Das vergessene Kaer - Nigel Findley - E-Book

Das vergessene Kaer E-Book

Nigel Findley

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Beschreibung

Nachdem die Völker der Welt vierhundert Jahre lang in ihren magischen Festungen dem Eindringen der Dämonen getrotzt haben, öffnen sich nun wieder die Pforten ihrer selbstgewählten Gefängnisse. Doch die Bewohner Barsaives müssen feststellen, dass ihre Welt vollständig verwüstet wurde und ihre alten Feinde immer noch gegenwärtig sind. Es liegt am Zwergenkönigreich von Throal, dem grausamen Theranischen Imperium und den verschlagenen Dämonen die Stirn zu bieten. Hundert Jahre nachdem Throal seine Tore erstmals der neuen Welt öffnete, ist Kaer Moar immer noch verschlossen. Kaer Moar stirbt, die Bevölkerung siecht dahin. Tief unter der Erde, von der Welt vergessen, dient Kaer Moar den Dämonen als grausames Spielfeld. Ihnen sind die Bewohner schutzlos ausgeliefert, aber auch unter ihnen selbst kommt es immer häufiger zu Auseinandersetzungen. Und keine Hilfe oder ein Ende dieses Schreckens scheint in Sicht.

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Nigel Findley

Das vergessene Kaer

Neunter Roman desEarthdawn™-Zyklus

Originalausgabe

Feder & SchwertBand 9

Übersetzung: Christian JentzschRedaktion & Lektorat: Catherine BeckE-Book-Gestaltung: Nadine Hoffmann

Earthdawn® is a Registered Trademark of FASA Corporation. Barsaive™ is a Trademark of FASA Corporation. Original Earthdawn® content copyright © 1993—2017 FASA Corporation. Earthdawn® and all associated Trademarks used under license from FASA Corporation. All Rights Reserved. © 2019 Deutsche Ausgabe Feder & Schwert GmbH.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Feder & Schwert GmbH, Köln, gestattet.

E-Book-ISBN 9783867623872

Inhaltsverzeichnis
PROLOG
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
11.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.

PROLOG

Die Sonne hing eine Handspanne über den zerklüfteten Gipfeln des Eisenzahngebirges, rot und aufgebläht – schmerzhaft aussehend, wie ein Geschwür.

Und doch wunderschön. Jevais Abendstern seufzte und blinzelte die Tränen aus seinen Augen. Mit einer bewussten Anstrengung wandte er der untergehenden Sonne den Rücken und schaute nach Osten über die öde Weite der Eisenebene. Die weit entfernten Berge von Delaris waren klein, Sägezähne am bewölkten östlichen Horizont, Schwarz auf wogendem Schwarz. Fünf Tagesmärsche im Südosten dieser Berge lag, wie Jevais wusste, das Königreich Cara Fard.

Wie erging es den Caranern? fragte er sich. Hatten sie ihre Vorbereitungen beendet?

Er seufzte wieder, aus tiefstem Herzen. Eindrücke seines Aufenthalts in Cara Fard zogen vor seinem geistigen Auge vorüber... Wie lange war das schon her? Es mussten jetzt zwei Jahrzehnte sein... Es war so eine energetische Kultur, so lebendig. Wie hatten sich die stolzen Caraner mit den Entscheidungen abgefunden, die sie hatten treffen müssen? Wie fühlten sie sich nun, da sie die Folgen dieser Entscheidungen zu spüren bekamen? Sahen sie sich ebenso wie Jevais die untergehende Sonne an und litten unter der bitteren Symbolik?

Wieder musste er die Tränen wegblinzeln, die seinen Blick verschwimmen ließen. Albern, versuchte er sich einzureden. Man braucht nur lange genug in die Sonne zu schauen, dann tränen einem selbstverständlich die Augen...

Holz und Leder knarrten hinter ihm. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und drehte sich um.

Ein Ochsenkarren kroch über den harten Boden der Eisenebene. Der Fahrer warf einen ängstlichen Blick zum westlichen Horizont und trieb die Ochsen dann mit einer Peitsche an. Die Schatten von Karren, Ochsen und Fahrer tasteten nach Jevais wie in einem Alptraum, langgezogen und verzerrt. Ein bis in seine Seele reichendes Frösteln ließ Jevais erbeben, eine plötzliche Abneigung davor, von den schwarzen Fingern des Schattens berührt zu werden. Natürlich wusste er, dass es reine Dummheit war, aber er wich dennoch zurück. Er hob die Hand, um den Fahrer des Ochsenkarrens zu grüßen, eine Geste... Wovon? fragte er sich plötzlich. Irgendeines jämmerlichen Akts der Anteilnahme?

Der Karren rumpelte weiter dem Kaer entgegen. Einer der letzten Karren, wie Jevais wusste. Wahrscheinlich einer der Kleinbauern, die südlich der Stadt Moar lebten. Sture, unglaublich genügsame Leute.

Nun, stur mussten sie auch sein, oder? Nur sture, genügsame Halunken konnten der Eisenebene einen Lebensunterhalt abringen. Anstatt sich den anderen anzuschließen und das fruchtbarere Land im Westen der Stadt weiter aufzuteilen, waren die Kleinbauern zu dem Schluss gekommen, dass ihnen Unabhängigkeit und Abgeschiedenheit wichtiger waren als ein leichtes Leben.

Wie werden sie mit dem Leben im Kaer fertig werden? Der Gedanke beunruhigte Jevais ein wenig. Diese Frage hatte er sich bisher noch nicht gestellt. Er drehte sich wieder um und folgte dem Karren mit seinen Blicken. Wie viele von den unabhängigen Bauern waren bereits im Kaer? Und wie viele würden es nie betreten? Natürlich war das ihr gutes Recht. Selbst das Theranische Recht, das ansonsten tyrannisch war, räumte jedem Freien das Recht ein, Art und Zeitpunkt seines Todes selbst zu wählen... Und wie viele von den Kleinbauern bestellten noch ihr Land? Sie wussten, dass der Sturm bald losbrechen würde. Sie wussten, welche Überlebensaussichten sie hatten – dürftige bis keine. Aber vielleicht war die Aussicht darauf, die kommende Plage in den Steinhäusern zu erwarten, die ihre Väter gebaut hatten, weniger bedrückend als die, den offenen Himmel auszusperren, bis sie und ihre Kinder und Kindeskinder zu Staub zerfallen waren...

Bedrückende Gedanken, dachte er trübsinnig. Aber wenn heute kein Tag für derartige Überlegungen war, wann dann?

Im Süden erhob sich ein niedriger Hügel, der mit winterfesten Sträuchern und Gräsern stoppelig wie das Kinn eines alten Mannes war, und versperrte ihm die Sicht auf Moar. Ein kurzer Spaziergang würde Jevais zum Gipfel dieser Anhöhe bringen und ihm den Blick auf das Schauspiel von Moar öffnen – auf die Straßen und Häuser, auf den ruhig dahinfließenden Tethralias, der sich mitten durch die Stadt schlängelte, auf die Felder und Obstgärten und Weinberge, die sich in Richtung des fernen Eisenzahngebirges ausbreiteten, und auf die versprengten kleinen Bauernhöfe im Süden der Stadt. Es wäre nur ein kurzer Spaziergang, um sich ein letztes mal die Stadt anzusehen, in der er geboren war, die ihm in seiner Kindheit Schutz geboten und ihn seiner Berufung zugeführt hatte ...

Nein. Er war froh, dass es den Hügel gab. Er würde diesen Spaziergang nicht machen, wie kurz er auch sein mochte, wie sehr ihm Moar auch ans Herz gewachsen war. Seine Seele konnte es nicht ertragen, seine Selbstbeherrschung war ohnehin bereits bis zum äußersten beansprucht. Es war unmöglich – völlig unmöglich –, dass sie auch nur einen einzigen Blick auf die Stadt in dem schmalen Tal überstehen würde.

Und Selbstbeherrschung war von überragender Bedeutung, ganz besonders an diesem Tag. Die Bewohner Moars schauten auf ihn, das wusste Jevais. Vielleicht mehr, als sie eigentlich sollten. Und gewiss mehr auf ihn als auf den Ältestenrat. Natürlich war das verständlich. Aber bloßes Verständnis verringerte nicht den Druck, den er verspürte. Wie sollte es auch? Schließlich war er ein Troubadour, und diese Berufung brachte Verantwortung mit sich. Er konnte die Stimmung der Leute spüren – jener, die bereits im wartenden Kaer verschwunden waren, und jener, welche die Gelegenheit nutzten, um ein letztes Mal unter freiem Himmel spazierenzugehen. Er konnte die... die Brüchigkeit... ihres Vorsatzes spüren. Für viele war die Entscheidung, ins Kaer zu gehen, eine denkbar schwierige gewesen. Unbestreitbar wussten alle von der bevorstehenden Plage. Sie hatten die Bücher und Pergamente gelesen, sie hatten sich die Lieder und Balladen angehört, die Jevais und seine Freunde ihnen vorgetragen hatten. Sie konnten die verstreichenden Jahre und den Wechsel der Jahreszeiten ebensogut nachvollziehen wie jeder andere. Sie sahen die Zeichen.

