Das verfluchte Bild - Ingrid Stender - E-Book

Das verfluchte Bild E-Book

Ingrid Stender

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Beschreibung

Ein spektakulärer Kunstraub in Gotha kurz vor der Wende. Der staatlich forcierte Ausverkauf von Kunstgegenständen aus der DDR gegen dringend benötigte Devisen ruft verbrecherische Seilschaften auf den Plan, die im Chaos der untergehenden DDR ihr eigenes Schäfchen ins Trockene bringen wollen. Charlott von Feyerabend, die achtjährige Enkelin eines regimekritischen Kunstsachverständigen des Landes, wird dabei Ohrenzeugin eines Mordes aus Geldgier. Es geht um den Besitz eines verschwundenen Gemäldes. Mehr als zwanzig Jahre später führt die Spur des verschwundenen Bildes nach Bulgarien. In einem Land, ausgeblutet durch die neuen Machthaber nach der Wende, sucht Charlott nach dem Holbein, wobei sie nicht nur von einem ehemaligen Stasi-Offizier, sondern auch von der bulgarischen Mafia verfolgt wird. Auf ihrer Suche erhält sie Unterstützung von Freunden, die sie im Hotel Mystica kennenlernt. Aber kann sie jedem vertrauen? Im wilden Rhodopen-Gebirge kommt es zum tödlichen Finale.

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Seitenzahl: 402

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Das verfluchte Bild

Titel SeiteIngrid StenderDer Diebstahl - Wie alles begannTeil 1Teil 2Hotel Mystika und das tödliche Finale

Ingrid Stender

Das verfluchte Bild

Ingrid Stender

Das verfluchte Bild

Der Autor schreibt die Geschichte,

des Lesers Fantasie erweckt sie zum Leben.

Für meine Tochter Soë Lucille

Impressum

Texte: © 2021 Copyright by Ingrid Stender

Umschlag:© 2021 Copyright by Ingrid Stender

Verantwortlich für den Inhalt: Ingrid Stender

[email protected]

Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Über das Buch

Ein spektakulärer Kunstraub in Gotha kurz vor der Wende. Der staatlich forcierte Ausverkauf von Kunstgegenständen aus der DDR gegen dringend benötigte Devisen ruft verbrecherische Seilschaften auf den Plan, die im Chaos der untergehenden DDR ihr eigenes Schäfchen ins Trockene bringen wollen. Charlott von Feyerabend, die achtjährige Enkelin eines regimekritischen Kunstsachverständigen des Landes, wird dabei Ohrenzeugin eines Mordes aus Geldgier. Es geht um den Besitz eines verschwundenen Gemäldes.

Mehr als zwanzig Jahre später führt die Spur des verschwundenen Bildes nach Bulgarien. In einem Land, ausgeblutet durch die neuen Machthaber nach der Wende, sucht Charlott nach dem Holbein, wobei sie nicht nur von einem ehemaligen Stasi-Offizier, sondern auch von der bulgarischen Mafia verfolgt wird. Auf ihrer Suche erhält sie Unterstützung von Freunden, die sie im Hotel Mystica kennenlernt. Aber kann sie jedem vertrauen? Im wilden Rhodopen-Gebirge kommt es zum tödlichen Finale.

Die Autorin

Ingrid Stender, geboren in Karlsruhe, lebt nach mehreren Auslandsaufenthalten zurzeit in Burgas am Schwarzen Meer.

Von ihr sind bereits erschienen:

Drei Wochen dauert ein Leben

Die Drahtoper

Die Orangendynastie

Schlangenlinie Auf ewig gebettet

Die Schattenwerfer

Teil 1       Der Diebstahl - Wie alles begann

1. Rudi aus Gotha, 1985

„Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig, fünfund…“

Rudi verbrachte sein halbes Leben mit Zählen. Egal, was er auch machte oder sah, es musste gezählt werden. Ob er auf dem Weg nach Irgendwohin war und seine Schritte zählte, ob es die Streben einer Leiter waren, die Blumen in der Vase, die Pinselstriche beim Lackieren des Zaunes, die Leute in der Warteschlange vor dem Einkaufsladen, die Treppenstufen in einem Gebäude – einfach alles. Aber es war wichtig, immer im gleichen Rhythmus zu zählen. Im Vierertakt. Deshalb begann er immer erst bei einundzwanzig, weil ab dann die Zahlen meistens vier Silben haben und er den gleichen 4-Takt-Rhythmus beibehalten konnte. Nur bei den vollen Zahlen wie 30, 40 usw., also bei den Zahlen mit nur zwei Silben, da musste er zwangsläufig jede Silbe in die Länge ziehen. Also beispielsweise bei der 30. Da hieß es bei ihm: dra – ha – hei – ßig. So konnte er den gleichen Rhythmus beibehalten. Und das klang wie Musik in seinen Ohren.

Ansonsten hielt er sich für ziemlich normal und andere ihn soweit auch. Genauso wie er es für normal hielt, für Freunde da zu sein, ein echter Kumpel zu sein. Nach diesem Ehrenkodex lebte er, einen Freund in Not, Gefahr oder Schwierigkeiten nie im Stich zu lassen. Sonst würde er im Moment nicht das tun, was er gerade tat, nämlich mit seinen Freunden ins Gothaer Museum einbrechen und Bilder entwenden. Ein Notfall, redete er sich ein, bin nur eingesprungen für einen, der abgesprungen war, beziehungsweise abspringen musste. Ans Bett gefesselt wegen Grippe und hohem Fieber, der arme Kerl.

Naiv. So wurde er allerdings des öfteren bezeichnet. Schließlich lebten sie in der DDR. Einem Staat, wo Rudis Ehrenkodex zum großen Teil verschüttet war. Unter einer großen Mauer. Aber dazu später.

2. Der Kunstraub

Innerlich grollte Rudi wegen des schlechten Wetters und darüber, dass er sich eine viel zu dünne Jacke angezogen hatte. Eisigkalte Windböen drängten sich an seinem Kragen vorbei den fröstelnden Rücken hinunter und ließen ihn ordentlich zittern. Missmutig zog er den Reißverschluss der Jacke bis ganz nach oben. Die Luft zu dieser Stunde war schwer und nasskalt, als könne der Himmel sich nicht entscheiden, ob er nicht doch noch ein paar nasse Flocken auf die Erde schicken sollte.

Sie waren zu fünft. Axel, Frank, Peter, Alex und er – Rudi. Anführer bei dem heutigen Raub war Axel, sein Freund Axel. Ein typischer Anführer. Groß, drahtig, lange Beine, die ein schnelles Fortbewegen versprachen, entschlossene Gesichtszüge – kurz ein Mensch, der Anweisungen erteilen konnte, ohne dass sie viel infrage gestellt wurden. Und im Grunde das Gegenteil von ihm, Rudi, der eher schmächtig und unentschlossen wirkte. Ja, auf Axel war Verlass. Eigentlich beruhte Rudis Entscheidung, bei dem Raub mitzumachen, einzig und allein auf ihm, die anderen kannte er ja kaum. Axel hatte ihm schon einige Male aus der Patsche geholfen. Deshalb musste Rudi heute einfach einspringen, eine Absage wäre für ihn nicht in Frage gekommen.

Axel war wie immer gut vorbereitet. So wusste er, woher auch immer, dass die neu angeschaffte Alarmanlage des Museums noch nicht in Betrieb war. Diese Information war letztendlich dann auch die Grundlage für seine Entscheidung, das Vorhaben eiligst durchzuführen und nicht auf die Genesung des kranken Kumpels zu warten, sondern Rudi einzuspannen.

Der aufkommende, dichte Nebel entpuppte sich als ein willkommener Helfershelfer. Geduckt, in völliges Schwarz gekleidet, schlichen sie dicht hintereinander am Museumsgebäude entlang, Axel an der Spitze, Rudi zuletzt. Das karge und dumpfe Licht der Straßenlampen kämpfte sich schwerfällig durch die hartnäckigen Nebelschwaden und erreichte kaum das Gemäuer. Trotzdem mussten sie die Stirnlampen noch ausgeschaltet lassen.

