Das verletzte Herz - Gion Condrau - E-Book

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Gion Condrau

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Beschreibung

Herz- und Kreislauf-Störungen sind nicht nur ein körperliches Geschehen, sondern für den Erkrankten geradezu existenzielle Bedrohungen. Beziehungsstrukturen und Persönlichkeitsmerkmale können bei der Entstehung solcher Störungen eine Rolle spielen. Gion Condrau und Marlis Gassmann betrachten solche Risikofaktoren aus psychosomatischer Sicht und gehen auch auf Diagnose und Therapie ein. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Gion Condrau | Marlis Gassmann

Das verletzte Herz

Zur Psychosomatik von Herz-Kreislauf-Erkrankungen

FISCHER Digital

Inhalt

Geist und Psyche Herausgegeben [...]Editorische VorbemerkungPrologVital Klemm: Angina pectoris oder die »Migräne des Herzens«Dr. Hector Wille und Reto Casaulta: Der Herzinfarkt oder das »gebrochene Herz«Psychosomatik der Herz- und KreislauferkrankungenDas Herz als Organ des menschlichen KörpersDas Herz als Symbol und Metapher – die Sprache des HerzensDie drei Fundamente einer ganzheitlichen MedizinHerzinfarktDie Persönlichkeit des InfarktpatientenDie Biographie des HerzkrankenRisikofaktorenPsychosoziale EinflüsseMetaphysik des HerzensArchilochosBluthochdruckDie Hypertonie als psychosomatisches ProblemDas anankastische WeltverhältnisHerzneuroseHerzneuroseDie vegetative NeuroseDas phobische WeltverhältnisTherapeutische Aspekte psychosomatischer Herz-Kreislauf-ErkrankungenErfahrungen mit Herzpatienten in der AllgemeinpraxisErfahrungen mit Herzkranken in der psychotherapeutischen PraxisDas GesprächTiefenpsychologisch orientierte PsychotherapieGlossar

Geist und Psyche Herausgegeben von Willi Köhler Begründet von Nina Kindler 1964

Editorische Vorbemerkung

Unsere Zeit, später vielleicht einmal als »Zeitalter der Großtechnik« apostrophiert, neigt dazu, alles Geschehen dieser Welt, auch das immer noch weitgehend rätselhafte Leben, unter technischen Gesichtspunkten zu sehen und zu behandeln. Besonders auffällig ist dieser »technische Blick« auch in der Medizin, sonderlich in jener Variante, die ein wenig abschätzig als »Schulmedizin« bezeichnet wird. Niemand wird in Abrede stellen wollen, daß die naturwissenschaftliche Medizin Erfolge errungen hat, die noch vor Jahrzehnten undenkbar schienen. Doch offensichtlich ist die rein somatisch orientierte Medizin an eine Grenze gekommen. Die Funktionsweisen wichtiger Organe, körperliche Zustände und Störungen, ans Wundersame grenzende Phänomene wie »Spontanheilungen« und andere Erscheinungen mehr lassen sich nicht als nur »mechanische« oder auch nur »somatische« erklären. Das gilt in besonderem Maße für Herz- und Kreislauf-Erkrankungen, die in den westlichen Wohlstandsländern mit zu den häufigsten Todesursachen zählen. Bei ihnen sind allem Anschein nach neben der »modernen« Lebensweise auch psychische und mentale Vorgänge mit im Spiel. Das Herz als Lebenszentrum ist besonders anfällig für »Mißstimmungen« jeglicher Art. Das wußten schon unsere Vorfahren. Für sie hatte das Herz gleichsam eine eigene Sprache, wie zahllose Symbole und Metaphern bezeugen. Diese »Herzsprache« suchen die Autoren dieses Bandes zu ergründen.

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Prolog

Gion Condrau

Vital Klemm: Angina pectoris oder die »Migräne des Herzens«

Sein Blick ist unstet. Er schaut ziellos im Zimmer umher, als suche er etwas, woran er Halt finden könnte. Nur selten streifen mich seine Augen, aber so, als ob er durch mich hindurchsähe. Die Situation ist ihm offensichtlich peinlich. Von ungefähr, sich für sein Hiersein entschuldigend, kommt die kaum hörbare Frage über seine Lippen, womit er denn beginnen solle.

Wir sitzen uns in bequemen Polstersesseln aus angenehm weichem braunem Leder gegenüber. Gelegentlich betrachtet er mit sichtbarem Mißtrauen die schwarze Ledercouch, die links vorne an der Wand einen vielleicht etwas seltsamen Kontrast zur übrigen, mehr rustikalen und in freundlichen Brauntönen gehaltenen Möblierung meines überdimensioniert großen Sprechzimmers bildet. Ich liebe große Räume. Sie geben mir das Gefühl der freien Beweglichkeit, des Offenen, der Lichtung. Nicht alle Menschen lieben solche Räume. Manch einer fühlt sich darin verloren, haltlos, ausgeliefert. Es fehlt ihm die sichtbare Begrenzung.

»Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll«, sagt er, mir in Erinnerung rufend, daß er eine Frage gestellt hatte.