Doch da war immer noch die ewige Kluft zwischen Wissen und Gefühl, jener Abgrund, der überbrückt werden musste, um zu echter Überzeugung zu gelangen. Die Plage stand bevor. Die Dämonen würden bald da sein. Falls man den alten Schriften und den Vorzeichen Glauben schenkte. Doch niemand hatte einen Dämon gesehen, nicht in Moar. Niemand hatte den Schrecken der bevorstehenden Plage erlebt. Natürlich hatten sie die Geschichten aus anderen Gegenden der Welt gehört, die ihnen von reisenden Kaufleuten und Abenteurern und sogar von umherziehenden Troubadouren erzählt worden waren. Geschichten von düsteren Gespenstern, die in den Straßen Majallans jagten, von verschrumpelten Säuglingen in Draoglin, von insektenartigen Kreaturen im südlichen Barsaive.

Und doch... das waren nur Geschichten von Reisenden, nicht wahr? Nichts hatte die Seelen der Kinder Moars gestohlen. Des Nachts schlichen keine finsteren Kreaturen durch die Straßen der Stadt. Und den Bauern Moars war auch nicht von Insektenwesen das Herz aus der Brust gerissen worden. Reisende erzählten immer haarsträubende Geschichten, oder nicht? Wie anders sollten sie die Einheimischen so beeindrucken, dass sie für ihr Ale in der Taverne am Ort nicht zu bezahlen brauchten? Wie leicht es doch war, aus Mangel an persönlicher Erfahrung zu zweifeln.

Und ihn quälten ebenfalls Zweifel, nagten jedesmal an seiner Seele, wenn er an die beengenden Mauern und Decken des wartenden Kaers dachte. Er hatte mit den alten Überlieferungen gelebt. Als Troubadour waren sie sein Leben und ebensosehr ein Teil von ihm wie sein Blut, seine Knochen und sein Mark. Und trotzdem hatte er Zweifel. Vielleicht sind die Überlieferungen und Voraussagen und Omen alle falsch. Vielleicht gibt es gar keine bevorstehende Plage. Vielleicht begraben wir uns lebendig... und wofür?

Jevais rieb sich sein längliches Gesicht mit den Händen – so fest, als wolle er den Blutkreislauf in einem eingeschlafenen Arm anregen. Nein, sagte er sich entschlossen. Die Überlieferungen sind wahr. Die Plage steht bevor, und damit haben wir nur noch zwei Möglichkeiten: Ins Kaer gehen... oder sterben. Langsam, mit einem niederschmetternden Gefühl der Endgültigkeit, kehrte er seiner Geburtsstadt zum letzten Mal den Rücken.

Das Kaer – Kaer Moar – ragte vor ihm auf, eine gewaltige Form vor dem rötlich-violetten Himmel. Kahl und steil erhoben sich seine Mauern aus der steinigen Erde der Eisenebene Hunderte von Ellen hoch. Die Wände waren überraschend glatt und bildeten einen Kegel aus schwarzem Basalt und Granit, der auf der Ebene stand wie ein Spielzeug, das von Riesen oder vielleicht von den Passionen dort abgelegt worden sein mochte, als sie seiner überdrüssig geworden waren. Er konnte sich mühelos vorstellen, wie die Wucht unzähliger Tonnen harten Gesteins die glatte, kreisförmige Grundfläche in die Ebene bohrte.

Das war natürlich Unsinn. Jeder halbwegs Gebildete wusste, dass der Kegel nicht von oben heruntergefallen, sondern von unten gewachsen war. Die senkrechten Felswände versanken in der Erde, tiefer – viel tiefer –, als sie sich über Jevais erhoben. Wie tief reichen sie? fragte er sich zum tausendstenmal. Hunderte von Ellen? Hunderte von Schritten? Noch tiefer? Er wusste, dass die Baumeister, die Kaer Moar entworfen hatten, eineinhalb Dutzend kreisförmige Ebenen innerhalb des Kegels angelegt hatten, die nach unten hin immer größer wurden und von denen viele leer waren, um Platz für zunehmende Bevölkerung zu lassen, doch wie tief unterhalb der tiefsten Ebene reichte der eigentliche Kegel?

Bei dem Gesteinskegel, der Kaer Moar geworden war, handelte es sich natürlich um einen Vulkan: um einen Kegel aus metamorphem Gestein, erstarrter Lava, der sich im Laufe unzähliger Jahrhunderte, sogar Jahrtausende, aufgebaut hatte. Der Vulkan war seit langem untätig, jeder wusste das ... aber nicht völlig erloschen. Gewisse Quellen und unterirdische Flüsschen führten kochendheißes Wasser, was bedeutete, dass es irgendwo tief im Herzen des Gesteins noch Bewegung gab. Offensichtlich bestand die Gefahr, dass der Vulkan ausbrechen und das Kaer von innen zerstören würde, bevor die Plage vorüber war – oder vielleicht sogar als Ergebnis der Plage –, und zwar trotz aller Schutzvorrichtungen, mit denen es gesichert war, aber diese Gefahr war zugleich ein Segen. Die Erde selbst würde die Hitze zur Verfügung stellen, um die Bewohner des Kaers vor der bitteren Kälte des Winters zu schützen.

Kaer Moar war ein Denkmal für die Fähigkeiten der Baumeister Moars, eine Tatsache, die Jevais anerkannte, obwohl er kaum Ahnung von den tatsächlich erforderlichen Fähigkeiten hatte. Irgendwie hatten diese Baumeister – die meisten waren Steinmetz-Adepten und wurden von einigen Elementaristen unterstützt – die zentralen Kammern des Vulkankegels geöffnet, ausgehöhlt und dann in Ebenen und Plätze, Räume und Kammern, Galerien und Treppen eingeteilt. Die Arbeit wäre ihnen leichter von der Hand gegangen, wenn sich mehr Obsidianer unter den Arbeitern befunden hätten, wie Jevais wusste. Diese namensgebende Rasse besaß angeborene Fähigkeiten, was die Bearbeitung von Stein betraf, die unschätzbar wertvoll gewesen wären. Doch es lag in der Natur dieser Region zwischen dem Eisenzahngebirge und den Bergen von Delaris, dass Obsidianer nur dann gesehen wurden, wenn sie als Reisende durch Moar kamen.

Die natürliche Beschaffenheit des Kegels hatte den Arbeitern mehr geholfen als sie behindert, aber es war dennoch ein gewaltiges Unternehmen. Schließlich hatten sie die Zugänge versiegelt, durch die sie das Herz des Kegels, den scharfkantigen Krater, erreichten – natürliche Höhlen, Lavaröhren und mehrere Tunnel, die sie selbst angelegt hatten. Alle bis auf einen. Dann hatten die Geisterbeschwörer und Elementaristen und Magier ihre Schutzvorrichtungen gewirkt und diese Zugänge – und das gesamte Kegelmassiv – mit Wahrer Erde und mächtiger Magie gesichert. Jetzt blieb nur noch ein einziger Zugang: ein breiter Tunnel, der bereits nach dem Generationen in der Zukunft liegenden Tag benannt war, an dem sich das Kaer wieder der Sonne öffnen würde, das Tor der Dämmerung.

Die gewaltigen Tore aus Metall und Stein standen jetzt noch offen. Bald würden sie sich schließen, und Jevais würde in seinem ganzen Leben nicht mehr sehen, wie sie sich öffneten. Sobald sie sich geschlossen hatten, würde Moars einziger überlebender Magier ins Herz des Kaers herabsteigen, zum großen »Schlüssel« für die magischen Schutzvorrichtungen, die Jevais, seine Mitbürger und ihre Nachkommen für vier Jahrhunderte schützen würden. Der Magier würde die gewaltigen Mengen von Blutmagie aufladen, mit denen seine Kollegen unter Aufgabe ihres Lebens das Gestein erfüllt hatten. Das Tor der Dämmerung würde nicht allein durch weltliche Mittel gesichert sein, sondern auch durch Magie, durch dieselbe Magie, die das ganze Gebilde durchdrang. Dieselbe Magie, die – hoffentlich! – die Dämonen davon abhalten würde, in das Kaer einzudringen.

