Das Unrecht - Ellen Sandberg - E-Book
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Das Unrecht E-Book

Ellen Sandberg

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Beschreibung

Ein Verrat, der Leben zerstörte. Eine Lüge, die Jahrzehnte verborgen blieb. Der große Roman der Bestsellerautorin

Jedes Jahr, wenn der Herbst naht, wird Annett von einer inneren Unruhe erfasst. Dann macht sich die Narbe an ihrem Arm bemerkbar, dann werden die Erinnerungen an den Sommer 1988 und an die Clique von damals wach. Fünf Freunde, die sich blind vertrauten, bis einer von ihnen zum Verräter wurde.
Jetzt, Jahrzehnte später, begreift Annett, dass sie ihren inneren Frieden erst finden wird, wenn sie sich der Vergangenheit stellt. Kurz entschlossen fährt sie nach Wismar. Zurück an die Ostsee, in ihre alte Heimat. Doch je mehr sie dort über die Ereignisse jenes Sommers herausfindet, umso deutlicher wird: Sie hätte die Vergangenheit besser ruhen lassen, denn der Verrat von damals reißt ihr Leben erneut in einen Abgrund …

Ein großer Spannungsroman über eine ungesühnte Schuld und die Schatten der Vergangenheit, die eine Familie nach Jahrzehnten einholen.

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Seitenzahl: 520

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ELLEN SANDBERG arbeitete zunächst in der Werbebranche, ehe sie sich ganz dem Schreiben widmete – mit riesigem Erfolg: Ihre psychologischen Spannungs- und Familienromane, die immer monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste stehen, bewegen und begeistern zahllose Leserinnen und Leser – wie zuletzt Das Erbe, Die Schweigende und Das Geheimnis. Auch in ihrem aktuellen Roman Das Unrecht fesselt sie ihr Publikum wieder mit einer spannenden Geschichte um ein düsteres Kapitel unserer Geschichte. Unter ihrem bürgerlichen Namen Inge Löhnig veröffentlicht die Autorin sehr erfolgreich Kriminalromane.

Ellen Sandbergs Romane in der Presse:

»Meisterhafte Erzählkunst verbindet sich bei dieser Autorin mit psychologischer Spannung.« Süddeutsche Zeitung

»Ein Familienroman voller psychologischer Abgründe um Ereignisse aus der Vergangenheit.« BILD der FRAU über Die Schweigende

»Drei Schwestern, ein Mord und jede Menge Lügen. Die fein gezeichneten Figuren machen es schwer, das Buch aus der Hand zu legen.« stern über Der Verrat

»Ein Buch, das Geschichte auf geradezu erschreckend spannende Weise lebendig werden lässt. Ein absolutes Muss.« WDR5 über Die Vergessenen

»Bestsellerautorin Sandberg ›at her best‹: überraschende Wendungen, dennoch immer plausibel, spannend und clever bis zur letzten Seite.« Die Presse am Sonntag über Das Geheimnis

Außerdem von Ellen Sandberg lieferbar:

Die Vergessenen

Der Verrat

Das Erbe

Die Schweigende

Das Geheimnis

ELLEN SANDBERG

DAS UNRECHT

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2022 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München.

www.ava-international.de

Das Zitat hier stammt aus:

Stern-Combo Meißen: Die Welt. In: Das Album – Rock-Bilanz 1988. AMIGA – 8 56390/391.

Covergestaltung: Favoritbüro

Covermotiv: © Lyn Randle / Trevillion Images

Umsetzung E-Book: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-27177-0V003

www.penguin-verlag.de

Prolog

Es war Neumond und die Nacht schwarz wie Teer. Ein paar Sterne am Firmament versuchten gegen die Dunkelheit anzufunkeln und spiegelten sich in der ruhigen Oberfläche des kleinen Sees, den selten jemand besuchte. Er lag im Schatten seines größeren und schöneren Bruders. Kaum jemand machte sich die Mühe, tief in den Wald hineinzugehen, um ihn aufzusuchen.

Doch in dieser Nacht störte das Brummen eines Motors die Stille des Waldes. Ein Fahrzeug näherte sich über den holprigen Forstweg. Die Lichter des Wagens tanzten zwischen den Bäumen auf und ab und hin und her und verloschen schließlich am Ufer des kleinen Sees. Der Motor erstarb. Für einen Moment war es still, bis eine Wagentür schlug. Ein Schatten huschte zum Kofferraum. Schließlich das Brummen einer elektrischen Pumpe, ein Schlauchboot wurde aufgeblasen.

Kurz darauf ein Keuchen und Zerren, das Rascheln von trockenem Laub auf dem Waldboden. Ein dumpfes Plumpsen, als etwas schwer ins Boot fiel. Wieder Schaben und Zerren, dann das Gurgeln und Plätschern von Wasser und kurz darauf der gleichmäßige Rhythmus, in dem die Paddel eingetaucht und wieder gehoben wurden. Kleine Wellen breiteten sich aus, bildeten Kreise, die sich trafen und auseinandertrieben und schließlich verebbten, als das Boot die Mitte des Sees erreichte und zum Stillstand kam. Der schwierigste Teil des Manövers begann. Die Last loszuwerden, ohne zu kentern. Es gelang mithilfe einer stabilen langen Plane, die quer über dem Boot und seinem aufgeblasenen Wulst lag. Durch den Zug an einem Ende rollte das Bündel samt Gewicht auf der gegenüberliegenden Seite über Bord. Es platschte zweimal kurz nacheinander, dann war alles verschwunden.

Vielleicht für immer.

Wismar

Frühjahr 1988

Scharfe Böen jagten über die Bucht. Sie wühlten das Meer auf, rissen die Gischt von den Wellenkämmen und Mischa das Barett mit dem glänzenden Stern vom Kopf. Es fiel in den Sand und wurde vom Wind weitergeschubst. Kaum dachte er, er würde es erwischen, kam die nächste Bö und er lief weiter hinterher, bis er das Teil endlich einfing, das seine Eltern so herrlich ärgerte. Seine Mutter vor allem, die Schwerter zu Pflugscharen schmieden wollte. »Che Guevara war ein Guerillakämpfer. Er hat getötet. Mach dir das klar. Keine Ideologie der Welt rechtfertigt Mord.«

Eigentlich war Mischa ja derselben Meinung. Die Mütze war eher als Provokation gedacht und keinesfalls eine Ansage. Denn Gewalt war für ihn ebenso wenig ein Mittel der Auseinandersetzung wie für seine Mutter.

Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin. Den Spruch fand er klasse. Auch das Bild von den Schwertern und Pflugscharen. Obwohl es total schief war. Denn der Kampf Aug in Aug, Mann gegen Mann mit dem Schwert in der Hand war Geschichte. Krieg wurde heute aus der Distanz geführt. Mit Migs und Tornados, mit Pershings und SS20-Raketen. Ein Druck auf den roten Knopf und Bumm! Die Menschheit flog in die Luft.

Über all das konnte er mit seinen Eltern nicht wirklich reden, obwohl sie ähnlich dachten. Doch sie waren Duckmäuser, die es nur in den eigenen vier Wänden wagten, den Mund aufzumachen und das System zu kritisieren. Eine ähnliche Sorte Untertan, wie Diederich Heßling in Heinrich Manns Der Untertan. Immer schön buckeln. Allerdings nicht vor einem Kaiser, sondern vor diesen Popelinejackenträgern in Berlin.

»Wir tun das für dich«, hatte sein Vater gesagt, als er ihnen Heuchelei vorwarf. »Was glaubst du denn, weshalb du auf die EOS darfst! Man muss sich anpassen, wenn man weiterkommen will. So ist das nun einmal.«

Natürlich taten sie es nicht nur für ihn, sondern hauptsächlich für sich. Für eine Datsche auf Poel, für eine Segelerlaubnis in der Bucht, fürs eigene Weiterkommen.

Sein Vater war Dozent an der Ingenieurhochschule Wismar und erwartete, dass Mischa seinem Beispiel folgte und Naturwissenschaften studierte. So wie er es beim Wechsel von der Polytechnischen Oberschule auf die EOS angegeben hatte. Denn ohne ein Berufsziel, das in den Plan des Staatsrats passte, wäre er dort nicht zugelassen worden. Dass er Literatur oder Philosophie verlockender fand, ahnte niemand. Das würden die da oben und seine Eltern erst nach dem Abi erfahren, wenn er fürs Studium nach Berlin gehen wollte. Und hoffentlich auch durfte. Mischa hob den Blick und sandte eine stumme Bitte an diese Macht da oben, dass der neue Fünfjahresplan zusätzliche Geisteswissenschaftler vorsah, obwohl die Macht, das zu entscheiden, bei anderen lag. Bei sozialistisch gefestigten Bürokraten. Ein dumpfer Druck stieg bei diesem Gedanken hinter seinem Brustbein auf. Es war nicht gerecht!

Er klopfte den Sand von der Mütze, setzte sie auf und ging weiter. Die Ruine eines Wochenendhauses, das während der Nazizeit einem Künstlerpaar gehört hatte, kam in Sicht. Zerstört von den Briten im Frühling 1945 und nie wieder instand gesetzt. Aber auch nicht abgerissen. Wie so viele Häuser in Wismar. Seit Jahrzehnten verfielen die verwundeten Gebäude. Auch das Künstlerdomizil. Die Giebelseite fehlte beinahe komplett. Dunkle Zimmerhöhlen blickten Richtung Land. Zwischen den Balken des zusammengebrochenen Dachstuhls sprossen Birken und Weiden. Die Menschheit würde sich atomar auslöschen und die Natur einfach weitermachen, wie seit Jahrmillionen. Sie brauchte die Menschen nicht.

