Einführung in die Psychotherapie - Gion Condrau - E-Book

Einführung in die Psychotherapie E-Book

Gion Condrau

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Beschreibung

Der Schweizer Psychotherapeut Gion Condrau hat mit seiner »Einführung« ein Lehrbuch und Nachschlagewerk geschaffen, das sich nicht nur an Psychotherapeuten und Ärzte, sondern gleichermaßen an Heilpädagogen, Sozialarbeiter, Lehrer, Theologen und nicht zuletzt an Studierende der genannten Disziplinen wendet. Condrau behandelt in der notwendigen Ausführlichkeit Wesen und Bedeutung der Psychotherapie, ihre Geschichte und Schulen, Methoden und Theorien, Praktiken und Fallbeispiele und untersucht die vielfältigen Querverbindungen der Psychotherapie zu anderen Fachbereichen wie Medizin, Soziologie, Anthropologie und Theologie. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 494

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Gion Condrau

Einführung in die Psychotherapie

Geschichte, Schulen, Methoden, Praxis Ein Lehrbuch

FISCHER E-Books

Inhalt

Geist und Psyche [...]Vorwort zur dritten AuflageVorwortWesen und Bedeutung der PsychotherapieDas psychotherapeutische GesprächDie Wirksamkeit der Psychotherapie«Lehranalyse»Das Mißtrauen gegen die PsychotherapiePsychotherapie und MedizinPhilosophisches Menschenverständnis und ärztliches HandelnPsychosomatische MedizinPsychotherapie und PsychologieKlinische PsychologieAusbildungsfragenPsychotherapie und TheologiePsychoanalyse und WeltanschauungÄrztliche und theologische SeelsorgePsychotherapie und GesellschaftGlaube und TechnikNeuorientierung durch die PsychoanalyseFreiheit und GewissenPsychiatrie und PsychotherapiePsychotherapeutische NeubesinnungDie historischen Wurzeln der PsychotherapieDie PriesterärzteDie PhilosophenDas MittelalterDie RenaissanceDie NeuzeitDas analytische Zeitalter"Die Psychoanalyse Sigmund FreudsDie kathartische MethodeZur Technik der PsychoanalyseVerdrängung, Widerstand und ÜbertragungDer psychische ApparatDer Zugang zum UnbewußtenDie LibidotheorieDie Entfaltung der GrundkräfteIch-PsychologieDie AbwehrvorgängeDer Begriff der NeuroseDie Beiträge der Mitarbeiter Freuds an der Entwicklung der PsychoanalyseNeoanalytische und anthropologische Weiterentwicklung der PsychoanalyseDie Individualpsychologie Alfred AdlersDie analytische Psychologie C.G. JungsWeitere neoanalytische ModifizierungenExistenzphilosophie und DaseinsanalyseSören Kierkegaard: Der Begriff AngstJean-Paul Sartre: Psychoanalyse existentielleGabriel Marcel: Philosophie der HoffnungKarl Jaspers: Existentielle KommunikationMartin Heidegger: Die Frage nach dem SeinDie psychiatrische DaseinsanalyseDaseinsanalytische PsychotherapieNichtanalytische Methoden der PsychotherapieSuggestion und HypnoseDie übenden Verfahren«Paradoxe Intention» in der Logotherapie FranklsDie psychotherapeutischen ZwischenformenClient-centered Therapy von Rogers und Gesprächspsychotherapie von TauschDie VerhaltenstherapienDie GruppenpsychotherapieDie psychotherapeutischen KurzverfahrenDeutung und Auslegung der TräumeDie vorwissenschaftliche TraumdeutungDie naturwissenschaftlich-experimentelle TraumforschungDie psychoanalytische Traumlehre FreudsWeitere analytische TraumlehrenTraumdeutung in der Jungschen PsychologieDie phänomenologisch-hermeneutische Traumauslegung der DaseinsanalyseDie psychotherapeutische Auswertung der TräumeDie Veränderung der Traumwelt im Verlauf der Psychotherapie einer angstneurotischen und frigiden FrauPsychotherapie einer schweren CharakterneuroseBeginn der BehandlungZwischen Psychotherapeut und SeelsorgerDie SkrupulantenneuroseNeurose und SchuldAngst und SicherungsbedürfnisZwangsneurotisches und hysterisches WeltverhältnisFortgang der BehandlungPhobisches und depressives WeltverhältnisAbschluß der BehandlungZur Technik der PsychotherapieDie «Übertragung» und das «Agieren»Die Psychotherapie des Kindes- und JugendaltersDie kindliche EntwicklungDie psychoanalytische Theorie der kindlichen EntwicklungDas Phasengesetz der EntwicklungspsychologieDie Neurosen des Kindes- und JugendaltersDrei Beispiele kindlicher NeurosenBiographische KinderanamnesenDie Technik der KinderpsychotherapiePsychotherapieformen im KindesalterDas JugendalterPsychotherapie einer neurotischen ExamensangstBibliographieNamenverzeichnisSachverzeichnis

Geist und Psyche

Begründet von Nina Kindler 1964

Vorwort zur dritten Auflage

Dem Wunsche vor allem der Studenten folgend, wird die Neuauflage der vorliegenden «Einführung in die Psychotherapie» in der handlichen Taschenbuchausgabe der wissenschaftlichen Reihe «Geist und Psyche» im Kindler Verlag München erscheinen. Gegenüber der letzten Auflage sind erhebliche Änderungen und Verbesserungen vorgenommen worden. Das Kapitel «Die Daseinsanalyse» wurde neu geschrieben und in einen größeren Zusammenhang zu den modernen philosophischen Strömungen gestellt. Andere Kapitel wurden teilweise ergänzt und erweitert. Die in der früheren Ausgabe enthaltene Darstellung des Todesproblems in der Psychotherapie wurde weggelassen, da sie für eine Neuausgabe der «Medizinischen Psychologie» vorgesehen ist. Dafür wurde neu ein Kapitel «Zur Technik der Psychotherapie» aufgenommen, das in meinem inzwischen vergriffenen Buch «Daseinsanalytische Psychotherapie» (Verlag Hans Huber, Bern und Stuttgart) enthalten war. Ebenso fanden Teile eines Vortrags in der Neuausgabe Aufnahme, den ich auf dem 9. Internationalen Kongreß für Psychotherapie unter dem Titel «Was ist Psychotherapie» gehalten habe. Schließlich wurde die für die Ausbildung empfohlene Bibliographie erweitert.

Oktober 1973

Gion Condrau

Vorwort

Die günstige Aufnahme, welche der kleinen «Einführung in die Psychotherapie» (1962) in der Schriftenreihe des Instituts für Heilpädagogik in Luzern zuteil wurde, veranlaßt mich, eine neue umfassendere Darstellung des Themas zu wagen. Dabei mußte in Betracht gezogen werden, daß die «Medizinische Psychologie», welche 1968 im Walter-Verlag, Olten, erschien, bereits eine ganze Reihe von Problemen, welche die Neurosenlehre und Psychotherapie betreffen, zur Sprache bringt. Die vorliegende Schrift soll gleichsam eine propädeutische Ergänzung der «Medizinischen Psychologie» bilden. In die Darstellung einbezogen wurde ebenfalls eine Arbeit über «Wesen und Bedeutung der Psychotherapie», die 1964 eines der vier Referate des im Walter-Verlag erschienenen, inzwischen vergriffenen Buches «Neurose und Religion» bildete. Auch dieser Beitrag wurde in ganz wesentlichen Punkten ergänzt, insbesondere das Kapitel über die historischen Wurzeln der Psychotherapie und jenes über die Traumdeutung. Die «Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters» wurde durch eine bereits früher publizierte Falldarstellung vervollständigt. So hoffe ich, diese «Einführung» diene Ärzten und Psychologen, die sich mit den speziellen Aufgaben der Psychotherapie zu befassen gedenken, in gleicher Weise wie Theologen, Heilpädagogen, Sozialarbeitern und Lehrern als eine erste Information, die sie zu weiterem Studium anregen möge. In erster Linie ist das Buch jedoch für die Studierenden gedacht. Vielleicht weist es dem einen oder anderen sogar den Weg in den Mangelberuf des Psychotherapeuten.

Herbst 1970

GION CONDRAU

Wesen und Bedeutung der Psychotherapie

Zur gleichen Zeit, als die halbe Menschheit wegen des erstmaligen Weltraumfluges eines Astronauten in hysterische Begeisterung ausbrach – eine Begeisterung, die nicht nur der Tatsache galt, daß endlich ein urmenschlicher Traum in Erfüllung ging, sondern ebensosehr die Angst vor den sich nun eröffnenden, ungeheuren und vielleicht der menschlichen Kontrolle sich entziehenden, technischen Möglichkeiten übertönen sollte –, weinte ein 35jähriger Angestellter einer Großbank bittere Tränen im Sprechzimmer seines Psychotherapeuten. So erfolgreich der Weltraumflieger einer Welt, die nur auf Können und Leistung bedacht ist, den Tribut zollte, so sehr hatte unser Kranker in seiner Welt, die ebenfalls von ihm nur Leistung und finanziellen Erfolg verlangte, versagt. Obwohl in intellektueller Hinsicht mit allen Gaben ausgestattet, die ihn auf der steilen Erfolgsleiter nach oben führen sollten, war der junge Mann unter den Anforderungen zusammengebrochen und sah vor sich anstelle des ersehnten Direktorpostens die beschämende Entlassung. Seine Krankheit hatte sich zunächst im leiblichen Bereich ausgetragen, denn nur eine körperliche Erkrankung konnte von ihm und seinen Vorgesetzten als Entschuldigung für sein leistungsmäßiges Versagen anerkannt werden. So hatte er mehrere Ärzte aufgesucht, wobei sich seine Krankheitssymptome veränderten, je nach dem Erfolg der jeweils angewandten Therapie. Nachdem seine Magenschmerzen durch einen Internisten behoben worden waren, mußte er wegen Rückenbeschwerden einen Physiotherapeuten aufsuchen; ein Dermatologe behandelte seine allergischen Hautausschläge, ein Neurologe seine Kopfschmerzen. Erst der allgemein praktizierende Hausarzt erkannte, daß dem Patienten niemals geholfen werden konnte, falls nicht auch der «seelische» Anteil am Krankheitsgeschehen in die ärztliche Behandlung miteinbezogen würde. Ihm nämlich, dem gütigen und mitmenschliche Wärme ausstrahlenden ärztlichen Berater, hatte sich der Kranke erstmals eröffnet und sein Versagen an der Arbeitsstelle, seine angebliche Kraft- und Willenlosigkeit eingestanden.