Wenn der rechte Zeitpunkt gekommen war, Generationen in der Zukunft, wenn unzählige Vorrichtungen besagten, dass die Plage vorbei war, würde der Schlüssel entkräftet und das magische Feuer der Schutzvorrichtungen gelöscht werden. Die Schlösser und Riegel würden geöffnet, und dann würde sich das Tor der Dämmerung wieder der Welt öffnen. Dem Himmel, der Sonne, dem Regen und dem Wind...

Mit einem Schnauben verdrängte Jevais den Gedanken. Ebensogut könnte ich an den Tag denken, an dem die Sonne zu Asche verglüht, sagte er sich verbittert. Ich werde beides nicht erleben.

Als er langsam zum Kaer zurückging, sah er, dass die Menge vor dem Tor der Dämmerung näher zusammengerückt war. Obwohl sie nicht kleiner geworden war – immer noch trotzten hundert und mehr seiner Freunde und Nachbarn dem schneidenden Abendwind, um noch einen letzten Blick auf die Welt zu werfen. Aber sie waren doch zusammengerückt, als zwinge sie die Nähe des unausweichlichen Augenblicks zusammen, damit ihre noch wankende Entschlossenheit durch die Berührung, durch die reine körperliche Nähe gestärkt würde.

Es wurde kaum gesprochen, und die wenigen, die sich unterhielten, flüsterten miteinander. Die meisten betrachteten nicht ihre Mitbürger, sondern hatten den Blick auf den Himmel, das Land und die entfernten Berge gerichtet. Als wollten sie vorgeben, sie erlebten dies allein... ohne das Gefühl der Nähe aufzugeben. Jevais lächelte traurig. Er konnte ihre Stimmung, ihre Gefühle, wie sanfte Strömungen und Strudel spüren. Hier kam seine Ausbildung als Troubadour zum Tragen, die Fähigkeit, das Gewebe der Dinge zu spüren und gleichzeitig den für eine genaue Beobachtung unerlässlichen Abstand zu wahren.

Tief im Kaer ertönte das Große Horn – das Horn, das nur für diesen Zweck geschaffen worden war und nur jetzt geblasen wurde und dann erst wieder an dem Tag, an dem sich das Tor der Dämmerung wieder öffnen würde. Der tiefe, abgerundete, schmeichelnde Ton hallte traurig durch die Kammern und Gänge des Kaers wie ein Schrei der Verzweiflung, der Tragödie, von irgendeiner riesigen Bestie. Der Ton fuhr ihm mit seiner unsagbaren Traurigkeit mitten ins Herz.

Und nicht nur ihm, das sah Jevais. Viele in der Menge zuckten vor dem Laut zurück, als handele es sich um die Nachricht vom Tode einer geliebten Person. Langsam begaben sich die Leute in das Kaer.

Jevais beobachtete sie dabei. Mein Volk. Meine Schützlinge. Sie schienen geschrumpft zu sein – sogar Garrth der Hufschmied sah kleiner aus, seine tonnenförmige Brust wirkte hohl. Als sei ihnen ihr Innerstes herausgerissen worden, als sei alles ein wenig eingefallen, um die Leere zu füllen...

Ein schriller Schrei riss ihn aus seinen finsteren Gedanken. Ein kleiner Junge, vielleicht sieben Jahre alt, wollte sich von seiner Mutter losreißen und rief dabei etwas von einem Haustier, das nicht da war. Jevais sah sich rasch um, konnte das widerspenstige Tier jedoch nirgendwo sehen.

Und es war keine Zeit mehr, es zu suchen. Das Große Horn ertönte zum zweitenmal, wie das Nebelhorn eines großen Schiffs, das einem unbekannten Kurs folgte. Das Tor der Dämmerung schoss sich bereits. Das Geschrei des Jungen bekam einen schrillen Unterton, als seine Mutter ihn in das Kaer zerrte. Noch einmal sah sich Jevais rasch um. Immer noch keine Spur von dem geliebten Haustier. Erstaunlich, dachte er freudlos. Selbst wenn man glaubt, dass die Seele bis zum Rand von Trauer erfüllt ist, es ist immer noch Platz für mehr...

Augenblicke später war er allein, der letzte Bewohner Moars, der den Schutz des großen Kaers aufsuchen würde. Die gewaltigen Portale des Tors der Dämmerung, in die Runen und Zeichen schützender Magie geritzt waren, schlossen sich schwerfällig. Eilig marschierte er der schmaler werdenden Öffnung entgegen.

Was...? Er fuhr plötzlich herum. Ein kalter Hauch – kein Windzug – strich über seinen Nacken, und plötzlich hatte er das Gefühl, dass da hinter ihm etwas war, obwohl er allein war. Seine Haut kribbelte.

Er schnaubte wieder. Albern. Seine Einbildung ging mit ihm durch. Schließlich, dachte er noch einmal, gab es einen geeigneteren Tag für finstere und niederdrückende Phantasien?

Jevais Abendstern trat über die Schwelle in die kühle Stille des Kaers. Durch den immer schmaler werdenden Spalt zwischen den Toren sah er das letzte Aufblitzen der Abendsonne, die hinter dem Eisenzahngebirge versank – der Sonne, die er in diesem Leben nicht mehr sehen würde.

1.

Auf dem nächsten breiten Treppenabsatz zögerte Delain Abendstern. Welche Ebene war dies?

Er lachte leise, und seine musikalische Stimme wurde vom fein behauenen Basalt zurückgeworfen. Man verlor so schnell den Faden, besonders hier auf der Sensentreppe in den weniger benutzten Bereichen des Kaers. Er berührte den glatten schwarzen Sturz einer Tür. Zugegeben, die Baumeister, die Kaer Moar errichteten, hatten sich um viele Dinge Gedanken machen müssen. Und zugegeben, die Sensentreppe war nicht annähernd so wichtig oder vielbenutzt wie die Große Wendel... Aber wieviel Mühe hätte es tatsächlich gemacht, die Absätze mit Glyphen oder Symbolen zu kennzeichnen? Oder den Farbton der Lichtquarze zu ändern, um die Ebene anzuzeigen?

Er schüttelte den Kopf und strich sich eine widerspenstige Locke blonden Haars aus der Stirn. Es war besser, solche Gedanken für sich zu behalten, erinnerte er sich, während seine Belustigung plötzlich verpuffte. Ganz besonders jetzt.

Mit einem leisen Seufzen verdrängte er diesen Gedanken. Schließlich kam er Jahrhunderte zu spät, um mit den Baumeistern des Kaers deren Bauentscheidungen zu bereden. Und außerdem gab es im Augenblick Wichtigeres, worüber er sich Gedanken machen musste.

Zum Beispiel darüber, wo, im Namen des Todes, er war. Er schüttelte wiederum den Kopf und lächelte sanft. Das hatte er davon, wenn er seinen närrischen Gedanken freien Lauf ließ. Ich bin mir ein Troubadour-Lehrling, schalt er sich. Und wenn ich mir überlege, dass ich als Kind Kartograph werden wollte...

Er schoss die Augen und konzentrierte sich. Fünf Treppen hinauf... Nein, sechs. Das bedeutete, er befand sich auf der Jaspree-Ebene. Was wiederum bedeutete, dass er noch drei Treppen erklimmen musste, um die Astendar-Ebene zu erreichen. Er tätschelte noch einmal den kalten Steinsturz und ging weiter. Das Klicken seiner Stiefelabsätze hallte durch das verlassene Treppenhaus.

Hier auf der Sensentreppe war die Luft kühl und feucht und breitete sich in Delains Lungen und Knochen aus wie uralte Verzweiflung. Einen Moment lang stellte er sich vor, wie es hier in den ersten Jahren des Kaer zugegangen war – als das Treppenhaus, wenngleich nur eine Nebenroute, von Gesprächslärm und sogar Gelächter erfüllt gewesen sein musste. In jenen Tagen war es, wie er wusste, außerdem wärmer und trockener gewesen. Die natürlichen heißen Quellen, die diese Region, unterstützt durch Heizsteine in Wänden und Decke, mit Wärme versorgt hatten, sprudelten damals noch.