»Vielleicht dort, wo Sie sich entschieden haben, mich aufzusuchen?«

Ja, das sei eigentlich sein eigener Entscheid gewesen. Die Vorstellung, einen Psychiater aufsuchen zu müssen, habe ihm, aber nicht nur ihm, sondern auch seiner Frau, größten Kummer bereitet. Lange habe er sich dagegen gewehrt, im Grunde sehe er auch heute noch keineswegs ein, was er hier zu suchen habe – ihm fehle weder geistig noch seelisch etwas, seine Ehe sei harmonisch, beruflich habe er zwar, rezessionsbedingt, einige Rückschläge erlitten; eigentlich habe er zu arbeiten aufgehört, seiner Krankheit wegen, aber finanziell sei er abgesichert.

Seiner Krankheit wegen?

Ja, sein Arzt habe ihm geraten, sein Geschäft zu verkaufen. Es sei ohnehin für ihn zu aufregend gewesen. Einerseits genieße er jetzt seine Ruhe, andererseits vermisse er die Tätigkeit. Früher, da sei alles anders gewesen. Er habe täglich zwischen 14 und 16 Stunden gearbeitet. Dabei habe er täglich 100 Kilometer zu fahren gehabt, die er mit seinem superschnellen Ferrari zurückgelegt habe. Damals, so erzählt er, machte es ihm nichts aus, von Zürich nach Barcelona oder Paris zu fahren und gleichen Tags zurück, wobei ihn eine Autofahrt von 15 bis 20 Stunden ohne Rast nicht im geringsten ermüdete. Nichts schien ihm zuviel. Als Hobby trieb er Sport; er brachte es im Amateurboxen immerhin zu einem lokalen Bekanntheitsgrad.

Was zum Teufel sollte er bei einem Psychiater?

Ob ihm denn wirklich nichts fehle, will ich von ihm wissen, nachdem er mir des langen und breiten auseinandergesetzt hat, daß es ihm eigentlich an nichts fehle.

O doch, gewiß. Er sei ja in ärztlicher Behandlung, seit etwa vier Jahren. Allerdings bis jetzt erfolglos, und dies, obwohl er eine Reihe von Ärzten, darunter bekannte Kapazitäten, aufgesucht hatte und sogar in Kliniken eingewiesen worden war. Niemand habe ihm bisher helfen können. Vermutlich habe sein Hausarzt, dem er noch als einzigem vertraue, daraus den Schluß gezogen, er sei »im Grunde« psychisch krank. Das nun wiederum glaube er selbst nicht. Sollte es jedoch trotzdem der Fall sein, so brauche er erst recht keine psychiatrische Hilfe, denn dann sei es eine Sache des Willens.

Jetzt wird er lebendig. Sein Blick fixiert mein Gesicht. »Der Wille ist alles! Ich habe schon immer gesagt, wer keinen Willen hat, ist kein rechter Mensch. So bin ich erzogen worden. Den Willen hat man, oder man hat ihn eben nicht. Da kann kein Psychiater etwas daran ändern.«

Auf meinen Einwand, sein Wille scheine bisher auf seine Krankheit ebensowenig Einfluß gehabt zu haben wie die Ärzte, meint er – etwas nachdenklich geworden –, das stimme schon. Er müsse auch zugeben, daß es mit seiner Willensstärke nicht allzuweit her sei. Mehrmals habe er daran gedacht, Selbstmord zu begehen, falls es ihm nicht bald gelinge, gesund zu werden.

In diesem Moment und erstmals während dieser ersten Unterredung wirkt der Patient hilflos und hilfesuchend. Das anfängliche Mißtrauen und die Unsicherheit sind dem mitmenschlichen Appell gewichen: Helfen Sie mir!

Tatsächlich standen sich keineswegs Psychiater und Patient gegenüber, nicht mehr eine wissenschaftliche Autorität, wie er sie immer gesucht hatte, und ein neurotisch oder psychosomatisch Kranker, sondern zwei Gesprächspartner, jeder mit seinem eigenen Weltverhältnis, aber gemeinsam bei ein- und derselben Sache: dem Leiden dieses Menschen. Denn hinter der sportlichen Fassade des 45 jährigen Mannes, dem tatsächlich ein unbeugsamer Wille, Tatkraft, Intelligenz und Erfolg ins braungebrannte, mit einem schmalen Schnurrbart garnierte Gesicht geschrieben standen, konnte dem Beobachter die nackte Existenzangst nicht verborgen bleiben, die ihn quälte und nach Erlösung drängte. Es wäre ein leichtes gewesen, ihn daraufhin anzusprechen. So leicht wie sinnlos. Diesen Menschen zu demaskieren wäre einem Gewaltakt gleichgekommen, der ihm nur zwei Möglichkeiten offengelassen hätte: die völlige Zerstörung, den Zusammenbruch, oder die totale Abwehr, die Verstärkung jener Beschwerden, die ihn zu den Medizinern trieb. Und damit wäre der psychotherapeutische Weg wohl für immer verbaut gewesen.

