Das Geheimnis - Ellen Sandberg - E-Book
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Das Geheimnis E-Book

Ellen Sandberg

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Beschreibung

Die Zeit heilt alle Wunden. Doch das Gewissen heilt sie nicht.

Nach dem Tod ihrer Mutter muss Ulla entscheiden, ob sie deren Häuschen am Chiemsee verkaufen soll. Eigentlich sollte ihr die Entscheidung leicht fallen, denn ihre Mutter verließ die Familie, als Ulla neun Jahre alt war. Und das Gefühl, verstoßen worden zu sein, nagt auch vierzig Jahre später noch an ihr. Doch als Ulla das Haus aufräumt, das sie seit ihrer Kindheit nicht betreten hat, macht sie eine überraschende Entdeckung. Denn offenbar hatte ihre Mutter kurz vor ihrem Tod den Mut gefasst, ihrer Tochter zu erzählen, warum sie sie damals verließ. Welche Erinnerungen sie zeitlebens quälten. Und dass sie als junge Frau eine Entscheidung treffen musste, die sie sich nie vergeben konnte. Je mehr Ulla über das Leben ihrer Mutter herausfindet, desto beunruhigter fragt sie sich, was tatsächlich hinter ihrem Tod steckt …

»Bestsellerautorin Sandberg ›at her best‹: überraschende Wendungen, dennoch immer plausibel, spannend und clever bis zur letzten Seite.« Die Presse am Sonntag

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Seitenzahl: 531

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ELLEN SANDBERG arbeitete zunächst in der Werbebranche, ehe sie sich ganz dem Schreiben widmete – mit riesigem Erfolg: Ihre psychologischen Spannungs- und Familienromane, die immer monatelang in den Top Ten der SPIEGEL-Bestsellerliste stehen, bewegen und begeistern zahllose Leserinnen und Leser – wie zuletzt Das Erbe und Die Schweigende. Auch unter ihrem bürgerlichen Namen Inge Löhnig veröffentlicht sie erfolgreiche Krimis.

»Meisterhafte Erzählkunst verbindet sich bei dieser Autorin mit psychologischer Spannung.« Süddeutsche Zeitung

»Ein Familienroman voller psychologischer Abgründe um Ereignisse aus der Vergangenheit.« BILDderFRAU über »Die Schweigende«

»Drei Schwestern, ein Mord und jede Menge Lügen. Die fein gezeichneten Figuren machen es schwer, das Buch aus der Hand zu legen.« stern über »Der Verrat«

»Ein Buch, das Geschichte auf geradezu erschreckend spannende Weise lebendig werden lässt. Ein absolutes Muss.« WDR5 über »Die Vergessenen«

Außerdem von Ellen Sandberg lieferbar:

Die Vergessenen

Der Verrat

Das Erbe

Die Schweigende

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ELLEN SANDBERG

DAS GEHEIMNIS

ROMAN

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Copyright © 2021 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München.

www.ava-international.de

Cover: Favoritbüro

Covermotiv: ©the_burtons / Getty Images; ©LianeM, Evannovostro, Rusya007, Kriengsuk Prasroetsung / Shutterstock

Umsetzung E-Book: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-27176-3V005

www.penguin-verlag.de

Helga

Moarhof am Chiemsee Mai 1975

An dem Tag im Mai, als Helga sich entschloss, endlich die Wahrheit zu offenbaren, zog von Südwesten ein Gewitter heran. Wolken verdunkelten den Himmel. Graues Licht senkte sich über die Leinwand. Helga legte den Pinsel beiseite und trat ans offene Atelierfenster.

Die Luft war warm und schwül, und der Duft des Flieders schwer und süß. In den Obstbäumen verstummten die Vögel. Zwei von Justus’ und Franziskas Leghorn-Hennen suchten Zuflucht in der Scheune, während einige Schwalben im Tiefflug den Kuhstall des Nachbarhofs ansteuerten und jenseits des Staketenzauns die alte Kameter-Bäuerin mit dem Wäschekorb in den Gemüsegarten schlurfte und Helga kaum eines Blicks würdigte. Sie schenkte niemandem auf dem Moarhof wirklich Beachtung. Die Aussteiger waren mehr oder weniger Luft für sie. Gammler. Hippies. Stadtmenschen, die keine Ahnung vom Leben auf dem Land hatten. Studierte, die ein Schaf nicht unbedingt von einer Ziege unterscheiden konnten und einen Boskop nicht vom Gravensteiner. Auch die jahrelange Nachbarschaft hatte wenig daran geändert.

Während die Alte die Wäsche von der Leine nahm, erschien ihre Schwiegertochter in Helgas Blickfeld. Eine freundliche und aufgeschlossene Frau. »Jessas«, rief sie zu Helga hinüber. »Des gibt a Wetter.« Mit der Hand wies sie zum Himmel und lief weiter zum Frühbeet, um die Gemüsesetzlinge abzudecken.

Graphitgraue Wolken mit einem ockerfarbenen Streifen spiegelten sich im Chiemsee, der einen Kilometer entfernt am Fuß des Hangs lag. Sie hingen tief über der Landschaft, verschatteten Felder und Wiesen, verbargen den Gipfel des Hochfelln und verdunkelten den Nachmittag. Noch war es ruhig. Als ob die Natur in einem Moment der Konzentration den Atem anhielt, um ihre Kraft zu bündeln. Doch jeden Augenblick konnte das Unwetter losbrechen.

Helga ging vom Atelier in den Wohnbereich ihres Häusls, schlüpfte in die Gummistiefel, streifte den gelben Friesennerz über und trat vor die Tür. Gerade rechtzeitig zur Ouvertüre des Spektakels. Es begann sehr sacht. Beinahe behutsam. Eine erste Bö wirbelte Staub und Blätter auf. Vereinzelte Tropfen fielen warm und schwer. Helga zog die Kapuze über den Kopf, versenkte die Hände in den Taschen und ging los. Als es zu regnen begann, öffnete sie das Tor, das auf den Weg hinunter zum See führte. Der Wind frischte plötzlich auf, fegte ihr die Kapuze vom Kopf und zerrte am schulterlangen Haar. Von einem Moment auf den anderen brachen die Wolken und Regen pladderte in dicken Fäden herab. Kalte Rinnsale liefen ihr übers Gesicht und unter die Jacke. Die nächste Bö klatschte ihr die nassen Haarsträhnen um die Ohren. Sie zog die Schultern hoch und ging weiter. Angespannt. Wartend.

Wetterleuchten über dem See. Donnergrollen in den vorübereilenden Wolken, angetrieben vom Wind, der sich zum Sturm auswuchs. Plötzlich war er da, brach los, fuhr in die Bäume, schüttelte sie, riss Blätter und Zweige ab. Ein Heulen legte sich über die Landschaft, wie das Klagen verlorener Seelen. Beinahe waagrecht trieb der Sturm den Regen vor sich her. Innerhalb von Sekunden war die Jeans durchweicht, das Wasser lief in Bächen von der Regenjacke. Sie zog sie aus, ließ sie achtlos fallen. Krachend schlug ein Blitz in den See, der Donner folgte auf dem Fuß. Hagelschloßen schossen vom Himmel, prasselten nieder. Trafen sie an Kopf und Schultern, an Brust und Beinen. Eisige Geschosse. Groß wie Murmeln. Dutzendfacher dumpfer Schmerz. Helga ging weiter. Die Wiese wurde weiß. In einem Baum neben ihr barst mit einem Knall ein Ast und stürzte zu Boden. Die Luft war elektrisch geladen, roch nach Ozon. Sie riss sich die Bluse vom Leib und streckte sich dem Inferno entgegen.

Motorenlärm störte die Unwettermusik. Bremsen quietschten. Ein orangeroter Käfer hielt neben ihr. Marlene sprang heraus. »Helga! Du hast sie ja nicht mehr alle!« Ihre Freundin zog sie zum Wagen. »Soll dich ein Blitz erschlagen oder ein umstürzender Baum?« Von Marlenes kreisrunder John-Lennon-Brille perlten Regentropfen. Ihre Igelfrisur wurde nass.

Die Anspannung ließ nach. In Helga stieg ein Lachen auf, als sie sich auf den Beifahrersitz fallen ließ. Schließlich prustete sie los. Marlene schüttelte den Kopf. Sie holte Bluse und Regenjacke, warf beides auf die Rückbank und brachte Helga zurück zum Häusl.

In der Küche nahm Marlene ein frisches Geschirrtuch aus dem Schrank und rubbelte sich die kurzen kupferrot gefärbten Haare trocken. Der Ansatz war grau meliert. Wir werden alt, schoss es Helga durch den Kopf. Wer hätte das gedacht? Ich jedenfalls nicht.

»Zieh dir was Trockenes an. Ich mach uns inzwischen Tee.«

»Jawohl.« Helga konnte es nicht lassen und schlug die Hacken in den Gummistiefeln zusammen. Doch ihre Freundin meinte es nur gut mit ihr. Schon immer. Genau genommen seit über dreißig Jahren, seit sie sich in Dresden auf der Kunstakademie kennengelernt hatten.

Im Bad zog Helga die nassen Sachen aus. Die Hagelschloßen hatten rote Flecken auf der Haut hinterlassen, die morgen blau sein würden. Es war nicht wichtig. Sie rubbelte die Haare trocken und betrachtete ihr Spiegelbild. Wieder einmal erschien sie sich fremd. Seit jenem verhängnisvollen Tag vor dreißig Jahren war das so. Eine Unbekannte blickte ihr aus dem Spiegel entgegen. Scharf stieß Helga die Luft zwischen den Zähnen hervor, wie immer, wenn sie daran denken musste.