Und jetzt? So viele heiße Quellen waren im Laufe der Jahrhunderte versiegt. Ihr Fluss hatte sich allmählich verlangsamt, bis nichts mehr übriggeblieben war. Als die Sensen treppe und viele andere Bereiche des großen Kaers immer weniger benutzt wurden, hatten es die Elementaristen und die anderen mit der Wartung der Lichtquarze und Heizsteine betrauten Adepten mit ihren Pflichten nicht mehr so genau genommen. Warum Zeit und Mühe auf die Auffrischung der Magie in Regionen verwenden, in die sich ohnehin kaum noch jemand wagte, mussten sie gedacht haben. Jetzt wurden sogar die Lichtquarze trüber und flackerten zum Teil. Delain seufzte. Wahrscheinlich sollte ich froh sein, dass es hier überhaupt noch Licht gibt...

Wieder blieb er stehen und lehnte sich gegen die kühle Steinwand, da er plötzlich müder war, als seine dreiundzwanzig Jahre rechtfertigten. Einen Moment lang sang die Verzweiflung ihr Sirenenlied in den Tiefen seines Verstandes. Es war so leicht, ihrem Ruf nachzugeben, wie es so viele bereits getan hatten.

Nein. Mit einer gewaltigen Anstrengung schüttelte er die Stimmung ab, die ihn zu überwältigen drohte. Er rieb sich die blasse Haut seines schmalen Gesichts. Nein, sagte er sich wieder, entschlossener diesmal. Verzweiflung ist nichts für mich. Und er erklomm die nächsten Stufen.

Er hatte sich wiederum verzählt, erkannte Delain sofort, als er die Tür aufstieß und das Treppenhaus verließ. Dies war nicht die Astendar-Ebene, sondern die Vestrial-Ebene. Geistesabwesend wie er war, hatte er eine Treppe zuviel erklommen.

Es würde nur ein paar Augenblicke dauern, zur Sensentreppe zurückzukehren und die eine Treppe zu seinem Bestimmungsort hinunterzugehen. Doch plötzlich empfand er eine starke Abneigung gegen die Leere des verlassenen Treppenhauses. Einsamkeit war in der Enge des Kaers keine alltägliche Erfahrung – oder sollte zumindest keine sein –, aber das war das Gefühl, welches sich in Delains Seele ausbreitete. Anstatt in das Treppenhaus zurückzukehren, folgte er dem schmalen Gang zum Zentrum des Kaers. Er würde über die Hohe Promenade gehen, beschoss er, und dann die Große Wendel hinab. Dadurch verlängerte sich die Dauer seines Marsches um ein paar Minuten, aber im Augenblick war ihm sein Wunsch nach Begegnung einfach wichtiger: das Gefühl, andere um sich zu haben. Das Gefühl, nicht allein zu sein.

Staub knirschte unter seinen Füßen, als er durch den Wohnbereich ging und ihm seine langen Beine ebenso wie die schnellen Schritte halfen, die Entfernung rasch zu überbrücken. Türen klafften zu beiden Seiten des Ganges und öffneten sich in finstere Löcher. Das waren Privatquartiere, die einst vom freundlichen Betrieb des Familienlebens erfüllt gewesen und jetzt verlassen waren. Er beschleunigte seinen Schritt noch mehr, da er sich plötzlich danach sehnte, auf den bevölkerten Platz zu kommen. Er öffnete die Tür am Ende des Ganges und hörte den Rost in den Angeln kreischen.

Das Licht schmerzte fast nach der rötlichen Düsternis des Treppenhauses und des verlassenen Ganges. Hier wurden die Lichtkristalle tadellos instandgehalten. Sie waren – den Passionen sei Dank – frisch aufgeladen und brannten im freundlichen gelben Schein, der der Mittagssonne nachempfunden war. Oder wenigstens dem, was er sich anhand der Beschreibungen in den alten Geschichten und Balladen darunter vorstellte.

Die Promenade mit ihrer hohen Decke barst vor Leben, hallte von Schritten auf dem Steinboden und dem Gemurmel der Unterhaltungen wider. Delain spürte, wie sich ein Lächeln der Erleichterung auf seinem Gesicht ausbreitete, als er an zwei ins Gespräch vertiefte Frauen vorbeikam, die sich über die Belanglosigkeiten des täglichen Lebens unterhielten. Er holte tief Luft, atmete die vertrauten Gerüche der Leute ein: den Moschus des Schweißes, den Rauch der Herdfeuer, das stechende Aroma von Gewürzen. Viel besser als der trockene trostlose Geruch von Staub. Delain fädelte sich in den Strom der Passanten ein und ließ sich von ihm tragen wie von den Wellen eines Flusses.

»Wie auf die Nacht der Tag folgt und auf die Arbeit Ruhe, so kommt der Tod, um die Schmerzen der im Herzen Verwundeten zu lindern...«

Er blieb wie angewurzelt stehen, wie gelähmt von der volltönenden Stimme, die über den Platz hallte. Das matte Läuten einer Eisenglocke untermalte den Vortrag und ließ alle Gespräche in seiner Umgebung verstummen. Er drehte sich um.

Der Trauerzug war zwanzig Schritte entfernt und zog langsam durch die Menge, die sich vor ihm öffnete. An seiner Spitze ging ein alter Mann, dessen einförmig graue Gewänder ihn als Questor von Dis, der Passion der Ordnung und des Gemeinwesens auswiesen. In seinen runzligen Händen hielt er einen gegabelten Stab in die Höhe, an dem die Eisenglocke hing, die bei jedem Schritt läutete. Einen Schritt hinter ihm und ein wenig seitlich versetzt gingen in ihren schlichten weißen Gewändern die beiden Feuerträger, die jeder eine armdicke Kerze trugen. Die Flammen flackerten in den Luftströmungen.

Einen weiteren Schritt dahinter ging die Troubadourin, deren Stimme er gehört hatte. Natürlich kannte Delain sie. Sie hieß Marta und war auf eine sehr strenge, ernste Weise anziehend. Ihr glattes schwarzes Haar war aus ihrer hohen Stirn zurückgekämmt, und ihre blauen Augen glitzerten im flackernden Licht der Kerzen. In ihren schlanken Händen hielt sie eine Laute. Ihre Saiten blieben stumm, als sei sie zu dem Schluss gekommen, dass deren klare Töne im Augenblick unangemessen waren.

Und hinter ihr kam die Bahre, die von vier Trägern gehalten wurde. Die Leiche war bis zum Hals mit dem traditionellen Baumwollschleier bedeckt – der einst weiß gewesen war und nun die Farbe alter Knochen hatte. Ein Familienerbstück? fragte sich Delain. Seit wie vielen Generationen existierte dieser Schleier schon? Beinahe unfreiwillig trat er einen Schritt vor, um die Leiche besser sehen zu können.

Eine Zwergenfrau, nach den Maßstäben ihrer Rasse mittleren Alters...

Nein, verbesserte er sich augenblicklich, jünger. Höchstens fünfundvierzig. Es war das eingefallene, von Kummer und Sorgen gezeichnete Gesicht, das ihn getäuscht hatte und die tote Frau drei Jahrzehnte älter aussehen ließ. Sogar im Tod war ihr Gesicht zu einer Miene der... was? Erschöpfung? Verzweiflung? verzogen. Er konnte es nicht sagen.

Einen respektvollen Schritt hinter der Bahre ging ein männlicher Zwerg, der ganz eindeutig mittleren Alters war. Seine dunklen Augen waren auf die kleine irdene Schüssel gerichtet, die er trug. Eine Schüssel voll Staub, wie Delain wusste, das ewige Symbol für Verlust und Tod. Der Kummer des Zwergs hing ihm an wie ein schwerer Wintermantel. Natürlich der Mann der toten Frau. Und hinter dem Zwerg...

Niemand. Die Prozession endete mit ihm. Keine Freunde, keine Familienmitglieder, die seinen Schmerz teilten. Warum nicht?

»Wenn wir uns zur ewigen Ruhe betten, tun wir das in dem Wissen, dass wir dem Kreislauf der Jahreszeiten und von Tag und Nacht folgen.« Martas Stimme ertönte klar und rein – nicht laut, aber dennoch weittragend. »Warum sollen wir uns gegen das Erlöschen des Lichts, gegen den Untergang der Sonne wehren?«

Delain schoss für einen Moment die Augen und konzentrierte sich auf die Stimme der Troubadourin. Ihre Kunstfertigkeit war ausgezeichnet, ihr Ausdruck fast vollkommen. Sie bewältigte die besondere Betonung des alten Zwergendialekts fehlerlos und verwandelte Satzmelodie und Betonung in Musik. Grais wäre zufrieden, dachte er, als er an seinen Onkel und Meister der Hohen Kunst dachte. Jetzt richtete er seine Aufmerksamkeit von Stimme und Ausdruck auf die Worte, die die junge Frau rezitierte.