Er hatte nämlich, wie er zögernd zugab, bereits zwei »psychiatrische Versuche« hinter sich. Das eine Mal hatte er sich überreden lassen, eine Therapeutin aus dem Kreis um C.G. Jung aufzusuchen, die ihn vergeblich nach seinen Träumen befragte. Da er keine Träume liefern konnte, verließ sich die Psychologin auf die Astrologie, was alsobald diesen Therapieversuch beendete. Zwar habe sie ihm erstaunliche Details aus seinem Leben zu erzählen gewußt, insbesondere erwähnt, er müsse in früher Jugend ein psychisches Trauma erlitten haben, das bis auf den heutigen Tag nachwirke. Tatsächlich erinnert sich der Patient, im Alter von sieben Jahren am Nikolaustag eine schreckliche Nacht erlebt zu haben. An jenem Abend wurde er, wie es so üblich war, vom »Samichlaus«[1] in einen Sack gesteckt – er hätte bei einem anderen Bauerngehöft wieder freigelassen werden sollen. Der gute Weihnachtsmann war jedoch so betrunken, daß er unterwegs hinfiel und einschlief. Der kleine Vital Klemm bekam es im Sack mit der Angst zu tun, ganz abgesehen davon, daß er jämmerlich fror. Erst nach Stunden qualvollen Wartens und Schreiens, genauer gesagt, am andern Morgen, wurde er gefunden. Das Erlebnis hat er bis heute nicht vergessen. In der ihm eigenen Art verarbeitete er es jedoch in für ihn erträglichem Sinn. Das Positive an jenem Vorkommnis sei nämlich, daß er dadurch die nötige Härte für das Geschäftsleben erhalten habe. Eine zweite Begegnung mit einem Psychiater während eines Klinikaufenthaltes auf einer internistischen Station verlief ebenso fruchtlos. Dieser hatte zwar vom Patienten keine Träume gefordert, wollte jedoch von ihm Details aus seinem ehelichen Intimleben wissen, die ihn, nach Ansicht des Patienten, nicht das geringste angingen und ohnehin keinen Zusammenhang mit seinem medizinischen Krankheitsbild besaßen.

Medizinisch war Vital Klemm, von Beruf Architekt, vollständig untersucht worden, zumindest soweit es die ambulanten und klinischen naturwissenschaftlichen Methoden ermöglichten. Was die Medizin an Torturen zur Diagnostik abklärungsresistenter Krankheiten bereithält, ließ der Patient geduldig über sich ergehen. Da fehlte nichts. EKG, Koronarangiographie, Lumbalpunktion, EEG, sämtliche Labortests waren wiederholt durchgeführt worden.

Seit vier Jahren nämlich litt er an spastischen Anfällen, während denen sich die Muskulatur im Bereich des Nackens schmerzhaft versteifte, so daß er die Arme kaum noch bewegen konnte. Gleichzeitig verspürte er ein starkes Herzklopfen, die Pulsfrequenz stieg an, ein Schwächegefühl übermannte ihn und brachte ihn fast zur Bewußtlosigkeit, ein Zustand, aus dem er sich nur langsam erholte und der von rasenden Kopfschmerzen abgelöst wurde. Die Anfälle waren erstmals nach einer 16stündigen Autofahrt aufgetreten und wurden vom Arzt ohne Zögern auf diese Überanstrengung zurückgeführt. Trotz verordneter Ruhepause und darauffolgender Einweisung in ein Rehabilitationszentrum besserte sich sein Zustand nicht. Im Gegenteil, die Anfälle nahmen an Häufigkeit und Intensität zu. Sie traten oft drei- bis viermal am Tage auf, überfielen ihn unerwartet während des Autofahrens, bei der Arbeit oder auch im Schlaf. Ausnahmslos alle konsultierten Ärzte wußten nichts anderes als eine nun nicht mehr einmalige, sondern chronische berufliche Überforderung des Patienten für seinen Zustand verantwortlich zu machen. Sie empfahlen ihm, seine Arbeit als Architekt völlig einzustellen. Damit war fürs erste das Kausalitätsbedürfnis von Arzt und Patient gestillt. Mit »Überforderung« nämlich läßt sich alles erklären, und dies noch dazu in gesellschaftlich legitimierter Weise. Ein Mann, der beruflich, sportlich oder politisch Erfolg hat, wird gefordert. Diese Forderung wird erst zur Überforderung, wenn die nachweisbare Leistung ihn in die Knie zwingt. Der überforderte Mensch darf dann, ohne daß ihm ein Zacken aus der Leistungskrone fällt, versagen. Wenn er zusammenbricht, ist er nicht nur des Mitleids, sondern auch der Hochachtung seiner Mitmenschen gewiß. Daß es möglicherweise noch andere Überforderungen gibt, die nicht dem Bereich des Ehrgeizes oder der Leistung, sondern jenem der mitmenschlichen Beziehung entstammen, wird weder anerkannt noch honoriert. Es ist nicht schwer, einem Patienten zu raten, seinen Beruf zu wechseln oder seine Laufbahn aufzugeben, sich zur Ruhe zu setzen, seine Alltagsgeschäfte zu vergessen, gleichsam auf den Lorbeeren auszuruhen. Versuchen wir das gleiche mit einem Ehemann, der an der Gefühlskälte seiner Frau leidet, mit einer Ehefrau, die durch die Tyrannei ihres Mannes oder die Querelen ihrer Kinder überfordert ist. Ich zweifle nicht daran, daß es ein Überforderungssyndrom gibt; ich denke da an die vegetativ-dystone Symptomatik, an Herz-Kreislauf-Schäden. Ich zweifle aber auch nicht daran, daß die Überforderung eine der geläufigsten Alibidiagnosen der psychosomatischen Medizin ist. Überfordert wird der Mensch im wesentlichen nur dann, wenn er sich dem, was ihn beansprucht, widersetzt oder wenn er von diesen Ansprüchen so vollständig aufgesogen wird, daß er ihnen verfällt und der freien Entfaltung jeglicher anderer Begegnungsmöglichkeiten verlustig geht. Überforderung heißt also Verlust der Freiheit, Offenheit und Gelassenheit Mitmenschen und Dingen gegenüber. Das klassische Beispiel ist die essentielle Hypertonie. Kaum einem anderen Kranken wird von allen Seiten so sehr »leistungsmäßige« Überforderung nachgesagt wie dem Hypertoniker. So war es auch bei Vital Klemm. Sein Blutdruck wies zwar nur geringe Schwankungen auf, erreichte aber doch zeitweise die Grenze eines eigentlichen Hochdrucks. So blieben denn die Ermahnungen nicht aus. Nicht nur die Ärzte, auch die Familienmitglieder und in deren Gefolge die Verwandtschaft und der Freundeskreis waren »darüber keineswegs erstaunt«. Ein Mann, der so gehetzt und rastlos lebte, der offensichtlich nur die Arbeit und den sozialen Aufstieg als Lebenssinn gelten ließ, mußte ja einen zu hohen Blutdruck haben. Der Herzinfarkt oder eine Apoplexie wurden ihm fortan drohend an die Wand gemalt. Daß jedoch alle seine Beschwerden, kaum daß er im Ruhestand war, in unerträglichem Ausmaße zunahmen, schien zunächst niemanden zu beunruhigen. Sie wurden als verspätete Reaktion auf die jahrelange Überforderung gedeutet, als Folge einer Streßsituation, die nun die Abwehrkräfte total erschöpft habe.