Und noch etwas wusste Axel, woher auch immer. Die Gitterstreben am letzten Kellerfenster an der Rückseite des Museums waren nicht mehr fest verankert. Abbröckelnder Zement zeugte von Jahrhunderte alter Witterung, der er an dieser Stelle ganz besonders schutzlos ausgesetzt war. So kam es, dass die Eisenstreben vor dem Fenster nicht mehr mit der nötigen Stabilität eingefasst waren und somit geradezu schon eine Einladung an Einbrecher darstellte. Vorausgesetzt, man besaß diese Information. Und das taten sie. Mit Hilfe der mitgebrachten Seilwinde gelang es ihnen, dass sich die Streben bald ächzend gegen ihre sich wehrende Verankerung auflehnten. Verbissen arbeiteten sie weiter. Zu den Altersrissen im Zement gesellten sich nur zögerlich neue Risse, die dann aber nach und nach weiter auseinanderklafften, bis sie ihre Streben endlich freigaben. Das Klirren der fallenden Eisenstangen zerriss die Stille der Nacht. Sie hielten erschreckt die Luft an und lauschten. Nichts. Axel zog seine Jacke aus, schlang sie sich um den Ellbogen und zerschmetterte mit einem Schlag die Scheibe. Vorsichtig entfernte er die halblosen Scherben und zog seine Jacke wieder an. Mit klopfendem Herzen zwängten sie sich durch die enge Öffnung, einer nach dem anderen. Rudis semmelblondes Haar bekam durch den herunterrieselnden Staub eine kräftige Graufärbung, und seine Atemwege verschafften sich mit Hilfe eines starken Hustenanfalles die nötige Luft. Axels entsetzter Blick ließ augenblicklich sogar die Bronchien in Rudis Brustkorb erstarren, und sein Husten löste sich in gedämpftem, stoßweise hervorgebrachtem Glucksen auf. Rudi traten vor Anstrengung Tränen in die Augen. Muffige, abgestandene Kellerluft schlug ihm entgegen.

Auf ein Zeichen von Axel schalteten sie nun die Stirnlampen ein.

„Hoch in die zweite Etage!“, rief er ihnen zu und lief zielstrebig durch die angrenzenden Kellerräume zum Treppenhaus. Ihre Schritte hallten gedämpft durch die feuchten Räume, Zementstaub knirschte unter ihren Schuhsohlen. In weniger als drei Minuten standen sie vor der Tür zum Ausstellungsraum und traten ein.

„Denkt daran, was ich euch gesagt habe. Unser Auftrag lautet: Wir holen nur die Nummern 32 bis 37. Das sind 5 Bilder, sprich, eines für jeden. Und jetzt los!“

Was Rudi als allererstes machte, er begann sofort die Nummerierung an den Gemälden nachzuzählen:

32, 33 – 35…

Schon nach der zweiten Zahl stockte er missbilligend. Wo war die 34?

„Axel!“, fragte er. „Was ist mit der…?“

„Mensch, quassel nicht und mach‘ hin, Alter!“

Rudi nickte und kam nach kurzem Überlegen zu dem Schluss, dass das für Axel wohl keine Rolle spielte, sondern nur die Anzahl der Gemälde. Es waren 5, also stimmte anscheinend alles. Er hängte eilig die 37 ab und verließ als letzter den Ausstellungsraum. Sie eilten die Treppen wieder hinunter, jeder mit einem Bild bepackt, und rannten zurück durch die Kellerräume.

Plötzlich blieb Rudi unvermittelt stehen und starrte auf ein Gemälde, das verstaubt in einer Ecke stand. Da war sie. Die fehlende 34. Er atmete tief ein. Vorsichtig legte er die 37 ab, dann hörte er die ungeduldigen Rufe der anderen:

„Rudi, wo bleibst du?“

Er reagierte, ohne viel nachzudenken und rief ihnen zu: „Hab‘ oben meine Stirnlampe vergessen! Bin gleich zurück!“

Axels Fluchen war unüberhörbar, aber Rudi ließ sich davon nicht aufhalten. Ruckzuck holte er sein Taschenmesser heraus, schnitt das Bild am Rahmen entlang heraus, rollte es auf und steckte es in seine Innentasche. Den Bilderrahmen versteckte er hinter allerlei Gerümpel. Dann gab er Fersengeld und rannte zu den Anderen.

„Jetzt komm‘ schon, du Toudl!“

„Bin ja schon da!“, gab er zurück und zwängte sich aus dem Loch im Kellerfenster. Dabei zählte er: 32, 33, 34, 35, 36, 37. Jetzt war die Welt wieder in Ordnung.

3. Charlott, Emma und Mia, Frankfurter Flughafen, Gegenwart

Der ohrenbetäubende Krach sorgte dafür, dass alle Köpfe sich nach der Ursache des lauten Schepperns und Klirrens umdrehten und sich den Fluggästen in der Snackbar des Abfluggates ein peinliches wie außergewöhnliches Bild bot. Eine junge Frau, die mit ihrem Tablett - voll beladen mit Pommes, einer XXL Portion Rot/Weiß und einem Glas Bier - zum letzten freien Platz an der Theke balancieren wollte und dabei gestolpert war, schlug entsetzt die gerade ungewollt frei gewordenen Hände vor ihrem Mund zusammen, um den lauten Schrei, zu dem es sicherlich gekommen wäre, weitgehendst zu unterdrücken. Ihr Gegenüber, ein tadellos gekleideter junger Mann, riss seine Augen weit auf und starrte entsetzt auf sein unabwendbares Schicksal. Hätte man nur eine Spur von Humor gehabt, man hätte es als ein perfekt gelungenes Dilemma bezeichnen können. Aber eben dieser Humor fehlte dem erzürnten Yuppie, und Gewitterwolken lagen spürbar in der Luft. Vielleicht könnte man ihm noch zugutehalten, dass das Ergebnis wirklich einer mittleren Katastrophe glich, denn von seiner Krawatte bahnte sich eine Mischung aus Ketchup, Mayonnaise und schäumendem Bier in einer breiten Spur zielsicher nach unten, ohne auf ihrem Weg auch nur das kleinste Detail der modisch abgestimmten Kleidung mitsamt der Accessoires auszulassen. Sie rann unbeirrt von der Krawatte über die edle Krawattennadel auf das teure Hemd, dann auf die gute Hose, wobei sie den Gürtel mitsamt der Schnalle ebenso bedachte wie den Hosenlatz. Sogar seine dunkle Socke verzeichnete ein rotweißes Muster. Das Schlusslicht bildete der teure Lederschuh mit dem zwei-, inzwischen allerdings mehrfarbigen Schnürsenkel. Wie gesagt, man hätte diesem Mann gegenüber ein gewisses Mitleid aufbringen können, wenn er nicht so auf die junge Frau reagiert hätte, wie er es gerade tat, nachdem sie schnell einen Stapel Servietten von der Theke aufgegriffen hatte, um erste Hilfe zu leisten. Doch der Mann war außer sich.

„Rühren Sie mich nicht an und nehmen Sie sofort ihre unglückseligen Pfoten von mir“, schrie er mit sich überschlagender Falsettstimme und wich entsetzt vor ihr zurück. „Nicht zu fassen, Sie allergrößtes Trampel, Sie!“ setzte er wütend noch nach.

Allerdings reagierte die Frau auch auf eine Art und Weise, mit der keiner der Anwesenden, auch nicht der Betroffene und schon gar nicht sie selbst gerechnet hätte: Sie besah sich das Ergebnis ihres unglückseligen Missgeschicks und bekam einen schallenden Lachanfall. Sie hielt sich krümmend den Bauch und japste nach Luft, während dicke Lachtränen ihre Wangen hinunterrollten und ihre Himmelfahrtsnase sich noch intensiver nach oben reckte. Mit letzter Kraft versuchte sie dennoch, den Schaden mit Hilfe der Servietten zu minimieren, während der Mann sie unsanft und unter einer Flut von Verwünschungen von sich wegschob. Die Frau gab auf und brachte unter Tränen und ständig wiederkehrenden Lachsalven mühsam eine Entschuldigung hervor:

„Tut mir sooo leid (glucks), ich werde selbstverständlich (glucks) für den Schaden aufkommen! Hier, meine Adresse (glucks)! Für die Kosten der Reinigung!“ Dabei zog sie, weiter von Lachanfällen gepeinigt, eine Visitenkarte aus ihrem Geldbeutel.

Inzwischen blieb auch bei den Umstehenden kein Auge mehr trocken, jeder musste mitlachen, ob er wollte oder nicht. Der Lachanfall der jungen Frau klang so herzlich und ehrlich, dass sich jeder automatisch auf ihre Seite schlug, zumal der junge Mann aufgrund seines aggressiven Verhaltens nicht gerade ein Sympathieträger war.

„Von Ihnen nehme ich überhaupt nichts! Und laufen Sie mir nie mehr wieder über den Weg!“, schrie er schrill und rannte davon.

Die junge Frau schaute ob des entstandenen Desasters entschuldigend zu dem Barkeeper. Der grinste von einem Ohr zum anderen und meinte:

„No problem, für diese Vorstellung bekommen Sie kostenlos das gleiche Menü noch einmal.“

Fünf Minuten später setzte die junge Frau, die sich inzwischen beruhigt hatte, ihren Versuch mit einem erneut gefüllten Tablett fort und gelangte ohne besondere Vorkommnisse zu dem freien Platz an der Theke.