»Herd und Heim, alles soll vergehen, bis nichts mehr bleibt. Woran sollen wir uns dann festhalten? Mühen und Kampf, alles wird zunichte gemacht. Es gibt keinen Sieg und keine Niederlage, wenn sich der Kreislauf fortsetzt. Verwerft alles, wie wir das Bemühen an sich verwerfen.«

Delain kannte die Worte natürlich. Der Kanon des Kreislaufs, das war es, was Marta vortrug. Oder – jetzt runzelte er die Stirn – wenigstens eine Fassung des Kanons des Kreislaufs. Die Fassung, die er von Grais gelernt hatte, die Fassung, die er sich vor fast einem Jahrzehnt gemerkt hatte, war anders. Auf eine untergründige, aber auch auf eine bedeutsame Art, dachte er. Im Geiste ging er die Unterschiede durch. Nur ein Wort hier, eine knappe Formulierung dort, nicht mehr als eine winzige Veränderung in der Betonung, aber für sein geübtes Ohr war es ein Unterschied wie Tag und Nacht. Der Kanon des Kreislaufs bietet den Hinterbliebenen Trost, sagte er sich, Trost und Beruhigung. Oder zumindest sollte er das tun...

Und diese Fassung, die Marta vortrug? War es Trost, den die Worte vermittelten, oder war es Schicksalsglaube? Sich abfinden oder Aufgabe – Ablehnung von Verantwortung? Im Geiste ging er noch einmal die Strophe durch, die Marta soeben aufgesagt hatte, und verglich sie mit den Worten, die er sich zu Herzen genommen hatte. Mühen und Kampf, alle Ergebnisse werden zunichte gemacht. Es gibt keinen Sieg und keine Niederlage, wenn sich der Kreislauf fortsetzt. Verwerft alles in dem Wissen, dass das Bemühen an sich alles ist. Veranschaulichte das den Fluss des Lebens nicht besser? Wenn wir sterben, sind Erfolg und Misserfolg bedeutungslos... aber das Bemühen an sich adelt uns. Das war die Kernaussage der Fassung, die Delain kannte. Eine Botschaft der Hoffnung, nicht eine der Verzweiflung.

Er öffnete die Augen und schüttelte den Kopf. Er kannte Marta. Kaer Moar war nicht so groß, und es gab nicht so viele Troubadoure in der Gemeinde. Jetzt noch weniger als früher, aber er verdrängte diesen schmerzlichen Gedanken. Er kannte sie zwar, aber er hatte nicht gewusst, dass sie zu den ›Unheilsverkündern‹ gehörte – wie er und sein Onkel die Mitglieder der anderen ›Schule‹ der Hohen Kunst genannt hatten. Irgendwann in der Vergangenheit, an irgendeinem Punkt in der Geschichte Kaer Moars, war es zu einer Art Spaltung gekommen – vor so langer Zeit, dass sich von den Lebenden niemand mehr erinnern konnte, wie es geschehen war oder was die Spaltung verursacht hatte. Seit dieser Zeit schienen sich die beiden ›Schulen‹ unterschiedlich an die alten Überlieferungen zu erinnern. Der Kanon des Kreislaufs war ein Beispiel. Die ›Unheilsverkünder‹ lernten, lehrten und gaben andere – düsterere – Versionen der alten Balladen, Sagen und Lieder weiter, während Grais, Delain und die anderen sich an die richtigen Worte hielten...

Delain kicherte leise über seinen letzten Gedanken. Natürlich glauben wir, dass wir die richtigen Worte bewahren, sagte er sich. Ebenso wie Marta und die anderen glauben, dass sie die Wahrheit verkünden und wir vom Weg ab gekommen sind. Er schüttelte den Kopf. Wie sollte man je wissen, was die Wahrheit und was eine Verdrehung der Bedeutung war? Bei genauerem Nachdenken, wenn beide Schulen Verdrehungen der Überlieferungen lehrten, wie konnte man das je mit Sicherheit wissen? Die Troubadoure waren die Hüter des Wissens, der Wahrheit. Das war ihre Pflicht, ihre Aufgabe. Die Troubadoure waren es, die das Wissen der Vergangenheit konservierten. Sie waren das Gedächtnis der Gesellschaft, ihre Seele. Das war ihre Bürde und ihre Belohnung.

Wie sah also das Ergebnis aus, wenn sich die Erinnerungen zweier Gruppen von Troubadouren an die Vergangenheit unterschieden? Wo lag die Wahrheit?

Der Trauerzug war vorbeigezogen und nahm langsam seinen Weg zur Großen Wendel. Der Questor würde die Prozession in die Tiefen des Kaers führen, hinunter zur Dis-Ebene, die sich sechs Etagen tiefer befand. Dort, in der Kammer des Übergangs, würde man die Leiche für ihre letzte Reise vorbereiten. Rituell gereinigt und in einfache Tücher gehüllt, würde man sie zur Nekropolis – der Totenstadt – bringen, die unzählige Generationen in das lebende Gestein getrieben hatten, welches die Dis-Ebene umgab. Dort würde man sie nach großem und feierlichem Zwergenritual in einer der Schlafkammern in den Steinwänden beerdigen. Der nächste Verwandte der Frau – wahrscheinlich der Ehemann, der ihr so traurig gefolgt war, dachte Delain – würde dann die Kammer schließen und das ›Totenfenster‹ aus Quarz einrichten, das es zukünftigen Generationen gestatten würde, das Gesicht ihres toten Vorfahren zu betrachten. Schließlich würde ein Magier oder Geisterbeschwörer die Kammer für alle Ewigkeit versiegeln, indem er magische Strukturen in das Gestein wob, um zu gewährleisten, dass die Leiche nie mehr gestört werden konnte – weder durch einen Sterblichen noch durch einen Dämon.

Delain spürte jemanden neben sich, spürte, wie jemand seine Hüfte streifte. Er drehte sich um.

Der Zwerg, der neben ihm stand, war alt und runzlig. Weit über hundert, schätzte Delain, sogar nach den Maßstäben seiner Rasse alt. Die tief in den Höhlen liegenden Augen des Zwergs waren rotumrandet, und Tränen liefen ihm über die Wangen, folgten den Linien, die sich tief in sein Gesicht gegraben hatten, wie Regen dem Lauf der Flüsse zum Meer folgt. Der Kummer schien in greifbaren Wellen von ihm auszustrahlen.

»Kennt Ihr sie?« fragte Delain freundlich.

Der alte Zwerg erschrak und sah auf, als sei er sich der Anwesenheit des jungen Menschen nicht bewusst gewesen. Sein ledriges Gesicht verzerrte sich zu einer finsteren Grimasse, doch dann fiel sein Blick auf die kleine Harfe, die an ihrem abgenutzten Haltegurt über Delains Schulter hing. Die Miene des Zwergs wurde weicher. »Ja«, gab er mit einer Stimme zu, die so rauh wie das Rumpeln von Steinen in einem Helm klang. »Ja, ich kannte sie. Ihr Name ist Tevra Neden. Tevra Neden Steinbeißer. Sie ist die Schwiegertochter meiner Tochter.«

Delain hob überrascht eine Augenbraue. Er warf einen Blick auf den Ehemann, der mit gesenkten Schultern der Bahre folgte. »Euer Enkel?« fragte er verwirrt. »Warum...?« Mit einiger Mühe unterdrückte er die Frage, die er stellen wollte.

Trotz seiner offensichtlichen Trauer verzogen sich die Lippen des alten Zwergs zu einem bitteren Lächeln. »Warum ich mich meinem Enkel in seinem Kummer nicht anschließe?« Sein Lächeln war plötzlich wie weggewischt. »Es wäre unpassend«, sagte er leise.

»Aber warum?«

Für einen Moment wurde der Blick der dunklen Augen des Zwergs so hart wie Feuerstein. Er streckte die Hand aus und berührte Delains Harfe sanft mit einem klobigen Zeigefinger. »Troubadoure fragen oft mehr, als andere mitzuteilen bereit sind«, sagte er. Doch dann entspannte sich seine Miene wieder. »Aber ich werde es Euch trotzdem erzählen... weil ich es irgend jemandem erzählen muss.« Er straffte seine breiten Schultern und richtete seinen Blick wieder auf den langsam entschwindenden Leichenzug.