Als dieser Mann den Psychotherapeuten aufsuchte, wußte er weder über das Wesen seiner Krankheit noch über die Art der Behandlung, die ihn erwartete, Bescheid. Zwar war ihm als gebildetem Menschen geläufig, daß Psychotherapie etwas mit der Behandlung der Seele zu tun habe. Auf welche Weise jedoch diese Seele behandelt werde oder ob es sich gar um eine «seelische» Behandlung seiner körperlichen Erkrankungen handle, konnte er aus dem Worte «Psychotherapie» nicht herauslesen.

Wie dieser Kranke, stehen auch wir, aufgefordert über das Wesen der Psychotherapie etwas auszusagen, vor der undankbaren Aufgabe, zunächst ein Wortgebilde definieren zu müssen, das seiner Zusammensetzung und seinem Gehalt nach fragwürdig ist. Das wörtliche Verständnis dieses Ausdruckes gründet in dem Begriff einer «Psyche» und einer «Therapeia», ohne uns jedoch über die Beschaffenheit dieser Psyche oder über die Art und Weise dieser Therapeia etwas Näheres auszusagen. Ludwig Binswanger bezeichnete einmal das Wort «Psychotherapie» als einen psychiatrischen Kunstausdruck, der, wie alle wissenschaftlichen Kunstausdrücke, seine Prägung und seinen Sinn einer von ganz bestimmten psychiatrisch-klinischen Wissens- und Leistungszielen erfolgten begrifflichen Auslese aus einer bestimmten Seinsphäre verdankt. Es handelt sich hier um die Sphäre des zwischenmenschlichen oder besser gesagt, mitmenschlichen oder mitweltlichen Seins, denn in jeder Form ärztlicher Psychotherapie stehen sich zwei Menschen gegenüber, sind zwei Menschen in irgendeiner Weise «aufeinander angewiesen», setzen sich zwei Menschen irgendwie «miteinander auseinander». Im Ausdruck «Psychotherapie» wird dieses zwischen- oder mitmenschliche Verhältnis vereinfacht oder reduziert, indem an die Stelle des einen Verhältnispartners, des Kranken, lediglich ein «wissenschaftliches Abstraktum», die Psyche, tritt, während der andere Partner, der Arzt, hinter seiner mitmenschlichen Funktion, der Therapie, verschwindet. Die Auseinandersetzung zwischen Arzt und Krankem kommt im Terminus Psychotherapie «überhaupt nicht als ein mitmenschliches Verhältnis, sondern als Dienst an einer Sache zum Ausdruck», denn ψυχή im medizinisch-psychiatrischen Sinn bedeutet keineswegs den Mitmenschen als Person, sondern lediglich ein «beseeltes» Objekt, einen beseelten Organismus, eine seelische Funktionseinheit. ϑεραπεία hingegen meint Wartung, Pflege, Besorgung, Behandlung, «wie man sie auch einem anderen Organismus, einem Tier oder einer Pflanze angedeihen lassen kann».

Das psychotherapeutische Gespräch

Psychotherapie geschieht durch die Sprache. Sprechen heißt reden, heißt aber auch hören und schweigen. Im Sprechen ist das Hören und das Schweigen inbegriffen (Heidegger). Wenn wir sagen, die Sprache sei etwas spezifisch Menschliches, dann heißt das nichts weniger, als daß nur der Mensch sprechen kann, da nur er die Sprache hat. Deshalb vermag auch nur der Mensch zu hören und zu schweigen. Im Sprechen, Hören und Schweigen sind die drei Hauptmerkmale psychotherapeutischen Wirkens enthalten. Das psychotherapeutische Gespräch ist das einzige «Instrument» unserer Tätigkeit; alle anderen Maßnahmen, die in der Behandlungssituation das eine oder andere Mal erforderlich werden können, dienen lediglich der Unterstützung oder Ermöglichung sprachlicher Kommunikation. Die Sprache des Kranken bedeutet Mitteilung. Der Patient teilt sich dem Therapeuten mit, der Therapeut nimmt am Kranken An-teil.

Der Mensch spricht sowohl im Wachen wie im Traume, er spricht oft ohne ein Wort verlauten zu lassen, beim Hören oder Lesen oder bei der Arbeit. Wenn wir also sagen, Psychotherapie ereigne sich in der Sprache, dann bewegen wir uns bereits auf dem Boden menschlichen Seins. Durch die Sprache sagt der Kranke etwas aus. Im Sprechen vergegenwärtigt er seine Vergangenheit und seine Zukunft. Durch die Vergegenwärtigung wird die Vergangenheit zur Gegenwart, sie wird nochmals gelebt. Der Kranke spricht zum Psychotherapeuten, aber auch zu sich selbst. Er holt aus seiner Lebensgeschichte alle Leiden, Enttäuschungen, Entbehrungen, Mißhandlungen, aber auch alle Freuden hervor, um sie im Erzählen wieder zu erleben, um sich wieder in jene Situation zu begeben, die er vielleicht damals nur ungenügend zu bewältigen vermochte. Er läßt den Therapeuten teilnehmen an seinem Schicksal, er teilt mit ihm seine vielleicht nur zaghaft vorgebrachten geheimen Wünsche und Hoffnungen, macht ihn aber auch zum Mitverschwörer seines Hasses und seiner Rachsucht.

Ist die Sprache Mit-teilung, dann liegt in ihr bereits auch die Möglichkeit begründet, etwas nicht mitteilen zu wollen, wie ja beispielsweise zum Verständnis auch die Möglichkeit des Mißverständnisses oder Unverständnisses gehört. Es gibt Kranke, die gerade durch das Reden schweigen. Jene nämlich, die nicht reden, sondern zerreden; diejenigen, die stundenlang, ununterbrochen sprechen, ohne etwas zu sagen; Kranke, die in wörtlicher Befolgung des Grundsatzes, in der Psychotherapie alles zu sagen, was ihnen in den Sinn kommt, sich eben nichts anderes einfallen lassen, als was ihrem «Seelenfrieden» ungefährlich erscheint. Andererseits kann das Schweigen auch aussagend sein. Durch das Schweigen ist die Beziehung des Patienten zum Arzt keineswegs unterbrochen. Auch im Schweigen teilt sich etwas mit: Angst, Trotz, Schuld; es gibt noch ein anderes Schweigen, das die Liebenden kennen, die beieinander sind, ohne Worte zu gebrauchen. Auch dieses Schweigen finden wir in der Psychotherapie, die schweigende Stille, die verbindet und birgt.

Die Psychologie, auch die Psychotherapie, insbesondere die Psychoanalyse, bedienen sich in ihren theoretischen Diskussionen einer Kunstsprache. In der praktischen mitmenschlichen Aussprache zwischen Patient und Arzt ist eine solche künstliche Sprache völlig unmöglich und sinnlos, auch wenn es sich um zwei außerordentlich intelligente Gesprächspartner handelt. Immer nämlich liegt dem Gebrauch sogenannter Fachausdrücke der Versuch zugrunde, der Echtheit des Phänomens selbst aus dem Wege zu gehen. Nicht selten treffen wir Patienten, die in der Anwendung von «Fremdwörtern» nichts anderem Ausdruck geben als ihrem Widerstand gegen die Konfrontation mit ihren eigensten Problemen. Ebenso widersinnig wäre es, wenn der Psychotherapeut etwa seinem Kranken mitteilte, er leide an einem «Komplex», an einer frühkindlichen «Fixierung», er sei «infantil» oder «regrediert». Ganz abgesehen davon, daß alle diese Begriffe – und noch viele mehr, deren sich die analytische Psychotherapie bedient – höchst fragwürdig sind, bieten sie auch dem Kranken nichts an, was zu einem vertieften Selbstverständnis seines Charakters oder seiner Krankheit führen könnte. Wenn die Sprache des Menschen aber nicht künstlich ist, sondern echt, dann geschieht auf ihrem Grunde jene Verständigung zwischen Menschen, die Mit-teilung, Anteil-nahme, Vergegenwärtigung ist. Eine solche Sprache finden wir in der Dichtung, aber auch in der Psychotherapie.

Sprechen, Hören, Schweigen machen den Menschen zum Menschen. Diese Aussage hat nicht nur ontologisches Gewicht, sondern auch psychologisches. Die Menschen sprechen zueinander, sie hören aufeinander oder sie schweigen miteinander. Im Sprechen, Hören und Schweigen liegt das Verstehen, aber auch das Mißverstehen begründet. Mißverstehen führt die Menschen nicht zueinander, sondern auseinander. Eltern mißverstehen ihre Kinder, Kinder ihre Eltern; der Lehrer mißversteht seinen Schüler, dieser seinen Erzieher; der Freund den Freund, der Mann die Frau, der Christ den Mohammedaner, der Osten den Westen. Die Menschen sprechen, ohne zu hören. Sie reden, ohne sich mitzuteilen. Sie schweigen, ohne etwas auszusagen. Dies ist ein Grund jeder neurotischen Fehlentwicklung unserer Kranken. Da, und nur da, kann der Psychotherapeut einsetzen. Im Gespräch, das eine Zwiesprache ist; das immer Zwiesprache ist, auch wenn ein Partner schweigt und nur der andere erzählt. Im Hören, das nicht nur intellektuelles Verständnis ist, das nicht im Innenohr oder im Gehirn aufhört, sondern bis ins Herz dringt. Im Schweigen, das Geborgenheit und Mit-teilen, Mitfühlen, Mit-leben bedeutet.