*

Mischa umrundete das Haus und stieg durch eine Fensteröffnung hinein. Unter seinen Sohlen knirschte Sand. Im Wintergarten hatten sie die scheibenlosen Fenster mit durchsichtigen Planen abgedichtet, an denen der Wind zerrte. Die Folie war ungleichmäßig dick und schlierig. Die Welt dahinter verschwamm zu einem Aquarell. Einen Augenblick genoss Mischa diese surreale Aussicht, dann zog er hinter einem losen Holzpaneel die zerknautschte Packung f6 hervor, ließ sich auf den Trabi-Sitz fallen, den Sandro angeschleppt hatte, legte die Füße auf die bröckelnden Ziegel der Fensterlaibung und gab sich Feuer.

Nachdenklich blies er den Rauch in die Luft. Eins nach dem anderen, sagte Oma immer. Vielleicht war das nicht verkehrt. Also erst aufs Abi konzentrieren. In sechs Wochen begannen die Prüfungen. Danach konnte er überlegen, wie es weiterging. Wobei er seit heute – genauer gesagt, seit dem Vortrag der beiden NVA-Offiziere – kaum noch Hoffnung auf einen Studienplatz hatte. Wer nicht mit dem Strom schwamm, hatte das Nachsehen.

Seit dem Wehrkundeunterricht wusste er, dass er nie wieder eine Waffe in die Hand nehmen und auf Menschenattrappen schießen wollte. Geschweige denn auf Menschen. Ob ihm das gelingen würde, stand in den Sternen. Vielleicht musste er seine Seele für ein Studium verkaufen. Der Staat als Mephisto. Er selbst als Faust. Es war zum Kotzen.

»Moin Mischa!« Sandro kam, gefolgt von seiner Freundin Peggy, herein. Seit einigen Monaten gehörten die beiden der Grufti-Szene an und trugen nur noch schwarze Klamotten. Nach Unterrichtsende folgte das Styling. Schwarz umrandete Augen, in alle Himmelsrichtungen toupierte Haare. Kreuze und Totenschädel als Schmuck.

»Na, wälzt du schon Suizidgedanken?« Sandro stellte eine Sechserpackung Störtebeker ab und ließ sich auf das mottenzerfressene Plüschsofa fallen. Er war ein großer, schlaksiger Kerl und wirkte in der Schornsteinfegerhose, die Peggy für ihn hauteng genäht hatte, wie ein Strich in der Landschaft. »Diese Clowns von der NVA … Das war ja eine krasse Vorstellung.«

»Kannst du wohl sagen.« Peggy ließ sich neben Sandro fallen. »Wobei ihr noch Glück gehabt habt. Manchmal nehmen sie sich die Jungs nach ihren Vorträgen einzeln vor und bequatschen sie so lange, bis die Schwachen und die Streber für drei Jahre ›Ehrendienst‹ unterschreiben.«

»Na super!«, sagte Mischa. Heute waren nicht nur Peggys Augen schwarz umrandet, sondern auch die Lippen schwarz geschminkt. Sie griff nach dem Kreuz, das sie an einer Kette um den Hals trug, und Mischa bemerkte die schwarz lackierten Nägel. Gab es tatsächlich Nagellack in dieser Farbe im Konsum? In diesem Konformisten-Staat eher nicht.

»Und jetzt?«, fragte Peggy.

»Hoffen wir«, sagte Mischa.

»Worauf?«

»Dass wir erst nach dem Studium eingezogen werden«, erklärte Sandro. »Dann wäre das Problem gelöst.«

»Wird nicht passieren«, meinte Mischa. »Die meisten holen sie früher.«

»Ich liebe deinen Optimismus.«

Mischa sah sich eher als Realist. »Außerdem werden die bevorzugt, die vorher den dreijährigen Ehrendienst absolvieren. Haben wir doch gerade gehört.« Er malte bei »Ehrendienst« Gänsefüßchen in die Luft.

Der Vortrag der beiden NVA-Offiziere lag ihm wie Blei im Magen. Eigentlich konnte er seine Träume vom Studium gleich in der Ostsee versenken.

Selbst wenn er versuchte, aus ethischen Gründen den Dienst an der Waffe zu verweigern, wusste er nicht, ob er beim Wehrkreiskommando damit durchkäme. Das Verfahren war völlig intransparent, und es war nicht erkennbar, welcher Argumentation diese Kommission folgte. Falls er diese Hürde wider Erwarten nehmen sollte, bedeutete es das Aus fürs Studium. Die Spatensoldaten der Baubrigade wurden in der Regel nicht zugelassen. Höchstens über den Umweg einer vorherigen Ausbildung und mit einer einwandfreien sozialistischen Gesinnung. Studium war nun einmal Klassenauftrag und dazu gehörte der Dienst an der Waffe, den er nicht leisten wollte!

*

Sie holten die Schulsachen raus und paukten erst Russisch, dann Mathe. Irgendwann kam Volker, und Mischa grinste, als er das schwarze Barett sah. Allerdings ohne Stern. Volker häutete sich, gewissermaßen. Erstes Anpassungsopfer waren die Karottenjeans gewesen, ein Geschenk der West-Verwandtschaft. Gefolgt von den Wollpullovern mit V-Ausschnitt aus derselben Quelle. Irgendwo in Bayern gab es einen Popper-Cousin. Neuerdings trug auch Volker Schwarz. Allerdings im Existenzialisten-Stil eines Jean-Paul Sartre. Schwarz gefärbte Jeans und einen Rollkragenpullover, der ihm zwei Nummern zu groß war und Falten quer über die Brust warf. »Moin Leute.« Er spreizte die Finger zum Victory-Zeichen, zog einen Stuhl heran und setzte sich.

Fehlte nur noch Annett. Mit einem Ohr lauschte Mischa auf jedes Geräusch und dabei wurde ihm klar, wie sehr er Annett vermisste. Dieses stille Mädchen, das erst nachdachte, bevor es etwas sagte. Das lieber am Rand saß und zuhörte, als sich in den Mittelpunkt zu stellen. Annett, deren messingfarbene Locken sich so wild kringelten, dass er den Wunsch verspürte, seine Finger darin zu versenken, seine Nase, seinen Mund.

Sie war gut in Physik, während Mischas und Sandros Leistungen zu wünschen übrig ließen. Den Vorschlag, gemeinsam zu lernen, hatte ihre Lehrerin gemacht, und Annett hatte sich zögernd angeschlossen. Aus ihr wurde er nicht recht schlau, denn sie gab wenig von sich preis. Er wusste nur, dass ihre Mutter Krankenschwester und ihr Vater Redakteur bei einer Zeitung war. Und dass Annett segelte, wie er. Vom Sehen kannte er sie daher schon seit Jahren. Denn ihr Pirat lag wie seiner auf der Insel Poel im kleinen Hafen. Doch mehr Kontakt als ein gelegentliches »Moin« hatten sie nie gehabt, bis sie sich auf einmal an der Erweiterten Oberschule in derselben Klasse trafen.

Kurz vor fünf kam sie und entschuldigte sich fürs Zuspätkommen. »Meine Mutter hat mich gebraucht.« Dabei strich sie eine ihrer Locken hinters Ohr. »Wollen wir noch Physik machen?«

Doch die anderen waren bereits im Feierabendmodus. Sandro steckte sich eine Zigarette an und nahm sich eine Flasche Störtebeker. »Heute nicht mehr.«

»Aber das Abi beginnt in sechs Wochen.«

»Für eine Vier wird es schon reichen.« Mit dem Feuerzeug schnippte Sandro den Kronkorken von der Flasche.

»Ich dachte, du willst studieren.«

»Daraus wird nichts. Egal, wie gut ich bin. Das haben uns die Uniformträger heute doch klargemacht. Wisst ihr was, ich werde nicht mal zur Baubrigade gehen. Ich verweigere komplett.« Er setzte das Bier an.

»Wie willst du das denn machen?« Überrascht nahm Mischa sich auch eine Flasche. »Die Möglichkeit haben wir gar nicht.«

»Mir doch egal. Ich geh ins Kirchenasyl. Oder starte eine politische Aktion für Gewissensfreiheit. Einen Hungerstreik vielleicht.« Seit Sandro Kontakt zu einer Gruppe von Friedens- und Umweltaktivisten hatte, sprach er so.

»Du spinnst.« Peggy legte einen Arm um seine Schulter. »Die Stasi wird dich holen und einsperren. Das ist es doch nicht wert. Achtzehn Monate Wehrdienst gehen schnell rum.«

Der radikale Gedanke seines Freundes gefiel Mischa. Man musste zu seinen Überzeugungen stehen.

»Mit etwas Glück ziehen sie euch erst nach dem Studium ein«, meinte Peggy.

»Und wenn nicht?«, fragte Volker. »Verzichtet ihr dann etwa auf die Möglichkeit zu studieren?«

Mischa öffnete seine Flasche Bier. »Willst du etwa zur NVA?«

»Ich reiße mich nicht darum. Aber Peggy hat recht. Man muss da durch. Danach ist man frei.«

»Frei!« Mit dem Kronkorken zielte Mischa auf Volker und traf ihn an der Brust. »Sieh dich doch mal um. In diesem Land ist niemand frei. Das ist ein einziger großer Knast.«

»Du weißt, was ich meine«, entgegnete Volker. »Ich kann dann studieren, was ich will.«

»Was du willst? Das heißt, du verpflichtest dich für drei Jahre?«

Die Antwort war ein Schulterzucken.

»Das ist doch keine Freiheit, wenn du nicht sagen kannst, was du denkst.«

»Man muss nach deren Regeln spielen«, sagte Volker.