Sie griff zum Föhn. Der warme Luftstrahl tat gut. Erst jetzt bemerkte sie, wie kalt ihr war. Wer bist du?, fragte sie sich und musterte ihr Spiegelbild erneut. Eine aparte Einundfünfzigjährige, mit blauen Augen und kastanienbraunem Haar. Eine ungewöhnliche Kombination, die Männer anziehend fanden. Weiche Gesichtszüge, obwohl sie sich hart fühlte. Unerbittlich. Wie in Stein geschlagen. Ihr Äußeres strafte ihr Inneres Lügen. Sie war eine Fälschung. Kein unschuldiges Kind, das durch den Regen lief, staunend und unbedacht, sondern eine Davongekommene, die ihr Schicksal herausforderte.

Niemand verstand, was sie tat. Was ihre Kunst zu bedeuten hatte. Die meisten hielten es nicht einmal für Kunst. Chris, ihr Ex-Mann, hielt sie für psychisch krank. Dabei war sie relativ klar im Kopf und wusste, was sie tat. Meistens jedenfalls. Auch wenn sie es manchmal nicht ganz im Griff hatte. So wie vorhin, als sie ihrem Impuls gefolgt war, sich von einem verdammten Blitz erschlagen zu lassen. Damit es endlich ein Ende hatte.

All das hatte seine eigene Logik, die sie niemandem erklären konnte. Auch nicht ihrer besten Freundin Marlene, obwohl sie sich schon mehr als ihr halbes Leben kannten.

Und schon gar nicht ihrer Tochter. In den vergangenen Tagen hatte sie immer wieder an Ulla gedacht. Bald wurde sie fünfzehn. Wie es ihr wohl ging? Von Chris bekam sie ab und zu ein Foto und ein paar Informationen. Ungefragt. Weil er annahm, dass es sich so gehörte. Dass eine Mutter wissen sollte, wie ihr Kind sich entwickelte. Bis auf einen Brief, den sie Ulla jährlich zum Geburtstag schrieb und auf den sie nie eine Antwort erhielt, gab es seit Jahren keinen Kontakt. Ihr Kind kämpfte nicht, es hatte sich entweder mit der Situation arrangiert oder zahlte es ihr mit gleicher Münze heim.

»Tee ist fertig! Kommst du?«

Ulla glaubte sicher dasselbe wie Chris: Ihre Mutter wäre verrückt.

»Alles in Ordnung?«, rief Marlene, als Helga nicht sofort antwortete.

»Ja. Ich komme gleich.« Sie schlang das Tuch mit dem Paisley-Muster um den Kopf und knotete es im Nacken. Im Schlafzimmer schlüpfte sie in die Schlaghose, die sie bei ihrem letzten Besuch in München gekauft hatte, streifte Pulli und Clogs über und ging in die Küche. Sie war noch so eingerichtet wie damals, als Helga auf diesen heruntergekommenen Bauernhof gezogen war. Eckbank und Holztisch. Ein Elektroherd und ein Küchenbuffet aus den Dreißigerjahren. Helga hatte die Möbel abgeschliffen, neu grundiert und mit Ornamenten, Mustern und Augen bemalt. Sie sahen fröhlich aus, trotz des schwarzen Untergrunds. All die bunten Formen, Zeichen und Symbole, deren Bedeutung nur sie kannte.

Helga setzte sich auf die Eckbank zu Marlene. Es duftete nach Jasmintee und Sandelholz. Im Stövchen brannte ein Teelicht und ein Räucherkegel in einer kleinen Tonschale, die Marlene getöpfert hatte. Der Regen rann an den Sprossenscheiben herab. Der Sturm ließ nach, das Gewitter zog weiter.

Marlene fragte nicht, warum sie bei diesem Unwetter halb nackt draußen herumgelaufen war. Sie wusste, dass sie keine Antwort bekommen würde. Stattdessen nahm sie die Schuhschachtel mit den Musikkassetten vom Fensterbrett, suchte eine heraus und hielt sie hoch. »Wie wär’s mit den Doors? Riders On The Storm. Der passende Soundtrack.« Lachend schob sie die Kassette in den Rekorder.

Sie hörten Musik und tranken Tee. Schließlich teilten sie sich einen Joint und dann ging Marlene hinüber zur Schmiede, die sie und ihr Freund Ansgar als Wohnhaus und Atelier umgebaut hatten. Die beiden lebten dort mit Oliver, Marlenes Sohn. Ansgar war Bildhauer. Oliver besuchte das Gymnasium in Traunstein und Marlene töpferte für den Broterwerb. Eigentlich war sie akademische Malerin, genau wie Helga. Doch von der Kunst allein konnte keiner der Künstler auf dem Moarhof leben. Jeder hatte einen Job nebenbei. Helga arbeitete stundenweise als Zimmermädchen in einem Hotel. Vielleicht nicht mehr lange.

Auf der Gruppenausstellung im April in Salzburg hatte ihr ein Düsseldorfer Galerist seine Karte in die Hand gedrückt. Elias Rothert. Er sah nicht wie ein Galerist aus, sondern mit seinem Vollbart und der Glatze wie ein Holzfäller, den man in einen Anzug gesteckt hatte. Er trug tatsächlich Anzug. Das war so ungewöhnlich in dieser Szene, dass es schon wieder extravagant war. Und das gefiel ihr. Genauer gesagt: Er gefiel ihr. Er hatte etwas an sich, das sie anzog. Eine Aura, wie ein Versprechen auf Ruhe und Frieden. Auf Erfüllung. Elias fand ihre Arbeiten interessant. Vor allem die Fotografien faszinierten ihn und er überlegte, Helga zu vertreten. Ob sie mehr davon habe? Dummerweise hatte sie die Super-8-Filme erwähnt, denn die Fotos waren nur ein Nebenprodukt. Die Filme wollte er nun sehen und hatte seinen Besuch angekündigt. Helga seufzte und legte den Kopf in den Nacken. Ansehen konnte er sie. Vielleicht. Auch wenn er sie nicht verstehen würde. Sie waren unverkäuflich. Deshalb musste sie ihm stattdessen die Gemälde schmackhaft machen.

Sie stellte sich ans Fenster. Noch war sie stoned und fühlte sich ein wenig schwebend. Im Hof hatte der Sturm Spuren hinterlassen. Überall Blätter und Zweige. Apfelblüten schwammen in Pfützen. Aus dem Tipi auf der Wiese kam der Gockel stolziert und sie musste wieder an Ulla denken. Das Indianerzelt war der Lieblingsort ihrer Tochter gewesen, als sie noch auf den Moarhof gekommen war. Seit sechs Jahren hatte sie ihre Tochter nicht gesehen und kein Wort mit ihr gesprochen. Es war Helgas eigener Wunsch gewesen. Wobei, was hieß schon Wunsch?

Sicher hasst sie mich, dachte Helga. Für sie bin ich eine Egoistin. »Kann mir eigentlich egal sein«, sagte sie und lehnte den Kopf gegen die Scheibe. Ihre Tochter nicht sehen zu können, war ein ständiger Schmerz.

Natürlich war es ihr nicht gleichgültig, mit welchem Bild ihrer Mutter Ulla durchs Leben ging. Doch wie sollte Helga all das erklären? Einfach der Reihe nach, dachte sie. Doch einfach war das nicht.

Die letzten Takte von LA Woman erklangen. Das Band war zu Ende. Sie nahm es aus dem Rekorder, um es zu wenden, und hielt inne. Seit Jahren wusste sie, dass sie ihre Geschichte einmal erzählen musste. Und heute, ausgerechnet an diesem Tag im Mai, an dem kein Blitz sie erschlagen hatte – denn dieses verdammte Schicksal ließ sie immer davonkommen –, an diesem Tag, in diesem Augenblick, erschien es ihr richtig, endlich damit zu beginnen.

Sie legte die Kassette in den Rekorder und drückte die Aufnahmetaste.

»Hallo Ulla, Kleines. Ich bin es, Helga. Deine Rabenmutter. Es ist ein regnerischer Tag im Mai. Ich sitze hier in meinem Häusl auf dem Moarhof und grad kam der Gockel aus dem Tipi … Du erinnerst dich sicher an das Zelt. Manchmal hast du darin übernachtet, mit Oliver und den anderen Kindern. Jedenfalls will ich versuchen, dir zu erklären, weshalb du nicht bei mir leben kannst. Das wird nicht leicht. Aber du sollst wissen, dass es nichts mit dir zu tun hat, es ist nicht deine Schuld. Sondern meine.«

Ulla

München Dezember 1969

Sechs Jahre zuvor

Es war ihre Schuld. Was hatte sie nur falsch gemacht?

Ulla spürte den weichen Stoff des Sakkos an ihrem Gesicht, roch das Rasierwasser ihres Vaters und kämpfte die Tränen nieder. Sie würde jetzt nicht heulen! Trotzdem verschwamm das Wohnzimmer vor ihren Augen, als Papa die Umarmung löste. »Du bist doch ein vernünftiges Mädchen und wirst dich mit der neuen Situation zurechtfinden.«

Er hatte sich heute extra freigenommen, um sie aus der Klinik abzuholen, und sie war so froh gewesen, endlich heimzukommen. Vor allem aber freute sie sich auf den Chiemsee. Auf den Moarhof, auf ihre Freunde und natürlich auch auf Mama. Doch jetzt durfte sie plötzlich nicht mehr dorthin. »Keine Besuche mehr bei Helga. Sie will dich nicht mehr sehen.« Das hatte er gerade gesagt und dann den Satz vom vernünftigen Mädchen hinterhergeschoben.