Solche Deutungen sind wesentlich von einem physikalisch-mechanistischen Denken geprägt. Hier wird das Herz mitsamt dem Blutkreislauf ausschließlich als ein großes biologisches Kraftwerk verstanden, das nach den Gesetzen von Kraft und Energie funktioniert. In einem solchen System gilt das Gesetz von Masse und Bewegung. Medizinische Abklärung, Diagnose und Therapie richten sich danach.

Am meisten litt der Patient an Herzkrämpfen, die nach Angaben des überweisenden Arztes an Intensität und Schmerzcharakter das Ausmaß eines Herzinfarktes aufwiesen. Anläßlich vielfacher Einweisungen auf die Intensivstation mehrerer Krankenhäuser konnten angiographisch Koronarspasmen bei sonst morphologisch unauffälligen Herzkranzgefäßen nachgewiesen werden. Nach Einnahme eines Nitroglyzerinpräparates oder eines Calciumantagonisten lösten sich jeweils die Spasmen. Die Linderung der Herzschmerzen, die, wie bereits angedeutet, in beide Schultern und in den Nacken ausstrahlten, nicht aber in die Arme, trat jeweils eine Viertelstunde später ein wurde aber mit intensiven Kopfschmerzen erkauft, die Fortalgesic oder Morphium erforderten. Der Patient fühlte sich dabei, als ob der Kopf mit flüssigem Blei übergossen würde, die ganze Kopf- und Gesichtshaut brannte wie Feuer.

Der Versuch, mit eisernem Willen Herr seiner Krankheit zu werden, mißlang. Er lernte autogenes Training, er wollte Herz und Hirn durch Beherrschung wieder zur Ordnung rufen, er versuchte es mit Diät, Wiederaufnahme der Arbeit, mit anstrengenden Wanderungen, mit Sport, alles ohne den geringsten Erfolg. So blieb nur noch die Steigerung der Medikamentendosierung, Absetzung und Ersetzung von Arzneimitteln, der Gang von Arzt zu Arzt. Zu Beginn der psychotherapeutischen Sitzungen nahm der Patient täglich mehrmals fünf bis sechs verschiedene Tabletten ein, die er zum Teil mit sich führte, um sie bei jedem Anfall sofort zur Hand zu haben.