»Warum denn?«, entgegnete Mischa. »Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden. Wie Rosa Luxemburg schon sagte. Doch wer diesen Satz als Banner vor sich herträgt, wird von der Stasi einkassiert. Wie im Januar bei der Demo in Berlin. Schon vergessen? Oder guckst du kein Westfernsehen?«

Nach fünf Minuten war die Diskussion wieder in Gang, die sie in den letzten Wochen so oft geführt hatten. Die Hoffnung auf Veränderung, seit Gorbatschow betont hatte, dass jeder sozialistische Bruderstaat sein gesellschaftliches System frei wählen könne. Es war der Abschied von der Breschnew-Doktrin. Moskau würde einem Wandel nicht im Weg stehen. Die russischen Brüder würden nicht einmarschieren, wie achtundsechzig in Prag. Doch die Windjackenträger in Berlin wollten nichts ändern. Alles ging weiter wie bisher. Jede Kritik wurde im Keim erstickt. Blei lag über dem Land.

Irgendwann brachen Sandro und Peggy auf. Erst jetzt fiel Mischa auf, wie vergleichsweise still sein Freund den ganzen Tag über gewesen war, wo er doch sonst meist das große Wort führte. Etwas schien ihn zu bedrücken. Er begleitete die beiden zum Fenster, das ihnen als Zugang diente. Peggy stieg als Erste durch, und er hielt Sandro auf. »Sag mal, ist was mit dir?«

»Nein. Nichts.« Abwehrend hob Sandro die Hände. Es war also doch etwas mit ihm.

»Wie geht’s eigentlich Jenny?« Sandros jüngere Schwester war eine talentierte Eiskunstläuferin. Die große Hoffnung ihres Kaders. Doch in diesem Jahr hatte sie die Qualifikation für die DDR-Jugendspartakiade nicht geschafft. Obwohl sie sich sicher war, die nötige Punktzahl erreicht zu haben, hatte sie diese knapp verfehlt. Seither lag sie heulend im Bett oder apathisch auf dem Sofa. Sandro machte sich Sorgen um sie. Seit sein Vater die Familie verlassen hatte, fühlte er sich für Jenny verantwortlich.

»Ihr geht’s wieder gut«, sagte Peggy. »Alles im Lot.«

»Es war ein Missverständnis«, erklärte Sandro. »Jemand hat die Bewertungsbögen falsch zugeordnet.«

»Na prima.«

»Jedenfalls strahlt sie wieder.« Sandro senkte den Blick. »Nur darauf kommt es an.«

*

Annett hatte das Physikbuch herausgeholt, als Mischa zurückkehrte und sich zu ihr setzte. Das Barett mit Ches Stern auf dem dunklen Haar. Warum trug er das? Wusste er nicht, wer Che war? Oder war alles nur Gerede? Seine pazifistische Haltung Show? Das glaubte sie nicht. Er war so ernsthaft und nachdenklich, und beim besten Willen konnte sie sich ihn nicht in einer Uniform vorstellen und schon gar nicht mit einer Waffe in der Hand. Warum trug er diese Mütze?

»Sollen wir mit dem Thema Wellen weitermachen?«, fragte sie ihn. Denn Volker hatte sich aus der Lernrunde verabschiedet. Er trank im Trabi-Sitz ein Bier und sah durch die milchige Plane aufs weichgezeichnete Meer.

»Muss wohl.« Mischa griff nach seinem Kuli, der neben dem Block lag, und reckte die Schultern. »Das Abi naht. Also beschäftigen wir uns mit den Wellen. Vielleicht am Beispiel deiner Locken.« Er lächelte sie an. »Die kringeln sich so schön.«

Ihr Herz machte einen kleinen Satz. In letzter Zeit machte Mischa immer wieder solche Bemerkungen. Wie sie mit ihren hübschen Händen die Seiten eines Buchs oder Hefts glatt strich, so eifrig und akkurat. Wie sie auf der Unterlippe kaute, wenn sie nachdachte, und wie sie sich die widerspenstigen Kringel hinters Ohr schob, die ihr immer wieder ins Gesicht fielen. Und nun die Locken. Doch sie verzog keine Miene. »Erst die Theorie. Dann können wir ja mal sehen, wie man das praktisch anwenden kann. Wobei mit Wellen nicht Locken gemeint sind.« Sie schlug das Buch auf und erklärte ihm, welche Größen zur Beschreibung einer Welle nötig waren und was es mit Amplitude, Frequenz und Schwingungsdauer auf sich hatte. Doch sie merkte, dass er nicht bei der Sache war. Er beobachtete sie, und das machte sie ganz nervös.

»Hast du das verstanden?«

Mischa sah ihr direkt in die Augen. »Was genau?«

Seine waren dunkel, wie ihre. Einige bernsteinfarbene Einsprengsel saßen darin und leuchteten wie Sterne. Sie riss sich zusammen und räusperte sich. »Dass – unter den aufgezählten Annahmen – Amplitude, Schwingungsdauer beziehungsweise Frequenz und Kreisfrequenz einer Welle allein durch den Erreger der Welle bestimmt werden.« Abwartend sah sie ihn an, während er sich im Stuhl zurücklehnte, seine Schultern herabsanken und ein Seufzer seine Brust verließ. »Ich gebe für heute auf. Ich brauch frische Luft. Lust auf einen Spaziergang?«

Nur sie und er. Allein am Strand. Mit einem Mal fühlte sie sich ein wenig schwebend. »Aber gib nicht mir die Schuld, wenn du durchrasselst.«

»Mach ich nicht. Versprochen, Zwerg.« Er zwinkerte ihr zu.

Zwerg. Ausgerechnet. Etwas Originelleres fiel ihm nicht ein? Ein wenig enttäuscht schob sie Heft und Buch zusammen. Doch sie spürte, wie sich etwas zwischen ihnen veränderte. Wie sich die Luft um sie herum elektrisch auflud. »In Ordnung. Ich komme mit. Den Kopf auslüften.« Sie versuchte es ein wenig gelangweilt klingen zu lassen, obwohl ihr Herz schneller schlug.

Volker wand sich aus dem Trabi-Sitz. »Super Idee. Bin dabei.«

Bitte nicht, dachte Annett. Sie sah, dass Mischa dasselbe dachte. Er wollte mit ihr allein sein. Doch Volker zog schon die Jacke an. Also gingen sie zu dritt los, und Annett überlegte, wie sie ihn abwimmeln könnte. Ihr fiel nichts ein.

Mischa und Volker waren schon seit der Polytechnischen Oberschule Freunde und hingen ständig zusammen, während sie erst vor Kurzem zur Clique gestoßen war. Die beiden hatten auch eine Band, Tagebau, über die sie sich nun unterhielten, während sie zu dritt durch den Sand stapften. Die meisten Texte stammten von Mischa. Die Kompositionen von Sandro und Mischa. Volker spielte den Elektrobass, Mischa Gitarre, Sandro saß am Schlagzeug, Peggy sang und dann gab es seit Kurzem Kathi mit ihrem Keyboard. Sie war neu bei Tagebau und bisher nicht Mitglied der Villa-Clique. Annett bezweifelte, dass sie das je würde. Denn Kathi war zickig. Und sie stand auf Mischa, wie Annett bei einer Bandprobe feststellte, zu der er sie eingeladen hatte. Ständig hatte Kathi Körperkontakt gesucht, Mischa scheinbar zufällig berührt und ihn sogar umarmt. Es war so plump, dass es eigentlich peinlich war.

Der Wind kam vom Meer und schob tief hängende graue Wolken über das Land. Die Luft war feucht und schwer, sie roch nach Salz und Tang. Zu dritt gingen sie über den schmalen Streifen Sand, der sich zwischen einem Wäldchen und dem Wasser erstreckte. Die Hände in den Taschen vergraben, die Köpfe gegen den Wind gesenkt. Das Gespräch drehte sich noch immer um die Band, und Enttäuschung breitete sich in Annett aus. Nichts gegen Volker. Er war nett, vom Gemüt ein Bär und äußerlich dabei ebenso ein Spargel wie Sandro. Doch sie wäre jetzt gerne allein mit Mischa gewesen.

Plötzlich schlug Mischa sich die Hand vor die Stirn. »Ich Idiot! Ganz vergessen … Kathi wartet im Übungsraum auf dich.«

Überrascht blieb Volker stehen. »Wieso denn?«

»Ihr Keyboard macht Zicken. Sie hat gefragt, ob du dir das mal ansehen kannst, und ich habe gesagt, dass du nach der Lernrunde kommst. War doch in Ordnung?«

Volker schien nicht begeistert zu sein. Kurz sah er zu ihr und schob dann die Hände tiefer in die Jackentaschen. »Mann, Mischa! Wie war das gleich noch mit der von dir propagierten Freiheit?«

»Hätte ich Nein sagen sollen?«

»Du hättest mich fragen können.«

Annett ahnte, dass Mischa Theater spielte, dass er Volker loswerden wollte, um allein mit ihr zu sein. Er mimte Zerknirschung, entschuldigte sich und wies noch mal darauf hin, dass Kathi wartete. Schließlich verabschiedete Volker sich. »Also gut. Man sieht sich!« Er ging Richtung Wäldchen davon.

Annett lächelte in sich hinein. Sie sagte nicht, dass sie Mischas Manöver durchschaut hatte. Volker vielleicht auch. Es war egal. Schweigend gingen sie nebeneinanderher. Es war ein schönes Schweigen. Tief und warm, voller Möglichkeiten.

»Einen Groschen für deine Gedanken«, sagte Mischa schließlich.