„Das war ja echt schräg“, meinte ihre Sitznachbarin zu ihr und musste immer noch lachen.

„Es tut mir schrecklich leid“, meinte sie zu ihrer Entschuldigung, „aber ich habe es ja schließlich nicht absichtlich gemacht“.

„Natürlich nicht“, warf die andere junge Frau grinsend ein. „Der arrogante Kerl war allerdings mit seiner Situation sichtlich überfordert“.

„Cheers, ihr zwei“, meinte sie zerknirscht, strich eine blonde Strähne aus dem Gesicht und hob ihr Glas.

„Cheers!“, riefen beide wie aus einem Mund.

„Ich bin Charlott!“

„Emma!“

„Mia! Freut mich!“

Charlott betrachtete freundlich interessiert die beiden rothaarigen Frauen.

„Seid ihr Schwestern?“, fragte sie

„Wie kommst du darauf?“, wollte Emma wissen.

„Na, wegen der roten Haare“.

Emma und Mia grinsten.

„Nee, Emmas rot ist echt, meines gefärbt“, klärte Mia auf. „Und Emmas Locken sind auch echt“, fügte sie grinsend hinzu, zog eine von Emmas Locken in die Länge, die sofort wieder in ihre vorherige Position zurückschnellte.

„Ah ja!“, grinste Charlott und schob sich eine Gabel mit Pommes in den Mund. Nach einer Weile sah sie von ihrem Teller hoch, schaute fragend von einer zur anderen.

„Urlaub? Auch Bulgarien?“

„Jein“, meinte Emma. „Bulgarien ja, Urlaub jein. Ich besuche hauptsachlich meinen Onkel. Der wohnt in der Nähe von Burgas, an der Schwarzmeerküste. Mia begleitet mich. Und du?“

Charlott zögerte mit ihrer Antwort. Dann:

„Ja, irgendwie auch Urlaub. Aber eher Recherchen.“

„Bist du Schriftstellerin?“, fragte Emma interessiert.

„Gott bewahre!“, meinte Charlott und schien nach einer Antwort zu suchen. Die kam langsam und überlegt: „Nein, ich habe Geschichte studiert. Ähm, ich interessiere mich für die Vergangenheit auf dem Balkan. Thraker, Osmanen und so.“

„Ach ja“, antwortete Mia und hatte irgendwie das Gefühl, ihr zu nahe getreten zu sein.

Charlott spürte Mias Rückzug, strich ihre blonde Mähne hinter die Ohren und versuchte sich schnell in einem Witz:

„Nun, deshalb bin ich aber kein Fossil“, meinte sie lächelnd. „Mein Ziel ist übrigens auch Burgas. Hotel Promenade. Fast direkt am Strand. Wäre doch schön, wenn wir uns mal auf einen Kaffee treffen könnten, oder?“

„Kann’s auch ein Gläschen Wein sein?“, fragte Mia verschmitzt.

„Noch besser!“, freute sich Charlott.

Emma kramte in ihrer Handtasche. Als sie fündig geworden war, legte sie ein Kärtchen auf den Tresen und schob es Charlott hin.

„Das ist das kleine Hotel meines Onkels. Direkt am Strand, allerdings ein bisschen außerhalb von Burgas. Da werden wir die nächsten Tage sein.“

Charlott griff nach der Visitenkarte und steckte sie ein. Dann wanderte ihr Blick nach links, und blieb an irgendetwas oder irgendjemand hängen. Emma schien es, als verharrte sie erschrocken oder zumindest erstaunt.

„Sorry, ich muss mal“, meinte Charlott, nahm ihren Rucksack und ging zur Toilette.

Emma und Mia schauten ihr nach. „Nett, die kleine Ossitante, findest du auch?“, fragte Mia, als Charlott aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden war.

„Ossitante? Wie kommst du denn darauf?“

„Tja, mein geschultes Ohr. Ich höre halt die Feinheiten, während du eher für das Grobe zuständig bist“, feixte sie.

Emma zwickte sie etwas grob in die Seite. Mia schrie erschreckt auf.

„Du hast es doch selbst gesagt, meine Liebe!“, kicherte Emma.

Sie alberten noch weiter herum, bis Mia meinte:

„Sag‘ mal, wo bleibt denn Charlott so lange?“

Emma drehte sich suchend um.

„Hm, weiß nicht!“

„Na ja, sie wird schon wieder auftauchen!“

Aber genau das tat sie nicht. Emma ging einige Minuten später auf die Toilette und suchte alle Kabinen durch. Nichts.

Kurze Zeit später begann das Boarding. Emma und Mia schauten sich weiter suchend um. Von Charlott keine Spur.

Dann kam der letzte Aufruf: „Passagier Frau Charlott Lehmann, gebucht auf Flug Nummer 437, bitte zum Boarding. Das Gate schließt in 3 Minuten.“

Die beiden Frauen sahen sich ratlos an. Was sollten sie machen? Hatte Charlott sich es anders überlegt? Hatte sie jemanden getroffen und ihre Pläne geändert?

Sie stiegen nachdenklich ins Flugzeug ein. Keine Spur von Charlott.

4. Emma

Für Emma hätte zu keinem günstigeren Zeitpunkt Onkel Norberts Einladung kommen können als dem vor vierzehn Tagen. Seit Wochen befand sie sich nämlich in einem Tief ohne erkennbaren Ausweg. Es breitete sich einfach wie ein gefräßiger Wurm in ihrem Leben aus: beruflich, persönlich und überhaupt. Die Arbeit im Museum beispielsweise, die erschien ihr von Tag zu Tag frustrierender. Hatte sie dafür echt jahrelang Kunst studiert? Um Programme zu schreiben, Exponate zu erklären und einfältige Fragen der Museumsbesucher zu beantworten? Sorry, sie gab zu, mit letzterem Einwand ganz schön ungerecht zu sein. Als sie sich damals nach dem Abitur - ihrer Meinung nach viel zu früh und viel zu plötzlich - für einen Beruf oder für ein Studium hatte entscheiden sollen, konnte nichts, aber auch gar nichts sie ansprechen. Allerdings fehlten ihr damals auch klare Vorstellungen oder Vorlieben für ihre berufliche Zukunft und so zeichneten sich keinerlei Tendenzen ab. Nur vage Anhaltspunkte wie: irgendetwas Interessantes, nichts Alltägliches, nichts Langweiliges. Im Grunde, wenn sie ehrlich sein sollte, wusste sie damals eigentlich viel besser, was sie nicht wollte. Bloß nicht so etwas Trockenes wie Betriebswirtschaftslehre oder ähnliches; Architektur ging auch nicht – viel zu viel Mathematik; Jura – zu viele Gesetze auswendig zu lernen; Medizin – dafür reichte ihr n.c. nicht, und Lehramt kam überhaupt nicht in Frage – das versprach nur Ärger mit faulen oder schlecht erzogenen Kindern. Am Ende sogar beides. Was nun, sprach Zeus. Dann stieß sie bei ihrem motivationslosen Suchen auf eine Empfehlung in den Werbeseiten zu einem Kunststudium: Du bist ideenreich, kreativ und hast Persönlichkeit? Außerdem kannst Du Dich gut selbst vermarkten und gehst auch mal ein Risiko ein? Dann ist ein Studium Kunst genau das Richtige für Dich!

Das hatte sie angesprochen. Ideenreich war sie, zumindest normalerweise, wenn sie nicht gerade in einer Krise steckte. Kreativität hatte sie mit ihrem Hobby schon bewiesen: den 1. Preis bei Jugend fotografiert, den hatte sie damals in der 12 eingesteckt. Persönlichkeit? Nun, klar, jeder hat eine Persönlichkeit, warum sie nicht auch? Und anbieten konnte sie sich auch wie sauer Bier, wenn es sein musste. Ein Risiko eingehen? Genau das würde sie jetzt tun, wenn sie sich für dieses Kunststudium entscheiden sollte. Was sie im Übrigen dann auch getan hatte. Vorsichtshalber mit Kulturgeschichte als Nebenfach. Na also – passt doch, hatte sie sich damals gesagt.

Und es war auch nicht die schlechteste Entscheidung. Das Studium selbst machte ihr Spaß, aber auch die vielen unterschiedlichen Menschen, die sie dabei kennenlernte, sowie die zahlreichen Studentenfeten, auf denen sie sich nur allzu gerne mit Freundinnen tummelte. Danach ging’s dann allerdings zur Sache – Geld musste her. Sie entschied sich bei den nicht gerade üppigen Stellenangeboten für den Job im Berliner Keramikmuseum. 2 Jahre war das jetzt her. Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken, wie schnell die Zeit verging. Und sie hatte noch nicht wirklich etwas erlebt. Zugegeben, anfangs hatte der Job auch wirklich Spaß gemacht, zumal sie einen Faible für seltenes Porzellan hatte. Inzwischen war sie aber unzufrieden. Vielleicht trug aber auch ihr Privatleben zu ihrer Krise bei. Nach drei Jahren Beziehungszeit hatte sie sich vor einem halben Jahr von Markus getrennt und zunächst ihr Singledasein genossen mit Partys, Partys und nochmal Partys. Dieses Leben forderte jedoch auch seinen Tribut. Während der Arbeitswoche war sie müde und motivationslos. Alles in allem: sie konnte sich selbst nicht mehr ausstehen.