»Eine Totgeburt«, sagte er leise und mit einer Stimme, die so freudlos wie eine Bö aus den leeren Tiefen des Kaers war. »Eine weitere Totgeburt. Ihre dritte. Drei mehr, als jede Frau ertragen sollte. Drei mehr, als jede Frau ertragen könnte.«

Delain nickte zögernd in traurigem Begreifen. »Sie hat sich das Leben genommen ...«

»Ja.« Der Zwerg nickte einmal und lächelte bitter. »Vielleicht wollte sie Dis persönlich fragen, warum sie so hart geprüft worden ist.«

Wiederum verblasste das Lächeln, als habe es nie stattgefunden, und der Zwerg schüttelte seinen großen Kopf. »Kolban sagt, es ist keine Schande, sich das Leben zu nehmen. Einige der Troubadoure stimmen ihm zu.« Er zuckte die Achseln. »Aber ich halte mich an die alten Sitten. Zumindest in dieser Hinsicht.«

»Ich verstehe«, sagte Delain leise. Unter traditionellen Zwergenfamilien – und Clan Steinbeißer war eine – war es eine alte Überzeugung, dass es eine der größten Schanden war, die ein Zwerg seinem Namen bereiten konnte, wenn er sich das Leben nahm. Die alten Lehrgedichte der Zwerge nannten es die Zurückweisung des Geschenks des Lebens. Delain warf noch einen letzten Blick auf den Rücken des mittlerweile ein ganzes Stück weit entfernten Ehemanns – dem Enkel des Zwergs neben ihm. Er schüttelte traurig den Kopf beim Gedanken an die drei Totgeburten des Paars. Drei Kinder, und alle tot auf die Welt gekommen.

Als er sich wieder umdrehte, war der sture alte Zwerg bereits wieder in der Menge verschwunden.

»Ich habe dich warten lassen, nicht wahr?«

Delain sah zu der dröhnenden Stimme auf, schoss rasch das kleine, in Stein gebundene Buch und steckte es in seinen Schulterbeutel zurück. Mit einem Lächeln erhob er sich von der kalten Steinbank, auf der er gewartet hatte. »Nicht, dass es mir aufgefallen wäre«, erwiderte er leichthin.

Grais Abendstern musterte ihn aus der luftigen Höhe seiner sechs Ellen und drei Fingerbreit Körpergröße. Hier, vor der Ratskammer, waren die Gänge des Kaers eher den Proportionen der Zwerge angepasst, und Grais´ kahler Kopf – wie altes Leder, faltig und dann wieder über dem kuppelförmigen Schädel gespannt – berührte beinahe die Decke. Seine grünen Augen glitzerten, und sein Mund verzog sich unter einem buschigen Schnurrbart zu einem vertrauten Grinsen. Mit einem Kopfnicken deutete er auf den Schulterbeutel seines Neffen und auf das Buch darin, das dieser gerade eingesteckt hatte. »Widmest du dich wieder dem Gesellenstück?«

Delain lächelte nur.

»Manchmal weiß ich nicht, warum...«, begann Grais, um sich dann mit einem reumütigen Kopfschütteln zu unterbrechen. »Nichts für ungut«, sagte er. »Wir können später noch einmal darauf zurückkommen.«

Delain kicherte. »Ich weiß, dass wir das tun werden.« Er rückte Harfe und Schulterbeutel ein wenig bequemer zurecht, als er in den Schritt seines Onkels einfiel. Normalerweise musste sich Delain beeilen, um nicht hinter ihm zurückzubleiben, aber diesmal ging der große Mann langsamer als gewöhnlich. »Schwerer Tag?« fragte er ruhig.

Grais schnaubte. »Nicht schwerer als jeder andere.« Dann fügte er hinzu: »Aber das besagt nicht viel, nicht in diesen Zeiten.«

Sie gingen ein paar Minuten lang schweigend nebeneinander und nahmen ihren Weg durch das ›Herz‹ des Kaers zur Großen Wendel, die sie hinunter zu ihren Quartieren auf der Lochost-Ebene führen würde. Die Gänge und Flure waren nicht annähernd so bevölkert, wie es die Hohe Promenade eine Ebene höher gewesen war, und das dumpfe Summen der Unterhaltungen – die ›Musik des Kaers‹, wie Grais es nannte – war viel leiser. So leise, dass Delain keine Schwierigkeiten hatte, den Seufzer seines Onkels zu hören.

»Der Rat?« fragte der junge Mann vorsichtig.

Der ältere Troubadour runzelte die Stirn. »Der Rat ist gelähmt«, sagte er kategorisch, wobei er seine kraftvolle Stimme senkte, damit seine Worte unter ihnen blieben.

»Meinungsverschiedenheiten?«

Grais schüttelte angewidert den Kopf. »Jeder kann die Gefahren erkennen. Sie sehen, wie schlecht die Dinge laufen. In dieser Beziehung sind sich alle einig. Aber wenn es darum geht zu beschließen, was zu tun ist?« Er schnaubte wieder und blies dabei gegen seinen Schnurrbart, um seine Worte noch zu unterstreichen. »Manchmal glaube ich, wenn der Ratstisch selbst Feuer fangen würde, sähen wir keinen Mehrheitsbeschluss dafür, es zu löschen.« Sein Lächeln – normalerweise Ausdruck ungebändigter Freude – wurde bitter. »Sie würden einen Ausschuss einsetzen und darüber beraten. Und in zwei oder drei Wochen würden sie einen Unterausschuss für brennbare Stoffe gründen, um die Asche zu durch wühlen.«

Delain musste trotz des ernsten Hintergrunds der Worte seines Onkels unwillkürlich lächeln. »Aber wenigstens erkennen sie an, dass es ein Problem gibt«, stellte er fest. »Wenn du nicht wärst, hätten sie nicht einmal das bemerkt.«

»Unsinn. Ich habe lediglich das Unvermeidliche beschleunigt.«

Delain nickte schweigend, aber ihm war klar, dass Grais den Zuspruch und die Anerkennung zu schätzen wusste.

An der nächsten Kreuzung bogen sie nach rechts in eine weniger benutzte Region der Astendar-Ebene ab – ein Abkürzung zur Großen Wendel, die sie an der normalerweise dicht bevölkerten Halle der Prinzen vorbeiführen würde. Zum zweitenmal in weniger als einer Stunde spürte Delain Staub unter seinen Stiefelsohlen knirschen. Grais verzog das Gesicht und tippte gegen einen der in der Wand befestigten Lichtquarze. Er glomm in einem flackernden rötlichen Licht, nicht dem gewohnten Hellgelb. Dann sah Delain, dass die anderen Lichtquarze in diesem Abschnitt des Ganges genauso aussahen.

»Wer ist dieser Tage für die Wartung verantwortlich?« fragte er.

»Voth.« Das war eines der älteren Ratsmitglieder, und aus Grais´ Mund klang der Name wie ein Fluch. »Er hat diese Aufgabe zur Jahreswende übernommen. Alle Wartungsausschüsse sind ihm verantwortlich. Wartungsausschüsse. Pah! Noch mehr verdammte Ausschüsse! Noch mehr Leute, die darüber reden, etwas zu tun, und niemand tut es.« Grais hielt inne. »Was sagen die Leute?« fragte er seinen Neffen. Dann schnaubte er wieder. »Ich weiß noch, als ich nicht zu fragen brauchte, als ich es selbst wusste.« Seine Stirn und sein kahler Kopf legten sich in Falten, da seine Miene einen noch finstereren Ausdruck annahm. »Vielleicht verwandle ich mich in das, was ich verachte. Ich verbringe mehr Zeit damit, vor Ausschüssen« – wiederum klang das Wort aus Grais´ Munde wie ein Fluch – »zu reden, als mit allem anderen.«

»Ich habe heute einen Leichenzug gesehen«, sagte Delain nach einem Augenblick. »Tevra Neden Steinbeißer. Kanntest du sie?«

»Ich kenne die Steinbeißer«, sagte Grais. »Eine alte Linie. Gutes Blut. ›Das wahre Blut Throals fließt in ihren Adern‹«, fügte er hinzu, indem er eine uralte zwergische Phrase der Hochachtung zitierte. »Was ist mit ihr geschehen?«

»Totgeburten. Drei hintereinander. Nach der letzten hat sie sich das Leben genommen.«

Grais geriet kurz aus dem Tritt, aber er sagte nichts, also beließ Delain es dabei. Sie gingen in gemeinsamem untröstlichem Schweigen weiter.

Zumindest leuchten die Lichtquarze in der Großen Wendel noch hell, dachte Delain. Die große, breite spiralförmig gewundene Treppe wand sich durch das gesamte Kaer, und das Treppenhaus hallte von Gesprächen und den Geräuschen zahlloser Schritte wider. An den Wänden brannten Öllampen in Kerzenhaltern. Ihre rauchlosen Flammen brannten mehr aus alter Tradition, denn wegen der Notwendigkeit zusätzlicher Beleuchtung. Flackerndes Lampenlicht warf unruhige Schatten auf die Gesichter derjenigen, die vorbeigingen.