»Ach, die sind keinen Groschen wert. Außerdem behält man die besser für sich.«

»Weshalb?«

»Weil man niemandem trauen kann.«

»Freunden aber schon.«

»Auch denen nicht.«

»Dann hattest du bisher die falschen Freunde.«

Sie zuckte die Schultern und dachte an Tante Silke. Sie hatte die falschen Freunde gehabt.

Der feuchte Sand blieb an den Schuhen kleben. Durch eine Wolkenlücke blinzelte kurz ein Sonnenstrahl und verschwand gleich wieder. »Was ist denn passiert?«, fragte Mischa, und sie antwortete, dass nichts passiert sei. Jedenfalls nicht ihr, sondern ihrer Tante, und dann blieb sie stehen. »Darf ich dich was fragen?«

»Klar.«

»Diese Mütze …« Sie deutete auf das Barett. »Du weißt schon, wer Che war?«

»Ja, klar.«

»Und du bist Pazifist. Was macht sein Barett auf deinem Kopf? Das frage ich mich schon eine ganze Weile.«

Mischa lachte. »Es ist nur eine Provokation.«

Verblüfft sah sie ihn an. »Wen kannst du denn damit in unserem wunderbaren Sozialismus auf die Palme bringen?«

»Meine Mutter. Sie kann sich so schön darüber aufregen.«

Das also war des Rätsels Lösung. »Nicht dein Ernst.«

»Warum nicht?«

Eine Sekunde überlegte Annett, ob sie sagen sollte, was sie dachte. Es würde ihn vielleicht verletzen. »Weil das schon ziemlich pubertär ist, meine ich.«

Sie sah, wie ihre Worte ihn trafen. Ihn für einen Moment sprachlos werden ließen. Doch dann lachte er. »Du hast recht. Höchste Zeit für einen Abschied.« Er riss sich die Mütze vom Kopf und warf sie mit Schwung aus dem Handgelenk. »Adieu, du kindische Provokation.« Das Barett segelte über den Strand, scheuchte eine Möwe auf und landete im Wasser. Ein, zwei Minuten sahen sie ihr mit feierlichem Ernst zu, wie sie auf den Wellen schaukelte und sich vollsog. Als sie unterging, mussten sie beide lachen.

Die bernsteinfarbenen Sterne in seinen Augen leuchteten, als Mischa sie an sich zog. Sie roch den Duft seiner Haut nach Erde und Wind, spürte, wie er seine Finger in ihren Locken versenkte, sah, wie sein Mund sich ihrem näherte. Na endlich. Sie erwiderte seinen Kuss, und eine tiefe Ruhe erfasste sie, eine Gewissheit, wie sie sie noch nie zuvor gefühlt hatte. Die Erkenntnis, zu ihm zu gehören.

Annett

Bamberg, September 2016

Achtundzwanzig Jahre später

Es war ein heißer Spätsommertag, daher entschied Annett sich für ein kurzärmliges Kleid zum Vorstellungsgespräch. Doch erst als sie dem Personalchef gegenüberstand, begriff sie, dass es das falsche Outfit war. Die dünne Schicht Selbstsicherheit fiel von ihr ab wie ein Tuch, das ihr von den Schultern rutschte. Plötzlich fühlte sie sich unwohl, wie ausgeliefert in diesem Raum mit diesem Mann, der gucken und vielleicht sogar fragen würde.

Er bot ihr Platz an und schenkte Wasser ein. Dabei blieb sein Blick – was abzusehen war, hätte sie nur daran gedacht – an der Narbe haften, die sich an ihrem rechten Arm von der Schulter bis zum Ellenbogen zog. Eine verblasste, unregelmäßig gezackte Linie, die zur ihr gehörte wie das Braun ihrer Augen, wie ihre widerspenstigen Locken, als wäre sie damit geboren. Während ihre Familie und Freunde sich längst daran gewöhnt hatten, registrierten Fremde sie jedoch sofort. Sie sahen erschrocken hin und gleich wieder weg. Doch meistens siegten Neugier oder Faszination und der Blick kehrte einen Moment später zurück. Manche konnten es nicht lassen und fragten, was passiert war. Annett sagte dann etwas von einem Bootsunfall. Das unglückliche Zusammenwirken von feuchten Planken, glatten Schuhen und einem Stück hervorstehendem Metall. In gewisser Weise stimmte das sogar.

Nun widerstand sie der Versuchung, die Narbe mit der linken Hand, so gut es ging, abzudecken und dadurch noch mehr Aufmerksamkeit auf sie zu lenken. Nervös schob sie eine Haarsträhne hinters Ohr und legte dann die Hände auf die Tasche in ihrem Schoß.

Der Mann wandte sich dem Grund des Termins zu. Der Besetzung einer Mediengestalterstelle beim Bamberger Verlagshaus. Er ging ihren Lebenslauf durch. Verheiratet, zwei erwachsene Kinder. Überrascht sah er auf. Ja, sie habe jung geheiratet, schon mit einundzwanzig, erklärte sie. Die Silberhochzeit stand bevor. Eigentlich ging ihn das nichts an, doch sie wollte Beständigkeit signalisieren. Sie war eine, auf die man bauen konnte.

Weiter ging es mit den Qualifikationen. Er habe gesehen, dass sie die Ausbildung kurz vor Schluss abgebrochen hatte. Weshalb? Wenn er fragen dürfe. Er war Personalchef, also durfte er das natürlich, und sie erklärte, dass es an Fabian lag, ihrem ersten Kind. Ihr Sohnemann hatte sich entschlossen, sechs Wochen zu früh das Licht der Welt zu erblicken. Ausgerechnet am ersten Tag der Abschlussprüfung. Danach war nicht mehr daran zu denken gewesen, die Ausbildung zu beenden. Kein Krippenplatz, kein Geld für eine Tagesmutter. Jahre später hatte sie eine Anstellung in einer kleinen Werbeagentur gefunden, trotz des fehlenden Abschlusses. Und so war es weitergegangen. Meist mit befristeten Stellen.

Er nickte verständnisvoll. Während des Gesprächs glitt sein Blick immer wieder zu ihrem Arm. Es machte sie ganz unruhig. Irgendwann legte sie dann doch die Hand auf die Narbe, und er kam zur Frage nach ihrer Erfahrung im Zeitschriftenlayout. Die war zugegebenermaßen nicht sehr umfangreich. Ein halbes Jahr hatte sie bei einem Wochenblatt gearbeitet. Über ein wenig Erfahrung verfügte sie also. Vor drei Monaten war der Vertrag ausgelaufen, als die Grafikerin, für die sie eingesprungen war, nach der Elternzeit zurückkehrte. Zum Schluss kam die Frage nach ihrer Gehaltsvorstellung, die er eher beiläufig stellte, als ob es ihn nicht wirklich interessierte. Das wird nichts, dachte sie, als sie sich verabschiedete und kurz darauf in den gleißenden Sonnenschein trat, der die Bamberger Altstadt zum Leuchten brachte.

*

Sie parkte den Kia auf dem Stellplatz neben der Garage und wollte unwillkürlich den Motor mit dem Zündschlüssel abstellen, wie sie es neunzehn Jahre lang bei ihrem alten Polo getan hatte, und griff ins Leere. Erst dann drückte sie den Power-Knopf und der Motor erstarb. Den Wagen hatte Volker vor zwei Wochen für sie geleast, weil der Polo nicht mehr durch den TÜV gekommen war. Seither versuchte sie, mit der für sie ungewohnten Technik vertraut zu werden.

Im Schlafzimmer schlüpfte sie in Jeans und T-Shirt und sah dabei in den Garten hinunter. Eine kleine Rasenfläche. Blühende Rabatten und Büsche. Davor der Grillplatz und die Terrasse. Ihr kleines Paradies.

Als sie mit Fabian schwanger gewesen war, hatten Volker und sie die heruntergekommene Doppelhaushälfte gemietet, und ein paar Jahre später, als Leonie unterwegs war, hatten sie sie mit Onkel Edgars Unterstützung gekauft und nach und nach eigenhändig saniert. Mein Gott, was sie alles gelernt hatte. Verputzen. Fliesenlegen. Tapezieren und Lackieren. Erst als Volker von Onkel Edgar das Immobilienbüro übernahm, in dem er seine Ausbildung gemacht hatte, und es bergauf ging, vergaben sie ab und zu Aufträge an Handwerker.

Eine WhatsApp von Volker ging auf ihrem Handy ein. Er fragte, wie das Vorstellungsgespräch gelaufen war, und sie antwortete mit: »Das wird wohl nichts.« Sie schickte ein enttäuscht dreinblickendes Emoji hinterher.

In der Küche füllte sie den Siebträger der Maschine und sah dem Kaffee beim Durchlaufen zu, während sich wieder die leichte Gereiztheit in ihr auszubreiten begann, die sie den ganzen Tag über in Schach gehalten hatte.

Mit dem Kaffee und einem Krimi setzte sie sich aufs Sofa, doch sie konnte sich nicht aufs Lesen konzentrieren. Was war nur los mit ihr? Es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Bisher hatte sie immer eine Stelle gefunden. Und selbst wenn nicht, kämen sie inzwischen mit Volkers Einkommen allein über die Runden. Außerdem gab es zwei freie Zimmer in diesem Haus, seit die Kinder ausgezogen waren. Die konnte man notfalls vermieten. Oder sie machte sich selbstständig. Was eher eine theoretische Möglichkeit war. Denn dafür müsste sie Kunden akquirieren. Das traute sie sich nicht zu.

Außerdem gab es noch Volkers Angebot, in seiner Drei-Mann-Firma mitzuarbeiten. Die Stelle seiner Assistentin war frei, seit sich Patricia Weber im Sommer das Leben genommen hatte. Aus unerwiderter Liebe zu Volker.