Oder hatte Mia am Ende recht, wenn sie meinte, sie sei ein verwöhnter Fratz? Ein Einzelkind, hätte immer alles oder fast alles bekommen, was sie wollte. Hätte nie teilen müssen, während sie, Mia, bei ihren beiden Brüdern auf vieles verzichten musste, ob sie wollte oder nicht. Da die beiden Jungs älter waren als sie, nahmen sie sich von ihr, was sie meinten, es würde ihnen zustehen. Skrupellos! Das muss man sich mal vorstellen! Null Gewissensbisse ihrer kleinen Schwester gegenüber! Wenn Emma bei Mia zu Besuch war und das Gehabe der beiden Rabauken mitbekam, war sie immer heilfroh gewesen, dass sie selbst keine Brüder hatte. Aber musste sie deshalb gleich ein verwöhnter Fratz sein? Nun, Mia neigte schon immer zu maßlosen Übertreibungen.

Jedenfalls kam Emma Onkel Norberts Einladung, ihn in Burgas an der schönen Schwarzmeerküste zu besuchen, wie gerufen. Warum auch nicht? Mal etwas ganz anderes als Mallorca oder Rhodos. Und überhaupt – in einem Balkanland war sie noch nie zuvor gewesen. Den Urlaubsantrag hatte ihre Chefin bereits genehmigt. Ganz plötzlich kam ihr eine Idee, und sie kramte den vergilbten Schuhkarton mit alten Fotos aus der hinterletzten Schrankecke hervor. Sie suchte nach Bildern von Onkel Norbert. Aus dem losen Haufen griff sie wahllos mal nach dem einen, mal nach dem anderen Foto und schmunzelte, als sie Papa mit Onkel Norbert Arm in Arm an einem See sitzend fand, Franz und Norbert Warnke. Mei, waren die beiden da noch jung! Sie schaute auf die Rückseite der Fotografie, es war aber kein Datum vermerkt. Wie alt mögen die damals gewesen sein, überlegte sie. Papa war älter als sein Bruder, er dürfte auf dem Foto 16 gewesen sein. Norbert reichte ihm gerade bis zur Schulter und schaute bewundernd und lachend zu seinem großen Bruder auf. Ihr Papa Franz und dessen kleiner Bruder Norbert. Sie schätzte sein Alter auf sieben, höchstens acht. Emma schaute sich das Foto genauer an. Ob Papa damals schon gewusst hat, dass er fliehen würde, fragte sie sich. Sie meinte, in seinen lachenden Augen gleichzeitig auch eine Spur von Traurigkeit zu erkennen, was vielleicht tatsächlich auf seine damaligen Pläne schließen ließ. Sie erinnerte sich an Papas Erzählungen, wie sich zu jener Zeit die wirtschaftliche Lage der DDR rapide verschlechtert hatte, wie beängstigende Versorgungsprobleme den Alltag beherrscht und Millionen von Flüchtlingen sich in den Westen abgesetzt hatten. Das Land war am Ausbluten. Gerade noch rechtzeitig hatte Papa sich entschieden, diesem Leben den Rücken zu kehren. Nur wenige Tage nach seiner Flucht in den Westen wurde die Sektorengrenze in Berlin abgeriegelt und somit das letzte Schlupfloch versperrt, durch das der SED-Diktatur noch zu entkommen war. Im Grunde hatte Papa nie gerne über diese Zeit gesprochen, es war die Zeit, als er seine Familie allein zurückgelassen hatte. Sein kleiner Bruder war zunächst untröstlich gewesen, aber im Laufe des Erwachsenwerdens lernte er, ein gewisses Verständnis für die Entscheidung seines großen Bruders aufzubringen und ihm zu verzeihen. Trotzdem war es für Papa ein wunder Punkt in seiner Geschichte, und er hatte immer versucht, mit vielen Care-Paketen und westdeutschen Devisen an die Familie sein schlechtes Gewissen erträglicher zu machen. Mit Norbert hatte er bis zu seinem Tod einen regen Briefaustausch gehabt, auch noch nach der Wende, als Norbert nach Bulgarien gezogen war und mit seinem bulgarischen Freund ein kleines Hotel eröffnet hat.

Und dorthin war sie jetzt von ihrem Onkel eingeladen. Aber nicht nur, um sich das Hotel und das Stück Land anzuschauen, sondern weil das alles einmal ihr gehören sollte. Da er selbst weder geheiratet noch jemals Kinder gezeugt hatte – zumindest soweit er das wusste, wie er immer schmunzelnd hinzufügte – sei sie, Emma, die Erbin. Das Testament war schon geschrieben.

5. Mia

Für Mia war es im Grunde auch genau der richtige Zeitpunkt, um sich ein paar Tage freizunehmen. Und um sich Gedanken über ihre weitere Zukunft zu machen. Man sah es ihr noch nicht an, aber Mia war schwanger. Trotzdem hatte sie mit ihrem Freund Jens Schluss gemacht.

Ihr Gesichtsausdruck, als sie Emma davon erzählte, verleitete diese zu der zögerlichen Frage:

„Willst du es denn behalten?“

Mia schaute sie verzweifelt an.

„Ich weiß es nicht, Emma, ich weiß es wirklich nicht.“

Emma versuchte, sich in ihre Freundin hineinzuversetzen: Mia - Architektin in einem großen Architekturbüro mit Zusage zur Abteilungsleiterin im Ressort Luxussanierungen. Also Geldsorgen konnte man getrost ausschließen, da war eine Zugehfrau gewiss jederzeit drin, überlegte sie. Sie war sich nur nicht sicher, ob Mia sich die alleinige Verantwortung für ein Kind zutrauen würde. Selbstverständlich wäre sie nicht allein, sie, Emma, war ja auch noch da. Aber komisch, über Kinder hatten sie sich nie unterhalten, fiel ihr auf, das war nie ein Thema zwischen ihnen gewesen. Vielleicht kam ihr deshalb diese Frage so surreal vor.

Zwei Wochen später trafen sie sich zum Essen bei ihrem Lieblings-Italiener, ‚Bei Fidele‘. Mia war völlig aufgelöst. So hatte Emma sie noch nie erlebt.

„Was ist passiert?“, fragte sie besorgt.

Mia schluckte, ihre braunen Augen waren mindestens eine, wenn nicht gar zwei Nuancen dunkler, ihr Ausdruck zeigte pure Fassungslosigkeit.

„Ich glaube es nicht, ich glaube es einfach nicht, was meine Chefin, die Giesriegel, mir heute gesagt hat. Sie …“

„Weiß sie schon von deiner Schwangerschaft?“, unterbrach Emma.

„Ja, ich habe es ihr schon letzte Woche gesagt.“

„Und?“

„Sie hat ganz normal reagiert. Dachte ich zumindest. Bis sich unser Missverständnis aufgeklärt hat.“

„Welches Missverständnis?“

„Die Giesriegel war davon ausgegangen, dass ich selbstverständlich abtreibe. Und als ich dann meinte, dass davon diesbezüglich keine Rede gewesen sei und ich mich noch nicht entschieden hätte, sagte sie, sie wäre deshalb davon ausgegangen, weil sie dachte, die Beförderung als Abteilungsleiterin sei mir wichtig. Natürlich ist sie mir das, hab‘ ich ihr geantwortet. Sie meinte wiederum, dass eine Schwangere mit dieser Aufgabe wohl absolut überfordert wäre, dieser Job auch viel zu stressig sei.“ Mia kochte innerlich und wischte sich unwirsch ihre Tränen aus Ärger und Wut von den Wangen.

„Das ist ja echt ein Hammer“, pustete Emma hörbar aus. „Und nun?“

„Das ist noch nicht alles. Sie meinte noch, dass eine Schwangerschaft zudem die Führungsanforderungen beeinträchtigen würde, von wegen Wechselhaftigkeit durch die Hormone. Und dann noch die Ausfälle durch Übelkeit, Erbrechen und ärztliche Kontrollbesuche. Sie hätte mich als eine integre und intelligente Mitarbeiterin zu schätzen gelernt, von daher war sie davon ausgegangen, dass ich durchaus die gleichen Gedankengänge hätte und ihrer Meinung sei.“

Mia entnahm fahrig ihrer Handtasche ein Taschentuch und putzte sich die Nase.