Je unklarer und vielfältiger das Krankheitsgeschehen bei unserem Patienten wurde, desto ratloser wurden die Ärzte. Die medizinischen Untersuchungen ergaben keine Klärung der Symptome, selbst die fachärztliche Abklärung einer Rektalblutung (Blutung aus dem After) ergab, wie es im Überweisungsschreiben des Hausarztes heißt, »keine somatische Ursache«. Einem Bericht des bereits erwähnten Psychiaters war zu entnehmen, daß der Patient als »rigider, organisierter, in einer starken Abwehr stehender Mann« beurteilt wurde, »der nur das Rationale in sich selber und im Leben akzeptiert und das Irrationale nicht kennt und nicht kennen will«. Die Idee einer Psychogenese, daß seine Krankheit psychische Ursachen haben könnte, lehne der Patient vollkommen ab, die fehlende somatische Diagnose beruhe seiner Meinung nach lediglich auf der inadäquaten Technik der medizinischen Klinik. Die unaufhörliche Kollision zwischen seinem Bewußtsein, das alles Unbewußte ablehne, und dem Unbewußten erzeuge eine Spannung, die entweder ins vegetative Nervensystem geschaltet werde und zu psychosomatischen Symptomen führe, die ihrerseits wiederum über den Weg der willkürlichen Muskulatur die hysterische Symptomatologie entstehen lasse oder die in gewissen Fällen zu einem Bruch mit der Realität, also zur Psychose führen könne. Der Bericht schließt: »Es ist unmöglich, ein Leben lang das Irrationale im Unterbewußtsein abzulehnen und das Leben von einer simplen kausalistischen Perspektive zu erfassen zu versuchen. Eine solche Lebensperspektive führt auf einen sicheren Kollisionskurs. Es ist interessant, in diesem Zusammenhang zu erwähnen, daß der Patient überzeugt ist, daß sein eventueller Tod von ihm abhängt; wenn er nämlich ›sich nicht mehr halten könne‹, werde er sterben.« Die Illusion, letztlich auch über sein Leben und seinen Tod bestimmen zu können, beruhe auf einer schrecklichen Hybris, einem »die Götter herausfordernden Größenwahn, der dessen Exponenten sicherlich früher oder später zu Fall bringen« werde.

Dieser Bericht kam mir nicht zufällig in die Hände. Zunächst hatte bereits der Internist in seinem Überweisungsschreiben erwähnt, der konsultierte Psychiater habe den Patienten als einen »Mann ohne Schatten« bezeichnet, dem nicht zu helfen sei. Der Patient selbst hatte sich sehr abschätzend über die Begegnung mit dem Psychiater geäußert. Dieser sei ihm gegenüber autoritär-hochtrabend gewesen, habe geglaubt, ihn ausfragen zu müssen, und noch dazu das Gespräch mit ihm in Anwesenheit einiger Assistenten und Krankenschwestern geführt. Ich hatte anfänglich nicht die Absicht, die Meinung dieses Psychiaters einzuholen. Prinzipiell bin ich der Überzeugung, der Therapeut sollte möglichst unbeeinflußt von fremden Ansichten dem Patienten begegnen. Es ist zumeist auch wenig aufschlußreich, was Patienten über früher konsultierte Therapeuten berichten, ob es sich nun um einmalige Konsultationen oder längerdauernde Behandlungen handelt. Das Spiel des »divide et impera« ist seit Caesars Zeiten bekannt und findet auch in der Psychotherapie reichlichen Zuspruch. Hier ging es mir weder um die Beurteilung des psychiatrischen Kollegen noch um die Glaubwürdigkeit des berichtenden Patienten. Hingegen interessierte mich die Konfrontation des Patienten mit dem Bericht des Psychiaters. Vital Klemm wußte nämlich, daß seinem Internisten ein »Gutachten« – wie er es nannte – zugestellt worden war. Er hatte keine Ahnung, was darin vermerkt oder wie er beurteilt worden war. Er äußerte den Wunsch, daß er und ich davon erführen – ich versprach ihm spontan, den betreffenden Bericht kommen zu lassen und mit ihm durchzusehen. Es entspricht dies meiner Überzeugung, daß dem Therapeuten von seiten des Kranken nicht der Argwohn anhaften soll, er wisse mehr als dieser selbst. Als es jedoch soweit war, verließ ihn der Mut. Er wollte nichts wissen, es interessierte ihn »eigentlich« gar nicht, was jener Psychiater über ihn geschrieben hatte.

In der Zwischenzeit waren einige Tage vergangen. Ich hatte noch keine Stellung bezogen, weder hinsichtlich einer Therapie ganz allgemein noch hinsichtlich einer eventuell anzuwendenden Art von Behandlung. Vorläufig genügte es mir festzustellen, daß der Patient gerne kam, daß er, vom ersten Mal abgesehen, spontan und offen sprechen konnte. Denn dies war offensichtlich: Bisher hatte ihm ein Gesprächspartner gefehlt, der kommentarlos zuhörte, der ihm weder Anleitungen gab oder Ratschläge erteilte, noch in seine vorläufig streng gehütete Intimsphäre einzudringen versuchte. Dabei war die Versuchung groß. Es war mir klar, daß dieser Mann mehr von sich geben konnte, falls es gelang, die ihn umgebende Eisschicht schmelzen zu lassen. Dies jedoch konnte nur geschehen, nicht gemacht werden.

Nach drei bis vier Sitzungen schien der Patient genügend Vertrauen zu haben, daß ich ihm eine in klassischem Stil durchgeführte analytische Therapie hätte vorschlagen können. Er war im Grunde genommen ein braver Patient und hätte sich zu diesem Zeitpunkt jeder Anordnung gefügt – wie er auch alle bisherigen Verordnungen treu befolgt hatte. Die Zeit schien mir dafür aber noch nicht reif zu sein. Ich selbst war zwar inzwischen überzeugt, daß die Indikation für eine analytische Behandlung gegeben war. Nicht so sicher war ich, ob auch die Voraussetzungen dafür vorlagen. Indikation und Voraussetzungen für eine analytische Therapie sind nämlich zwei Dinge, auch wenn sie zumeist nicht genügend differenziert werden.