Es war eine ebenso tragische wie dumme Geschichte. Wie hatte sie sich nur in Volker vergucken können? Sie hatte doch gesehen, dass er eine gute Ehe führte und ihm seine Familie wichtig war. Dass es keinen Platz für sie in seinem Leben gab. Dennoch hatte Patricia sich richtiggehend in diese unerwiderte Obsession hineingesteigert. Und am Ende hatte sie sogar versucht, sich zu rächen und ihren Selbstmord so zu inszenieren, als hätte Volker seine Hand dabei im Spiel gehabt. Dadurch hatte sie ihn kurzfristig in Schwierigkeiten gebracht. Denn es war ihr tatsächlich gelungen, einer Freundin weiszumachen, dass sie mit Volker eine Affäre hätte, er seine Frau aber nicht verlassen wolle, wie sie es sich erhoffte. Und deswegen hatte er gedroht, sie umzubringen, falls sie ihn an Annett verriet. Genau das habe Patricia vorgehabt, behauptete die Freundin bei der Polizei. Die Folge war, dass Volker sein Handy und seinen Laptop rausrücken musste und obendrein ein Alibi brauchte. Das Annett ihm natürlich gab. In der Nacht, in der Patricia Weber Schlaftabletten mit Wodka hinuntergespült und sich am Lampenhaken in ihrem Wohnzimmer aufgeknüpft hatte, war Volker zu Hause gewesen. Weder auf seinem Handy noch auf seinem Laptop gab es einen Chatverlauf, der ihn belastete, und damit war er rehabilitiert. Gott sei Dank. Es lagen verrückte Wochen hinter ihnen.

Annett wandte sich wieder dem Krimi zu. Doch die Unruhe wich nicht. Es gelang ihr nicht, sich zu konzentrieren, und plötzlich verstand sie, woran es lag. Unwillkürlich fuhr sie mit der Hand über die Narbe. Der Oktober nahte. Obwohl es so lange her war und längst keine Rolle mehr spielen sollte, versuchte jedes Jahr im Herbst ein Krake nach ihr zu greifen und sie in einen dunklen Strudel zu ziehen. Meistens gelang es Annett, ihn abzuwehren.

Ihr Handy gab einen Signalton von sich. Eine weitere Nachricht von Volker.

Lass uns deinen Ärger vergessen und den schönen Abend genießen. Ich habe unseren Tisch im Bootshaus reserviert. Neunzehn Uhr. Ich komme direkt von meinem Termin dorthin. Love you!

Eine warme Welle erfasste sie und vertrieb allen Ärger.

Love you, too!

Ihre Tochter Leonie hatte einmal gefragt, wie es ihnen gelang, eine so gute Ehe zu führen, und Annett hatte es ihr erklärt. Es lag am Vertrauen. Das hatten sie sich damals geschworen, als sie Wismar und die Vergangenheit hinter sich gelassen hatten. Keine Lügen, keine Geheimnisse. Daran hatten sie sich gehalten, auch wenn es manchmal wehgetan hatte.

Beispielsweise, als sie nach Jahren, in denen sich ihr Leben ausschließlich um die Kinder und den Haushalt gedreht hatte, endlich auf Stellensuche gewesen war und eine Anstellung in einer kleinen Agentur fand. Am selben Abend, als sie den Vertrag unterschrieb, beichtete Volker ihr einen Seitensprung. Es tat weh. Natürlich tat es das. Doch sie verzieh ihm. Und jetzt fiel ihr ein, dass er ihr schon damals das Angebot gemacht hatte, als Assistentin in seinem Maklerbüro zu arbeiten, und wie enttäuscht er über ihre Absage gewesen war.

Eine gute Ehe führten sie zweifellos. Auch weil sie häufig bereit war, sich zurückzunehmen und Volker seinen Willen zu lassen. Jedenfalls, wenn es um nichts Grundsätzliches ging. Es war nichts dabei. Man musste sich nicht wegen Kleinigkeiten in die Haare geraten. Leonie hatte jedenfalls nur nach der guten Ehe gefragt, nicht nach der großen Liebe, die es nur einmal im Leben gab. Und darüber war Annett erleichtert gewesen. Wie hätte sie ihrer Tochter auch erklären sollen, dass sie Volker zwar liebte, ihre große Liebe aber ein anderer gewesen war. Mischa.

*

Als Annett an diesem Freitagabend den Restaurantgarten des Bootshauses betrat, waren beinahe alle Tische besetzt. Der Duft von Grillfleisch lag in der Luft. Eine Kellnerin bahnte sich mit vollem Tablett ihren Weg zwischen spielenden Kindern hindurch. Gesprächsfetzen und Lachen klangen an Annetts Ohren. Weiter hinten, direkt am Ufer, saß Volker an ihrem Tisch. Als er sie bemerkte, glitt ein Lächeln über sein Gesicht, er winkte ihr zu.

Eine Bekannte hatte ihn mal als Durchschnittstyp bezeichnet. Vermutlich war er das. Groß und noch immer schlank. Nun ja, ein kleiner Bauchansatz ließ sich nicht leugnen. Es war nicht wichtig, ebenso wie die Brille, die er seit einiger Zeit zum Lesen brauchte. Sie gab ihm das gewisse Etwas. An seiner Seite ging Annett gerne durch die Stadt.

Einen Moment sah sie sich mit seinen Augen. Eine aparte mollige Frau von einssechzig Größe. Fünf oder sechs Kilo hatten sich während der Schwangerschaften an Bauch und Hüften angesammelt und entschieden zu bleiben. Volker mochte das Weiche an ihr und boykottierte ihre halbherzigen Diätversuche, indem er Kuchen mitbrachte oder sie auf eine Pizza zu ihrem Lieblingsitaliener einlud.

»Hallo Schnecke!« Er stand auf und umarmte sie. So nannte er sie, weil sie dazu neigte, sich zurückzuziehen und Dinge mit sich abzumachen. Mehr stille Beobachterin als große Rednerin. Da er mehr als einen Kopf größer war, musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihm einen Kuss zu geben. »Grüß dich.«

»Ich habe Weißweinschorle für uns bestellt.« Die Gläser standen vor ihm auf dem Tisch und beschlugen bereits. Sie stießen auf das Wochenende an. Die Schorle war kalt und der Abend schön. Annett lehnte sich zurück. Der Fluss zog träge dahin. Einige Blätter trieben darauf. Vorboten des Herbstes. Wieder schlich sich die Unruhe an. Es lag nicht nur an der Jahreszeit und am Kraken, der unweigerlich nach ihr greifen würde. Es lag auch an etwas anderem. Vielleicht an Leonie, die vor einigen Wochen ausgezogen war. Nach Berlin fürs Studium. Seither waren Volker und sie allein, denn Fabian lebte mit seiner Freundin Pauline schon seit zwei Jahren in Leipzig. Ein neuer Lebensabschnitt lag vor ihnen, in den sie sich erst einfinden mussten, und das war nicht leicht. Vielleicht sollte ich ihn verlassen. Dieser Gedanke schoss Annett ungewollt durch den Kopf und sie schob ihn erschrocken gleich wieder beiseite. Sie würden schon zurechtkommen mit der neuen Situation.

Die Kellnerin kam, und Volker bestellte für sie beide, wie er das meistens tat. Während sie auf das Essen warteten, berichtete Annett, wie das Vorstellungsgespräch gelaufen war. Es war ärgerlich, die Stelle hätte ihr gefallen, doch daraus wurde wohl nichts. Sie kamen schnell auf andere Themen. Volker hatte ein neues Projekt an Land gezogen. Den Verkauf von zwei Doppelhaushälften, und sie gratulierte ihm. Ihr Essen wurde gebracht, und Volker erzählte, Leonie habe angerufen. »Jemand hat ihr Rad geklaut. Sie brauchte Geld für ein neues, und das habe ich ihr überwiesen.«

»Du verwöhnst sie.«

»Dazu sind Väter doch da.« Er lächelte. »Aber sie hat jetzt einen Job.«

»Prima.« Sie hatten ihre Kinder nie in Watte gepackt und schon früh zur Selbstständigkeit erzogen. Seit sie fünfzehn waren, hatten sie mit allerlei Jobs ihr Taschengeld aufgebessert. Verantwortung übernehmen. Erfahrungen sammeln. Das war wichtig. Außerdem gab sich das selbst verdiente Geld nicht so leicht aus wie das, für das man nichts tun musste.

Daher steuerten Volker und Annett auch nur die Miete für Leonies WG-Zimmer bei und ein kleines Budget, das für Fahrkarte und Lebensmittel reichen sollte. Für alles, das darüber hinausging, war Leonie zuständig.