Er saß neben ihr auf der Couch und wusste für einen Moment nicht weiter, denn er schwieg, während Ulla die rettende Idee kam: Es stimmte nicht. Natürlich wollte Mama sie sehen. Es war eine Lüge. Sicher hatte Vera das ausgeheckt. Ihre Stiefmutter. Sie wischte die Träne weg, die sich gelöst hatte und an der Wange hinablief. Den ersten Tag daheim, nach so langer Zeit, hatte Ulla sich anders vorgestellt.

»Es ist besser so. Du hast ja zu spüren bekommen, wie verantwortungslos sie ist.«

Natürlich hatte sie das. Beinahe vier Monate Krankenhaus und Rehabilitation lagen hinter ihr. »Dein Leben verdankst du nicht nur einem Schutzengel, sondern einem ganzen Geschwader. Anders ist es nicht zu erklären, dass du noch hier auf Erden weilst.« Das hatte Schwester Renate mehr als einmal gesagt und Dr. Blum hatte es mit anderen Worten wiederholt. Ohne die Engel.

»Helga hat ausnahmsweise einmal eine vernünftige Entscheidung getroffen. Vera wird dir eine gute Mutter sein.«

Ulla konnte Vera nicht leiden und ihren Vater Chris in diesem Moment auch nicht. Er war ein Anzug tragender Spießer. So hatte Mama ihn mal genannt, und es stimmte. Langweilig und superkorrekt. Mit seinem kurz geschnittenen Haar und der Krawatte. Mit den glatt rasierten Wangen und der Pilotenbrille. Oberlangweilig! So ganz anders als Mamas Künstlerfreunde in der Kommune.

»Sie ist eine blöde Tussi.« So, jetzt hatte sie es gesagt. Das Wort hatte sie bei ihrer Mutter aufgeschnappt. Draußen, am Chiemsee. Wohin sie jetzt angeblich nicht mehr durfte.

»Ich möchte, dass du sie respektierst. Also verkneife dir solche Bemerkungen.«

Ulla nickte, weil er es erwartete. Trotzdem war ihre neue Mutter eine Tussi.

»Ich muss zurück in die Firma. Ist das in Ordnung? Oder soll ich heute daheimbleiben?«

»Du kannst ruhig fahren.« Ulla hob den Kopf und sah ihm in die Augen. »Ich habe ja eine Stiefmutter, die sich um mich kümmert.« Es war eine Provokation, denn Vera war nicht nur ihre neue Mutter, sondern wesentlich länger Papas engste Mitarbeiterin. Natürlich saß sie jetzt an ihrem Schreibtisch. Die neue Frau des Chefs. Sie hatte gar keine Zeit, sich um eine Neunjährige zu kümmern.

»Übertreibe es nicht, mein Fräulein.« Mit erhobenem Zeigefinger drohte er ihr, nahm der Geste aber mit einem Lächeln die Schärfe. Es war nicht ernst gemeint und Ulla erkannte, dass das ein guter Trick war. Jetzt musste er nicht weiter mit ihr reden, ob ihr die neue Situation passte oder nicht. Dass sie zu ihrer Mutter wollte.

Er wuschelte ihr noch durchs Haar und verschwand aus dem Zimmer. »Bis heute Abend.«

Kurz darauf erschien Irene. Sie war der gute Geist im Haus und kümmerte sich um alles, was ihre Mutter nicht auf die Reihe bekommen hatte. Waschen, bügeln, kochen. Den ganzen Haushalt. Ihr Vater hatte Irene vor Jahren engagiert, als kleine schwarze Käfer aus dem Brotkasten gekrochen waren und Larven von Speisemotten aus dem Vorratsschrank. Als die Staubmäuse sich in den Ecken sammelten und keine Wäsche mehr im Schrank war und die Küche völlig versifft. Ein Jahr später hatte Mama ihn dann verlassen und Ulla gleich mit.

»Na, wieder auf den Beinen? Geht’s dir gut?«, fragte Irene. Sie wäre einfach gestrickt, hatte Vera mal über sie gesagt. Ein wenig dumm, vielleicht sogar einfältig. Aber nett war sie. Ulla mochte sie und nickte, obwohl sie beinahe losgeheult hätte.

»Schön. Soll ich deine Tasche auspacken?«

»Das mache ich selbst.«

»Irgendwelche Wünsche, was du zu Mittag essen willst? Am ersten Tag wieder daheim?«

Ulla wünschte sich Nudeln mit Tomatensoße und eine dicke Schicht Reibekäse obendrauf. Das hatte sie im Krankenhaus nicht bekommen und auch während der Reha nicht, als sie das Laufen wieder gelernt hatte.

Mittags wurde immer in der Küche gegessen. Irene stellte das Essen auf den Tisch, wünschte einen guten Appetit und verschwand in der Waschküche.

Sosehr sie sich Nudeln mit Tomatensoße gewünscht hatte, sowenig schmeckten sie ihr jetzt. Lustlos schob Ulla die Spaghetti hin und her. Es musste eine Lüge sein, dass Mama sie nicht mehr sehen wollte. Helga war zwar anders als die meisten Mütter – durchgeknallt, hatte Vera sie genannt –, aber ihre Mutter liebte sie und freute sich, wenn sie nach Moosleitn kam.

Ulla fasste einen Entschluss. Sie würde diese Lüge auffliegen lassen. Oben in ihrem Zimmer nahm sie das rosa Plastik-Sparschwein vom Schreibtisch. Es war ein Geschenk der Sparkasse zum Weltspartag. Der Schlüssel war mit einem Klebestreifen auf der Unterseite befestigt. Sie schüttelte Münzen und Scheine heraus und steckte sie in die Geldbörse zu ihrem Taschengeld. Die Reisetasche würde sie bei Mama auspacken. Sie nahm sie vom Bett und ging nach unten. Irene war noch in der Waschküche und Ulla rief die Kellertreppe hinunter, dass sie zu Hermine gehen würde, ihrer besten Freundin, die zwei Trambahnhaltestellen entfernt wohnte.

»Die wird sich freuen, dich wiederzusehen«, rief Irene nach oben. »Aber sei pünktlich zum Abendessen zurück.«

»Logisch.«

Sie zog die Winterstiefel an, schlüpfte in den blauen Dufflecoat mit dem Plüschbesatz an der Kapuze, wand sich den Schal um den Hals und ging mit festen Schritten zur Haltestelle. Sie wäre trotzig, würde Papa jetzt sagen. Kann schon sein, dachte Ulla. Dann war sie eben trotzig. Die Tram kam. Sie löste ein Billett, fuhr quer durch München und stieg am Hauptbahnhof aus. Es war ein großes Gebäude. Überall wuselten Menschen herum. Lautsprecherdurchsagen erklangen. Der Duft von gebrannten Mandeln stieg ihr in die Nase. In der Haupthalle stand ein großer Weihnachtsbaum mit elektrischen Kerzen. Jemand eilte vorbei und rempelte sie an. »Pass doch auf!« In einer Ecke saßen zwei Obdachlose auf einem Stück Wellpappe und sahen zu ihr hinüber. Einer schnitt eine Grimasse und ihr wurde ganz bang. Vielleicht war es besser umzukehren?

Doch sie war ja ein vernünftiges Mädchen, wie Papa gerne sagte, und patent obendrein. Wenn sie seine Lüge entlarven wollte, durfte sie jetzt nicht kneifen. Deshalb steuerte sie die Wand mit den Fahrplänen an. Sie hingen hinter Glas. Von Mama wusste sie, dass man mit dem Zug Richtung Salzburg bis Traunstein fahren musste und von dort mit dem Bus weiter nach Chieming. Die letzten zwei Kilometer nach Moosleitn konnte sie laufen oder per Autostopp fahren. Sie studierte den Fahrplan und entdeckte einen Zug, der kurz vor zwei abfuhr.

In der Halle war nicht viel los. Am Schalter stand nur eine Frau vor ihr. Sie brauchte eine Reiseauskunft nach Hamburg und es dauerte ewig. In der Zwischenzeit stellte sich jemand hinter Ulla und summte vor sich hin. Sie drehte sich um. Es war eine Hippiefrau. Genau wie Mama. Lange Haare. Eine kreisrunde Brille mit rosa Gläsern. Sie trug einen Wildledermantel mit zotteligem Lammfellbesatz, einen braunen Schlapphut und lächelte Ulla an. »Du bist dran.« Tatsächlich. Die Frau vor ihr war fertig und Ulla trat an den Schalter. Ein Bahnbeamter mit Schnauzbart saß auf der anderen Seite. »Na, wo soll’s denn hingehen?«

»Nach Traunstein.«

»Nach Traunstein. So, so. Eine Karte?«

»Ja.«

»Einfach?«

Ulla verstand nicht, was er meinte.

»Einfach oder eine Hin- und Rückfahrkarte?«

»Einfach«, entschied sie. Sie würde bei Mama bleiben und künftig in Traunstein zur Schule gehen, zusammen mit ihren Freunden Bene und Oliver. Mamas Häusl war zwar winzig, doch sie brauchte nicht viel Platz.

Der Mann musterte sie. »Wie alt bist du denn?«

Vermutlich war es besser, wenn sie sich älter machte. »Zehn.«

»Wissen deine Eltern denn von deinem Ausflug?«

Die Röte schoss ihr ins Gesicht. Ihre Wangen begannen zu glühen. So ein Mist!

