhe, Essen, frisches Wasser und Antibiotika, und Ben war fast wieder der Alte, der er vor der Invasion gewesen war. Ganz der Alte würde er nie wieder sein. Er hatte nach wie vor etwas Ruheloses in seinem Blick, war misstrauisch wie ein Hase in einer Wiese, die von Falken patrouilliert wurde.

Und er war nicht der Einzige. Nachdem wir das sichere Haus erreicht hatten, brauchte ich zwei Wochen, bis ich den Mut aufbrachte, in den Spiegel zu blicken. Das war eine Erfahrung, wie Leuten über den Weg zu laufen, die man seit der Mittelstufe nicht mehr gesehen hatte – man erkennt sie zwar, was einem aber wirklich auffällt, ist, wie sie sich verändert haben. Sie passen nicht mehr zu der Erinnerung, die man an sie hat, und für einen Moment bringt einen das aus dem Konzept, denn sie sind die Erinnerung, die man an sie hat. Als ich in den Spiegel blickte, sah ich deshalb ein Ich, das nicht zu meiner Erinnerung an mich passte, vor allem nicht zu der an meine Nase, die jetzt dank Grace leicht nach rechts zeigte, doch das hatte ich schon zu den Akten gelegt, Schwamm drüber. Meine Nase mochte jetzt krumm sein, aber ihre war verglüht – zusammen mit dem Rest von ihr.

»Wie geht’s Sam?«, fragte ich.

Ben deutete mit einem Nicken auf den hinteren Teil des Hauses. »Er ist bei Megan und Dumbo. Alles in Ordnung mit ihm.«

»Er hasst mich abgrundtief.«

»Er hasst dich nicht abgrundtief.«

»Er hat mir gesagt, dass er mich abgrundtief hasst.«

»Kinder sagen Sachen, die sie nicht so meinen.«

»Nicht nur Kinder.«

Er nickte. Dann richtete er den Blick über meine Schulter auf die Haustür. »Ringer hatte recht, Cassie. Es ergibt irgendwie keinen Sinn. Er kidnappt einen menschlichen Körper, damit er all die nicht gekidnappten menschlichen Körper ermorden kann. Dann beschließt er eines Tages, dass er lieber seinesgleichen ermordet, damit er all die nicht gekidnappten Körper retten kann. Und er ermordet nicht nur hier und da einen oder zwei von seinesgleichen. Sondern alle. Er möchte seine gesamte Zivilisation zerstören, und wofür? Für ein Mädchen. Ein Mädchen!«

Das war die falsche Bemerkung. Ihm war das ebenfalls bewusst. Doch nur für den Fall, dass daran irgendwelche Zweifel bestanden, sagte ich ganz langsam: »Weißt du, Parish, möglicherweise ist die Sache etwas komplizierter. Er hat auch einen menschlichen Teil.« Mein Gott, Cass, was ist los mit dir? Im einen Moment bist du stinksauer auf ihn, im nächsten verteidigst du ihn.

Seine Züge verhärteten sich. »Was den menschlichen Teil anbelangt, mache ich mir keine Sorgen. Ich weiß, dass du kein Fan von Ringer bist, aber sie ist verdammt schlau und hat ein gutes Argument vorgebracht: Wenn sie keine Körper brauchen, brauchen sie auch keinen Planeten. Und wenn sie keinen Planeten brauchen, warum haben sie es dann auf den unseren abgesehen?«

»Keine Ahnung«, blaffte ich. »Warum fragst du nicht Ringer, wo sie so verdammt schlau ist?«

Er holte tief Luft, dann sagte er: »Das werde ich.«

Ich brauchte eine Sekunde, bis ich verstand, was er meinte. Dann eine zweite, um zu begreifen, dass er es ernst meinte. Und schließlich eine dritte Sekunde, um etwas gegen die ersten beiden Sekunden zu unternehmen, das darin bestand, dass ich mich hinsetzte.