»Und was macht sie?«

»IKM-Texterin. Sie kann von zu Hause arbeiten und ist zeitlich flexibel. Ideal fürs Studium.«

»Hört sich gut an. Was macht man als IKM-Texterin?«

»So ganz habe ich es nicht verstanden«, räumte Volker ein. »Etwas mit Internetkommunikation.«

Die Teller waren leer. Er entschuldigte sich kurz, um zur Toilette zu gehen, und Annett nutzte die Zeit für eine Google-Suche. Der erste Treffer führte sie zu einem Zeitschriftenartikel, den sie überflog und wegdrückte, als Volker zurückkehrte. »Du guckst so verärgert. Was ist denn?«

»Manchmal ist es wohl besser, unwissend zu bleiben.« Sie legte das Smartphone neben den Teller. »Ich habe nachgesehen, was es mit Leonies Job auf sich hat. KM steht nicht für Kommunikation, sondern für Kontaktmarkt. Unsere Tochter chattet mit Männern, die auf Kontaktplattformen nach der Frau fürs Leben suchen oder nach einer Affäre. Oder was weiß ich. Ihre Aufgabe besteht darin, sie möglichst lange im Chat zu halten, denn jede Minute bringt dem Betreiber Geld. Einen Teil davon bekommen sie und ihre Kolleginnen. Da texten nämlich mehrere für einen Klienten. Schichtdienst sozusagen. Immer erreichbar fürs entflammte Herz. Aber nie im richtigen Leben. Das widerspricht dem Geschäftsmodell.«

»Oje!« Volker stützte das Kinn in die Hand. »Ich verstehe, dass du aufgebracht bist.«

»Du etwa nicht? Wie kann Leonie dabei mitmachen? Sie verarschen die armen Kerle.«

»Wenn die so dumm sind und das nicht durchschauen … Selbst schuld.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass das legal ist.«

»Ich rede mit ihr, ob sie sich nicht einen anderen Job suchen mag.«

»Bitte, tu das.« Volker hatte den besseren Draht zu Leonie. Der Sonntagspapa, der selten der Spielverderber gewesen war, denn die Erziehung hatte mehr oder weniger bei ihr gelegen. Notgedrungen. Während er in Onkel Edgars Maklerbüro eingestiegen war, musste sie daheim bei den Kindern bleiben. Denn das Thema Kinderbetreuung schien im Westen keine große Rolle zu spielen. Frauen hatten daheim zu bleiben. Selbst als die Kinder zur Schule gegangen waren, war für Annett nicht mehr als ein Halbtagsjob drin gewesen. Ganztagsschulen waren im Bayern der Neunzigerjahre nicht populär. Ihnen war nichts anderes übrig geblieben, als sich die westlichen Rollenbilder überstülpen zu lassen. Der Mann als Ernährer, die Frau zuständig für Kinder und Haushalt. Wobei es Volker eigentlich ganz recht gewesen war. Beklagt hatte er sich jedenfalls nie. »So weiß ich, wo du bist.« Das hatte er einmal gesagt, und sie hatte ihn verwundert angesehen. »Das wüsstest du auch, wenn ich Arbeit hätte.«

Nun griff er über den Tisch nach ihrer Hand. »Lass uns über Erfreulicheres sprechen.«

»Beispielsweise?« Sie fragte, obwohl sie es ahnte. Volker plante eine große Feier für den Hochzeitstag. Es war schließlich ein besonderer. Außerdem wünschte er sich einen Ausgleich für ihre schlichte Hochzeit 1991.

Es war ein kalter Novembertag gewesen. Nebel hatte zwischen den Häusern und Gassen der Altstadt gehangen, und dann begann es auch noch zu nieseln. Annett fror in ihrem dünnen Kostüm. Das Hochzeitsessen fand bei ihrem Lieblingsitaliener statt, doch der Koch war krank geworden. Daher gab es nur aufgebackene Tiefkühlpizza, kalte Antipasti und als Ausgleich ein Ständchen des Inhabers und seiner Frau, das beide voller Inbrunst sangen. Das war so nett gewesen, dass es Annett noch heute warm ums Herz wurde, wenn sie daran dachte.

Sie waren eine kleine Schar gewesen. Ihre Eltern und Volkers Vater. Seine Mutter kam nicht, obwohl Volker sie überraschenderweise eingeladen hatte. Außerdem noch ihre Trauzeugen. Onkel Edgar und Annetts Freundin Sonja, die sie von der Berufsschule kannte.

»Na, über die Feier«, antwortete Volker prompt. »Ich habe eine schöne Location dafür entdeckt. Ein Restaurant in einem alten Gutshof mit Blick auf den Fluss.« Er zeigte ihr die Website auf dem Smartphone und fragte, was sie davon hielt.

Ihr wäre zwar ein Wochenende zu zweit in einem kleinen Hotel mit Wellnessbereich lieber. Zeit nur für sie beide. Doch davon hatten sie genug, seit die Kinder aus dem Haus waren. Also stimmte sie zu.

*

Am Samstagmorgen goss es in Strömen. Annett erledigte den Wochenendeinkauf, während Volker am Vormittag noch Besichtigungstermine für eine Vorortwohnung hatte.

Mittags kehrte er mit einem Strauß Sonnenblumen zurück. Ihren Lieblingsblumen. Sie arrangierte sie in einer Vase und stellte sie auf den Tisch. Während des Essens kam Volker auf sein Angebot zurück. Die Stelle von Patricia war wieder frei. Denn die neue Mitarbeiterin hatte während der Probezeit gekündigt. Und nun hoffte er, dass Annett einspringen würde, während sie nicht wusste, ob sie das wollte.

»Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich bin Gestalterin.«

»Du wächst da schon hinein. Außerdem muss die Website mit den Angeboten gepflegt werden.«

»Dafür bin ich überqualifiziert und damit auch nicht ausgelastet.«

»Du bekommst ein schönes Büro mit Blick auf den Dom. Fünfunddreißig-Stunden-Woche. Gute Bezahlung. Und den Firmenwagen hast du ja schon.« Das stimmte, der Kia lief aufs Geschäft. »Du hättest mit Dagmar eine nette Kollegin und einen freundlichen Chef, der dich gelegentlich mittags zum Essen ausführt.« Er zwinkerte ihr zu.

»Sind Beziehungen zwischen Chefs und Mitarbeiterinnen nicht verpönt? Am Ende rufe ich ›me too‹.«

»Da ist was dran. Es sei denn, du wirst auch Chef.«

Sie lachte.

»Ich meine es ernst. Du steigst mit ein, als gleichberechtigte Geschäftsführerin.«

Da war ein überraschender Vorschlag. Was sollte sie davon halten?

»Du kümmerst dich um alles Werbliche. Nicht nur um die Website, sondern auch um die Exposés und die Fotos für die Objekte. Bei größeren Projekten lassen Bauherrn Broschüren und Homepages gestalten. Das könnten zusätzliche Aufträge für uns werden. Suche dir eine fähige Fotografin dafür.«

»Wieso keinen Fotografen?«

»Was?« Irritiert sah er sie an.

»Wieso soll ich mir eine Frau dafür suchen? Weshalb keinen Mann?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Du hast Fotografin gesagt.«

»Ich meinte nur, dass Frauen sich gegenseitig unterstützen sollten. Also überleg es dir.«

»Ja, gut. Das mache ich.« Versöhnlich fügte sie hinzu, dass sein Angebot interessant klinge, und das war es eigentlich ja auch.

*

Am Nachmittag bummelten sie durch die Altstadt. Sie kauften neue Hemden für Volker und stöberten ein wenig in Emils Buchladen. Annett erkundigte sich nach dem neuen Roman von Charlotte Link, doch der kam erst am Montag heraus und sie bestellte ihn vor. Weiter ging es zu Sonja, mit der Annett seit ihrer Ausbildung befreundet war. Vor einigen Jahren hatte sie einen Laden für Kaffee und Schokolade eröffnet und ihn »Bittersüß« genannt.

Als sie eintraten, schlug ihnen der Duft von Kaffee und Gebäck entgegen. Die Tische vorm Schaufenster waren alle besetzt, doch einer wurde gerade frei. An der Verkaufstheke standen zwei Kunden an, die von Sonja bedient wurden. »Hallo ihr beiden!«, rief sie herüber. »Ich bin in fünf Minuten bei euch.« Volker nahm Annett den Mantel ab, sie setzten sich, und Annett beobachtete das Treiben in den Gassen der Fußgängerzone. Das bucklige Kopfsteinpflaster. Die Bürgerhäuser, die von altem Reichtum kündeten. Dazwischen Einheimische und Touristen. Annett liebte es, Leute zu beobachten. Das alte Paar, das sich an den Händen hielt. Eine junge Frau mit karottenrot gefärbtem Haar, die aufgeregt ins Handy sprach und mit der freien Hand gestikulierte. Ein Vater, der seinen Sohn auf den Schultern trug. Zu jedem hätte sie sich eine Geschichte ausdenken können.

»Einen Euro für deine Gedanken«, sagte Volker.

»Die sind keinen Euro wert. Ich beobachte nur die Leute.«

Einen Groschen für deine Gedanken. Das hatte Mischa damals gesagt, kurz vor ihrem ersten Kuss, und die Erinnerung daran war noch immer schön und schmerzlich zugleich. Sonja trat an den Tisch, und der Arm des Kraken zog sich zurück. Ich bin meine beste Kundin, das sagte Sonja manchmal. Seit sie das Bittersüß betrieb, hatte sie ein paar Kilo zugenommen, was ihr gut stand. Aus der hageren und nervösen jungen Frau, die Annett vor mehr als zwei Jahrzehnten auf der Berufsschule kennengelernt hatte, war eine bodenständige Unternehmerin, Ehefrau und Mutter geworden.

»Zwei Cappuccini wie immer, nehme ich an.« Sonja stellte die Tassen ab und daneben ein Schälchen mit einer neuen Schokoladensorte zum Probieren. »Bis der nächste Kunde kommt, habe ich Zeit für euch.« Sie strich die Schürze glatt, die sie über Jeans und T-Shirt trug, setzte sich zu ihnen und Annett fragte, wie es Claudia in Kanada ging, wo sie derzeit zum Schüleraustausch war.