»Also nicht. Ich glaube, wir gehen jetzt mal zur Bahnpolizei.«

Die Frau mit dem Schlapphut legte ihr die Hand auf die Schulter und lächelte sie wieder an. »Das hast du gut gemacht, mein Engel.« Dann wandte sie sich an den Schalterbeamten. »Ich erziehe meine Tochter zur Selbstständigkeit. Doch wir brauchen natürlich zwei Karten. Einfach. Nach Traunstein.« Ulla blieb beinahe der Mund offen stehen, doch sie schloss ihn schnell wieder und stieg zwanzig Minuten später in den Zug. Allein. Ihre Ersatzmutter wollte nach Augsburg. Sie hatte die Fahrscheine gekauft und Ulla hatte ihr das Geld für ihren gegeben. »Meinen tausche ich an einem anderen Schalter um«, hatte die Frau erklärt. »Bist du von zu Hause ausgerissen?«

»Nicht wirklich. Ich fahre zu meiner Mutter, die wohnt am Chiemsee. Meine Eltern sind geschieden.«

»Verstehe. Dicke Luft mit dem Papa. Dann gute Fahrt.«

Das Abteil war beinahe leer. Ulla suchte sich einen Platz am Fenster. Die Anspannung ließ nach, als der Zug sich in Bewegung setzte, und sie fragte sich, weshalb die Hippiefrau ihr wohl geholfen hatte. Vielleicht weil der Bahnbeamte die Polizei einschalten wollte. Die Bullen, wie man sie in der Moarhof-Kommune verächtlich nannte. Vertreter eines revanchistischen Staats. Das hatte Justus mal gesagt. Ulla hatte keine Ahnung, was dieses Wort bedeutete. Aber sicher nichts Gutes.

Bald lag die Stadt hinter ihr. Die Landschaft wurde weit und weiß. In drei Wochen war Weihnachten. Und die Aussicht, in der Moarhof-Kommune mit Mamas Künstlerfreunden zu feiern, gefiel ihr. Sie würde eine Menge Spaß haben. Mit Bene und Oliver konnte sie ein Iglu bauen oder eine Schneeburg. Ansgar machte bestimmt Feuer auf der Wiese hinterm Haus. Das machte er immer. Zu jeder Jahreszeit. Bratäpfel aus dem Kachelofen. Plätzchenbacken mit Marlene oder Franziska. Und wenn es in Mamas Häusl doch zu eng war, konnte sie in ein WG-Zimmer im Haupthaus ziehen, wenn grad eines frei war.

Kurz vor vier erreichte der Zug Traunstein. Es wurde schon dämmrig. Sie fragte eine alte Frau, wo der Bus nach Chieming abfuhr, und erhielt die Auskunft: Vor dem Bahnhof. Die Fahrt dauerte nicht lange, trotzdem war es schon dunkel, als er den Ort erreichte und sie sich zu Fuß auf die letzte Etappe machte.

Der Wind war eiskalt. Er wehte den Schnee über die Landstraße und riss ihr weiße Atemfahnen vom Mund. Ulla hatte die Handschuhe vergessen und ihre Finger wurden zu Eiszapfen. Ständig wechselte sie die Reisetasche von einer Hand in die andere, um wenigstens eine in der Manteltasche ein wenig anzuwärmen. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen. Sie kam nur langsam voran. In zwei Kilometern Entfernung lag Moosleitn auf einem Hügel. Es schien ihr unendlich weit entfernt. In den Fenstern der Bauernhöfe brannten Lichter. Die ersten Sterne zeigten sich am klaren Himmel und die sanften Hügel schliefen unter dicken Decken aus Schnee. Es sah alles so schön heimelig aus. Wie in den Büchern von Astrid Lindgren, und Ulla war stolz auf sich. Sie hatte es beinahe geschafft. Ganz allein. Nur mithilfe der Hippiefrau. Etwa die Hälfte des Wegs lag hinter ihr, als sie das Knattern eines Traktors hörte, der sie überholte und dann hielt. Es war der Kameter-Opa auf seinem blauen Lanz Bulldog. Dick eingemummt in seine gefütterte Lodenjacke. Jetzt löste er eine seiner von jahrzehntelanger Arbeit schrundigen Hände vom Lenkrad und nahm den qualmenden Stumpen aus dem Mund. »Ja, mei, die Ulla. Bist wieder g’sund?« Auf seinem wettergegerbten Gesicht erschien ein Lächeln.

Sie nickte.

»Steig auf. Oder magst lieber laufen?«

Das ließ sie sich nicht zwei Mal sagen. Sie kletterte auf den Beifahrersitz über dem großen Rad und hielt sich fest. Weiter ging es. Knatternd und in Diesel- und Zigarillo-Schwaden gehüllt fuhren sie nach Moosleitn. »Na, Ulla. Was wünschst du dir denn vom Christkindl?«

Dass ich für immer bei meiner Mama bleiben kann, dachte sie. Doch sie sagte es nicht. Vielleicht brachte das ja Unglück. Also zuckte sie mit den Schultern. »Rollschuhe.«

Der Alte lachte. »Mit denen kommst im Winter nicht weit.«

Nach ein paar Minuten Fahrt erreichten sie das Dorf. Der Kameter-Opa stoppte seinen Lanz vor dem Moarhof. »Da samma, Ulla. Sagst deiner Mama einen schönen Gruß.«

»Mach ich.« Sie umarmte den alten Mann, der so vertraut nach Kuhstall roch, bedankte sich fürs Mitnehmen und sah ihm nach, bis er auf dem Nachbarhof den Lanz unter dem Vordach der Scheune abstellte. Sie winkte ihm und wandte sich dann dem Moarhof zu.

Im Erdgeschoss brannte Licht. Durch das Fenster konnte sie Franziska im großen Gemeinschaftszimmer sehen. Im Hof lag der Schnee beinahe kniehoch. Jemand hatte den Weg zu Helgas Häusl und zur Schmiede geräumt, in der Oliver mit seinen Eltern lebte. Plötzlich schlug ihr Herz ein wenig schneller. Mama würde Augen machen!

Mit eiligen Schritten steuerte sie das Häusl an und sah ihre Mutter schon von Weitem. Im Atelier war Licht. Helga stand vor der Staffelei und malte eines dieser seltsamen Bilder, die niemand verstand. Schicht um Schicht trug sie Farben auf. Etliche Lagen. Als wollte sie darunter etwas verstecken.

Zögernd blieb Ulla einen Moment vor der Tür stehen, in Kälte und Dunkelheit, während drinnen Wärme und Licht auf sie warteten. Musik klang leise nach draußen. Ihre Mutter bewegte sich im Takt dazu, während sie malte. Ein buntes Tuch, das im Nacken geknotet war, hielt ihr braunes Haar aus dem Gesicht. Sie war so schön. Viel schöner als Vera. Und sie war lieb. Nur manchmal machte sie verrückte Sachen.

Gleich würde sie überrascht gucken und sie dann lachend in den Arm nehmen. Ja, Ulla! Was machst du denn hier? Was? Ganz allein! Du wirst groß, meine Kleine. So selbständig. Sie würde den Kopf schütteln und in der Küche eine Kanne Kräutertee zum Aufwärmen kochen und ein Räucherstäbchen anzünden, weil Ulla den Geruch von Sandelholz so gerne mochte.

Einen Moment gab sie sich diesem Tagtraum hin. Dann öffnete sie die Tür und trat ein. Ihre Mutter drehte sich um und für einen Moment blitzte Freude in ihrem Gesicht auf. Ein Strahlen und eine Wärme, nach der Ulla sich seit Monaten gesehnt hatte. Doch gleich darauf wurde Helgas Blick kalt und hart. Sie verschloss sich.

Es gelang Ulla nicht, auf sie zuzugehen, sich in ihre Arme zu werfen und ihr Gesicht in ihrem Pullover zu vergraben. Mamas vertrauten Geruch nach Malmittel und Acrylfarbe in sich aufzusaugen und zu wissen, dass alles gut war. Dass Mama sie liebte und natürlich bei sich haben wollte. So wie alle Mütter ihre Kinder liebten.

Dieser kalte Blick hielt sie ab. Ullas Mund wurde trocken. Angst kroch in ihr hoch. Sie brachte keinen Ton heraus.

»Das ist ja eine Überraschung. Setz dich!« Helga wies auf den lila Plüschsessel und Ulla setzte sich, stellte die Reisetasche neben sich ab und sah ihrer Mutter nach, die aus dem Atelier Richtung Küche verschwand.

Eine Sekunde hoffte sie noch, dass Mama Tee kochen würde, doch dann hörte sie das Surren der Wählscheibe und wusste, wen sie anrief. Du miese Verräterin!, dachte Ulla.

Ulla

Juni 2020

Jahrzehnte später passierte Ulla an einem Abend Ende Juni eine Buchhandlung in München-Neuhausen. Sie war mit ihrer Freundin Nora im Garten des Restaurants nebenan verabredet, als ihr Blick auf ein Sachbuch fiel, das im Schaufenster ausgestellt war. Wenn Mütter nicht lieben. Der Titel versetzte ihr einen kleinen Stich, unwillkürlich musste sie an ihre Mutter denken, und sie seufzte. Wenn mich heute jemand fragen würde, was für ein Mensch Helga gewesen war, ich würde nicht von der miesen Verräterin sprechen, dachte Ulla, wie anfangs, sondern von der herzlosen Egoistin. Denn genau das war Helga gewesen. Doch es spielte schon lange keine Rolle mehr.

Ulla wandte sich ab, betrat den Restaurantgarten und sah sich um. Sie war mit Nora verabredet, ihrer Freundin und auch Ex-Schwägerin.