Wenn wir sagen, das Wesentliche an der Psychotherapie sei das Gespräch, so stellt sich uns die Frage, ob denn jedes Gespräch schon Psychotherapie darstelle. Ist das tröstliche Zusprechen von Mut, ist das beruhigende Wort eines Arztes an seinen Patienten Psychotherapie? Sprechen wir Menschen nicht täglich zueinander in helfendem, besorgendem, vielleicht aber auch in ablehnendem, tadelndem Sinne? Gewiß im weitesten Gebrauch des Wortes ist jedes menschliche Verhalten, also auch jedes mitmenschliche Gespräch, eine Handlung, die nicht ohne Einfluß auf die Stimmung des Mitmenschen ist. Trotzdem dürfen wir nicht der Versuchung verfallen, durch eine derartige Verallgemeinerung oder Aufblähung des Wortes Psychotherapie deren eigentliche Sinnbestimmung zu verwischen. Die finanzielle Unterstützung notleidender Menschen, die Hilfe an unterentwickelte Völker, die Speisung Hungriger gehören zur ursprünglichen Aufgabe des Menschen und bedürfen kaum eines spezifischen Anrufes, wie wir ihn beim Psychotherapeuten voraussetzen. Es geht nicht darum, lediglich seelische Kümmernisse oder Sorgen erträglicher zu gestalten, Traurige aufzuheitern, überschäumende Lebenskraft zu dämpfen, «psychische Gleichgewichte» herzustellen, ja es geht in der Psychotherapie nicht einmal wie in der Körpermedizin darum, die Rückführung zur Gesundheit zu erreichen. Aufgabe der Psychotherapie ist es vielmehr, den Sinn neurotischen Leidens zu erfassen, Hindernisse, die einer freien menschlichen Selbstentfaltung im Wege stehen, zu erkennen, zu beseitigen und damit dem Kranken jene Hilfe angedeihen zu lassen, die ihn schließlich befähigt, seinen eigenen Weg zu finden. Der Psychotherapeut kann lediglich dem Kranken helfen, jene Möglichkeiten freiwerden zu lassen, die durch neurotische Schranken eingemauert sind oder noch gar nicht angeeignet wurden; er kann versuchen, die Hindernisse auf dem Wege zur menschlichen Reifung aufzuspüren, durchsichtig werden zu lassen und abzubauen. Den Prozeß der Reifung aber muß der Kranke selbst vollziehen. Dies heißt, daß es in der Psychotherapie grundsätzlich um mehr geht als nur um die Partnerschaft zwischen einem Helfenden (dem Arzt) und einem Hilfebedürftigen (dem Kranken). Immer schon ist der Kranke zur Hilfeleistung selbst mitaufgerufen. Diese Mitbeteiligung des kranken Menschen heißt Mitübernahme der Verantwortung im Gesundungsprozeß, sie heißt aber noch viel mehr, nämlich die Übernahme des Behandlungszieles. Während in der Körpermedizin die Festlegung der Gesundheit durch den Arzt erfolgt, wird diese im psychotherapeutischen Reifungsprozeß vom Kranken, und nur von ihm bestimmt. Unter «Psychotherapie» ist demzufolge zunächst jene mitmenschliche Beziehung zu verstehen, die den Partner seine eigene, ihm selbst gemäße Reifung erfahren läßt.

Man könnte uns vorwerfen, der eben angedeutete Begriff der Psychotherapie sei willkürlich; es sei gar nicht bewiesen oder überhaupt beweisbar, daß das Wesen der psychotherapeutischen Behandlung darin liegen könne, den Menschen «reifen» zu lassen; daß es vielmehr Ziel der Psychotherapie sei, den Menschen von seiner Krankheit zu befreien, seine Symptome zu beseitigen, ihn sozial und individuell arbeits- und genußfähig zu machen. Der Kranke, von dem wir eben berichteten, kam nicht zu uns mit dem Anliegen einer Nachreifung. Er kam wegen seines leistungsmäßigen Versagens und erwartete vom Psychotherapeuten zunächst nichts anderes als die Wiederherstellung der körperlichen und seelischen Arbeitsfähigkeit. Wir wollen zugestehen, daß ein solches Ziel in der Psychotherapie häufig mitbestimmend sein kann; in gewissen Fällen werden wir in unseren psychotherapeutischen Bemühungen nicht darüber hinaus gelangen. Nicht jeder Mensch hat die gleichen Reifungsmöglichkeiten, nicht jeder kommt mit dem gleichen Anliegen zu uns. Oft muß eine Psychotherapie aus äußeren Gründen abgebrochen werden, bevor ein Fernziel erreicht ist. Oft wünscht ein Patient gar nicht, ein solches Ziel anzustreben. So sind der Therapie immer Grenzen gesetzt, Grenzen, die nicht nur in den Möglichkeiten des Therapeuten begründet sind, sondern auch im Kranken. Trotzdem sollte man sich vor Augen halten, daß die Beseitigung eines Symptoms nicht die Heilung einer Neurose bedeutet, daß Krankheit und neurotisches Symptom im allgemeinen nicht identisch sind. Zweifellos beurteilt der naturwissenschaftlich geschulte Arzt nicht zu Unrecht Gesundheit oder Krankheit des menschlichen Organismus nach dessen Leistungsfähigkeit oder nach dessen Versagen. Für den Psychotherapeuten hingegen liegen die Verhältnisse nicht so einfach. Es kann ein Mensch leistungsfähig und trotzdem krank sein, es kann ein Mensch aber auch gesund sein und gerade leistungsmäßig weit unter dem von der Umwelt geforderten Niveau stehen. Wir kennen viele Neurotiker, die sich in ihrem beruflichen und sozialen Verhalten hervorragend bewähren; ja es kann die Leistungsfähigkeit gerade das Symptom der Krankheit werden, dann nämlich, wenn sie auf einer Leistungssucht beruht.

Das psychotherapeutische Gespräch weist gegenüber der üblichen alltäglichen Aussprache zweier Menschen gewisse in der ärztlichen Erfahrung begründete und seither zu einer eigentlichen Gesprächstechnik entwickelte Eigenarten auf. Zunächst entdeckte Freud, daß schon in der äußeren konventionellen Form, in der sich zwei Menschen begegnen, gewisse Schwierigkeiten für die in der psychoanalytischen Kur so wichtige Offenheit und Ehrlichkeit enthalten sind. Der Kranke fühlt sich beim Anblick des Therapeuten oft gehemmt, seine innersten Regungen und Gefühle preiszugeben. Er deutet den physiognomischen Ausdruck seines Gesprächspartners im Sinne einer zustimmenden oder ablehnenden Reaktion auf das eben Gesagte. Er mißdeutet gelegentlich in krassester Art und Weise das äußere Verhalten des Analytikers, sucht ängstlich nach Anzeichen der Bestätigung oder nach Anzeichen der Mißbilligung, der Ablehnung oder gar der Entrüstung. Spontane Aggressionstendenzen können im Keime erstickt werden, aber auch Gefühlsregungen, die ein sexuelles Bedürfnis oder andere Liebesansprüche beinhalten, werden oft unterdrückt. Zweifellos bedeutet es auch für den Therapeuten selbst eine gewisse Erleichterung, wenn er nicht dauernd unter der Spannung des Beobachtetseins steht. Besonders unerträglich kann die Situation dann werden, wenn der Patient aus inneren Widerständen in ein tiefes Schweigen verfällt, dabei ständig den Arzt ansehen muß, ohne von ihm sofort die entsprechende Hilfe zu erhalten. Freud kam deshalb auf die Idee, die Kranken nicht mehr wie beim konventionellen Gespräch sich gegenübersitzen, sondern auf einem Ruhebett liegen zu lassen, und zwar derart, daß der Analytiker selbst am Kopfende des Kranken, von diesem ungesehen, sitzt. Auf diese Weise können sich sowohl der Kranke wie auch der Arzt körperlich völlig entspannen. Bei der Liegetechnik fällt es dem Therapeuten viel leichter, einer eventuellen Neigung zu aktivem Eingreifen in den Verlauf der Kur zu widerstehen und dem Kranken möglichst viel Freiheit zu gewähren. In dieser Situation fallen auch die konventionellen Rang- und Wertordnungen dahin. Das Liegen ist ferner für den Kranken eine Stillegung der eigenen motorischen Aktivität, es erinnert daran, «daß in der Analyse als in einem gleichsam spielerischen Proberaum des Lebens zwischen Traum und Tat Einfälle und Ausfälle nicht das Gewicht und die Verbindlichkeit haben, die sie im Ernstfall hätten. Der Anspruch an Wahrhaftigkeit und Freimut bleibt trotzdem ernst und real» (Görres). Dem Therapeuten ermöglicht die Liegehaltung, jene von Freud in zutreffender Weise charakterisierte und für die Behandlung neurotischer Menschen so wohltuende entspannte Haltung anzunehmen, ohne die der Ansturm der vom Patienten offerierten Gefühlsregungen kaum zu meistern ist. Nicht nur lassen sich sämtliche in der psychotherapeutischen Sitzung auftauchenden Probleme der «Gegenübertragung» viel leichter in einer dem Kranken nicht unmittelbar sichtbar werdenden Weise lösen, auch die konventionellen Verpflichtungen wie beispielsweise das Verbergen einer momentanen Müdigkeit, einer dem eigenen Leben entsprungenen Sorge oder eines aktuellen Unmuts, ja sogar die Konvention der körperlichen Haltung oder der Kleidung fallen weitgehend dahin.