»Meiner Kleinen geht’s prima«, sagte Sonja. »Sie genießt die Freiheit. Aber Patrick macht sich natürlich Sorgen. Mein Gott, sie ist siebzehn und wird sich natürlich verlieben. Das ist normal in dem Alter. Wir haben sie aufgeklärt, sie weiß, was Kondome sind, und sie ist verantwortungsbewusst. Er hat das jetzt nicht mehr im Griff. Damit muss er leben. Und bei dir? Was macht die Jobsuche?«

Annett winkte ab. »Das wird noch dauern.«

»Ich könnte Hilfe im Laden gebrauchen. Wäre das vielleicht was für dich?«

Volker stellte seine Tasse ab. »Eher nicht. Annett will ihrem Beruf treu bleiben. Und falls nicht, steigt sie bei mir ein.«

Annett zog die Schultern hoch. »Tut mir leid.«

»Du musst dich doch nicht entschuldigen«, sagte Sonja. »Das war ja nur so eine spontane Idee von mir.«

*

Am Sonntag meldete Leonie sich während des Frühstücks über Facetime. Volker lehnte sein iPad an die Vase mit den Sonnenblumen, sodass auch Annett ihre Tochter auf dem Bildschirm sehen konnte. Er fragte, ob sie nun ein neues Rad habe, und sie nickte. »Ich habe ein gutes gebrauchtes gefunden. Danke für die Spende, Papa.«

Leonie kam ganz nach ihrem Vater, groß und schlank, und von ihm hatte sie auch die braungrünen Augen und die schmalen Lippen, die sich beim Lachen ein wenig schief verzogen. »Und wie geht’s euch?«

»Na ja«, meinte Volker. »Deine Mutter hat gegoogelt, was man als IKM-Texterin macht, und ganz ehrlich, es gefällt uns nicht.«

Leonie verdrehte die Augen. »Da ist doch nichts dabei. Wir sind wie Schauspieler. Wir spielen ein wenig Theater.«

»Mit dem Unterschied, dass dein Publikum nicht weiß, das ihm was vorgespielt wird«, entgegnete Annett. »Ihr missbraucht das Vertrauen dieser Männer. Das ist nicht in Ordnung.«

»Ups. Vertrauen … Deine heilige Kuh. Ganz vergessen. Aber unsere Klienten wissen, worauf sie sich einlassen. Es steht in den AGB.«

»Wirklich?«

»Klar. Du kannst nachgucken.« Leonie suchte auf ihrem Handy und schickte dann Volker einen Link. Er öffnete ihn und las den Abschnitt vor, den sie nannte. »Sie hat recht. Hier steht es. Bei der Plattform handelt es sich um eine Unterhaltungs-Community für Flirts. Professionelle Chatpartner betreiben dafür fiktive Profile.«

»Aber das liest doch keiner«, wandte Annett ein.

»Selbst schuld«, antwortete Leonie.

»Die verlieben sich in eine Kunstfigur. Was machen sie denn, wenn ihr sie ewig hinhaltet und aus einem Treffen nie etwas wird? Gab es schon Selbstmorde aus Liebeskummer?«

Leonie stöhnte. Volker griff nach Annetts Hand. »Jetzt übertreibst du aber.«

»Ich finde es einfach nicht in Ordnung. Bitte gib diesen Job auf.«

Volker wandte sich Leonie auf dem iPad zu. »Mich interessiert, wie weit ihr geht … Also … Du verstehst schon, was ich meine.«

»Mensch, Papa! Das ist keine Sexplattform. Ganz im Gegenteil, wenn einer seine Sexfantasien vor uns ausbreiten will, müssen wir ihn davon abhalten. Anweisung von oben. Wenn er sich nämlich einen runterholt, ist der Chat vorbei. Und das ist nicht Sinn der Sache.«

Zorn stieg in Annett auf, als sie ihre Tochter so reden hörte. »Du hörst auf damit. Oder wir streichen dir das Geld für die Miete.«

»Was? Da hat Papa auch noch mitzureden.«

»Deine Mutter hat recht. Es ist kein Job für eine junge Frau. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was diese Kerle schreiben. Such dir bitte etwas anderes.«

Widerwillig lenkte Leonie ein. Aber sie handelte eine Übergangsfrist von sechs Wochen für die Suche nach einem neuen Job aus.

Annett ging das Gespräch auch nach dem Frühstück noch durch den Kopf. »Das ist so perfide«, sagte sie. »Mir tun die Männer eigentlich leid.«

»Wieso denn? Sie müssten nur die Geschäftsbedingungen lesen.«

»Hast du jemals zwanzig Seiten Kleingedrucktes am Bildschirm gelesen, bevor du auf Okay geklickt hast?«

»Trotzdem verdienen sie dein Mitgefühl nicht. Die sind auf der Suche nach einer Affäre oder Telefonsex.«

»Oder auf Suche nach Liebe. Und dabei werden sie nach Strich und Faden ausgenommen. Das ist widerwärtig.«

»Was sind das denn für Männer, die solche Chats nötig haben? Das sind vertrauensselige, dumme Loser.«

Kann schon sein, dachte Annett. Aber weder Dummheit noch Vertrauensseligkeit rechtfertigten diese Art von Betrug. Es konnten nicht alle stark und clever sein.

*

Nach dem Frühstück fuhren sie in die Fränkische Schweiz zum Wandern und entschieden sich während der Fahrt für die Tour durch das Paradiestal. In stillem Einverständnis wählten sie die Route, die nicht oberhalb der Gelben Wand entlangführte – dem Ort, an dem Volkers Vater zehn Jahre zuvor tödlich verunglückt war –, sondern nahmen den Weg durchs Tal.

Ein Bach plätscherte leise dahin. Das Laub einiger Bäume färbte sich bereits. Kalksteinfelsen ragten senkrecht in die Höhe, und die Sonne schien warm. Annett hätte die Wanderung genießen können, wenn Volker nicht wieder auf sein Stellenangebot zurückgekommen wäre. So war er nun einmal. Beharrlich und gewohnt, sich durchzusetzen. Normalerweise gab sie nach. Oft war es den Streit nicht wert. Ohnehin hatten sie selten Meinungsverschiedenheiten, denn meistens waren sie derselben oder ähnlicher Ansicht. Doch was er vorschlug, war etwas anderes. Sie würden noch enger zusammenrücken, und plötzlich hatte Annett Angst, dass ihr das zu eng werden könnte. Dass sie sich bald auf die Nerven gehen würden. Dass ihr die Luft zum Atmen fehlen könnte, wenn sie den ganzen Tag zusammen verbrachten. Sie brauchte ein wenig Freiraum. Doch das würde er nicht verstehen und gekränkt sein. Ob sie ihn denn nicht mehr liebe? Das würde er fragen. Natürlich liebte sie ihn. Auf ihre Art. Nicht wie am ersten Tag. Denn diesen ersten Tag hatte es in ihrer Beziehung eigentlich nicht gegeben. Ihre Liebe war kein Blitzeinschlag gewesen wie bei Mischa. Sie hatte sich langsam entwickelt. Ein stetiges Wachsen über einen Zeitraum von anderthalb Jahren, an dessen Ende die Erkenntnis stand: Ja, ich liebe ihn. Wenn auch anders. Nicht rasend und wahnsinnig, nicht so verrückt wie bei Mischa. Sondern vernünftig und geerdet. Erwachsen. Seit achtundzwanzig Jahren war er für sie da und nahm sie bei der Hand. Er half ihr, das, was geschehen war – wenn sie es schon nicht vergessen konnte –, wenigstens hinter sich zu lassen. Abstand zu gewinnen.

Andererseits war es verlockend, was er ihr während der Wanderung ausmalte. Sie könnte eine Designsparte innerhalb seiner kleinen Firma aufbauen. Broschüren, Anzeigen, Websites und sonstiges Werbematerial für die Objekte der Bauherren. Wobei das eigentlich nur für große Projekte mit zahlreichen Wohn- oder Gewerbeeinheiten infrage kam. Wie viele Kunden dieser Art hatte er?

Während er auf sie einredete, behielt sie ihre Gedanken für sich, denn sie wusste nicht, ob sie ihm diese Zerrissenheit erklären konnte. Er machte ihr ein tolles Angebot. Jede andere Frau würde sofort zugreifen.

Genau diesen Satz sagte er, als sie den Parkplatz wieder erreichten und die Wanderstiefel gegen Sneaker tauschten. »Ich verstehe dich nicht. Jede Frau würde sofort Ja sagen. Doch du sagst nichts dazu. Was ist los mit dir?«

»Ich brauche Bedenkzeit. Das ist eine langfristige Entscheidung.«

Kein Job, den ich kündigen könnte, wenn er mir doch nicht zusagt, dachte sie überrascht. Volker würde es nicht zulassen.

Wismar

Sommer 1988

Dieser Sommer war voller Widersprüche. Einerseits so groß und leuchtend, dass Mischa sein Glück kaum fassen konnte. Er liebte Annett, und sie liebte ihn. Manche Tage durchwandelte er wie im Traum. Wenn man ihm jemals gesagt hätte, dass er zu solchen Gefühlen fähig sei, hätte er das lachend von sich gewiesen. Das gibt es nur in Romanen oder im Kino, hätte er gesagt. Völlig überhöht und romantisch verkitscht. Und doch segelte er wie auf watteweichen Wolken dahin. Den Kopf im Himmel, die Beine auf der Erde. Er wusste, dass er Annett liebte. Sie war die Eine. Es war eine unumstößliche Tatsache. Sie würden ihr Leben miteinander verbringen.

Andererseits gab es neben diesen liebesgewissen Tagen die anderen Tage. Die grauen und schweren. Die Tage, die ihn voller Angst in seine Zukunft blicken ließen.