Natürlich war sie noch nicht da. Pünktlichkeit gehörte nicht zu ihren Stärken. Obendrein war die Parkplatzsuche in diesem Viertel Münchens eine Übung in Geduld. Ulla ließ sich vom Kellner einen Platz am Rand anweisen, bestellte einen Spritz als Aperitif und nahm die Maske ab. Der Lockdown war vorüber und das Leben kehrte, bis auf kleinere Einschränkungen, in die gewohnten Bahnen zurück. Auf dem Spielplatz gegenüber tobten Kinder. Nach Wochen nahezu gespenstischer Ruhe war es eine Freude, sie zu hören.

Es war früh und nur wenige Tische besetzt. Alle von Paaren. Eines davon Ende fünfzig, also in etwa so alt wie sie. Die beiden unterhielten sich angeregt und wirkten sehr vertraut. Dieser Anblick versetzte Ulla einen kleinen Stich.

Kurz blitzte die Frage auf, ob sie besser bei Stephan geblieben wäre. Doch diese Idee verwarf sie gleich wieder. Sie hatte als Ehefrau viel zu lange durchgehalten. Es hatte Tage gegeben, an denen hatte sie ihn kaum noch ertragen. Und es hatte nicht nur an seinen wie nebenbei eingestreuten Bemerkungen gelegen, mit denen er sie ständig korrigierte. Immer wusste er alles besser. Irgendwann hatte sie diese Art von Kommentaren für sich nur noch als Knallerbsen bezeichnet. Sie erzielten einen kurzen Effekt und dann waren sie auch schon verpufft. Es war besser gewesen, sich auf keinen Streit einzulassen und ihm nicht zu erklären, dass sie durchaus in der Lage war, sowohl den Geschirrspüler einzuräumen als auch die Musikanlage zu bedienen. Und dass es ihm egal sein konnte, wo die Teller im Spüler standen und wie sie die Musikanlage steuerte. Über die App oder mit den Tasten. Das Ergebnis war dasselbe!

Obendrein hatte Stephan sie ein paar Mal während ihrer vierundzwanzig Jahre währenden Ehe betrogen. Es war nie etwas Ernstes gewesen. Nichts, was ihre Familie hätte gefährden können. Und das war das Einzige gewesen, das sie damals gefürchtet hatte. Die Familie stand für sie an allererster Stelle. Deshalb hatte sie den Mund gehalten, wenn sie ab und zu einen fremden Geruch an ihm wahrgenommen hatte, obwohl es sie natürlich verletzte. Es dauerte nie lange. Ein paar Wochen und dann ging alles wieder seinen normalen Gang. Sie wusste, er würde ihre Ehe nicht aufs Spiel setzen. Einerseits weil er sie und ihre Tochter liebte. Die Familie war auch ihm wichtig. Andererseits weil die Firma, die er leitete, ihr gehörte. Sie hatte sie pflichtschuldig von ihrem Vater übernommen und Stephan nach der Hochzeit die Geschäftsführung überlassen. Weil er das tatsächlich besser konnte. Sie begnügte sich mit dem Bereich Werbung. Das lag ihr mehr als die strategische Seite der Unternehmensführung. Es gab einen fähigen Art Director und ein Team von Designern. Ein Halbtagsjob, wie sie ihn wollte. Das Kind ging vor.

Ulla seufzte. Bei der Scheidung hatte Stephan um die Firma gekämpft. Er hatte aus der kleinen Klitsche ein solides mittelständisches Unternehmen mit dreihundert Mitarbeitern gemacht und wollte es nicht nur weiterhin führen, sondern Miteigentümer sein. Unterstützt von seinem Anwalt, hatte er Ulla mürbe gequatscht, bis sie ihm einen Teil der Firma überschrieb, einen Vertrag unterzeichnete, in dem sie erklärte, sich aus der Unternehmensführung rauszuhalten, und mit einer monatlichen Zahlung zufriedengab. Eigentlich war es eine gute Lösung. Die Firma hatte ihr nie etwas bedeutet. Sie hatte sie ihrem Vater zuliebe übernommen.

Der Kellner kam mit dem Spritz. Ulla trank einen Schluck und überlegte, dass sie besser die Vergangenheit ruhen ließ und sich darauf besann, wo sie heute im Leben stand. War sie glücklich? Oder wenigstens zufrieden?

Stell dir vor, du schreibst einen Roman und musst dich als Figur vorstellen. Wie würdest du das tun? Derartige Gedankenspiele waren ihre neue Marotte, seit sie freiberuflich für einen Verlag arbeitete. Vielleicht würde sie sich so beschreiben: Ulla Langenbach war eine Frau von neunundfünfzig Jahren, deren Wohlstand dazu beigetragen hatte, dass man ihr das Alter nicht wirklich ansah. Sie war glücklich geschieden und Mutter einer erwachsenen Tochter. Eine kontrollierte und beherrschte Frau, die selten die Fassung verlor und wenn, dann im stillen Kämmerlein. Nur niemanden verschrecken. Besser den Ärger herunterschlucken. Das war ihr Lebensmotto.

Über ihr in der Kastanie zankten zwei Vögel. Sie legte den Kopf in den Nacken, konnte sie aber nicht entdecken. Nur wegen ihrer Tochter Sandra hatte sie so lange in der Ehe mit Stephan ausgeharrt, von dem sie sich oft nicht ernst genommen fühlte, dann kam sie sich klein und unzulänglich vor. Eingeengt. Doch sie hatte ein Ziel gehabt, dem sie alles andere unterordnete: Sie wollte es richtig machen. Besser als ihre Mutter. Ihre Tochter sollte ein glückliches Kind sein. Behütet und geliebt. Mittelpunkt einer intakten Familie. Deshalb hatte Ulla gewartet, bis ihre Tochter zum Studium nach Berlin gezogen war. Erst dann hatte sie Stephan um die Scheidung gebeten. Er war aus allen Wolken gefallen. Verständlicherweise. Für ihn war ja alles in Ordnung gewesen. Immer ging es nach seinem Willen. Sie machte ihm keinen Vorwurf, denn es war ihre Entscheidung gewesen, zurückzustecken und auf Streit zu verzichten. Sich ganz auf das Kind und die Familie zu konzentrieren. Natürlich wusste sie, woran es lag: an ihrer eigenen verkorksten Kindheit. An Helga, ihrer Mutter, die nichts von ihr hatte wissen wollen.

Sie ließ ihre Gedanken weiterwandern zu ihrer Arbeit als freiberufliche Gutachterin und Korrektorin, zu der sie durch Zufall gekommen war. Eine Freundin von Nora arbeitete für einen Verlag und hatte händeringend jemanden gesucht, der des Deutschen mächtig war, und das war Ulla. Sattelfest. Sie hatte den ersten Auftrag angenommen und dann weitere. Nicht, weil sie das Geld brauchte, sondern etwas zu tun, und obendrein den Austausch mit den Kollegen schätzte. Ihre größte Sorge war es zu vereinsamen. Zu einer schrulligen Alten zu werden, die Selbstgespräche führte oder ein Dutzend Katzen hielt. Deren verwesende Leiche man eines Tages in der Wohnung finden würde, weil Maden unter der Tür ins Treppenhaus krochen oder die Nachbarn sich über den Geruch beschwerten.

Darauf einen Spritz!, dachte Ulla, hob das Glas und sah Nora den Tisch ansteuern.

»Grüß dich. Entschuldige die Verspätung. Ich habe ewig keinen Parkplatz gefunden.«

Ulla stellte das Glas ab. »Dachte ich mir schon. Schön, dich zu sehen.«

»Fühl dich gedrückt.«

Nora deutete eine Umarmung an und setzte sich. Dass sie auch schon Ende fünfzig war, sah man ihr nicht an. Es lag an der Kleidung – Jeans, weiße Bluse mit Trompetenärmeln und eine locker um die Schultern gelegte Strickjacke – und natürlich an Noras Teenager-Figur. Die Frisur war neu. Der blond gesträhnte Bob nur noch kinnlang und mit sanftem Schwung nach innen geföhnt. Nora war pure Weiblichkeit, während Ulla der knochige, hagere Typ war, beinahe maskulin und Nora obendrein um zehn Zentimeter überragte. Kleider sahen an ihr lächerlich aus, ebenso wie Rüschen oder Schluppen, Schleifen, überhaupt aller Schnickschnack. Daher bevorzugte sie einen schlichten, cleanen Look. Heute eine schwarze Leinenhose und ein ärmelloses schwarzes Top.

Nora bestellte ebenfalls einen Spritz und sie beide den Salat mit Entenbrust. Der Kellner verschwand und Nora strahlte Ulla an. »Na, wie fühlst du dich als werdende Oma?«

Sie verschluckte sich beinahe. »Wieso Oma?«

»Ja, weißt du das noch gar nicht? Sandra ist schwanger. Sie hat es mir gestern erzählt.«

Nora war Stephans Schwester und somit Sandras Tante. Die beiden verstanden sich gut und trafen sich häufig. Ulla hatte sogar die Vermutung, dass Nora ihre Tochter öfter sah als sie selbst. Seit dem letzten Mal waren Monate vergangen. An Weihnachten war das gewesen. An Ostern waren Sandra und ihr Mann Jonas zu seinen Eltern gefahren. Trotz Corona.

»Bis eben nicht.« Ulla klang ein wenig gereizt. Sandras Gedankenlosigkeit kränkte sie. Wieso musste sie von Nora erfahren, dass sie Großmutter wurde?