»Ich habe viel über all das nachgedacht«, begann er. Dann hielt er inne. Als müsste er ein Blatt vor den Mund nehmen – ausgerechnet bei mir! Als wäre ich aufbrausend oder so. »Und ich glaube, ich weiß, was du sagen wirst, aber bevor du es sagst, musst du mich ausreden lassen. Lass mich einfach ausreden, okay? Wenn Walker die Wahrheit sagt, bleiben uns vier Tage, bis die Kapsel eintrifft und er sich auf den Weg macht, um seine Aufgabe zu erledigen. Das ist mehr als genug Zeit für mich, um dorthin und wieder zurück zu gelangen.«

»Um wohin und wieder zurück zu gelangen, Ben?«

»Ich gehe nicht allein. Ich nehme Dumbo mit.«

»Okaaaay. Mit wohin?« Dann verstand ich. »Zu den Höhlen.«

Er nickte schnell, erleichtert, dass ich verstanden hatte. »Das macht mich wahnsinnig, Cassie. Ich kriege die beiden einfach nicht aus dem Kopf. Vielleicht hat Cup Ringer eingeholt und … na ja, vielleicht auch nicht. Womöglich ist sie tot. Ringer ist womöglich auch tot. Verdammt, wahrscheinlich sind die beiden tot … aber vielleicht auch nicht. Vielleicht haben sie es bis zu den Höhlen geschafft, und Ringer ist zum Hotel zurückgekehrt, um uns abzuholen, nur dass sie uns nicht dort abholen konnte, weil es kein dort mehr gibt, wohin sie hätte zurückkehren können. Egal, tot oder lebendig, sie sind irgendwo da draußen. Und wenn sie am Leben sind, haben sie keinen blassen Schimmer, was auf sie zukommt. Sie werden sterben, es sei denn, jemand macht sich auf den Weg zu ihnen.«

Er holte tief und schaudernd Luft, das erste Mal, seit er diese verbale Rakete gestartet hatte.

»Dann mach dich doch auf den Weg zu ihnen«, sagte ich. »So, wie du dich auf den Weg zu Sam gemacht hast. So, wie du dich nicht auf den Weg zu …«

»Ja. Nein. Oh, Scheiße.« Er war rot im Gesicht, und es rührte nicht daher, dass er zu nah am Feuer stand. Er wusste, was ich meinte. »Das hat nichts mit meiner Schwester zu tun …«

»Du bist davongelaufen und versuchst seitdem immer wieder, dich auf den Weg zurück zu machen.«

Er kam auf mich zu. Als er aus dem Schein des Feuers trat, tauchte sein Gesicht in Schatten ein. »Du hast überhaupt keine Ahnung. Und ich weiß, dass dir das echt zu schaffen macht, weil Cassie Sullivan eigentlich alles weiß, richtig?«

»Was willst du von mir, Ben? Ich bin nicht deine Mutter oder dein kommandierender Offizier oder sonst irgendwas. Mach doch, was du willst.«

Ich stand auf. Dann setzte ich mich wieder hin. Ich konnte nirgendwohin gehen. Na ja, ich hätte in die Küche gehen und mir ein Sandwich machen können, nur dass es weder Brot noch Wurst noch Käse gab. Ich kenne die Details nicht, bin mir aber ziemlich sicher, dass es im Himmel an jeder Ecke eine Subway-Filiale gibt. Und Godiva-Läden. An unserem zweiten Tag hier entdeckte ich Graces Vorrat von sechsundvierzig Schachteln Godiva-Pralinen. Nicht dass ich sie gezählt hätte.

»Ich habe einen schlechten Tag«, sagte ich zu ihm. Mein kleiner Bruder hasste mich, mein menschlich-außerirdischer Leibwächter hatte mir gebeichtet, dass er Mitgefühl nicht von Mittelmaß unterscheiden kann, und jetzt informierte mich mein alter Highschoolschwarm, dass er zu einem Himmelfahrtskommando aufbrechen wollte, um zwei vermisste und aller Wahrscheinlichkeit nach tote Menschen zu retten. Außerdem