„Also, um es zusammen zu fassen: entweder Beförderung oder Schwangerschaft. Beides geht nicht“, meinte sie deprimiert und schlang verzweifelt ihre Arme um den Hals ihrer Freundin.

Emma drückte sie tröstend an sich und hatte plötzlich eine, wie ihr schien, zündende Idee:

„Sag mal, hättest du vielleicht Lust, mit mir nach Bulgarien zu fliegen? Ich hab dir doch von meinem Onkel erzählt. Du würdest auf andere Gedanken kommen, wir würden im Meer baden, hätten jede Menge Spaß und wer weiß, vielleicht findet sich ja eine Lösung, wenn du erst mal ein bisschen Abstand gewonnen hast.“

Mia schniefte, überlegte kurz und meinte:

„Ach Emma, du hast immer so gute Einfälle, dafür liebe ich dich. Lass mich überlegen: Ein paar Tage Urlaub zu bekommen, dürfte nicht schwierig werden. Mein aktuelles Projekt kann ich noch diese Woche beenden. Dann steht ein paar Tagen Relaxing nichts im Wege.“

„Fidele, zwei Prosecco, prego!“, rief Emma lachend.

Mia schien unsicher aufgrund ihres Zustandes, dann:

„Okay, einen kleinen Schluck darf ich wohl.“

Fidele jonglierte in bester Laune das Tablett mit den beiden Gläsern zu ihrem Tisch und flötete in echtem Italo-Deutsch:

„Ah, sie können wieder lachen, die beiden Signoritas! Jetzt habt ihr mich wieder glücklich gemacht! Cin cin!“

„Auf Bulgarien!“, meinte Emma.

„Auf Bulgarien!“, wiederholte Mia.

6. Emma und Mia

Der Flughafen Burgas war klein und possierlich. Zügig hatten sie die Passkontrolle hinter sich gebracht und ihr Gepäck vom Kofferband entgegengenommen.

„Bin schon total neugierig auf meinen Onkel“, meinte Emma zu ihrer Freundin. „Hoffentlich erkennen wir uns von den Fotos.“

Die elektronisch gesteuerte Tür öffnete sich, und die beiden traten in die Ankunftshalle. Emma schaute sich suchend um, ein Mann, der etwaige Ähnlichkeit mit Norberts Foto haben könnte, war allerdings weit und breit nicht zu entdecken.

„Schau hier!“, rief Mia und deutete auf einen schlanken, älteren Mann mit weißen Haaren, der ein selbstgemachtes Schild in der Hand hielt: Emma Warnke.

„Ups, das kann doch unmöglich Onkel Norbert sein“, meinte sie erstaunt.

„Lass uns erst einmal hingehen und fragen“, riet Mia.

Wenn Emma auf einen freudigen Empfang eingestellt gewesen sein sollte, dann wurde sie gleich eines Besseren belehrt. Noch optimistisch und guter Dinge ging sie auf den Mann zu und lächelte ihm ihr frisch gelerntes „Dobre den!“ zu.

Der Mann schaute sie durchdringend und ohne eine Miene zu verziehen an, entnahm seiner Brusttasche ein Foto, verglich dieses konzentriert mit der Person, die vor ihm stand und gab dann ein Zeichen, ihm zu folgen. Verunsichert ob der unerwarteten Situation, schauten sich die beiden Frauen ratlos an, hefteten sich dann aber sofort an seine Fersen, da er ein erstaunliches Tempo vorlegte. Emma stöhnte. Mit der einen Hand zog sie den schweren 23kg- Koffer hinter sich her, mit der anderen hielt sie die Riemen ihrer vollgestopften Shoppingtasche an der Schulter fest, um sie am Herunterrutschen zu hindern. Missmutig haftete ihr Blick an dem breiten Rücken des Mannes, mit dem sie versuchte, Schritt zu halten. Während die Sonne ihr erbarmungslos auf den Kopf brannte und sich dicke Schweißperlen auf ihrer Stirn bildeten, warf sie einen Blick auf Mia, nur um festzustellen, dass es ihr kein bisschen besser ging. Trotzdem verfielen sie automatisch in einen Laufschritt, denn der Abstand zu ihrem fremden Abholer hatte sich trotz ihrer Anstrengungen vergrößert. Wütend nahm ihr gereizter Blick die breiten Schultern des Mannes vor ihnen wahr, mit der bitteren Erkenntnis, dass es für diesen unhöflichen Menschen ein Leichtes gewesen wäre, ihnen sogar beide Koffer abzunehmen. Emma malte sich in Gedanken diverse Situationen aus, in denen sie ihm so einiges heimzahlen würde.

Endlich schien die Hatz beendet, denn ihr Abholer blieb vor einem Auto stehen, sollte man dieses Vehikel überhaupt als ein solches bezeichnen können. Abgesehen davon, dass eine eindeutige Farbgebung der Lackierung ausgeschlossen festzustellen war, zeugten diverse Beulen um das Gefährt herum von einem außergewöhnlichen Fahrstil des Besitzers, und Emma fragte sich, warum es sie wunderte, dass ein Aufschließen des Schrotthaufens nicht nötig war. Die Schlösser hatten wohl in einem anderen Jahrzehnt funktioniert. Kein Problem - wer sollte dieses ‚Unikat‘ auch stehlen wollen?

Ihr Abholer öffnete den Kofferraum und, Emma mochte es kaum glauben, zeigte sich hilfreich, indem er ihre schweren Koffer mit überraschender Leichtigkeit ins Auto hievte.

Mia setzte sich nach hinten, Emma auf die Beifahrerseite. Sie wagte es kaum, ihre Füße auf dem Karosserieboden abzustellen, das Blech schien ihr wenig vertrauenerweckend, sprich pergamentdünn. Der Gurt, den sie anlegen wollte, klemmte, und es kostete sie einiges an Geduld, bis es ihr gelang, sich anzuschnallen. Neugierig schielte sie zur Seite und betrachtete den seltsamen Menschen, dessen dünner Körper in einem viel zu großen weißen Hemd über einer gleichfarbigen Hose steckte. Ein Exemplar ganz in weiß. Was ihn aber noch befremdlicher wirken ließ als sein ungewöhnliches Outfit, war seine aufrechte Körperhaltung, bedingt durch den ganz nach vorne eingestellten Fahrersitz und das trotz seiner beachtenswerten Körpergröße. Dadurch war der Platz bis zum Armaturenbrett sehr eingeschränkt, so dass seine langen Arme das Lenkrad umklammerten, als müsse er es festhalten. Komischer Kauz, dachte Emma, und studierte jetzt sein Profil. Am auffälligsten waren die buschigen Augenbrauen, genauso weiß wie sein Kopfhaar und der lange Bart. Verwunderlich fand sie allerdings auch seine wässrig blauen Augen, die er konzentriert auf die Fahrbahn richtete. Sie hätte bei einem Bulgaren eher dunkle Augen erwartet. Was soll’s, überlegte sie, vielleicht hatte er ja nordeuropäische Wurzeln, die ihm diese Augenfarbe verliehen.

Dann kehrten ihre Gedanken wieder zu ihrer Situation zurück. Ein paar klärende Worte wären jetzt auf jeden Fall angebracht, entschied sie. Allerdings konnte sie kein Bulgarisch. Sie versuchte es auf Deutsch, ganz langsam und mit deutlicher Aussprache, auch wenn sie sich keinerlei Hoffnung auf Erfolg versprach:

„Wo ist mein Onkel? Norbert Warnke!“

Zu ihrer absoluten Überraschung antwortete er:

„Hospital.“

Emma und Mia schauten sich erschreckt an.

„Hospital? Ist er krank?“

Der Mann nickte. Dann zeigte er mit dem Zeigefinger auf seine Brust und meinte mit einem völlig unerwarteten Anflug eines Lächelns:

„Ich Duke.“

„Dein Name?“, fragte Mia.

Er schüttelte den Kopf und wiederholte den Namen Duke, während sein Mundwinkel wieder verdächtig zuckte.

„Was nun?“, fragte Mia entnervt. „Ja oder nein?“

Emma wusste Rat. „Wenn die Bulgaren den Kopf schütteln, dann heißt das ‚ja‘, während Nicken mit dem Kopf ein ‚nein‘ bedeutet. Das kenne ich aus Griechenland. Die machen das dort genauso.“

Duke verließ das Flughafengelände und reihte sich in den Verkehr der zweispurigen Autostraße ein, wobei Emma sich nicht sicher war, ob er oder die anderen Autofahrer darauf achteten, dass dieses Manöver unfallfrei gelang. Bald konnten sie linkerhand das Meer sehen, immer wieder ein ergreifender Augenblick, der in ihr eine gewisse Sehnsucht nach Ferne und Freiheit erweckte. Die Wasseroberfläche glitzerte im Schein der Sonne, unzählige Möwen segelten elegant im Kreis. Ab und zu stürzte eine kopfüber hinunter, tauchte in das erfrischende Nass und hoffte wohl auf einen appetitlichen Happen. Der Anblick entlockte den beiden Frauen abwechselnd ein „Ah!“ und „Oh!“.