»Sie freut sich, obwohl es überhaupt nicht geplant war.«

Natürlich nicht, dachte Ulla. Denn bisher hatte ihre Tochter kategorisch ausgeschlossen, Mutter zu werden. »Dafür taugen die Frauen der Familie nicht«, hatte Sandra erst an Weihnachten erklärt. »Wie man an Oma und dir sieht. Ich habe kein positives Vorbild.«

Verblüfft hatte Ulla ihre Tochter angesehen. Wie man an Helga und mir sieht! Dabei hatte Sandra ihre Oma nie kennengelernt. Sie hatte sich 1975 das Leben genommen, im Sommer vor Ullas fünfzehntem Geburtstag. Daher war Helga für Sandra nur eine Figur aus Geschichten, die Ulla allerdings nicht weichgezeichnet hatte. Sie hatte offen darüber gesprochen, wie verantwortungslos und selbstsüchtig Helga gewesen war. Und wie durchgeknallt. Die Episode, wie sie nackt auf dem Lenbachplatz gestanden hatte, mit roter Farbe besudelt, und mit einer Pistole herumfuchtelte – einer echten und obendrein geladenen! –, kannte Sandra. Natürlich taugte Helga nicht als Vorbild für die Mutterrolle.

»Du wirfst mich mit ihr in einen Topf? Wir sind deine negativen Vorbilder?«, fragte Ulla nach, denn sie musste sich verhört haben. »Im Gegensatz zu mir hattest du eine tolle Kindheit.«

»Ich weiß, dass du das denkst«, erwiderte Sandra. »Aber das ist deine Sicht. Und meine interessiert dich nicht.«

Nora hob das Glas und holte Ulla aus dieser unerfreulichen Erinnerung. »Auf Sandra und das Baby.«

Mit einem Seufzer stieß Ulla an. »Auf die beiden. Und sie freut sich tatsächlich?«

»Sie fürchtet sich auch ein wenig davor«, erklärte Nora. »Aber das ist normal.«

»So schwer ist es auch nicht, ein Kind großzuziehen. Sie wird schon keine zweite Helga werden.«

*

Es war beinahe halb zwölf, als Ulla den Mini in der Tiefgarage parkte. Im Lift drückte sie den Knopf für die siebte Etage und fragte sich plötzlich, warum sie immer noch hier lebte. Die Wohnung war als Provisorium gedacht gewesen.

In der Scheidungsphase hatte sie, nach einem Streit mit Stephan, der nicht verstand, weshalb sie sich von ihm trennen wollte, den Entschluss gefasst, aus ihrem Haus auszuziehen. Papa hatte es ihnen zur Hochzeit geschenkt. Ein zeitlos modernes Gebäude im Stil der Bauhaustradition. Es stand direkt neben ihrem Elternhaus auf dem riesigen Grundstück in Harlaching. Ulla hatte nie anderswo gelebt und der Gedanke, von dort zu verschwinden, war befreiend gewesen. Als könnte sie wieder atmen. Natürlich verstanden weder ihr Mann noch ihr Vater noch ihre Stiefmutter, weshalb sie plötzlich alles infrage stellte. Mussten sie auch nicht. Es war ihre Ehe, ihre Arbeit, ihr Leben. Sie hatte gar nicht erst versucht, sich groß zu erklären, sondern Tatsachen geschaffen. Sollte Stephan doch das Haus behalten und auch Anteile an der Firma bekommen. Beides hatte sie nie gewollt. Sie war damals Mitte fünfzig und hatte bisher das falsche Leben geführt. Beherrscht von zwei Wünschen. Dem ihres Vaters, das Familienunternehmen fortzuführen, und ihrem eigenen, eine gute Mutter zu sein. Punkt zwei hatte sie gut hinbekommen. Auch wenn Sandra das neuerdings anders sah.

Am nächsten Tag war sie ausgezogen. Zuerst in ein Hotel, dann in diese Wohnung in Neuperlach. Da der Münchner Wohnungsmarkt eine Katastrophe war und sie nicht monatelang suchen wollte, hatte sie die erste Wohnung genommen, die sie bekommen konnte. So war sie in diesem Hochhaus am Rande der Trabantenstadt gelandet. Vorübergehend. Das war der Plan gewesen, bis sie etwas Passendes finden würde.

Bisher hatte sie nicht gesucht. Warum eigentlich?, fragte sie sich nun und hatte die Antwort – jetzt, als sie sich die Frage endlich stellte – sofort parat. Weil sie hoffte, einen neuen Partner zu finden. Für den Rest des Lebens. Wenn sie sich eine neue Wohnung nahm, musste sie vielleicht bald wieder umziehen, in eine größere mit ihm. »Das kannst du langsam vergessen«, sagte sie in die Stille der Liftkabine. Das war ihre jüngste Eigenart. Neuerdings sprach sie mit sich selbst.

Im September wurde sie sechzig. In diesem Alter drehte sich kaum noch ein Mann nach einem um. Schon gar nicht nach einer Frau, die nicht sehr feminin war. Vor allem aber längst nicht mehr so kompromissbereit wie früher. Natürlich hatte es nach der Scheidung Männer in ihrem Leben gegeben. Nicht viele. Eine Handvoll vielleicht, wenn man die unschuldigen Versuche mitzählte, die nicht über ein paar Treffen und Küsschen hinausgegangen waren. Eine heiße Affäre war allerdings auch dabei gewesen, bei der aber von Anfang an klar war, dass daraus keine tragfähige Beziehung entstehen würde.

Sosehr sie sich eine neue Liebe wünschte, sowenig wahrscheinlich war es, dass sich dieser Wunsch erfüllte. »Also meine Liebe, such dir eine schöne Wohnung oder melde dich endlich bei Parship oder Tinder an. Das würde die Sache erleichtern.« Für Tinder fühlte sie sich zu alt, und sich an eine Partnervermittlung zu wenden, erschien ihr unwürdig. Der Lift kam oben an, sie stieg aus und betrat ihre Wohnung.

Sie war gut geschnitten und groß genug für sie allein. Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und Bad. Leider fehlte ein Balkon und den hatte sie während des Lockdowns schmerzlich vermisst. Mit einem Glas Wasser setzte Ulla sich aufs Sofa. Erst musste sie runterkommen, bevor sie zu Bett ging.

Sandra wurde Mutter. Und sie freute sich sogar. Das war schön und möglicherweise ein Indiz dafür, dass sie in Sandras Augen doch nicht restlos versagt hatte. Aber tief in Ulla saß ein Stachel. Weshalb musste sie von Nora erfahren, dass sie Großmutter wurde?

Vermutlich lag es immer noch an der Scheidung. Ihre Tochter hatte es nicht verstanden und sie mit Vorwürfen überschüttet. Sie würde alles kaputt machen. »Ich verstehe es nicht. Ihr kommt doch prima miteinander aus.« Als ob das der Himmel auf Erden wäre. Miteinander auskommen. Und das auch nur mit zusammengebissenen Zähnen, dachte Ulla. Was habe ich alles geschluckt, um des lieben Friedens willen.

Wobei die ersten Jahre ihrer Ehe glücklich gewesen waren. Zufriedene und schöne Jahre. Erst nach Sandras Geburt hatte es zu kriseln begonnen. Vielleicht hatte sie ihre Ehe selbst ruiniert, weil sie sich zu sehr auf das Kind fokussiert hatte? Das war ein überraschender Gedanke. Möglicherweise hätten sie mehr miteinander reden sollen. Doch dafür war es nun zu spät.

Ulla stellte sich ans Fenster. Die Lichter Neuperlachs waren Inseln in der Dunkelheit. Der Mond stand hoch am Nachthimmel und sie spürte, dass etwas in Bewegung geraten war. Veränderungen kamen auf sie zu, also konnte sie auch über ihren Schatten springen und Sandra gratulieren, statt beleidigt zu sein. Jetzt war es für ein Telefonat zu spät. Das musste bis morgen warten. Oder sie schrieb ihrer Tochter eine Karte. Das war vermutlich besser. Denn am Telefon konnte Ulla nicht ausschließen, dass sie sich doch beklagen würde, weil sie die Neuigkeit von Nora erfahren musste. Sie wählte aus der Schachtel mit Grußkarten ein farbenfrohes Motiv von Matisse aus und griff zum Füller.

Meine liebe Sandra,

welch schöne und überraschende Neuigkeit! Nora hat es mir erzählt. Du wirst Mutter.

Und Jonas Vater. Den sollte ich besser nicht vergessen, dachte sie, sonst hatte ihre Tochter einen Grund, eingeschnappt zu sein.

Und Jonas Vater. Ich freue mich von ganzem Herzen für euch beide. Eine wunderbare, aber auch fordernde Aufgabe liegt vor euch. Die schönste der Welt. Auch wenn du dich jetzt vielleicht fragst, ob du ihr gewachsen sein wirst, ob du es gut machen wirst: Das wirst du! Davon bin ich überzeugt. Du bist eine geduldige, liebevolle und empathische Frau. Du wirst das mit Bravour meistern.

Auch die Zeit der Schwangerschaft …

Aus dem Nichts kommend, schlug eine Welle von Trauer und Schmerz über ihr zusammen und zwang sie, den Füller wegzulegen. Sie atmete durch und kehrte ans Fenster zurück. Sieben Etagen unter ihr bog ein Rettungswagen mit Blaulicht auf die Straße zum Klinikum ein. Es war so lange her. Drei Jahrzehnte waren vergangen und es überraschte sie, dass es noch immer wehtat.

Auch die beiden Kinder, die Ulla durch Fehlgeburten verloren hatte, waren Wunschkinder gewesen. So wie Sandra.

Wie unfassbar glücklich sie damals gewesen war, als es endlich geklappt und ihre Gynäkologin ihr bestätigt hatte, was sie ohnehin wusste. Sie hatte es sofort gespürt, noch bevor ihre Regel ausgeblieben war. Ein kleines neues Leben wuchs in ihr heran. Wie großartig sie sich gefühlt hatte. So unglaublich stark und gelassen. In sich ruhend. Und auch Stephan war glücklich gewesen. Er hatte bereits nach einem Namen für seinen Sohn gesucht, als sie eines Morgens – es war zu Beginn der zwölften Woche – einen kleinen Blutfleck im Slip bemerkte.