Ein oft unterschätztes Moment hinsichtlich Indikation und Voraussetzung für die Therapie ist, abgesehen von der persönlichen Einstellung des Patienten, die Haltung der Umgebung. Bei Vital Klemm hatte ich zwei Faktoren in Rechnung zu stellen: das Verhalten der ihn behandelnden Ärzte sowie die Einflußnahme seiner Frau.

Der Hausarzt, Internist und psychosomatisch interessiert, hatte ihn nach der Lektüre eines daseinsanalytisch orientierten Buches an mich überwiesen. »Während der Lektüre der ›Praxis der Psychosomatik‹ von Medard Boss«[1] sei ihm immer wieder dieser Patient eingefallen. Er sei, so schrieb er, der festen Überzeugung, daß diesem Kranken höchstens mit einer Daseinsanalyse zu helfen wäre. Vom Patienten selbst erfuhr ich zudem, daß dieser Arzt die massive Medikamentenzufuhr durch die anderen Internisten als »kriminell« bezeichnete. Von ihm jedenfalls war Unterstützung zu erwarten, falls eine solche notwendig werden sollte. Er war auch der einzige, der den Patienten einmal nachts notfallmäßig aufsuchen mußte und diesen im ganzen Elend eines Anfalles erlebt hatte. Allerdings gab er offen zu, daß alle bisherigen Gespräche mit dem Patienten »sehr an der Oberfläche« geblieben waren und er ihn, trotz langer Behandlungsdauer, eigentlich kaum kenne.

Der zweite Arzt, der durch den Bericht des Psychiaters in etwa Bescheid wußte, war zu dieser Zeit bereits ausgeschaltet. Er hatte immerhin den Patienten jener Psychotherapeutin überwiesen, deren astrologische Kenntnisse in Vital Klemm ein ebenso großes Maß an verblüffter Anerkennung wie an Mißtrauen auslösten. Schwieriger wurde es mit dem dritten Internisten, einem zweifelsohne vertrauenswürdigen und in Fachkreisen hochgeachteten Facharzt. Er stellte zwar dem Patienten keinerlei offene Hindernisse in den Weg, als dieser ihm seinen Entschluß mitteilte, sich in psychotherapeutische Behandlung zu begeben. Mit mildem und verständnisvollem Lächeln gab er allerdings unmißverständlich zu verstehen, daß Klemms Leiden rein somatischer Natur und eine Heilung nur medikamentös zu erreichen sei. Eine Diagnose konnte er nicht stellen, verdoppelte aber die Medikamentendosierung. Zweifellos wollte er das Rennen gewinnen!

Unser Patient litt an Bluthochdruck, im Vordergrund aber standen Krämpfe, Spasmen der Herzkranzarterien. Die Diagnose lautete auf Angina pectoris – in Fachkreisen auch »Migräne des Herzens« genannt. Man könnte sagen, er war im eigentlichen Sinne herzkrank. Ein herzkranker Mensch ist, so sagt unsere Alltagssprache und eine alte Redensart, liebeskrank. Nichts schien jedoch darauf hinzudeuten, daß er es wirklich war. Sein Verhältnis zu Frau und Kindern schilderte er als problemlos. Trotzdem waren mir einige Details aufgefallen.

Als ich anläßlich seines ersten Besuches bei mir die Sprechzimmertüre öffnete, hielten sich drei Personen im Warteraum auf: der Patient, eine jüngere Frau und ein kleines Kind von etwa vier Jahren. Im ersten Moment wußte ich nicht, in welcher Beziehung die drei Menschen zueinander standen. Ich begrüßte zuerst die Frau, die mir einen eher kühlen, distanzierten, aber nicht unfreundlichen Eindruck machte. Ob das ihr Kind sei?

»Nein«, antwortete der Mann, »es ist nur bei uns zu Besuch.«

Frau und Kind, es war die Ehefrau und ihr Enkelkind, warteten im Vorzimmer bis zum Ende der Konsultation. Von ihr wußte ich lediglich aus dem Überweisungsschreiben, das ich damals bereits erhalten hatte, daß sie beim gleichen Arzt wie ihr Mann wegen Spannungskopfschmerzen und Nackenversteifung in Behandlung stand. Der Arzt empfand sie als »kalte Schönheit«.

In unserem ersten Gespräch betonte der Patient, wie gesagt, daß er mit seiner Frau ein ausgezeichnetes Verhältnis habe. Im weiteren vermied er es, eheliche oder familiäre Belange zu erwähnen. Insbesondere gab er auch keine Auskunft darüber, weshalb Frau und Enkelkind ihn zu mir begleiteten. Erst einige Sitzungen später sollte sich erweisen, daß dies nicht ganz belanglos war.

Der Patient hatte bekanntlich mit eisernem Willen und Fleiß ein gutgehendes Architekturgeschäft und eine Bauunternehmung aufgebaut. Zeit für persönliche Beziehungen hatte er keine. Wohl hatte er ein Mädchen gekannt, das er seine Freundin nannte. Es war jedoch mehr Image als eine engagierte Liebesbeziehung, was diese Freundschaft begründete. In seinem Geschäft verlangte er von den Mitarbeitern und Angestellten den gleichen Einsatz, den er selbst erbrachte. Andernfalls wurde fristlos gekündigt.