„Schau mal, Emma, die Häuser in der Ferne, das ist bestimmt schon Burgas“, rief Mia.

Duke schüttelte den Kopf.

„Nicht?“, fragte Mia.

Duke grinste, Mia kapierte schnell. Ach ja, da war sie wieder, die negierende Zustimmung. Nun, daran würde sie sich erst einmal gewöhnen müssen.

Am nächsten Kreisel bog er ab, begleitet von einem infernalen Hupkonzert und aufgeregtem Gestikulieren der anderen Verkehrsteilnehmer. Die beiden Frauen hielten die Luft an und atmeten erst wieder aus, als das Manöver beendet war.

Kurze Zeit darauf bog Duke auf einen Parkplatz ein, der zu dem Krankenhaus gehörte. In bekannter Manier stieg er aus, ohne sich auch nur einmal umzudrehen und bewegte sich in Richtung der Eingangstür. Okay, dachte Emma, deine Wertschätzung hast du uns unmissverständlich rübergebracht.

Sie folgten ihm wieder zügig, denn ein jeder seiner ausholenden Schritte verlangte von Emma und Mia gleich zwei, wenn sie ihn nicht verlieren wollten. Von hinten, überlegte Emma, sah er aus wie eine Kopie von Gandalf, dem weißen Zauberer aus Herr der Ringe. Der hatte allerdings den Elben und den Menschen Beistand geleistet. Im Gegensatz zu Duke. Er führte sie schnurstracks zur kardiologischen Abteilung. Emma öffnete vorsichtig die Tür zum Krankenzimmer und schob sie langsam auf. Ihr Blick streifte über acht Betten, bis er auf einem haften blieb. Unsicher näherte sie sich dem Krankenbett und fragte leise:

„Norbert?“

Der Mann, der bleich in den Kissen lag, öffnete die Augen und verzog sein Gesicht zu einem freudigen Lächeln.

„Emma!“, rief er. „Ich freue mich so, dass du hier bist!“

Emma beugte sich zu seinem Gesicht herunter und flüsterte:

„Ich mich auch! Aber was machst du denn für Sachen? Wie geht es dir?“

Norbert grinste.

„Gut. Gut, meine Liebe. Bin eigentlich nur noch zur Beobachtung hier. Morgen kann ich nach Hause. Lass‘ dich anschauen!“

Er taxierte sie neugierig und schien zufrieden mit dem Bild, das sich ihm bot.

„Wie war die Reise?“, fragte er.

„Gut, wirklich. Alles bestens. Ich bin mit Mia hier, meiner Freundin. Ich habe dir davon am Telefon erzählt, dass sie mitkommt.“

„Ja, das ist gut. Hat Duke euch abgeholt?“

„Hat er“, bestätigte Emma und enthielt sich jeglichen Kommentars, um ihren Onkel nicht unnötig aufzuregen.

Norbert schloss die Augen und schien nachzudenken. Dann streifte er resolut die Decke von seinen dünnen Beinen und meinte:

„Hol mal meine Sachen aus der Tasche und gib‘ sie mir.“

Emma tat, was er wollte und fragte skeptisch:

„Was hast du vor?“

„Was wohl? Ich entlasse mich“, grinste er wie ein kleiner Junge, der sich gerade einen Schabernack erlaubt hatte.

Emmas Blick schien recht besorgt, sie sagte aber nichts.

7. Der nächste Morgen im Hotel Tschaika

Emma schrak aus ihrem Schlaf hoch. Irgendetwas hatte sie geweckt. Wer oder was auch immer, es klang wie ein grobes Gelächter. Ihr Kopf dröhnte. Das hatte sie sicherlich Norberts selbstgebranntem Rakia zu verdanken. Sie schälte sich aus ihren diffusen Tresterträumen und schlurfte zum Fenster. Nichts zu sehen. Sie öffnete die Balkontür. Vor ihr breitete sich in tröstlicher Ruhe das Meer aus, noch still und unschuldig. Welch ein traumhafter Blick, stöhnte sie glücklich. Es fühlte sich an, als müsse sie nur ihre Hand weit genug ausstrecken, um das Wasser zu erreichen. Allerdings hielt die Ruhe nicht lange an. Da war er wieder, der Krach, das Gelächter. Sie sah sich suchend um und vermutete eine Horde Jugendlicher, vielleicht verbliebene Nachtschwärmer auf dem Weg nach Hause. Es war nichts zu sehen. Eilig zog sie sich Shirt und Shorts über und verließ ihr Zimmer. Im Flur klopfte sie an Mias Zimmertür, aber als kein Lebenszeichen von ihr zu hören war, ging sie die Treppe hinunter und begegnete einer kleinen, rundlichen Frau, die sie freundlich ansah.

„Hallo Emma! Sie sind doch Emma?“, fragte sie.

„Ja, und Sie?“

„Ich bin Petja“, entgegnete diese und fügte grinsend hinzu: „Mädchen für alles hier.“

„Ähm, ach ja. Mein Onkel hat von Ihnen erzählt. Guten Morgen“, meinte sie, erwähnte allerdings nicht, dass Norbert sie als eine Frau aus Speck, aber mit Herz bezeichnet hatte. „Sagen Sie mal, dieser Lärm vorhin – haben Sie den auch gehört? Das Hotel liegt doch völlig abseits. Wer hat sich denn hierher verlaufen?“

Petja schüttelte nachdenklich den Kopf.

„Na, dieses Gelächter und Gegröle!“, meinte Emma.

Petja überlegte, dann lachte sie.

„Ach so, das. Nichts Menschen, das sind Tschaikas, Möwen. Lachmöwen. Aber lachen wie Menschen.“

Emma schaute Petja verdutzt an.

„Im Ernst?“, fragte sie.

„Ja, du wirst sehen. Wie alle Touristen, sie wollen zuerst nicht glauben. Und noch was: wir sagen hier nur du. Nicht Sie.“

Emma nickte und kam sich wegen der Verwechslung mit Möwen etwas einfältig vor, aber nun ja, dachte sie, man kann ja nicht alles wissen.

„Und Mia, deine Freundin, auch schon wach?“

„Nein, sie schläft noch.“

Emma überlegte, was sie machen sollte, dann entschied sie:

„Ich gehe mal vor die Tür und schaue mich ein bisschen um. Gestern war es schon dunkel, als wir ankamen.“

Draußen atmete sie tief die Luft ein. Herrlich, dachte sie, und wie gut, dass die Möwen mich geweckt haben, sonst hätte ich diese bezaubernde Morgenstimmung verschlafen. Eine frische Brise strich über ihre Haut, was schon jetzt auf einen sehr warmen Sonnentag schließen ließ. Das Meer lag immer noch ruhig vor ihr. Ruhig wie ein See. Sie schlenderte vom Hotel über den Pier, an dessen Ende zwei Boote festgemacht waren und im Wasser leise vor sich hindümpelten. Als sie das Ende erreicht hatte, drehte sie sich zum Hotel um.

„Wow! Welch irdisches Paradies!“, entfuhr es ihr.

Die Hotelfassade war himmelblau und weiß gestrichen und schien mit der Morgensonne um die Wette zu leuchten. Es war so gleißend hell, dass Emma mit der Hand ihre Augen abschirmen musste. Auf den unterschiedlichen Terrassenhöhen bewegten sich weiße, hauchdünne Tücher wie schwebende Elfen. Emma war verzaubert. Sollte sie je einen mystisch angehauchten Ort gesehen haben, dann war es dieser hier. Sie sog den Anblick tief in sich auf und ließ ihren Blick weiterwandern. Das Hotel schmiegte sich direkt an das naturbelassene Meeresufer, nur ein paar Meter vom Wasser entfernt. Zu beiden Seiten zog sich ein feiner Sandstrand bis in die Ferne und grenzte das Ufer landeinwärts von halbhohen Klippen ab. Zum Hinterland hin wuchsen Kiefern, Eschen und Ahornbäume in imposanter Größe.

Noch völlig beeindruckt von dem Charme des Hotels, seiner traumhaften Lage und der umgebenden Natur, ging sie den Pier zurück und betrat das Haus. Ihr Onkel saß bereits am Frühstückstisch.

„Hast dich schon ein bisschen umgesehen?“, fragte er neugierig.

„Ja, habe ich“, antwortete sie, immer noch ein verzücktes Lächeln im Gesicht.