Grais ging mittlerweile in seiner üblichen Geschwindigkeit, angeschlagen, und jetzt musste sich der jüngere Mann beeilen, um mit ihm Schritt zu halten. Viermal umrundeten sie die große Spirale, bis sie schließlich den breiten Absatz auf der Astendar-Ebene erreichten.

»Was ist mit diesem Dummkopf Kolban?« fragte Delain plötzlich.

Grais blieb wie angewurzelt stehen und betrachtete seinen Neffen mit scharfem Blick. Dann sah er sich nach den vorbeigehenden Leuten um – fast ein wenig unruhig, dachte Delain. Er schoss seine Hand fest um den Oberarm seines Neffen. »Es gibt gewisse Dinge, die man nicht wiederholt. Gewisse Dinge, die man über Kolb an nicht sagt«, zischte Grais, um dann hinzuzufügen: »Auch wenn sie tatsächlich stimmen.« Er zuckte die Achseln. »Kolban ist eben Kolban«, äußerte er nach einem Augenblick vorsichtig. »Und mehr will ich dazu nicht sagen.«

Sie gingen weiter, durch den Hauptgang zu ihren Privatquartieren.

»Ich möchte mich ausruhen«, sagte Grais schließlich, als sie sich der Tür zu den vier Räumen näherten, die sie sich teilten. »Ich habe das dringende Bedürfnis, eine Weile an der Matratze zu horchen. Und du?« Sein Grinsen war zurückgekehrt. »Arbeitest du an deinem Gesellenstück?«

Delain zuckte die Achseln und grinste ebenfalls. »Ich möchte Spazierengehen«, verkündete er, indem er den Tonfall seines Onkels nachahmte.

»Also keine Arbeit?«

»Ich kann auch beim Gehen nachdenken. Vielleicht sogar besser.« Delain kicherte fröhlich. »Wer weiß, vielleicht höre ich etwas, das ich benutzen kann.«

»Vielleicht hörst du etwas, ja.« Grais wurde wieder ernst, und er senkte die Stimme. »Was für Geschichten hast du in den Gängen gehört?«

Delain zögerte. Dann murmelte er: »Es gibt einige Dinge, die ich nicht gern wiederhole.« Sein Onkel nickte zustimmend.

»Wir treffen uns hier nach dem Abendbrot, dann können wir uns darüber unterhalten«, sagte er nach einer kurzen Pause, dann verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln. »Das heißt, falls du dann nicht noch schläfst.«

»Ich soll dann noch schlafen?« wollte Grais mit gespielter Ernsthaftigkeit wissen. »Was für ein Lehrer wäre ich, wenn ich die unbeholfenen Versuche meines Schülers, die Hohe Kunst zu lernen, verschlafen würde?« Dann änderte sich sein Gebaren, und in seinen Augen stand plötzlich so etwas wie echte Besorgnis. »Pass auf dich auf, Delain«, sagte er leise und schlug seinem Neffen freundschaftlich auf die Schulter. »Mögest du die Hand Astendars berühren.«

»Du ebenfalls«, erwiderte Delain die alte Anrufung. Er sah seinem Onkel schweigend nach, da dieser in ihrem gemeinsamen Quartier verschwand und die Steintür hinter sich schoss.

2.

So tief im Kaer war es still. Still und beruhigend. Obwohl sie es nur ungern zugeben würde, genoss Karena Herdstein diese Stille manchmal. Sie ließ ihr Raum zum Nachdenken. Raum, um ihren Empfindungen ungestört von anderen freien Lauf zu lassen. Raum, um sich mit Gedanken zu beschäftigen, die sie unter anderen Umständen stören oder gar ärgern mochten. Der Zwergin war das sehr wichtig.

Hier unten in den Unbenannten Ebenen – den Etagen des Kaers unterhalb der Raggok-Ebene – konnte sie umherwandern, manchmal stundenlang, ohne einer anderen Person zu begegnen. Was sehr angenehm war. Es bedeutete nämlich, dass sie nicht nach unten in die Geschlossenen Ebenen zu gehen brauchte, in die Etagen unterhalb der Unbenannten Ebenen, wenn sie Zeit für sich allein benötigte. Bei allen Höllen, sie wäre gegangen, wenn sie gemusst hätte, und zum Henker mit allen Verfügungen, Tabus und Flüchen. Ungeachtet aller Folgen, sie wäre gegangen. Nur hatte sich herausgestellt, dass das gar nicht nötig war.

Karena blieb kurz stehen, um den Docht ihrer Öllampe zu verkürzen, so dass die Flamme kleiner wurde. Sie benötigte nicht soviel Licht – ihre Augen waren scharf – wie im übrigen die Augen aller Zwerge –, und eine große Flamme verbrannte das Öl zu schnell. Als sie zufrieden war, legte sie sich den Tragestock wieder über die Schulter, so dass die an einer Kette aufgehängte Lampe hinter und ein Stück über ihrem Kopf hing. Auf diese Weise fiel das meiste Licht nach vorn, ohne sie zu blenden.

Als Karena zum erstenmal auf die Unbenannten Ebenen gegangen war, hatte sie sich überhaupt nicht mit einer Laterne abgegeben. Sie hatte sich einfach auf ihr zwergisches Sehvermögen verlassen, voller Zuversicht, dass es ihr in den Eingeweiden des Kaers ebenso dienen würde wie in den bevölkerten Bereichen. Natürlich war das hochmütig gewesen. Sie hatte nicht gewusst, wie es hier unten war.

Zum einen ziemlich kalt. Aber nicht zu kalt für ihr Wohlbefinden. Karena war so zäh und robust wie alle ihre Rassegenossen – und sie war niemand, der anderen oder auch sich selbst ein Unwohlsein eingestand. Aber es war zu kalt, um klar zu sehen. Wie bei den ungeschlachten Trollen hing das Sehvermögen eines Zwergs von den Temperaturunterschieden ab...

Und dort unten auf den Unbenannten Ebenen gab es keine Temperaturunterschiede. Alles hatte die schneidende Kälte alten Gesteins. Sie war ebenso blind wie ein erbärmlicher Mensch in derselben Situation.

Dennoch war sie nicht sofort umgekehrt, um eine Lampe zu holen. Nein, bei den Passionen, sie war dort unten gewesen und wollte nicht etwas so Belanglosem nachgeben wie der Tatsache, dass sie nichts sehen konnte. Jedenfalls nicht sofort. Vorsichtig hatte sie sich von der offenen Tür zum Treppenhaus in die Dunkelheit vorgetastet, wobei sie sich ganz genau merkte, wie weit und in welche Richtung sie ging.

Und sie war über etwas gestolpert. Über eine verdammte Wiege, bei Upandal! Sie war flach auf ihr dummes Gesicht gefallen und hatte sich die Nase gebrochen! Und fast noch den großen Zeh, erinnerte sie sich mit einem Grinsen, als sie versucht hatte, die dreimal vermaledeite Wiege durch die nächste Wand zu treten. Erst da war sie umgekehrt und hatte sich unablässig fluchend durch die kalte Dunkelheit zur Treppe zurückgetastet. Auf dem Weg in ihr Quartier hatte sie sich ein Taschentuch unter ihre blutende Nase gehalten und jeden mit einem tödlichen Blick bedacht, der so aussah, als erwäge er auch nur eine Bemerkung.

»Ja ja, damals war ich eben noch jung, bei den Passionen«, knurrte sie laut, indem sie sich ein Lächeln verbiss und sich über die Mühe ärgerte, die ihr das bereitete. »Zum Henker, das war vor zehn Jahren. Ich war erst zwanzig.«

Karena war aus Erfahrung klug geworden. Sie hatte nicht nur gelernt, ihr eigenes Licht mitzubringen, sondern auch, dass es einen großen Unterschied zwischen den Unbenannten Ebenen und den Geschlossenen Ebenen darunter gab. Sie hatte die Flüche oder was auch immer herausgefordert – zweimal – und war über die nicht wirkenden Schutzvorrichtungen im Treppenhaus hinweggeschritten und tiefer in die Eingeweide des Kaers eingedrungen. Die Unbenannten Ebenen waren einmal bewohnt gewesen. Tatsächlich, dachte Karena, mussten sie früher einmal sogar Namen gehabt haben. In der Frühzeit des Kaers hatten hier Leute gewohnt. Und Wiegen zurückgelassen, brummte sie in sich hinein. Und das vor noch nicht allzu langer Zeit, nach anderen Haushaltsgegenständen zu urteilen, die sie in den verlassenen Gängen und Kammern gefunden hatte. Vor einem, höchstens eineinhalb Jahrhunderten. Nicht mehr.