In diesem äußerlich festgelegten Rahmen wird nun der Kranke gemäß der Freudschen Regel aufgefordert, alles zu sagen, was ihm einfällt. Auch darin unterscheidet sich das psychotherapeutische Gespräch von der konventionellen Aussprache, indem nämlich nicht nur zur Sprache kommen soll, was dem Kranken oder dem Arzte bedeutsam und wichtig scheint, sondern auch all das, was unwesentlich, unlogisch, unbedeutend, ja absurd, lächerlich oder gemäß gesellschaftlicher Normen unanständig wirkt. Besonders charakteristisch jedoch für das psychotherapeutische Gespräch ist die Aufforderung an den Patienten, alles mitzuteilen, was ihm über den Therapeuten selbst bekannt ist oder spontan in den Sinn kommt. Wird das psychotherapeutische Gespräch häufig mit einer Beichte verglichen, so sehen wir bereits hier, in dieser letztgenannten Forderung, einen ganz wesentlichen Unterschied; denn kaum würde es einem Beichtenden einfallen, in seine Beichte Äußerungen über den Beichtvater einzuflechten. Freud erkannte bald die Bedeutung dieser direkten Anteilnahme des Kranken am Therapeuten und nannte dieses Phänomen die «Übertragung». Er erfuhr zunächst, daß der Arzt durch diese psychotherapeutische Grundaufforderung beim Patienten auf einen Widerstand stieß, dessen Überwindung für die Heilung des Kranken wichtiger war als der etwaige Inhalt des Unausgesprochenen.

Die Wirksamkeit der Psychotherapie

Die Frage nach der Wirksamkeit von Psychotherapie ergibt sich aus dem Wesen des Mensch-Seins selbst. Das In-der-Welt-Sein des Menschen ist immer schon Mit-Sein. Es schließt also den Mit-Menschen nicht aus, sondern unmittelbar mit ein. Der Mensch ist, sofern er in der Welt ist, je schon Mitmensch. Nicht soziologische Strukturen, kollektive Maßnahmen, Gemeinschafts- und Staatenbildungen haben ihn zum Ens sociale gemacht, sondern dadurch, daß er a priori Ens sociale ist, waren erst Gemeinschaftsbildungen und ihre Gesetze möglich. Des Menschen Dasein ist also Beziehung.

In seinem ganzen «leiblichen», «seelischen» und «geistigen» Bereich wird der Mensch von seinen Mitmenschen in Anspruch genommen. Von dieser Sicht aus erhalten Liebe, Freundschaft, die alltäglichen Sorgen um Angehörige, aber auch Familie, Erziehung und Schulung erst ihren Sinn. Man könnte sagen, insofern sei jeder Mensch der Psychotherapeut des andern und in jedem menschlichen Vertrauensverhältnis sei Psychotherapie enthalten. Die Möglichkeit des Miteinanderseins schließt aber nicht nur Liebe, Vertrauen und Freundschaft mit ein, sondern ebenso den Haß, das Mißtrauen und die Feindschaft; aus solchem Lebensbezug heraus kann ein Mensch zeit seines Lebens geschädigt hervorgehen. Eine lieblose Erziehung, ein verfehlter Bezug zur Leiblichkeit oder eine autoritätsgebundene Dressur kann es dem Menschen unmöglich machen, sich in freier, menschenwürdiger Weise zu entfalten. Ein Kind, das seine Eltern lieben konnte und von jenen liebevoll angenommen wurde, wird es viel leichter haben, in seiner weiteren Entwicklung diese liebende Verhaltensweise gegenüber den Mitmenschen beizubehalten. Ein Kind, das aber in einer kalten und lieblosen Atmosphäre aufwächst, wird ebensolche Mühe haben, später einem Lebenspartner anders als gefühlskalt zu begegnen. Wir sind denn nicht erstaunt, auch in der Lebensgeschichte unseres eingangs erwähnten Kranken eine Kindheit vorzufinden, die nicht durch mütterliche Geborgenheit, sondern durch den auf Können und Leistung ausgerichteten Lebensstil des Vaters geprägt war. Dieser Lebensstil, vom Patienten übernommen und nachvollzogen, ließ bei ihm die mitmenschlichen Beziehungen verkümmern. Kurz vor Behandlungsbeginn scheiterte der Versuch zu einer Verlobung an einem akuten Angstanfall des jungen Mannes!

Wenn wir sagen, daß der Kranke einen großen Teil seiner Verhaltensstörungen aus seiner Kindheit und aus den Formungsjahren seiner Jugend mitbringt, so ist damit nur die eine Seite des Krankseins erwähnt, jene Seite nämlich, die uns erfahren läßt, wie sehr der Mensch in seinem Menschsein gerade durch die Umwelt, in der er lebt, mitgeformt wird. Andererseits gibt es Menschen, die trotz einer krankmachenden Umwelt einen Reifungsprozeß durchgemacht haben. Dies bedeutet, daß der Mensch immer mehr ist als nur ein Produkt von Vererbung und Milieu. Aus seiner Existenz heraus hat er die Möglichkeit, sich zu entfalten und bis zu jenem Reifungsgrade vorzudringen, dessen Ziel im Leben das «Selbst», die «Individuation» oder die eigentliche Menschwerdung bedeutet. Insofern der Mensch in sich jene Möglichkeiten trägt, die ihm eine Reifung überhaupt ermöglichen, ist er auch schon für diese Reifung mitverantwortlich. Damit ist er auch mitverantwortlich für sein Kranksein; nicht nur die Eltern haben ihn zu diesem oder jenem gemacht, nicht allein die Erzieher sind «schuld». Die eigentliche Schuld am Kranksein trifft im Grunde immer auch den Kranken selbst, die Schuld beispielsweise, sich aus einer frühkindlichen Haltung nicht gelöst zu haben. Der Mensch ist aufgerufen durch den Anruf des Gewissens zu freier und verantwortungsbewußter Entfaltung. Vollzieht er diese nicht, dann wird er schuldig, und alle «neurotischen» Schuldgefühle der Welt können ihn nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Schuld echt und existentiell ist. Einem solchen kranken Menschen zu helfen, stellt andere Anforderungen an den Therapeuten als jene der medizinischen Fürsorge.

Ein Psychotherapeut, der nur in naturwissenschaftlichen Denkkategorien lebt und seinem Kranken dergestalt entgegentritt, kann ihm niemals begegnen. Nur im Nachvollzug der magischen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Grundlagen der Psychotherapie kann er seiner Aufgabe gerecht werden. So wie das Kind in seiner Entwicklung die elterlichen Vorschriften, Gesetze, Gebräuche nicht in erster Linie ihrem Bedeutungsgehalt entsprechend intellektuell verarbeitet und dann befolgt, sondern vielmehr intuitiv das Wesen der Eltern nachvollzieht, so ist auch dieser Nachvollzug beim Kranken zu beobachten. Ist der neurotische Mensch ein in seiner Entwicklung und in seiner Reifung gehemmter Mensch, so müssen wir annehmen, daß auch sein Reifungsprozeß nicht wesentlich anders verlaufen kann als derjenige eines Kindes, also zunächst auf eine völlig unreflektierte, intuitive, scheinbar bedeutungslose Art. Wenn jedoch der Kranke den Arzt nachvollziehen soll, dann geschieht dies nicht dadurch, daß der Therapeut ihm gleichsam als intellektueller Lehrer vorsteht, daß er ihn mit Ermahnungen, Anweisungen, Vorschriften und Gesetzen überflutet; es geschieht auch nicht dadurch, daß er sich passiv und «neutral» verhält. Das «Spiegel-Dasein» des Therapeuten ist ebensowenig therapeutisch wie die Überaktivität, denn dadurch schaltet er sich völlig aus dem Heilungsprozeß aus. Um aber die Rolle jenes Menschen zu übernehmen, den der Kranke nachvollziehen kann, genügt es nicht, daß der Therapeut wissenschaftlich geschult sei, durch eine intellektuelle Brillanz hervorsteche oder eine bestimmte weltanschauliche Haltung vertrete. Es ist vielmehr ausschlaggebend, daß der Kranke beim Therapeuten jene Offenheit vorfindet, die ihm die Entfaltung seines ganzen Menschseins – und nicht nur eines Teils desselben – ermöglicht, ohne sogleich «positiven» oder «negativen» Werturteilen ausgesetzt zu sein. Indem ein Mensch sich einem Psychotherapeuten anvertraut, hört die eigene Verantwortlichkeit für sein Handeln nicht auf. Es wäre ein Irrtum zu glauben, daß mit Beginn einer Psychotherapie die Verantwortung für das weitere Schicksal lediglich auf der Seite des Therapeuten liege, obwohl dies von den meisten Kranken – noch vielmehr aber von deren Umgebung – angenommen wird. Der Patient muß lernen, auch die Psychotherapie als einen Teil seiner eigenen Verantwortlichkeit zu übernehmen; Aufgabe des Therapeuten ist es, ihn durch den ständigen Nachweis seiner Fluchtversuche auf diesem einzig zum Ziele führenden Weg zu behalten oder, wenn er davon abgewichen ist, zurückzuführen. Dazu gehört aber immer auch das In-Frage-Stellen eines zu vertrauensseligen Abhängigkeitsverhältnisses, denn Abhängigkeit bedeutet Verlust der Selbstverwirklichung. So kann eine Psychotherapie nie als erfolgreich gelten, ohne daß dem Menschen eine eigenständige und freie Möglichkeit der Selbstbestimmung gegeben ist. So wichtig es ist, daß der an sich selbst verzweifelte und wichtig es ist, daß der an sich selbst verzweifelte und unsichere Kranke vorübergehend am «Vorbild» des Analytikers Sicherheit, Liebe und Halt finden kann, so unumgänglich ist es auch, daß er nicht an diese «Leitlinie» fixiert bleibt. Der Kranke möge nicht nur sich selbst erkennen, er soll vor allem sich selbst wählen. Sich selbst wählen heißt die volle Verantwortlichkeit übernehmen für ein Dasein, das In-der-Welt-Sein ist und also auch Mit-Sein. Deshalb kann auch die Grundhaltung des Psychotherapeuten weder wertend noch richtend sein, sondern nur liebend. Diese liebende Haltung erscheint, wenn man das Wesen des Menschen bedenkt, selbstverständlich. Nur in der liebenden Haltung ist der Mensch dem Mitmenschen zugewandt. Die Liebe entspringt der Sorge (Heidegger), ist also wesenhaft dem Dasein zueigen und bedarf deshalb keiner Vermittlung. Hingegen ist der Psychotherapeut selbst «Vermittler» von Liebe und Verständnis, für den Menschen nämlich, dem eine solche Grundhaltung im bisherigen Leben nicht oder nur ungenügend begegnete. Nur insofern er bereit ist, dieser Vermittler zu sein, ist er auch Psychotherapeut.