Dieses Schicksal ereilte einen Mitarbeiter seines Betriebes, der Alkoholiker war. Die Frau dieses Mannes, die gerade eine Tochter geboren hatte, stand finanziell vor dem Nichts und versuchte, Vital Klemm umzustimmen. Dieser blieb unerbittlich, was die Wiedereinstellung ihres Mannes betraf, besorgte ihr jedoch eine Wohnung und kam für den Unterhalt von Frau und Kind auf, als die Scheidung eingeleitet wurde. Schließlich wurde sie von ihm schwanger, gebar ein erstes, später ein zweites Kind, worauf er sich entschloß, gegen seinen ursprünglichen Willen, sie zu heiraten. Inzwischen sind die beiden eigenen Kinder erwachsen und verheiratet. Mehr Schwierigkeiten hatte und hat der Patient mit der von ihm angenommenen Tochter aus der ersten Ehe seiner Frau. Die Stunden, in denen er darüber erzählte, gehören zu den eindrucksvollsten, die ich in der Anfangsphase der Therapie mit ihm erlebte. Aus dem bisher zurückhaltenden, alles Persönliche abschirmenden Patienten brach es vulkanartig hervor. Er blühte sichtlich auf und ließ vor meinen Augen einen Film abrollen, der einer Mischung von Kriminalroman und Western den Rang ablief.

Die Reise nach Italien, auf deren Rückfahrt die ersten Herzattacken eingesetzt hatten, war gar nicht aufgrund geschäftlicher Verpflichtungen erfolgt. Vielmehr hatte der Patient sich aufgemacht, um seine Stieftochter Mary aus den Klauen dubioser Freunde zu retten und nach Hause zu bringen. Mary, so sagte er, schlage nämlich im Charakter ganz ihrem Vater nach. Bereits als Kind bereitete sie Schwierigkeiten. Unordentlich, aufsässig und trotzig, die Schule schwänzend, den Burschen nachjagend, war sie wirklich schwer erziehbar. Trotzdem wurde das Kind von beiden geliebt. Stärker als die Liebe war jedoch ein Pflichtgefühl, das den Patienten diesem Kind gegenüber in besonderer Weise erfüllte, wobei noch keineswegs geklärt ist, welche Motive letztlich hinter seinem enormen Einsatz standen. Die Mutter nämlich kümmerte sich wesentlich weniger um ihre Tochter.

Als Mary 15 Jahre alt war, wurde sie von Vital Klemm eines Abends, als sie nach einem Spaziergang mit dem Hund nicht zur gewohnten Zeit zurückkehrte, in heftiger Umarmung mit einem Jungen am Ufer eines nahegelegenen Sees entdeckt. In einem Wutanfall warf er den Burschen kurzerhand ins Wasser und drohte ihm mit der Polizei. Kurze Zeit danach riß das noch minderjährige Mädchen von zu Hause aus und mußte polizeilich gesucht werden. Nun folgten Schlag auf Schlag die Kümmernisse. In den folgenden Jahren verschwand das Mädchen immer wieder für Tage, Wochen oder Monate und wurde praktisch ständig von der Polizei gesucht. Schließlich bekam es von einem Freund ein Kind, das es zeitweise bei sich hatte, teilweise der Mutter überließ, bis schließlich Vital Klemm beschloß, es ganz bei sich aufzunehmen. Es war das Kind, das ich bei der ersten Konsultation gesehen hatte.

Die Suche nach der zeitweise vermißten Tochter hielt die ganze Familie in Atem. Trotz polizeilicher Ermittlungen, unter Einschaltung der Interpol, betätigte sich der Patient immer auch selbst als Detektiv. Nächtelang suchte er sämtliche Restaurants und, wie er es nannte, Spelunken des Zürcher Niederdorfes, des Langstraßenquartiers oder der kleinbaslerischen Altstadt ab, um sie zu finden. Mit schelmischem Lächeln erzählte er, wie es ihm gelang, einen anonymen Anrufer zu lokalisieren, der ihn aufforderte, die Suche nach Mary aufzugeben, da sie in einer Wohngemeinschaft bestens aufgehoben sei. Es machte ihm nichts aus, diese für ihn eher zweifelhafte Wohnstätte aufzusuchen und das Mädchen mit Brachialgewalt nach Hause zu bringen, wo es prompt wieder ausriß. Ein andermal ortete er die Tochter in einem düster beleuchteten, haschbenebelten Tanzlokal, wo er sie kurzerhand aus den Armen eines hünenhaften Rockers riß. Tödliche Stille trat ein, als das Mädchen in Protest aufschrie. Vital Klemm umklammerte Mary mit dem linken Arm und schickte mit der rechten Faust ihren Tänzer in das Reich der Träume. Als eine massive Kette, von hinten über seinen Kopf geworfen, seinen Hals abschnürte, kehrte er sich um und schlug auch diesen Gegner mit einer rechten Geraden k.o. In der anschließenden allgemeinen Schlägerei verprügelte er zwei junge Männer und den Restaurantbesitzer spitalreif. Sie mußten in die Intensivstation gebracht werden. Vital Klemm und seine Tochter kamen nach einem Zwischenhalt bei der Polizei wieder einmal nach Hause. Mary allerdings wurde kurz darauf wieder schwanger. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes lebte sie definitiv von den Eltern getrennt, und ihr erstes Kind besucht sie praktisch nicht mehr.