„Und …?“

„Ich bin wirklich beeindruckt, Norbert. Traumhaft schön ist es hier.“

Norbert atmete erleichtert aus. Vielleicht war er seinem Wunsch einen Schritt nähergekommen, und Emma würde das Hotel behalten und weiterführen. Er wollte sie aber nicht drängen, wusste, solch eine Entscheidung brauchte seine Zeit.

„Kinder, ist das schön hier!“, schwärmte Mia, als sie das Zimmer betrat.

Während Emma ihr eifrig beipflichtete, schmunzelte Norbert zufrieden.

„Und meine fleißige Perle, die Petja, habt ihr die auch schon kennengelernt?“, fragte er, als diese eintrat und einen Korb frischer Tomaten auf dem Tisch abstellte.

„Sie hält hier alles am Laufen seit Dimitar nicht mehr ist. Sie verkörpert sozusagen die gute Seele des Hauses.“

Petja grinste noch mehr und tätschelte gutmütig Norberts Hinterkopf.

„Ja, ja, du Schmeichler“, meinte sie mit passabler deutscher Aussprache.

Emma grinste und wandte sich wieder an Norbert:

„Wann wirst du das Hotel dieses Jahr öffnen?“

Norbert schüttelte bekümmert den Kopf.

„Voraussichtlich gar nicht, meine Liebe. Irgendwann muss man einsehen, wann Schluss ist. Ich kann das alles hier allein nicht mehr stemmen. Dimitar fehlt mir sehr. Wir haben uns die Arbeit geteilt. Seit er nicht mehr ist… Na ja, lassen wir das. Ich fürchte, meine Gesundheit lässt ein Weitermachen einfach nicht mehr zu, so bitter das auch ist. Und weißt du, wenn man das begriffen hat, dann sollte man sich auch danach richten. Deshalb, meine Liebe, wollte ich dich ja gerne als Erbin in meinem Hotel sehen. Es würde mir viel bedeuten. Sicher, ich kann mir vorstellen, du hast dir dein Leben natürlich in Deutschland eingerichtet. Aber – gib dem allen hier eine Chance, es lohnt sich. Es ist ein wunderbares Leben hier. Und das könnte es auch für dich werden. Deshalb habe ich eine große Bitte: schaue dir das alles erst einmal in Ruhe an, lerne die Menschen kennen, die mit mir zusammenarbeiten. Menschen, die es wert sind und auf die du dich verlassen kannst. Deshalb habe ich auch für heute Abend Emilio eingeladen. Emilio ist mein Weinlieferant. Nein, stimmt nicht ganz, er ist viel mehr als ein Geschäftspartner. Er ist ein Freund. Und …“, er zwinkerte Emma zu und grinste verschmitzt. „…ein attraktiver Mann. Weltgewandt, intelligent, integer. Aber glaube mir, ich weiß, was es bedeutet, alles hinter sich zu lassen und in einem anderen Land neu anzufangen. Deshalb nimm dir bitte diese zwei kommenden Wochen zum Nachdenken und zum Kennenlernen und entscheide erst dann. So, jetzt aber Schluss damit. Zieh‘ los mit deiner Freundin Mia und genießt den Tag. Genießt das Nichtstun, genießt positive Gedanken, genießt das Leben. Mehr nicht. Und das ist mehr, als wir uns jemals wünschen können. Ich für meinen Teil werde mir noch einen klitzekleinen Schönheitsschlaf gönnen“, meinte er schmunzelnd, stand auf und verließ schlurfend das Zimmer.

„Ich finde, wir sollten genau das tun, was dein Onkel eben vorgeschlagen hat“, meinte Mia gutgelaunt.

„Wie geht es dir?“, fragte Emma ihre Freundin, als sie am Strand nebeneinander auf den Badelaken lagen, Gesicht und Körper der Sonne entgegengestreckt, eingecremt wie zwei Ölsardinen.

„Überraschend gut. Ich genieße diesen Abstand zu Deutschland, zu meinem Job und zu meiner Chefin.“ Sie schwieg einen Augenblick, dann fügte sie hinzu:

„Und zu einer Entscheidung. Aber weißt du was? Hier, so weit weg von Deutschland, fern von allen Verpflichtungen und Entscheidungen, da sieht die Welt wieder ganz anders aus. Wenn ich hier auf das Meer hinausschaue, du glaubst es nicht, aber dann höre ich irgendwie Musik. Musik, die mich einerseits mit Ruhe und Gelassenheit erfüllt. Musik, die mir andererseits sagt, tanze mit, greife nach dem Leben!“

Emma legte ihren Arm um Mias schmale Schultern und drückte sie an sich.

Sie blieben eine Weile still liegen, schauten nur auf das Meer hinaus.

Dann fragte Mia:

„Was sagst du zu deinem Erbe? Könntest du dir vorstellen, es anzunehmen, hier zu leben, das Hotel weiterzuführen? Oder wäre das komplett unvorstellbar für dich?“

Emma überlegte.

„Ich weiß nicht, Mia.“

„Einfach alles hinter sich lassen, am Meer leben, der eigene Chef sein. Hört sich doch gar nicht so übel an, oder?“

„Und du? Könntest du dir das vorstellen?“, fragte sie mit gemischten Gefühlen.

Mia ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Dann mit fester Stimme:

„Doch, Emma. Ich glaube, das könnte ich wirklich.“

Emma war erstaunt über Mias selbstsichere Antwort und wusste nicht, was sie darüber denken sollte. Eine momentane Laune von ihr? Oder eine echte Bereitschaft zu einem Richtungswechsel, zu einem ganz neuen und völlig anderen Leben. Um abzulenken, schnellte sie hoch und rief ihr zu:

„Auf ins Wasser! Ich glaube, wir könnten beide eine Abkühlung gebrauchen!“

Den restlichen Tag verbrachten sie mit herrlichem Nichtstun, sonnten sich, holten sich zwischendurch Abkühlung im Wasser und gaben sich ihren Gedanken und Träumen hin.

8. Der Besuch

Am Abend tauchten zwei Damen in luftigen Sommerkleidern und mit sonnengeröteten Nasen gut gelaunt auf der Terrasse auf. Die untergehende Sonne glitzerte bereits über dem Meer und ließ Tausende Diamanten auf der Wasseroberfläche in ihrem Licht erglänzen. Eine Idylle, wie sie schon Gauguin, Monet und Courbet unvergesslich auf Leinwände gezaubert haben.

Norbert saß mit seinem Besucher an einem langen Holztisch, auf dem schon leckere Appetithäppchen mit Tarama, Tiger Prawns und Tintenfischstückchen, eine große Schüssel Shopska-Salat und eine eisgekühlte Taratorsuppe aus Joghurt, Salatgurke und Dill auf sie warteten. Und mittendrin natürlich der selbstgebrannte Rakia, der bei einem bulgarischen Essen nicht fehlen durfte. Und der Mann an Norberts Seite - das konnte nur der Weinhändler Emilio sein. Emma musste ihrem Onkel zustimmen, ein durchaus attraktiver Mann. Sonnengebräunte Haut, fast schwarzes Haar, erfreulicherweise bartlos, dunkle, funkelnde Augen und Gesichtszüge, die Entschlossenheit zeigten. Was sie sah, gefiel ihr. Auch die Lachfalten, die eine Portion Humor verrieten.

Mit einem Lächeln, breit und freundlich, erhob er sich und begrüßte die beiden Frauen. Zuerst reichte er Emma die Hand und stellte sich vor.

„Emilio Mancini!“

„Emma Warnke, Norberts Nichte“, lächelte sie freundlich zurück und fügte hinzu. „Ihr Name hört sich aber nicht gerade bulgarisch an.“

„Ich bin erfreut, Sie kennen zu lernen, Emma. Und was meinen Namen anbetrifft, haben Sie vollkommen recht. Meine Vorfahren kommen aus Italien, genau gesagt aus dem Piemont. Wo ich auch geboren bin.“

Und zu Mia gewandt meinte er: „Und Sie sind Emmas Freundin?“

„Genau. Mia Hauff. Und das Piemont kenne ich im Übrigen ganz gut. Natürlich nur aus dem Urlaub“, antwortete sie augenzwinkernd.

„Angenehm. Ich bin entzückt, zwei so hübsche Damen kennenzulernen“, erwiderte er mit seinem funkelnden Blick, der auf Emma fast schon eine magnetische Wirkung zeigte. „Ich hoffe, Sie sind gut angekommen und haben den ersten Schrecken wegen Norberts Krankenhausaufenthalt gut überstanden. Wovon ich allerdings überzeugt bin, denn Sie sehen beide einfach fantastisch aus. Willkommen in Bulgarien!“

Emma musste schmunzeln wegen Emilios zur Schau gestellten Italo-Charmes. Aber es passte zu ihm und auch zu ihrer Urlaubsstimmung.

„Ah geh“, meinte Norbert zu Emilio, „die beiden sind gut drauf. Sie haben sogar Duke überlebt“, lachte Norbert. „Und die Autofahrt mit ihm“, fügte er grinsend hinzu.