In der «Unbedingtheit» der ärztlichen Güte und Liebe liegt das Geheimnis psychotherapeutischen Handelns. Der Kranke erfährt auch im täglichen Leben diese liebevolle Geborgenheit, meistens jedoch unter bestimmten Bedingungen: in der Religion, im Staate, insofern er sich den Gesetzen unterwirft, in der Familie, in der Ehe, im Geschäft, im Freundeskreis, insofern er sich den andern «anpassen» kann. Unbedingte Liebe und Güte sind seltener als gemeinhin angenommen wird. Der Vater liebt den Sohn, insofern dieser gehorsam ist, die Braut den Bräutigam, sofern diese Liebe erwidert wird. Die Freundschaft dauert solange, als der Freund dem Freunde gefällig ist. Daher auch die Bereitschaft, alles Unangenehme, Böse, Niedrige, das man bei den Eltern, Verwandten, Vorgesetzten und Freunden so klar sieht, aus dem Bewußtsein zu verdrängen, weil es mit der Liebe nicht vereinbar ist. In der Psychotherapie erlebt der Mensch oft erstmals, daß Liebe nur dann echte Liebe ist, wenn sie nicht an Bedingungen geknüpft wird.

«Lehranalyse»

Um aber zu dieser Offenheit zu gelangen, findet sich für den Psychotherapeuten kein anderer Weg als jener, der auch für den Patienten gilt, nämlich einen Reifungsprozeß durchzumachen, der ihn selbst von neurotischen Persönlichkeitsbeschränkungen befreit: die Psychotherapie. Freud hat das Wesen der Lehranalyse ganz klar gesehen und definiert, als er bemerkte, daß ein Mensch, der für eigene Belange skotomisiert ist, diese betreffenden Belange auch nicht am Patienten sehen kann. Wie sollte ein Psychotherapeut, der beispielsweise an unerledigten Konflikten leidet, solche bei seinen Patienten aufdecken können? Wie sollte ein Psychotherapeut, der selbst aggressive Impulse oder seine sexuelle Triebhaftigkeit nicht klar erkannt, angenommen und damit unschädlich gemacht hat, solchen triebhaften Äußerungen seiner Patienten widerstehen können? Wir können einen Schritt weitergehen und uns fragen, wie denn überhaupt ein Therapeut, der die «Gegenübertragung» nicht kennt, die «Übertragung» aushalten sollte. Deshalb kann die Lehranalyse nie etwas anderes sein als eine therapeutische Analyse, weshalb der Ausdruck «Lehr»-analyse heute immer mehr in Frage gestellt wird. Maeder bemerkt dazu, die Erfahrung habe gelehrt, daß der Analytiker durch die Projektion seines Analysanden «affiziert» werden könne, daß er selbst auf den Kranken unwillkürlich «projiziere». Selbstverständlich komme es zu dieser Induktionserscheinung nur dann, wenn die aufreizenden Affekte des Kranken bei ihm auf einen prädisponierten Boden fielen und dadurch ansteckend wirkten. Man spricht dann von «Gegenübertragung». Die Atmosphäre des Sprechzimmers «kann manchmal sehr geladen sein, wenn beim Arzt kein Gegenpol vorhanden ist, der die ‹Reinigung› (Entladung) vollzieht. Zum Beispiel kann es einem nicht wachsamen Arzt passieren, daß ein nicht überwundenes. Bedürfnis nach Vergeltung seinen Eltern gegenüber sich in ihn einschleicht und auf den Analysanden übertragen wird. Ein gewisses Machtgefühl oder die Intuition, die er von der infantilen Abhängigkeit seines Kranken haben mag, können ihn dazu bringen, diese Situation zu genießen, sie unnötig zu verlängern, zu ungunsten des Patienten, der befreit werden sollte».

In der «Lehranalyse» wird der angehende Psychotherapeut vor allem auch mit dem Problem der Angst konfrontiert, das in der Praxis der Psychotherapie eine wesentliche Rolle spielt. Es ist die Angst vor dem Kreatürlich-Sinnenhaften, die den Analytiker bei derartigen Ansprüchen von seiten seiner Patienten unsicher werden läßt, es ist die Angst vor der eigenen Aggressivität, welche die Aggressionen des Patienten ihm gegenüber zu einer unerträglichen Last werden läßt, es ist die Angst vor der Liebe. Nur wer Patienten angstfrei begegnet, kann Aggression und Liebe in dem Übermaß, wie sie uns von ihnen entgegengebracht werden, auch aushalten, und nur dann, wenn der Arzt dies aushalten kann, werden sie auch in jene Bahnen gelenkt werden, die zur Heilung des Kranken führen.

Das Mißtrauen gegen die Psychotherapie

Seit Jahrtausenden galt die ärztliche Heilkunde als eine Geheimwissenschaft, die nur wenigen Eingeweihten zugänglich war. Vom Schein des Zaubers umgeben, behandelten im vorzeitlichen Altertum – und in gewissen Kulturen noch heute – Medizinmänner Kranke; selbst in unseren Tagen wird die ärztliche Tätigkeit in der Zurückgezogenheit der zumeist von geheimnisvollen Apparaturen beherrschten Sprechzimmer ausgeübt. Die Jünger des Hippokrates schworen ihren Eid auf Verschwiegenheit und Diskretion; sie übten die Tugend der Zurückhaltung. Die ärztliche Standesethik wurde sehr streng beobachtet. Sie trug dazu bei, daß die Ärzte zu einer nicht ganz durchschaubaren gesellschaftlichen Kaste wurden, wozu auch die unpersönliche Atmosphäre der ärztlichen Praxis beitrug. Allerdings hat sich in den letzten Jahren die Situation grundlegend geändert. Immer mehr entwickelt sich die Medizin zu einer Angelegenheit der Öffentlichkeit. Man verfolgt schwierige Operationen am Fernsehen, Illustrierte und Tageszeitungen liefern medizinische Ratschläge und Aufklärung, chirurgische Eingriffe erzeugen Publizitätsrummel, der Stimmbürger gewährt oder verweigert Kredite für Spitalbauten. Sozial- und Präventivmediziner finden langsam in allen Kreisen Gehör, wodurch sich bei der steigenden Anzahl von Kranken, vor allem der chronisch Kranken, ein Gebot der Zeit erfüllt. Damit hat sich auch das Arztbild ganz wesentlich gewandelt. Die Medizin ist zur res publica geworden. Technische, wirtschaftliche und soziale Probleme erhalten in der Gesundheitspolitik eine Vorrangstellung. Der dem Arzt früherer Zeiten entgegengebrachte Respekt, die Wissenschaftsgläubigkeit und das unbedingte Vertrauen in die ärztliche Kunst sind im Schwinden begriffen. So wurde 1963 in einer schweizerischen Tageszeitung festgestellt, die gesundheitliche Erziehung und Aufklärung der Erwachsenen durch Presse, Radio, Volkshochschule, Wissenschaft und Ärzte wie auch durch zahlreiche private Organisationen werde in so reichem Maße betrieben, daß teils eine Überschätzung der Möglichkeiten der Medizin, teils eine gewisse Ratlosigkeit eingetreten sei. Die Menschen lassen sich operieren, bestrahlen, sie kennen sowohl Segen und Nutzen als auch Ausnutzbarkeit der ärztlichen Behandlung, der Krankenkassen, Versicherungen und verschiedener sozialer Hilfen (Möckli - v.Seggern). Gleichzeitig wehren sich Patienten gelegentlich gegen die Anordnungen der Ärzte, da sie der Schulmedizin nicht trauen; Wunderheiler und Kurpfuscher aller Art haben nichts von ihrer Anziehungskraft eingebüßt. Dagegen kann sich die Medizin ihrerseits auf Großerfolge berufen, die – wie etwa die Entdeckung des Penicillins oder Herz- und Nierentransplantationen – als weltgeschichtliche Marksteine gelten werden.

Einzig ein Gebiet führt im «Jahrhundert der Medizin» noch weitgehend ein Schattendasein, das Gebiet der Psychotherapie, jene Wissenschaft also, die sich mit geistigen und seelischen Krankheiten befaßt. Noch heute liegt der Nimbus des Unheimlichen auf der geistigen und seelischen Erkrankung. Psychiater und Psychotherapeuten begegnen fast weltweitem Unverständnis und Mißtrauen, nicht zuletzt von seiten ihrer medizinischen Berufskollegen. Andererseits erfordern die steigende Anzahl der psychisch Kranken und die sozialen Unruhen, die eng mit dem psychosozialen Geschehen unserer Zeit zusammenhängen, vermehrtes Verständnis für psychologische und psychiatrische Anliegen.