Ich muß Vital Klemm bei der Erzählung der eben geschilderten Vorfälle recht erstaunt, vielleicht recht ungläubig zugehört haben. Jedenfalls fügte er entschuldigend hinzu, er sei eben früher Boxer gewesen. Angst habe er nie verspürt, wenn er sich auf der Suche nach seiner Tochter in das »Milieu« begeben habe, trotz der dort herrschenden und zu erwartenden Gewalttätigkeiten.

Wie ist das bei einem Menschen zu verstehen, dessen gesamtes Existieren so hochgradig angstgestimmt ist wie jenes unseres Patienten? Der von sich aus kaum mehr einen Schritt tut, ohne von seiner Frau begleitet zu sein? Der die lebensrettenden Tabletten dauernd griffbereit hält?

Nicht von ungefähr habe ich dem Patienten für diese Schilderung den Vornamen Vital gegeben. Denn zweifellos verbirgt sich hinter der Fassade der Angst eine überdurchschnittlich vitale, im besten Sinne aggressive Persönlichkeit, ein Mensch, der seine Probleme lieber im wahrsten Sinne des Wortes handgreiflich anpackt, statt darüber zu reflektieren; ein kompromißloser Kämpfer. Diese Kompromißlosigkeit war andererseits auch der Hemmschuh für eine freie Begegnung mit Welt und Menschen. Der Wille sei alles, hatte er mir ja mehrmals eröffnet. Für ihn hieß das, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Es bedeutete auch die Verleugnung jeglicher Schwäche, bei sich und bei anderen. Es bedeutete Intoleranz gegenüber allem, was nicht seinem Weltverhältnis, seinen Idealen entsprach. Diese allerdings waren durch das bestimmt, was er von seiner Erziehung und von überlieferter Weltanschauung, von familiärer und gesellschaftlicher Tradition mitbekommen, besser gesagt, übernommen hatte. So gesehen erwies sich das Dasein unseres Patienten weit entfernt von jener Offenheit und Mitmenschlichkeit, die den Grundzug, das »Existenzial« (Heidegger) des menschlichen Daseins ausmacht. Im praktischen Leben blieb der Patient in dieser Hinsicht weit hinter seinen Möglichkeiten zurück. Da klemmte seine Menschlichkeit. Daher nenne ich ihn Vital Klemm. Moralbegriffe galten ihm alles. Er war ein »Man-Mensch«, einer Norm verpflichtet, die keine individuellen Bedürfnisse anerkannte. Er war – den Absolutheitsanspruch des Gesetzes anerkennend – im Grund ein »alttestamentlicher« Mensch.

Woher aber wissen wir, daß er »hinter seinen Möglichkeiten« zurückblieb, daß er eigentlich andere mitmenschliche Möglichkeiten hatte, daß es nicht einfach seiner »Natur« entsprach, so und nicht anders zu sein? Ich meine, aus zwei Hinweisen: aus dem Verhältnis zu seiner Frau und zu seinen Kindern, die Stieftochter eingeschlossen, wie auch aus seiner Krankheitssymptomatik.

Zu seiner Frau hatte der Patient ursprünglich, wie aus seinem Lebensbericht hervorgeht, ein merkwürdiges Verhältnis. Es ist, als ob er sich nur langsam, über Jahre hinweg, in diese Beziehung hineingetastet hätte. Es brauchte zwei voreheliche Kinder, bevor er sich zur staatlich anerkannten Bindung entschließen konnte, während er mit seinem Geschäft schon längst »verheiratet« war. Frau und Kinder akzeptierte er zunächst mehr aus Pflichtgefühl denn aus Liebe. Allmählich jedoch stellte sich eine Beziehung her, die über die konventionelle Ehegemeinschaft hinausging. So unproblematisch, wie er es zu Beginn der Therapie darstellte, war seine Frau gar nicht. Hatte schon der überweisende Arzt mitgeteilt, sie sei bei ihm wegen Spannungszuständen im Nacken in Behandlung, so ergänzte der Patient dies nun dahin, daß sie seit Jahren an schweren Depressionen litt und deswegen längere Zeit in psychiatrischer Behandlung gestanden habe. Vermutlich war dies auch der Grund für ihr Mißtrauen der Psychiatrie gegenüber. Denn ein Gespräch hatte kaum je stattgefunden, vielmehr wurde sie mit Antidepressiva »abgespeist«. Muß nicht auffallen, daß beide, Vital Klemm und seine Frau, an Spannungsschmerzen im Nakken litten? Könnte es sein, daß beide damit auch ihre Halsstarrigkeit leibhaftig ausdrückten? Sie nämlich, so stellte sich heraus, war ebenso unfrei wie er. Nur fehlte ihr die Vitalität ihres Mannes, aggressiv nach außen zu agieren. Sie wurde erdrückt, gab nach und verfiel in Depression.