Das Abitur hatte er mit guten Noten bestanden und sich zur Enttäuschung seines Vaters für ein Studium der Literaturwissenschaften beworben. Noch hatte er keine Antwort, und diese Unsicherheit nagte an ihm. An manchen Tagen war er voller Optimismus, dass man ihn gleich zulassen und erst danach zur Nationalen Volksarmee stecken würde. Wobei das sein Problem nur verschieben, jedoch nicht lösen würde. An anderen war er beinahe sicher, dass ihm dieses Glück verwehrt bleiben würde. Vor allem, seit sein Vater gerüchteweise gehört hatte, dass das Wehrkreiskommando einen erhöhten Bedarf an Rekruten reklamierte.

Sandro ging es ähnlich. Mit dem Unterschied, dass er einen Plan hatte und seine Totalverweigerung vorbereitete. Dabei unterstützten ihn seine Freunde von der Friedens- und Umweltbewegung. Bernd, der Pfarrer der Gruppe, wollte ihm Kirchenasyl gewähren, wenn es so weit war. Sandro wusste, dass er damit nicht ungestraft davonkommen würde, und war bereit, das Risiko einzugehen. Lieber ging er in den Knast als zur NVA. Und er hoffte, dass Mischa sich ihm anschloss. Doch fürs Gefängnis war dieser ebenso wenig bereit wie für die Armee. Was also tun? Seine Träume aufgeben? Oder den Wehrdienst mit zusammengebissenen Zähnen ableisten?

Einzig Volker sah das pragmatisch. Er meinte, der Wehrdienst gehöre nun mal dazu und sei ein geringer Preis für einen Studienplatz. Jeder hatte das Recht auf seine Meinung. Trotzdem war Volker in Mischas Achtung gesunken, und er ahnte, dass dieser Sommer der letzte der Clique sein würde.

Seit die Prüfungen hinter ihnen lagen, sahen sie sich nur noch sporadisch. Im Übungsraum der Band und in der alten Villa. Außerdem war Urlaubszeit. Volker war mit seinem Vater für drei Wochen an den Balaton gefahren. Auch das verstand Mischa nicht wirklich. Diese Männerfreundschaft zwischen Volker und seinem Vater war ihm fremd. Wie konnte man freiwillig mit seinem Altem verreisen? Er war froh, dass er nicht mehr mit seinen Eltern in Urlaub musste, sondern sturmfreie Bude hatte und mit Annett den Sommer daheim genießen konnte. Genauer gesagt auf der Insel Poel, wo seine Eltern eine Datsche besaßen.

Sie fuhren Rad und schwammen, vor allem aber waren sie mit ihren Pirat-Segelbooten unterwegs, die sie schon als Kinder von ihren Vätern bekommen hatten. Beide treue Diener des Staates, jeder Subversion unverdächtig und daher im Besitz einer PM 18. Der Genehmigung, mit der man innerhalb der Dreimeilenzone segeln durfte.

Obwohl er es nie ausgesprochen hatte und es bisher mehr ein Gefühl war, ein noch nicht in Worte gefasster Gedanke, war ihm im Grunde bewusst, weshalb er ständig mit dem Boot auf dem Wasser war, und auch, weshalb er Annett ermunterte, ihn zu begleiten oder gegen ihn in ihrem Boot anzutreten. Wer erreichte als Erster eine Boje oder war früher zurück im Hafen? In seinem Hinterkopf gab es den Plan, über die Ostsee abzuhauen. Sie trainierten.

An diesem Tag Ende Juli segelte er allein. Annett hatte mit ihrer Mutter etwas in Rostock zu erledigen. Sie würden sich erst am Abend in der Datsche treffen.

Mischa hielt die Jolle parallel zur Küste, etwa eine Meile vom Land entfernt, und beobachtete das Wachboot der Grenzbrigade Küste, das in regelmäßigen Abständen am Horizont erschien. Schließlich wurde es Zeit umzukehren. Sandro wollte am Nachmittag vorbeikommen. Mischa änderte den Kurs, hielt auf den kleinen Hafen zu und legte unter Hartmuts Augen am Steg an. Noch ein Problem, das er lösen musste, falls er abhaute. Hartmut war das Auge und Ohr der Stasi. Er hatte hier alles unter Kontrolle. Wie konnten sie verschwinden, ohne dass er es mitbekam? Und dann waren da noch die bewaffneten Postenpaare, die am Strand patrouillierten. Bei Dunkelheit wurden sie von Scheinwerfern unterstützt. Nachts abzuhauen würde nicht funktionieren. Sollten sie es tagsüber versuchen? Unter aller Augen? All diese Überlegungen waren noch nicht ausformuliert. Wie Schatten ballten sie sich in ihm, verdichteten sich, um vielleicht ein Plan zu werden.

Hartmut schlurfte auf dem Steg heran. Er trug eine Trainingshose und ein T-Shirt, unter dem sich eine beachtliche Bierplauze wölbte. »Moin Mischa.«

»Moin Hartmut.« Er vertäute das Boot, Hartmut packte mit an. »Pass auf, dass dir nicht noch Schwimmhäute wachsen, so oft, wie du auf dem Wasser bist.«

Mischa gelang ein Lachen. »Macht einfach Spaß.«

»Vor allem mit Annett. Ist sie jetzt deine Freundin?«

»Nee, meine Großtante.«

Jetzt war es Hartmut, der lachte. Gemeinsam zogen sie die Persenning über das Boot. Es sah nach Regen aus.

Mischa verabschiedete sich und radelte die zwei Kilometer zur Datsche seiner Eltern, die noch im Ungarn-Urlaub weilten. Sandro war schon da. Er saß auf der Schaukel, die im Apfelbaum hing, und sprang ab, als Mischa kam.

Mit zwei Flaschen Störtebeker setzten sie sich in die Hollywoodschaukel, die der ganze Stolz von Mischas Mutter war. Sie legten die Füße auf den Gartentisch, schnippten die Kronkorken weg und stießen an. Eine Weile schwiegen sie, und Mischa spürte, dass seinen Freund etwas bedrückte. Es war kein gutes Schweigen. »Alles in Ordnung mit dir?«

Sandro ließ den Kopf in den Nacken fallen und stieß die Luft aus, bis die Fransen am Volant tanzten. Es klang wie ein großer Seufzer.

»Was ist los?«

»Ich sitze in der Klemme. Oder besser gesagt in einer Zwickmühle. Oder noch treffender formuliert: Ich sitze in der Scheiße. Bis zum Hals.«

»Was ist passiert?«

Sandro knallte die Füße auf den Boden und starrte zwischen den gespreizten Beinen auf die Waschbetonplatten. »Du erinnerst dich, dass Jenny im Frühjahr nicht die nötige Punktzahl für die Qualifikation zur DDR-Jugendspartakiade erreicht hat?«

»Ein Versehen. Ich dachte, das hat sich geklärt.«

»Das war kein Versehen, sondern eine Erpressung. Wenn ich nicht an die Stasi berichte, was die Leute von der Friedens- und Umweltgruppe treiben, kann meine Schwester ihre Karriere als Eiskunstläuferin vergessen.«

»Was!«

»Ist so.« Ein Stasi-Mitarbeiter hatte ihm eines Tages Ende Januar aufgelauert und zu überzeugen versucht, IM zu werden. Natürlich hatte Sandro sich geweigert. Die Stasi würde keinen Denunzianten aus ihm machen. Daraufhin hatte das MfS die Muskeln spielen lassen, Jennys Punktestand nach unten manipuliert und so von der Qualifikation ausgeschlossen. »Die Kleine war fix und fertig. Das heulende Elend. Es ging ihr richtig mies. Was hätte ich denn tun sollen?«

»Ich weiß.« Mischa hatte es miterlebt. »Du bist also IM?«, stellte er fest. »Warum hast du nichts gesagt?«

Sandro lachte. »Warum wohl? Damit brüstet man sich ja nicht.«

»Und jetzt? Du verrätst doch den Pfarrer und seine Leute nicht?«

»Bisher konnte ich es vermeiden. Ich habe nur harmlosen Kram berichtet. Doch damit geben sie sich nicht mehr zufrieden. Sie wollen belastendes Material gegen Bernd. Ich kann ihn nicht verraten. Doch dann wird Jenny im November nicht bei den Meisterschaften antreten. Das ist so ein Scheiß-Staat!« Sandro hob die Flasche und warf sie gegen den Apfelbaum. Scherben spritzten im Sonnenschein. »Das ist krank! Man sollte abhauen! Urlaub in Ungarn und sich dann irgendwie über die Grenze nach Österreich durchschlagen.«

»So einfach ist das nicht.« Mischa entschied, seinen vagen Plan für sich zu behalten. Falls er mit Annett über die Ostsee in die Freiheit segelte, war es besser, wenn niemand davon wusste. Die Stasi würde ihre Freunde und Familien verhören, und am Ende würden Mitwisser im Gefängnis landen. Falls er sich dazu entschied. Betonung auf falls. Er wusste nicht, ob er so mutig war. Und ob er Annett mit hineinziehen wollte. Er wusste nur, ohne sie würde er nicht gehen.

»Was willst du jetzt tun?«

»Keine Ahnung. Hast du eine Idee, wie ich aus dieser Sache rauskomme?«

Sie berieten, welche Möglichkeiten es gab. Das bittere Fazit lautete: keine. Es war ein Spiel, in dem es nur Verlierer gab. Entweder Jenny oder Bernd. Und Sandro sowieso, aus dem die Stasi einen Verräter machte. Bis Sandro eine Idee hatte. »Wenn sie mich schon zwingen, nach ihren Regeln zu spielen, sollte ich etwas davon haben. Ich werde die Ausmusterung verlangen und die Zusage für einen Studienplatz.«

»Und dafür verrätst du Bernd?«