Diesem Mißtrauen liegen verschiedene Faktoren zugrunde. Einmal erklärt es sich aus dem Wesen der Psychotherapie, die sich mit menschlichen Fehlhaltungen befaßt, welche vom Laien nicht als eigentliche Krankheiten, sondern als Charakter- oder Willensstörungen betrachtet werden. Die Psychotherapeuten geben sich mit seelischen Problemen ab, welche der Mensch nicht wahrhaben will und abwehrt. Der Arzt muß diese Probleme ans Licht bringen und dabei oft an angeblich Verheiltes oder nur intellektuell Verarbeitetes rühren. Das wird als unangenehm empfunden und deshalb gemieden. Zudem mobilisiert jeder Versuch, die dem neurotischen Kranksein zugrunde liegende Abwehr freier Lebensmöglichkeiten zu überwinden, oft unerträgliche Angst. So kennzeichnet das Mißtrauen gegen diese Wissenschaft an sich schon eine neurotische Fehlhaltung, mag diese noch so gut durch die ratio verdeckt sein.

Außerdem erregt die Methodik der Psychotherapie Mißtrauen, weil sie all dem widerspricht, was bisher als wissenschaftlich einwandfrei gegolten hat. Sie kümmert sich eben um Gesundheitsstörungen, gegen die nicht nur naturwissenschaftlich angegangen werden kann, da sie weder meß- noch wägbar sind. Bei der Psychotherapie handelt es sich zudem um eine Behandlungsart, an welcher der Patient – im Gegensatz etwa zur Chirurgie oder «Rezeptmedizin» – aktiv teilhaben muß. Es gilt Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen und vor allem Zeit und Geld zu investieren. Eine psychotherapeutische Behandlung dauert oft Monate oder Jahre und ist deshalb teuer, was aus wirtschaftlichen Überlegungen heraus wiederum Mißtrauen erzeugt. Dabei wird außer acht gelassen, daß die lange Behandlungszeit mit dem Wesen der neurotischen Erkrankung zusammenhängt, die zumeist eine bereits mehrjährige oder lebenslange Geschichte hinter sich hat. Die Patienten klammern sich oft, wenn auch unwissentlich, hartnäckig an ihre Symptome, an ihre Neurose, weil sie aus ihrer Krankheit irgendeinen Vorteil für sich ziehen können. In der Fachsprache nennt man dies den «Krankheitsgewinn».

Das Mißbehagen in bezug auf Zeit und Geld – um nur die zwei häufigsten, wenn auch unsachlichsten Argumente gegen die Bemühungen der Psychotherapeuten zu entkräften – kann bei genauer Prüfung der tatsächlichen Verhältnisse zwar nicht ganz aufgehoben, doch weitgehend entschärft werden. Jeder Arzt braucht Zeit für seine Patienten, auch wenn er deren Krankheit nur palliativ behandelt. Wir haben noch nie einen Chirurgen oder Gynäkologen getroffen, der aus Zeitmangel von einer wichtigen, zeitraubenden Operation abgeraten, oder einen Internisten, der auf eine ebenso Zeit erfordernde Untersuchung verzichtet hätte. Erst recht gehört aber zur Psychotherapie Ruhe und Gelassenheit, Muße und Ausdauer. Dem medizinischen Leistungsprinzip mit dem auf unmittelbaren Erfolg ausgerichteten, hektischen Betrieb stellt die Psychotherapie das Dauerhafte einer Partnerschaft entgegen. In der Psychotherapie ist das emotionelle, gemütsbetonte Wiedererleben wichtiger als alle intellektuelle Erkenntnis und Verarbeitung von konflikthaften Erlebnissen. Eine solche Behandlung dauert, dem damit verbundenen Nachreifungsprozeß des Neurotikers entsprechend, über viele Monate und Jahre. Wenn wir uns vor Augen halten, mit wieviel Widerständen der Analytiker und der Analysand zu rechnen haben, bis sie ihr Ziel erreichen; wenn man daran denkt, daß nicht nur das bißchen Verstand des Menschen an diesem Prozeß beteiligt ist, sondern die gesamte Gemüts- und Erlebniswelt; wenn man ferner bedenkt, daß der Neurotiker meistens erst in fortgeschrittenem Alter den Therapeuten aufsucht, dann darf uns die lange Dauer solcher Behandlungen nicht mehr verwundern. Ja, wenn wir in Betracht ziehen, daß der Durchschnittsmensch 8 Jahre braucht, um das Bildungsniveau für den Alltag zu erreichen, daß er nochmals 7 Jahre, also insgesamt 15 Jahre für die Maturität und gar im Durchschnitt 21 Jahre für die Erreichung eines akademischen Titels benötigt, dann erscheint die Zeit für eine den ganzen Menschen und nicht nur den Intellekt erfassende Nachreifung von drei bis fünf Jahren Dauer gering! Die Psychoanalyse hat denn auch ein ungeheuer vielseitiges und reichhaltiges Material zur seelischen Entwicklung des Individuums von der Kindheit bis ins Alter zutage gefördert.

Was übrigens die Honorarfrage betrifft, wurde in verschiedenen psychoanalytischen Arbeiten mehrfach auf die krankheitsfördernde oder andererseits therapeutische Bedeutung der materiellen Beziehung zwischen Arzt und Patient hingewiesen. Die Frage der Honorierung psychotherapeutischer Tätigkeit durch den Kranken ist nicht nur sozialer und standesethischer, sondern auch psychologischer Natur. Das Verhalten des Menschen zu Geld und Besitz wurzelt zumeist in «frühkindlichen Prägungen» und wird dadurch zum «Repräsentanten seiner inneren Wesensverfassung und schließlich seiner mitmenschlichen Beziehungsfähigkeit überhaupt» (Meerwein), so daß die Regelung der materiellen Beziehungen zwischen Arzt und Patient zu wichtigen diagnostischen Erwägungen Anlaß gibt. Die überwiegende Mehrzahl der Psychotherapeuten ist zudem davon überzeugt, daß «tiefenpsychologische Behandlungen keinen Fortschritt zeitigen, wenn der Kranke nicht ein ihm spürbares materielles Opfer für die Behandlung aufbringen muß». Diese Aussage Meerweins wurde von De Boor und Künzler anhand statistischer Unterlagen bestätigt. Die finanzielle Mitbeteiligung der Kranken an den Behandlungskosten soll zudem die Gefahr mindern, daß ein kindliches Abhängigkeitsverhältnis zum Therapeuten allzulange aufrechterhalten bleibt. Obwohl wir der Honorarfrage inbezug auf den therapeutischen Effekt nicht die gleiche Bedeutung beimessen wie die genannten Autoren, hat auch unsere persönliche Erfahrung mit den Patienten gezeigt, daß «schlechte Zahler» auch in der Therapie zurückhaltend und mühsam sind und weniger gute Fortschritte aufweisen als jene, die sich gerade durch die andauernde Belastung oft recht hoher finanzieller Opfer anspornen lassen.

Das Unbehagen, das die Psychotherapie bei Laien und Ärzten offenbar immer wieder hervorruft, beruht jedoch, wie bereits angetönt, im Grunde nicht nur auf den beschriebenen materiellen und zeitlichen Schwierigkeiten. Es wäre durchaus denkbar, daß unsere Wohlstandsgesellschaft die äußeren Bedingungen der Psychotherapie zu verändern und dadurch die für den Patienten damit verbundenen Opfer zu mildern vermöchte. Versuche in dieser Richtung sind bereits gemacht worden. Der Ausspruch Strotzkas, wonach die Psychoanalyse «nur sehr bemittelten Patienten überhaupt möglich» sei, besitzt keine Allgemeingültigkeit mehr. Er darf für die Zukunft überhaupt nicht gelten. Eine Änderung des jetzigen Zustandes liegt aber nicht im Möglichkeitsbereich der Psychotherapeuten, sondern nur der «Gesellschaft» selbst, die endlich einmal ihre Vorurteile den psychisch Kranken gegenüber aufgeben und die nötige Sozialhilfe schaffen könnte.

Wichtiger scheint uns der Umstand zu sein, daß die Psychotherapie Aufgaben übernommen hat, die bisher den zwei großen Wissenschaften vorbehalten waren: der Medizin einerseits und der Theologie andererseits. Leibliche Störungen und geistige Erkrankungen gehörten, sofern sie sich der naturwissenschaftlichen Diagnostik und Therapie unterordnen ließen, in den Bereich der Medizin. Für persönliche Probleme und seelische Konflikte war der theologische Seelsorger zuständig. Die Psychotherapie hat sich nun tatsächlich im Schatten dieser beiden Machtbereiche zu einer selbständigen Wissenschaft vom Menschen entwickelt, die sich sowohl mit körperlichem als auch seelischem Kranksein befaßt und dadurch Medizin und Theologie weitgehend in Frage stellt. Jedenfalls kann der Psychotherapie die Aufgabe nicht abgesprochen werden, Medizin und Theologie sowohl in theoretischer wie therapeutischer Hinsicht zur Überprüfung ihrer Grundlagen, ihrer Methoden und ihrer Ziele anzuregen.

Psychotherapie und Medizin

In einer Zeit, da die technische Vervollkommnung der Medizin im Bereiche der Herzchirurgie ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht zu haben scheint, dürfte den Ärzten eine Besinnung auf ihr alltägliches Handeln nottun. Die Diskrepanz zwischen dem fragwürdigen und weltweit publizistisch aufgebauschten Aufwand einer einzelnen Herztransplantation und der täglichen Kleinarbeit in der ärztlichen Allgemein- oder Spezialpraxis ist nicht mehr zu übersehen. Trotz des technischen Fortschritts der Medizin hat ja das Gesamtkapital menschlicher Leiden nicht abgenommen; im Gegenteil: die Beanspruchung der Ärzte nimmt in dem Maße zu, als die Menschheit sich zivilisatorisch, das heißt aber auch fortschrittlich entwickelt.