Emma und Mia rollten beide bei dem Namen Duke die Augen.

„Der Name Duke ist mindestens so ungewöhnlich wie er selbst“, meinte Mia. Ist er vielleicht so musikalisch wie Duke Ellington, dass er sich so nennt? Ziemlich unwahrscheinlich, würde ich sagen. Oder hat er diesen britischen Adelstitel geerbt? Noch unwahrscheinlicher. Also?“

Emilio zeigte mit seinem breiten Lachen schneeweiße Zähne.

„Das bleibt wohl sein Geheimnis“, meinte er grinsend. „In seinen Ausweis habe ich jedenfalls noch nicht geschaut. Aber was soll’s, Hauptsache, er hat euch heil hierhergebracht.“

Emilio wechselte zu einem tadelnden Ton in seiner Stimme:

„Aber im Ernst, Norbert, du hättest mir Bescheid sagen sollen. Ich hätte selbstverständlich Emma und Mia gerne vom Flughafen abgeholt. Unverzeihlich von dir.“

„Das weiß ich doch, mein Freund. Aber Petja hat das Ruder übernommen, während ich im Krankenhaus lag. Da hatte ich nichts mehr zu melden. Nur, abgesehen davon, Duke ist ein feiner Kerl, wenn, zugegebenermaßen auch ein bisschen gewöhnungsbedürftig. Und außerdem lassen wir jetzt das steife ‚Sie‘. Das kennen wir hier nicht. Einverstanden?“

Norberts Vorschlag traf auf allgemeine Zustimmung, und Emilio wandte sich wieder den Frauen zu:

„Ich bin schon neugierig zu erfahren, wie euer erster Eindruck von hier ist.“

„Ich bin sehr überrascht, wenn ich ehrlich sein soll“, begann Emma. „So schön habe ich es mir wirklich nicht vorgestellt. Und, ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll ohne kitschig oder albern zu klingen. Aber es fühlt sich hier für mich an, als sei es ein magischer Ort, fast schon ein bisschen unwirklich.“

Emmas Wangen röteten sich vor Verlegenheit. „Sorry, klingt wirklich ein bisschen albern.“

„Nein, nein, keinesfalls“, entgegnete Emilio eifrig, während sein Blick eine Spur zu lange auf Emmas Gesicht weilte, bis er sich Mia zuwandte: „Und du, Mia? Wie gefällt es dir?“

„Tja, Emmas Eindruck klingt wirklich ein bisschen kitschig, aber ich muss ihr einfach zustimmen. Dieser Ort hier macht etwas mit einem.“

„Dann lasst uns darauf anstoßen, auf diesen wunderschönen magischen Ort. Nazdrave!“

„Nazdrave!“, kam es von den anderen zurück.

Es war eine typische Sommernachtsstimmung, wie man sie nur am Meer erleben kann. Sie plauderten, probierten von dem leckeren Humus und dem exzellenten Tarama, tranken Emilios Wein, und Norbert erzählte lustige Anekdoten von den Leuten, mit denen er in den vergangenen Jahren zu tun gehabt hatte.

„Emma, ich mache kein Hehl daraus, ich würde mir nichts sehnlicher wünschen, als dass dieses Hotel weiter bestehen würde. Es ist sozusagen mein Baby. Und das von Dimitar.“

Er lehnte sich zurück, wirkte mit einem Mal sehr ernst und suchte sichtlich nach Worten.

„Aber da ist noch etwas Anderes.“

Seine Stimme klang mit einem Mal verändert, fast schon geheimnisvoll, und drei Augenpaare hefteten sich neugierig auf ihn.

„Es geht um ein Gemälde. Ein sehr wertvolles Gemälde. Ich habe es hier. Eine lange Geschichte.“

Er räusperte sich und schaute in den nachtschwarzen Sternenhimmel. Schließlich meinte er:

„Aber für heute zu lang. Das besprechen wir besser morgen. Ich bin jetzt nur müde.“

Nachdem Emma und Mia sich zwei Stunden später auch verabschiedet hatten, blieb Emilio noch eine Weile allein auf der Terrasse sitzen, genoss die Stille der Nacht und den Rest in seinem Weinglas. Dann ging auch er ins Haus und schloss hinter sich die Terrassentür ab. Auf dem Weg durch den langen Flur zu seinem Gästezimmer kam er an Norberts Tür vorbei und blieb verdutzt stehen. Kamen die Geräusche aus Norberts Zimmer oder war es nur das Knacksen der Holzdielen durch seine Schritte, was ihn aufhorchen ließ. Er lauschte, hörte weitere Geräusche. Leise klopfte er an die Tür. Keine Antwort.

„Norbert?“, rief er.

Keine Antwort.

Emilio fasste sich ein Herz und öffnete vorsichtig die Tür, in der Hoffnung, seinen Freund nicht aufzuwecken, falls er doch schon schlafen sollte. Er ließ seinen Blick durch das Zimmer streifen und wunderte sich, dass nicht nur die Terrassentür offenstand, sondern auch noch das Fliegengitter. Eine willkommene Einladung für Stechmücken. Hätte Norbert doch normal nie offenstehen lassen. Dieser Umstand machte ihn sehr nachdenklich. Er ging zur Terrassentür, sah über das Geländer, konnte aber nichts Außergewöhnliches entdecken. Sorgfältig schloss er das Fliegengitter hinter sich und trat besorgt an Norberts Bett. Stille. Er beugte sich über das blasse Gesicht seines Freundes. Kein Schnarchen, kein Atmen. Nur ein Kopfkissen auf seiner Brust. Norbert war tot.

9. Rudi aus Gotha, 1987

Rudis Leben verlief alles andere als spektakulär. Und das trotz des doppelten Gemälderaubes. Doppelt wegen des Einbruches mit seinen Kumpeln unter Axels Leitung einerseits und andererseits wegen seines Diebstahles des Gemäldes Nummer 34 im Alleingang. Eine Aktion, die ihn selbst verwundert hatte, da solch ein eigenmächtiges Handeln überhaupt nicht zu ihm passte. Deshalb arbeitete er auch bei der deutschen Reichsbahn als kleiner Angestellter. Nur ab und zu erledigte er noch kleine Gefälligkeitsjobs für seinen Kumpel Axel. Für Axel würde er nach wie vor seine Hand ins Feuer legen, der war ein echter Freund. Und das bedeutete in dieser Zeit mehr denn je, denn es wimmelte nur so von IMs, den inoffiziellen Mitarbeitern der Stasi. Aber Axel vertraute er, allen anderen gegenüber war er eher misstrauisch geworden. Nicht, dass er jedem gegenüber argwöhnisch gewesen wäre, aber eine gewisse Vorsicht konnte nicht schaden. Das war seine Devise. Er hatte schon zu oft erlebt, dass Kumpels aufgrund ihrer Arglosigkeit von einem Tag auf den anderen hinter Gittern gelandet waren. Denunziert von Leuten, die sogar meistens aus dem eigenen Bekannten- oder gar Freundeskreis kamen. Bei denen fiel das Ausfragen nämlich weniger auf, als wenn sich ein völlig Unbekannter im Ausspionieren versuchen würde. Diese freiwilligen IMs gab es zur Genüge, das hatte Rudi schon mitbekommen. Sie wurden mit mehr oder weniger kleinen Vergünstigungen von der Staatssicherheit angelockt und belohnt.

Allerdings, und das hatte ihm eine Freundin unter dem absoluten Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, gab es auch noch Unfreiwillige, die von der Stasi erbarmungslos erpresst wurden, sobald diese einen Erpressungsgrund ausfindig machen konnten. Moni selbst war nämlich so ein Opfer der Bedrohung. Sie war alleinerziehende Mutter, und ab und zu fiel ihr natürlich die Decke auf den Kopf, wenn sie die Abende immer nur allein zu Hause verbrachte. Dann hat sie hin und wieder ihre Nachbarin eingespannt, sie solle auf ihre Kleine aufpassen. Sie wollte doch nur zwei oder drei Bier in der Kneipe nebenan trinken. Gefundenes Fressen für die Stasi, die von einem IM diese Information gesteckt bekommen hatte. Von da an musste sie selbst als IM für die Stasi Informationen über einen Arbeitskollegen liefern, andernfalls käme ihre Tochter in ein Heim wegen vernachlässigter Aufsichtspflicht. Moni war deshalb vollkommen am Ende. Geheult hat sie, dass er schon dachte, sie würde überhaupt nicht mehr aufhören, das arme Mädel. Sie konnte aber allein mit dieser Schuld nicht leben, musste sich jemandem anvertrauen. Deshalb war sie zu ihm gekommen. Andernfalls wäre sie wahrscheinlich noch übergeschnappt und in der Klapse gelandet.