Und die Geschlossenen Ebenen? Damit verhielt es sich ganz anders. Sie waren nie besetzt gewesen, nicht seit der Fertigstellung des Kaers. Von gelegentlichen – und heimlichen – Besuchern wie ihr selbst abgesehen, waren die letzten Leute in diesen Ebenen die Baumeister gewesen, die sie aus dem kalten, harten Gestein des Kaers erschaffen hatten. Das war etwa fünf Jahrhunderte her.

Sie hatte diese Jahre auch gespürt, als sie durch die hallenden Gänge der Geschlossenen Ebenen gewandert war. Wie ein Gewicht auf ihrem Geist. Wie die geistige Entsprechung der Gesteinsmasse, die über ihrem Kopf hing. Auf eine tiefgreifende Art und Weise bestürzend. Dort unten auf den Geschlossenen Ebenen war es zu leicht, ein Opfer der Einbildung zu werden. Zu leicht, die Echos ihrer eigenen Schritte zu hören und sie als verstohlene Bewegungen von... etwas... zu deuten.

Dummheit! Sie schob kampfeslustig die Unterlippe vor. Das einzige, was ihr hier unten begegnen konnte, war ein übereifriger Questor, der erpicht darauf war, jemanden vor den Rat zu bringen. Und nicht einmal der, verbesserte sie sich sarkastisch. Alle sind viel zu sehr von dem Tabu beeindruckt, um noch den Mut zu haben, dort hinunterzugehen. Wiederum sprach sie laut, und ihre spöttische Stimme wurde von dem Basalt über ihr zurückgeworfen. »Die Geschlossenen Ebenen, oooh...« Sie lachte rauh.

Wie, in allen Höllen, waren diese Tabus überhaupt entstanden? Das ganze Gerede über Flüche – woher kam das? Die untersten Bereiche des Kaers – die jetzt die Geschlossenen Ebenen genannt wurden – waren jedenfalls zu Anfang nicht als verflucht angesehen worden, das war gar nicht möglich. Wahrscheinlich waren sie mehr als alles andere ein Symbol der Hoffnung gewesen. Zusätzlicher Raum – mehr Raum, als ihn die ursprüngliche Bevölkerung des Kaers brauchte. Raum für neue Kinder und neue Familien, wenn die Bevölkerung des Kaers wuchs. Eine Verheißung für die Zukunft.

Aber die Bevölkerung war nicht gewachsen, oder? Ganz im Gegenteil. Anfangs waren auch die Unbenannten Ebenen – wie sie damals auch geheißen hatten – in Gebrauch gewesen. Leute hatten dort gewohnt. Jetzt nicht mehr. Diese Ebenen wurden nicht mehr benötigt. Und selbst die bewohnten Ebenen – die zwölf kreisförmigen, nach den Passionen benannten Etagen und die vier kleineren ›Elemente‹-Ebenen, aus der die Spitze des Kaers bestand – waren nicht gefüllt.

Karena blieb stirnrunzelnd stehen. War das der Grund, warum die Geschlossenen Ebenen geschlossen waren? Steckte nicht mehr dahinter? Nur der Gedanke, dass sie die Leute an etwas erinnern würden, woran sie besser nicht dachten? Dass sie die Leute an eine schmerzliche Wahrheit erinnerten? Sie widerstand dem Drang, vor verächtlichem Spott auszuspeien. Konnten die Leute wirklich so dumm sein?

Vielleicht wusste es Delain. Der Gedanke überraschte sie ein wenig. Sie hatte jetzt seit mehreren Wochen nicht mehr an den Troubadour-Lehrling gedacht – hatte nicht zugelassen, dass sie an ihn dachte. Nicht mehr seit ihrem letzten Gespräch, als...

Nein! Hölle, nein! Sie verdrängte die Erinnerung, schob sie wieder in die dunklen Ecken ihres Gedächtnisses, wo sie hingehörte. Er hatte nicht einmal erkannt...

Bei allen Dämonen. Sie rückte den Tragestock ein wenig zurecht, so dass er bequemer auf ihrer breiten Schulter lag. Wenn sie den jungen Troubadour-Lehrling sah – wenn sie ihm zufällig begegnete –, würde sie ihn vielleicht fragen. Warum nicht? Was nützte es, sich selbst zu grollen, sich selbst etwas vorzuenthalten, das sie wissen wollte, ihn für etwas zu bestrafen, von dem er nicht einmal wusste, dass er es getan hatte? Ja, wenn sie ihn sah, würde sie ihn fragen. Aber sie würde ihn ganz gewiss nicht aufsuchen. Niemals.

Aus welchen Gründen auch immer, die Geschlossenen Ebenen galten als tabu, als verflucht. Und – wenn ihre Überlegungen stimmten – würden die Unbenannten Ebenen schließlich dasselbe Schicksal erleiden und in denselben Ruf gelangen. Wie albern. Wie albern, wirrem Aberglauben nachzugeben. Bei allen Höllen, hier unten in den Tiefen gab es Dinge von Wert. Bei ihren ersten Erkundungsgängen war ihr das noch nicht aufgefallen, aber sie hatte schnell gelernt.

Dinge von Wert. Keine Juwelen oder Gold oder antike Waffen. Nichts dergleichen. Wert in einem anderen Sinn. Zum Beispiel einige der besten Werke der Baukunst im ganzen Kaer Moar. Im schmutzigroten Licht ihrer Lampe hatte sie Bögen und Portale, gerippte Decken und Verzierungen gesehen, die klassische Beispiele für den hochzwergischen Stil waren. In den bewohnten Teilen des Kaers beschränkte sich diese kunstvolle Art des Handwerks auf die ›wichtigem Bereiche – die insbesondere dort waren, wo die selbstherrlichen Ratsmitglieder lebten und arbeiteten. Nur die ganz hohen Tiere konnten sich täglich an den erlesensten Kunstwerken erfreuen. Aber in den alten Zeiten war es für die Bewohner der Unbenannten Ebenen eine Art Geburtsrecht gewesen, sich an ihnen zu erfreuen. Woran konnte das liegen? wunderte sich Karena. Daran, dass das Kaer von oben nach unten errichtet worden war und die Künstler ihre Fertigkeiten vervollkommnet hatten, als sich diese Ebenen erreichten? Sie zuckte die Achseln. Noch eine von diesen Fragen, auf die sie nie eine Antwort bekommen würde.

Doch die komplexe Architektur war nicht der einzige Wert, dessen sich die Bewohner des Kaers aus Aberglauben beraubt hatten. Da gab es noch die Halle der Passionen. Einen breiten Flur mit hoher Decke, der von Statuen – fast schon Schreinen – flankiert wurde, die den zwölf Passionen gewidmet waren. Ein wunderbarer Ort zum Nachdenken und zur Selbstbetrachtung, hatte Karena festgestellt. Wenn sie langsam zwischen den fein gearbeiteten Statuen herging, konnte sie fast spüren, wie sich Frieden und Weisheit der Passionen in ihrer Seele ausbreiteten. Und jetzt tun Narren wie Kolban diese Art von spirituellem Reichtum als schlechtes Omen ab? Karenas dünne Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen. Idioten!

Die Zwergin warf einen Blick nach oben auf die Hand, die den Tragestock hielt. Die Knöchel traten weiß hervor wie gebleichte Knochen. Mit einem verächtlichen Schnauben zwang sie sich, den Griff zu lockern. Vielleicht konnte sie den Frieden und die Weisheit im Moment gut gebrauchen.

Die Halle der Passionen war das Zentrum dieser Ebene und befand sich genau dort, wo die Große Wendel gewesen wäre, wenn sie so tief hinabgereicht hätte. Das bedeutete... Sie zögerte einen Augenblick, in dem sie sich orientierte.

Ja. Dort entlang. Sie verlagerte den Tragestock auf die andere Schulter, wandte sich nach rechts und folgte einem breit angelegten Durchgang.

Es war das Geräusch, was sie warnte, nicht das Licht. Das schwache Echo einer Unterhaltung und rauhen Gelächters von vom. Karena blieb stirnrunzelnd stehen, dann löschte sie die Flamme ihrer Lampe. Ja, aus der Richtung der Halle der Passionen kam ein flackernder Schein, der von den glatten Steinoberflächen zurückgeworfen wurde. Entschlossen ging sie weiter.