Allerdings konnte man feststellen, daß im Krankengut einer durchschnittlichen ärztlichen Praxis ganz wesentliche Verschiebungen stattgefunden haben. Waren es früher zur Hauptsache Krankheiten, die durch eine chemophysikalisch- oder technisch-kausale Therapie behandelt und geheilt werden konnten, so treffen wir heute in den Sprechzimmern immer mehr Patienten an, deren Leiden sich dem naturwissenschaftlichen Zugriff entziehen. Es sind Menschen, die akut oder chronisch in irgendeinem Zeitpunkt ihres Daseins an einer für sie nicht zu bewältigenden Lebensproblematik scheitern und in diesem Scheitern ihr ganzheitliches Kranksein bekunden. Mit anderen Worten: Die Ärzte stellen eine Zunahme neurotischer Erkrankungen fest, die sich teils unmittelbar psychisch oder funktionell austragen, teils aber auch als körperliche Krankheiten in Erscheinung treten. Für die letzteren hat sich der Begriff »psychosomatisch« eingebürgert, wobei gemeint ist, daß das eigentliche Leiden psychischer Natur sei, jedoch infolge seines besonders schmerzhaften, unlustbetonten Wesens abgewehrt werde und nur noch leiblich zum Austrag komme. Die ursprüngliche Krankenauswahl für den Psychotherapeuten richtete sich in der materialistischen, medizinischen Welt nach dem einfachen Kriterium, ob die Symptome des Patienten «organisch» oder «nicht-organisch» bedingt seien. In der inneren Medizin hat sich für letzteren Befund der Begriff der «funktionellen» Krankheit eingelebt. Wurde bei einem Kranken keine organische Störung festgestellt, dann galten seine Beschwerden als «funktionell», um ihm die «entwürdigende» Bezeichnung «neurotisch» zu ersparen. Wurde jedoch von Neurose gesprochen, dann mußte mindestens ein Organ mitgenannt werden; man sprach von Magenneurose, Herzneurose, Blasenneurose, um sich selbst und den Patienten der Täuschung hinzugeben, die Neurose beziehe sich letzten Endes nur auf den Magen, das Herz oder die Blase! Sprach man von «vegetativer Neurose», dann wurde wiederum das (organische) Nervensystem in die wirkursächliche Kette einbezogen. Es ist eben leichter, die «vegetativen Nerven» für einen chronischen Kopfschmerz verantwortlich zu machen als eine überintellektuelle Lebenshaltung, oder bei epigastrischem Unwohlsein die Magennerven anstelle einer ehrgeizigen Selbstüberforderung. Der Begriff der «Nichtorganizität», des Funktionellen oder Psychogenen als Gegenpol zum Organischen oder Somatogenen setzt aber die Auffassung vom Menschen als einer «psychophysischen Konstruktion», als eines Konglomerates von psychischen und physischen Bestandteilen voraus. Wie in Wirklichkeit jedoch ein solcher Organismus funktionieren soll, das vermochten bisher die Naturwissenschaften nicht abzuklären. Auch unserem Kranken war die medizinische Diagnose einer Magenneurose gestellt worden. Er selbst deutete dies dahin, daß die Magennerven ihren Dienst versagt hätten und es nun genüge, dieselben wieder zur normalen Funktion anzuregen. Waren schon die Erwartungen des Patienten an den Psychotherapeuten unklar, so sah er sich zunächst enttäuscht, daß er weder Medikamente noch Diätvorschriften erhielt. Ja nicht einmal eine hypnotische oder suggestive Kur wurde ihm angeboten. Seine Klagen über den Magen, den Rücken oder die Kopfschmerzen hörte der Arzt sich an, scheinbar ohne ihnen dasjenige Interesse entgegenzubringen, das er von seinen früheren Ärzten her gewohnt war. Allmählich ging dem Kranken auf, daß sich die ganze Behandlung in nichts anderem ereignen sollte als in einem Gespräch und daß dieses Gespräch zur Hauptsache von ihm zu bestreiten sei. Er wurde aufgefordert, dem Therapeuten alles mitzuteilen, was immer ihm in den Sinn kam, unbekümmert um sittliche, religiöse, gesellschaftliche Werturteile, rücksichtslos sich selbst und seinem Therapeuten gegenüber alles zu sagen, was ihn bewegte. So durfte er sich erstmals in seinem Leben wirklich frei äußern, ohne gewärtigen zu müssen, getadelt oder gestraft zu werden. Sogar in jenen Bereich menschlichen Seins konnte er vordringen, der ihm bisher völlig verschlossen und unzugänglich schien, in die Welt seiner Träume.

Philosophisches Menschenverständnis und ärztliches Handeln

Die Psychotherapie stellt die Medizin jedoch nicht nur vor praktische Probleme. Vielmehr zwingt sie die bisher ausschließlich naturwissenschaftlich orientierte Heilkunde, ihre eigenen philosophischen Grundlagen neu zu bedenken. Denn ärztliches Handeln beruht, wie jede menschliche Tätigkeit, auf einem vorwissenschaftlichen «philosophischen» Menschenverständnis, ob dieses nun explizite bedacht wird oder nicht. Damit ist bereits angedeutet, daß Philosophie an sich keine Wissenschaft ist, sondern deren Grundlage. Die Wissenschaft geht, wie bereits Plato festlegte, von Voraussetzungen aus, die sie nicht mehr in Frage stellt, abwärts zu den einzelnen Erscheinungen, die Philosophie dagegen von denselben Voraussetzungen aus aufwärts zu dem davon unabhängigen Gültigen. Philosophie strebt die Klärung und Erhellung «letzter Dinge» an, sie frägt nach dem Wesen der Welt, des Seins, des Menschen.

Medizin und Philosophie haben miteinander seit jeher intensive Beziehungen und Auseinandersetzungen gehabt. Die großen Ärzte der Antike und später wiederum in der Blütezeit der Renaissance waren Philosophen. Der Mensch und seine Krankheit faszinierten Ärzte und Philosophen in gleichem Maße als ein immer wieder neu zu erforschendes Mysterium. Diese Fragwürdigkeit des Mensch-Seins läßt alle philosophischen Ansätze als Grundlage ärztlicher Therapie zu. Je nach eigener philosophischer Grundhaltung und individueller Weltanschauung, wurde und wird heute noch vielfach das ärztliche Handeln bestimmt. Heilungsmethode und Heilungsziel sind, in größerem Ausmaße als es die medizinische Wissenschaft wahrhaben will, von der Persönlichkeit des Arztes und damit von dessen «Privatphilosophie» geprägt.

Im Laufe ihrer Geschichte hat sich jedoch die ärztliche Heilkunde in immer ausschließlicherem Maße der naturwissenschaftlichen Welterforschung zugewandt, der sie sich seit der Descartesschen Formulierung der Körperwelt als meß- und wägbare res extensa völlig zu verschreiben schien. Selbst die Psychiatrie als eine Wissenschaft, die sich mit der «Seele» – also einer weder meß- noch wägbaren Wesenheit des Menschen – befaßt, machte sich die naturwissenschaftlichen Methoden zu eigen. Neuroanatomie, Pharmakologie, neuerdings Testpsychologie, Statistik und Informationstheorie bieten der Psychiatrie eine wissenschaftliche Grundlage.

Wie bereits gesagt, beruht die Naturwissenschaft auf Voraussetzungen, die sie selbst nicht zum Gegenstand ihrer Forschung macht. Die naturwissenschaftlich orientierte Medizin nimmt die philosophische Grundannahme einer Zweiteilung der Wirklichkeit und einer Deutung der «Natur» als gesetzmäßig bestimmbares Dasein der Dinge, beziehungsweise als «Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit» (Kant) hin, ohne sie als solche in Frage zu stellen. Dazu ist sie um so mehr berechtigt, als diese philosophische Voraussetzung ihr die Methoden zur Forschung (Experiment, Statistik) und die Techniken liefert, «mit deren Hilfe das Verhalten von Einzelmenschen, wie das von ganzen Menschengruppen und menschlichen Gesellschaften sogleich berechenbar und manipulierbar gemacht werden kann» (Boss). Praktische Anweisungen und leistungsfähige Lernmethoden beruhen auf klar abgegrenzter naturwissenschaftlicher Basis. So kann auch die Psychiatrie zwar nicht die Frage beantworten, was die «Seele» eigentlich ihrem Wesen nach sei, wohl aber kann sie die «Krankheiten der Seele» systematisch erforschen, auf ihre Gesetzmäßigkeit hin abklären, nosologisch einordnen und therapeutisch mittels chemischer und physikalischer Methoden angehen.

Stellen die Naturwissenschaften der Medizin die Technik zur Verfügung, so zeigt sich bald einmal, daß ihr Anwendungsbereich nicht die Gesamtheit der psychopathologischen Phänomene umfaßt, insbesondere die Psychotherapie weitgehend ausgeklammert ist. Zwar glaubte Freud noch, die Psychoanalyse wurzle derart im naturwissenschaftlichen Denken, daß sich eine philosophische Neubesinnung erübrige. Es gelang ihm denn auch, ein naturwissenschaftliches Modell der Psyche vorzulegen, das zweifellos in praktischer Hinsicht die Psychotherapie fruchtbar beeinflußte. Und doch waren es gerade die «Grundpfeiler» der psychoanalytischen Behandlung, nämlich «Widerstand» und «Übertragung», welche einer naturwissenschaftlichen Erklärung trotzten. Auch reichte die kausalgenetische Betrachtungsweise bei näherer Prüfung nicht aus, um Pathogenese und Ätiologie neurotischen Krankseins hinlänglich aufzudecken. So stellte man der erklärenden Pathologie eine verstehende gegenüber, wodurch die Psychiatrie sowohl in den Natur- wie in den Geisteswissenschaften beheimatet wurde. Durch diese uneinheitliche Grundlage verlor sie zunächst ihren Anspruch, eine Wissenschaft im engeren Sinne zu sein.