Fehlgeburten waren für sie damals etwas gewesen, das es in Romanen oder Fernsehfilmen gab, nicht im wirklichen Leben. Und schon gar nicht in ihrem. Und dann war alles ganz schnell gegangen. Erst zu ihrer Ärztin, dann ins Krankenhaus. Noch mehr Untersuchungen. Noch mehr Blut. Es hörte gar nicht mehr auf. Und dann war alles vorbei gewesen. Bei der zweiten Schwangerschaft ein Jahr später hatte sie sich wie heruntergedimmt gefühlt und sich die Freude nicht erlaubt. Zu Recht, denn es war wieder geschehen, und wieder in der zwölften Woche und sie hatte an sich gezweifelt. Es lag an ihr. Sie war nicht dafür bestimmt, Mutter zu sein. Genau wie Helga. Eigentlich hatte sie das immer gewusst.

Und dann die Überraschung beim dritten Mal. Etwas in ihr hatte ignoriert, dass ihre Regel nicht kam. Erst hatte sie nicht daran gedacht, dass sie fällig war und dann überfällig. Nicht einen Gedanken hatte sie daran verschwendet, bis sie in der vierzehnten Woche war. Es war erstaunlich. Und schließlich, als sie im achten Monat dick und rund bei Papas Geburtstagsfeier am Tisch saß, hatte er ihr erzählt, dass auch Helga zwei Fehlgeburten hatte.

Abrupt wandte Ulla sich vom Fenster ab. Großer Gott! Lag das etwa in der Familie? Würde es auch Sandra widerfahren? Dieser Gedanke machte sie ganz unruhig. Sie griff zum Füller, las was sie bisher geschrieben hatte, doch es gelang ihr nicht, an den freudigen und Mut machenden Tonfall anzuknüpfen. Die Karte musste warten.

*

Am nächsten Morgen setzte Ulla sich mit ihrem Frühstückskaffee an den Sekretär, um die Karte für ihre Tochter fertig zu schreiben. Dabei fiel ihr Blick auf den Brief des Galeristen Elias Rothert aus Düsseldorf, der gestern gekommen war. Sie kannte den Mann nicht und sie verstand auch nicht recht, was er wollte.

Sehr geehrte Frau Langenbach,

sicher fragen Sie sich, weshalb ein Galerist aus Düsseldorf Kontakt zu Ihnen aufnimmt. Vielleicht ahnen Sie aber auch, dass es um Ihre Mutter geht.

Sie war eine außergewöhnliche Künstlerin und ich halte es für möglich, dass mein Vater nicht der Einzige war, der das erkannt hat, und andere Sammler Sie längst kontaktiert haben, um das eine oder andere Werk zu erwerben.

An dieser Stelle lachte Ulla, wie schon gestern Morgen. Soweit sie wusste, hatte Helga selten etwas verkauft. Sie hatte als Zimmermädchen in einem Hotel gearbeitet, um nicht zu verhungern. Dabei hätte sie daheim bei ihrem Mann und ihrem Kind ein komfortables Leben führen können. Mit Atelier und einer Haushälterin, die ihr Vater Chris engagiert hatte, weil Helga sich irgendwann gar nicht mehr um derart profane Dinge wie Kochen, Wäsche waschen oder Putzen gekümmert hatte und alles verwahrlosen ließ. Auch ihr Kind.

Ich hatte das Vergnügen, Ihre Mutter im Sommer 1975 als Zwölfjähriger kennenzulernen. Mein Vater, von dem ich die Galerie Ende der Neunzigerjahre übernommen habe, fuhr damals auf den Moarhof, um Ihre Mutter zu treffen und sie davon zu überzeugen, sich von ihm vertreten zu lassen, und er nahm mich mit. Ich habe eine beeindruckende, unkonventionelle und energiegeladene Frau kennengelernt …

Ulla ließ den Brief sinken. Vermutlich hatte Mama sich gerade in einer ihrer verrückten Phasen befunden. Dann wirbelte sie herum wie ein Derwisch, arbeitete Tage und Nächte durch, bis sie zusammenbrach und das Bett nicht mehr verließ, kein Wort redete und kaum etwas aß. Vielleicht war sie manisch-depressiv. Diese Laien-Diagnose hatte Ulla nach einer Google-Recherche gestellt. Seit sie diese Erklärung für sich gefunden hatte, ging es ihr besser mit ihrem verqueren Verhältnis zu ihrer Mutter. Wenn Mama krank gewesen war, dann lag es nicht an ihr, dass sie verlassen worden war. Als Kind hatte sie die Schuld natürlich bei sich gesucht und sich mit der Frage gequält, was falsch an ihr war. Warum ihre Mutter sie nicht mochte.

Der Besuch in ihrem Atelier wirkt bis heute in mir nach. Ich erinnere mich an einige Gemälde, vor allem aber an Fotografien, die mein Vater erworben hat. Sie fielen mir vor einiger Zeit – zusammen mit einem Konvolut an Zeichnungen und Gemälden – wieder in die Hände und plötzlich erinnerte ich mich, dass damals auch von Super-8-Filmen die Rede war, mit denen Ihre Mutter ihre Performances dokumentierte. Mein Vater war daran interessiert. Doch dann starb Helga und er versuchte vergeblich, die Filme aus dem Nachlass zu erwerben. Nun frage ich mich, was aus ihnen wurde. Wissen Sie das? Sind sie vielleicht in Ihrem Besitz? Falls ja, würde ich Ihnen gerne ein Angebot machen, vorausgesetzt, Sie können sich davon trennen.

Ich würde Helga gerne die Bühne bieten, die sie als eine herausragende Performance- und Aktionskünstlerin verdient hat. Ich scheue mich nicht, ihren Namen in einem Zug mit Valie Export und Marina Abramović zu nennen. Vielleicht können wir miteinander telefonieren? Ich bin jederzeit für Sie erreichbar und freue mich auf Ihren Anruf.

Herzliche Grüße, Elias Rothert jun.

Die Filme gab es nicht mehr. Papa hatte sie verbrannt. Ulla hatte sie nie gesehen, aber davon gehört. Helga hatte damit ähnlich verstörende Aktionen dokumentiert wie die vom Lenbachplatz, und sie schauderte bei der Vorstellung, wie ihre Mutter sich nackt oder halb nackt verletzte, bis sie manchmal blutüberströmt zusammenbrach.

Ulla faltete den Brief zusammen und schob ihn zurück ins Kuvert. Rothert konnte sie morgen antworten. Jetzt war Sandra an der Reihe. Plötzlich erschien es ihr albern, ja geradezu lächerlich, ihrer Tochter eine Karte zu schreiben, statt sie anzurufen. Also griff sie zum Handy, das neben ihr lag. Es klingelte einige Male, bis ihre Tochter endlich ranging.

»Guten Morgen, Mama. Was gibt es denn, so früh am Morgen?«

»Störe ich? Ich dachte, du bist im Homeoffice.«

»Das bedeutet nicht, dass ich nichts zu tun habe.«

»Ich wollte nur mal hören, wie es dir geht. Wir haben uns ja ewig nicht gesehen.« Und das, obwohl wir in derselben Stadt wohnen, dachte Ulla. Und du rufst mich auch nie an. Immer bin ich es, die zum Telefon greift. Ansonsten wäre der Faden zwischen uns vielleicht längst gerissen.

»Uns geht es gut. Sei mir nicht böse, Mama. Aber ich habe in fünfzehn Minuten ein Zoom-Meeting und muss mich noch vorbereiten. Lass uns ein andermal quatschen.«

»Ja, natürlich. Dann bis ein andermal.« Ulla legte auf und wusste jetzt schon, dass wieder sie es sein würde, die anrief. »Ach, Quatsch«, sagte sie zu sich selbst. »Du siehst jetzt schwarz, weil du beleidigt bist.« Doch die Enttäuschung blieb. Sie fühlte sich zurückgewiesen und ausgegrenzt. Etwas lief schief in ihrer Beziehung zu Sandra und Jonas. Nur wusste sie nicht, was es war. Andererseits war es verständlich, dass Sandra jetzt keine Zeit für sie hatte. So kurz vor einem Meeting. Alles ist gut, sagte Ulla sich, und machte sich auch an die Arbeit.

Sie las die eingegangenen Mails. Eine kam von Julia, einer Lektorin, und war mit der Bitte um Rückruf versehen. Also öffnete sie die angehängten Word-Dokumente, wählte Julias Nummer und überflog den Text für die Rückseite des Romans, während das Freizeichen erklang. »Nicht schon wieder«, seufzte sie.

»Guten Morgen, Ulla«, sagte Julia. »Was, nicht schon wieder?«

»Grüß dich. Ich meine das Thema. Sind Flucht und Vertreibung nicht langsam durchgenudelt? Überhaupt der Krieg.«

»Die Absatzzahlen beweisen das Gegenteil.«

»Ich verstehe es nicht. Das ist doch längst nicht mehr relevant. Aber ich mache es natürlich.«

»Kannst du es diesmal nicht nur Korrektur lesen, sondern ausnahmsweise auch kollationieren? Üblicherweise machen wir das ja inhouse. Aber meine Redakteurin dafür ist ausgefallen und ich selbst habe keine Zeit.«

Es war kein Problem für sie, die Korrekturdurchgänge, die sie selbst, ein anderer Korrektor und die Autorin vorgenommen hatten, aus verschiedenen Dokumenten in eines zusammenzutragen. »Bekomme ich die Daten digital oder hat jemand seine Änderungen in Ausdrucken vorgenommen?«

»Es sind nur Dateien. Ich maile sie dir, sobald ich sie habe.«

Bis Mittag hatte Ulla die ersten Kapitel durchgearbeitet und machte eine Pause. Im Kühlschrank befanden sich Tomaten, Gurken und Eisbergsalat und im Vorratsschrank eine Dose Thunfisch. Sie machte sich eine Bowl und hätte sich gerne mit ihrem Essen auf den Balkon gesetzt. Nur war über Nacht keiner an die Wohnung angedockt oder aus den Mauern gewachsen. Früher hatte ihr sein Fehlen nichts ausgemacht. Sie war viel unterwegs gewesen, aber jetzt vermisste sie ihn. Also setzte sie sich mit dem Salat an den Tisch und öffnete die Seite eines Immobilienportals. Es war Zeit, sich eine andere Wohnung zu suchen.

Während sie durch die Angebote scrollte und den Salat aß, ging eine Mail ein. Sie kam von Benedikt Färber vom Moarhof aus Moosleitn.

Servus Ulla,

ich weiß, dass du vor zwei Jahren gesagt hast, dass du Helgas Häusl nicht verkaufen magst. Aber ich habe mir gedacht, ich frag mal nach, ob du deine Meinung inzwischen geändert hast. Wir könnten es gut gebrauchen, wie du weißt. Agnes und ich haben das Hotel erweitert und den Kameter-Hof dazukaufen können. Den haben wir aus- und umgebaut, den erkennst du nicht wieder.

Ulla lachte. Das glaube sie ihm sofort. Sicher hatten er und seine Frau aus dem Kameter-Anwesen ein genauso geschlecktes und pseudorustikales Hotel gemacht wie aus dem Moarhof.

Jedenfalls haben wir jetzt mehr Gästezimmer und das bedeutet, dass wir auch mehr Platz für die ganze Logistik brauchen. Das Häusl deiner Mutter wäre gerade richtig dafür. Es wäre also toll, wenn du dich zum Verkauf entschließen könntest. Schließlich nutzt du es nicht und zum Leerstehenlassen ist es zu schade. Also, was sagst du? Melde dich bitte. Ich mach dir auch einen fairen Preis.

Liebe Grüße, auch von Agnes,

Bene

Der Färber Bene, ihr Freund aus Kindertagen, der noch immer so hemdsärmlig vertraut tat, dabei hatten sie sich seit ihrem neunten Lebensjahr nur zwei Mal gesehen. Bei Mamas Beisetzung und als sie vor zwei Jahren nach Moosleitn gefahren war, um sich das Häusl anzusehen, das nach Papas Tod an sie gegangen war. Dass es ihm noch gehörte, war eine Überraschung gewesen. Sie hatte angenommen, er hätte es gleich nach Helgas Tod verkauft. Genutzt hatte er es aber auch nicht. Er schien es vergessen zu haben. Das hatte sie jedenfalls angenommen, bis sie dort gewesen war.

Beinahe alles war noch so gewesen wie 1975, als Helga gestorben war. Es war gespenstisch. Die Möbel, das Geschirr. Sogar ihre Kosmetiksachen im Bad und die Kleidung im Schrank. Ein Schwarm Motten war aufgestoben, als Ulla ihn öffnete. Es gab kaum Staub oder Spinnweben. Jemand sorgte hier für Ordnung. Im Wohnzimmer fehlten Teppich und Sofa. Die Wand dahinter war weiß gestrichen und nicht wie die anderen bunt bemalt. In diesem Zimmer hatte Mama sich erschossen. Mit derselben Waffe, die sie elf Jahre zuvor bei ihrer Aktion auf dem Lenbachplatz benutzt hatte. Papas Pistole. Für die er einen Waffenschein besaß, die er aber ganz offensichtlich nicht ordnungsgemäß aufbewahrte, wenn es Mama wieder gelungen war, sie an sich zu nehmen.

Ulla ging weiter ins Atelier und erlebte eine Überraschung. Es war leer, restlos ausgeräumt. Mamas lila Plüschsessel, ihre Staffelei, die Leinwände, Keilrahmen, Pinsel, die Flaschen und Tuben mit Farbe, die Skizzenblöcke und Stifte. Nichts war übrig, das an ihre Kunst erinnerte. Verwundert sah sie sich in dem leeren, lichtdurchfluteten Raum um, als ein Mann hereinkam. Ende fünfzig. Grau melierter Bart. Wilde Haare. »Grüß dich, Ulla.«

Verwundert sah sie ihn an. War das etwa Marlenes Sohn? »Oliver?«, fragte sie zögernd.

»Ich habe mich anscheinend kaum verändert.« Lachend breitete er die Arme aus und drückte sie an sich. »Aber du. Du bist groß geworden! Richtig erwachsen.«

»Das will ich doch hoffen. Wie geht’s dir?«

Er ließ sie los und zuckte mit den Schultern. »Gleichbleibend unerfolgreich. Als Bildhauer und auch sonst. Und dir geht’s blendend? Nehme ich an.«

»Geht so. Also, ich nage nicht am Hungertuch, falls du das fragen wolltest.«

»Schön zu hören.«

»Sag mal, weißt du, was hier passiert ist?« Sie wies in den leeren Raum.

»Das war dein Vater. Nach Helgas Tod hat er Tabula rasa gemacht und alles verbrannt.«

»Aber wieso denn? Das war ihr Leben.«

»Und sein Feind. Er hat Helgas Arbeiten gehasst und sich Vorwürfe gemacht, weil er es ihr nach dem Krieg ermöglicht hat, in München fertigzustudieren.« Mit einer Hand fuhr Oliver sich durch den wilden Haarschopf. »Du weißt ja, dass sie während des Kriegs in Dresden an der Akademie war? Dort haben unsere Mütter sich kennengelernt.«

Natürlich wusste sie das. »Mit dem Studium war aber Schluss, als ich kam.« Trotzdem hatte Helga weitergemalt. Ihre Kunst war ihr wichtiger gewesen als ihr Kind und ihre Familie.

Helga war eine Getriebene, dachte Ulla nun und lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück. Das alles war lange her und heute nicht mehr von Bedeutung.

Sie las Benes Mail noch einmal. Sollte sie das Häusl an ihn verkaufen, damit er es seinem Luxushotel einverleiben konnte?

Benes Eltern – Justus und Franziska, die Gründer der Moarhof-Kommune – würden sich im Grab umdrehen, wenn sie wüssten, dass sich dort jetzt das Establishment die Klinke in die Hand gab, sich Wellnessmassagen verpassen und Gourmet-Menüs servieren ließ. Dass sie den Ausblick über den Chiemsee vom Gemüsegarten aus genossen, der einer Terrasse mit Edelholzbelag gewichen war, dass sie in der ehemaligen Scheune in einem schicken Pool schwammen und das Ambiente für authentisch hielten. Dabei war es Jodlerkitsch pur.

Sie riss sich vom Anblick der Hochhäuser los und wandte sich dem Laptop zu, um weitere Immobilienangebote zu studieren, als sich unvermittelt eine Idee einstellte.

Luise

Juni 2020

Am selben Tag, an dem Ulla Langenbach in München über Benes Angebot nachdachte, stieg Luise Paasch in Moosleitn bei Sonnenaufgang aus dem Bett. Sie war nun mal eine Lerche und keine Nachtigall. Ihre Tage folgten einer Struktur. Das gab ihr Halt und den brauchte sie. Seit sie denken konnte, hatte sie sich Gerüste gebaut, an denen sie sich durchs Leben hangelte.

Es war kurz nach fünf, als sie die Beine über die Bettkante schob und sich mit einem Stöhnen aufrichtete. Wie jeden Morgen schmerzten Rücken und Hüften und die Sehnen waren steif. Sie ging ins Wohnzimmer und absolvierte ihre morgendliche Gymnastik. Das erste Recken und Strecken war mühsam, doch mit jeder Bewegung ging es ein wenig besser und nach fünfzehn Minuten waren Gelenke und Sehnen einigermaßen geschmeidig, vor allem aber stand sie gerade und fühlte sich dem Tag gewachsen. Im Bad putzte sie erst mal nur die Zähne. Es waren noch die eigenen. Jedenfalls größtenteils und darauf war sie mit ihren achtzig Jahren stolz. Duschen würde sie nach dem Schwimmen. In der Küche aß sie rasch eine Scheibe Vollkornbrot mit Honig. Der Körper brauchte Kohlenhydrate für den Sport. Mit Wanderschuhen, Rucksack und Nordic-Walking-Stöcken ausgerüstet, verließ sie die Wohnung und schloss sorgfältig ab. Obwohl ein Einbrecher bei ihr nur magere Beute machen würde.

Luise schwang die Stöcke im Takt der Schritte. Die Luft war frisch und kühl. Die Sonne stieg über dem Wald ins dunstige Graublau des Morgens. Die Bäckerei hatte noch geschlossen, doch in den Kuhställen war schon Betrieb. Füttern, ausmisten, einstreuen, melken. Vertraute Geräusche begleiteten sie auf dem Weg, den sie jeden Morgen ging. Von April bis Oktober mit den Badesachen im Rucksack. Im Winter, wenn an Schwimmen nicht zu denken war, verlängerte sie die Walkingrunde. Man musste sich abhärten. Stählen für die Unwägbarkeiten des Lebens. Zähne zusammenbeißen, diszipliniert sein, nur so hielt man durch und überlebte.