Der Versuch, die Psychiatrie aus ihrem Dilemma zu befreien, wurde durch eine philosophische Neubesinnung ermöglicht, die das Wesen des Menschen nicht mehr lediglich aus biologisch-naturwissenschaftlichen Kategorien, sondern aus dessen Geistigkeit heraus zu begreifen sucht. Die anthropologische Grundlegung stellt einem Aufbau der Wirklichkeit aus Elementen und Teilfunktionen von unten her die gegenteilige Sicht gegenüber, nämlich die «von der Ganzheit menschlichen Seins hinab zu einer Einordnung aller Einzelvorgänge, Elemente und Funktionen» in den Dienst dieses Ganzen, des menschlichen Daseins (Wiesenhütter). Die psychoanalytisch-kausalgenetische Erklärung neurotischen Krankseins wurde durch das daseinanalytische Verständnis des Sinn- und Bedeutungsgehaltes krankhafter Weltbezüge ersetzt. Mit anderen Worten: Das in der Krankheit sich offenbarende Phänomen wird nicht mehr aufgrund irgendwelcher vorgefaßter Theorie umgedeutet, sondern als solches unversehrt wahrgenommen und interpretiert. Die Daseinsanalytik begreift den Menschen als ein weltoffenes, ja welterschließendes Dasein, dem die Bedeutungsgehalte und Verweisungszusammenhänge der Dinge unmittelbar zugänglich sind. Zur je eigenen Existenz des Menschen gehören gleich ursprünglich die Anwesenheit der Mitmenschen und der sich zeigenden nicht-menschlichen Bereiche der Wirklichkeit. Für die Neurosenlehre – an der sich dieses neue Menschenverständnis zuerst zu bewähren hatte – bedeutet dies den Verzicht auf unbeweisbare Hypothesen und denkerisch-abstrahierende Begriffe, denen kein faktisches Vorhandensein entspricht. Die Methode der daseinsanalytischen Betrachtungsweise ist phänomenologisch-hermeneutisch. Phänomenologie bedeutet die Hinwendung «zu den Sachen selbst», so wie sie sich von sich aus sehen lassen und in Erscheinung treten; Hermeneutik ist Auslegung, Übersetzung, Verdeutlichung. Es geht somit in der Daseinsanalyse nicht nur um die Beschreibung einer an der Oberfläche sich zeigenden Erscheinung, sondern immer um die Sichtbarmachung des Wesenhaften derselben. In der Krankheit soll sich nicht lediglich ein mechanistisch zu erklärender Organdefekt, sondern das Dasein des Kranken in bestimmter, pathologisch verstimmter Weise kundtun. So kann man vom neurotischen Magendarmpatienten sagen, er sei tatsächlich nicht in der Lage, ihn anfallende Konflikte und Probleme zu «verdauen», beziehungsweise adäquat zu lösen. Dem einen liegt das, was er sich – meist in übermäßiger Weise – aufgebürdet und einverleibt hat, in des Volksmundes ureigenstem Sinne auf dem Magen, während des anderen «Schiß», etwas zu behalten und sich anzueignen, als Durchfall leibhaftig in Erscheinung tritt. Jedes menschliche Organ und damit jede Krankheit hat einen je eigenen Bedeutungsgehalt, den zu kennen zur Erweiterung und Erhellung der Diagnose verhilft. Die Frage nach Krankheitswahl, Organspezifität, Krankheits- und Symptomwandel im Bereiche der neurotischen Leiden erfuhr durch die phänomenologische Interpretation eine wesentliche Beantwortung.

Die philosophische Besinnung über das Wesen des Menschen führt nicht nur zu einem vertieften und erweiterten Krankheitsverständnis, sondern auch zu einer besseren Motivierung und Gestaltung «ärztlichen Handelns». Während die «Analyse» im psychoanalytischen Bereich nach Freuds eigenen Worten einer chemischen Zergliederung – also einem naturwissenschaftlichen Prozeß – gleichgesetzt werden kann, will die Daseinsanalyse den Sinngehalt unserer Vorstellungen, Gefühle und der Motive unseres Handelns erhellen. Dieses Durchsichtig-Machen, ins Licht setzen, ermöglicht erst, ohne weiteres Dazutun, eine grundsätzliche Umstimmung des in seiner Krankheit eingeengten Daseins.

Eine psychotherapeutisch orientierte Medizin wird demgemäß und zusammengefaßt wesentlich von folgender philosophischer Grundlage getragen:

1. Menschliche Existenz ermöglicht als Weltoffenheit die Entfaltung mitmenschlichen Daseins. Sie beinhaltet als solches Mit-Sein (Heidegger) Freiheit zur Verantwortung unserer Welt gegenüber, andererseits Freiheit, sich solcher Verpflichtung zu entziehen. Menschsein bedeutet also Aufforderung, sich von der je eigenen und je mitweltlichen Existenz in Anspruch nehmen zu lassen. Darin liegt letztlich die ethische Begründung jedweder Hilfeleistung am Menschen und in ganz ausgezeichneter Weise des ärztlichen Handelns.

2. Die Entfaltung menschlicher Existenz ereignet sich als mitmenschliche Kommunikation in der Sprache. Sprache und Verstehen sind untrennbare Einheit. Der Mensch wird in der Psychotherapie zur Sprache und damit zu sich selbst gebracht. Der Kranke spricht in vielen Sprachen zum Arzt: in der bewußt gesprochenen Klage, im wiedererinnerten Traum, im stummen Leibgeschehen («Organsprache»), aber auch schweigend. Immer – auch in der nur leiblich als «Konversionshysterie» oder «Organneurose» ausgetragenen Krankheit ist der mitmenschliche Bezug nachweisbar. Die Sinnhaftigkeit solchen Geschehens dem Arzt und dem Patienten selbst offenbar werden zu lassen, wird durch die hermeneutisch-auslegende und phänomenologisch-verstehende Methode ermöglicht.

3. Die Zielsetzung ärztlichen Handelns übersteigt das Bestreben, Arbeits-, Leistungs- und Genußfähigkeit wiederherzustellen. Aus der Sicht heraus, daß sich im menschlichen Kranksein eine existentielle Reifungshemmung austragen kann, erwächst die ärztliche Aufgabe, den Kranken zu einem vermehrten Offenständigwerden sich selbst und der Umwelt gegenüber zu bringen, zu einer Gestaltung seines Daseins, die ein verantwortungsbewußtes und freiheitliches Welt- und Lebensverhältnis beinhaltet.

Psychosomatische Medizin

Die psychosomatische Medizin untersucht den emotionalen Anteil menschlichen Krankseins, die jeweilige Gestimmtheit des Patienten, die zum Leiden führt. Es geht ihr nicht lediglich um die Betonung der altbekannten Vorstellung, daß der Mensch aus Leib und Seele bestehe und daß demzufolge auch in jeder Krankheit leibseelische Zusammenhänge gesucht werden müßten, sondern – in Abhebung vom kausalen Denken der naturwissenschaftlichen Medizin – um die existentielle Erhellung des Sinngehaltes menschlichen Krankseins. Nur aus dieser Sicht heraus und in dieser Einschränkung läßt sich psychosomatische Medizin als eine methodisch eigenständige und neue Wissenschaft begründen und vertreten.

Der Arzt benötigt sowohl die naturwissenschaftlich-technische wie die sinnerhellende, phänomenologische Methode zur Erklärung und zum Verständnis der Krankheit. In etwa einem Drittel aller Krankheitsfälle mag die technische Betrachtungsweise genügen, in einem weiteren Drittel beruht die Heiltätigkeit des Arztes auf seinem persönlichen Einsatz, d.h. auf der mitmenschlichen Begegnung, und in einem Drittel spielen spezifisch neurosenpsychologische Faktoren die Hauptrolle im Krankheitsprozeß und in der Therapie. Dieses letzte Drittel aller Kranken stellt an den Arzt völlig neue Anforderungen, denen er oft kaum gewachsen ist. Das Medizinstudium ist in den westlichen Ländern beinahe ausschließlich naturwissenschaftlich ausgerichtet. Die Neurosenlehre wird an den meisten medizinischen Fakultäten nur am Rande erwähnt. Die Ausbildung in Psychotherapie und psychosomatischer Medizin gehört zum Postgraduate-Unterricht und ist vorwiegend den Spezialisten für Psychiatrie vorbehalten.

Doch befindet sich die Medizin gerade auf dem Gebiet der Neurosen in einer Krise. Die Zunahme der psychosomatischen Krankheiten und die guten Erfahrungen mit der fachärztlichen Psychotherapie stehen in krassem Gegensatz zum dürftigen Angebot an psychotherapeutischen Spezialärzten. Dieses Ungenügen wird sich zweifellos in Zukunft steigern, dann nämlich, wenn die Kranken selbst mehr Einsicht in die wahre Natur ihrer Leiden haben werden und der Gang zum Psychiater «gesellschaftsfähiger» sein wird.

An Versuchen, aus dieser Krise herauszukommen, fehlt es nicht. Zunächst erkannten die Ärzte die zwingende Notwendigkeit, ihr eigenes Rüstzeug zum Wohle ihrer emotionell Kranken zu verbessern. Die «Psychotherapie des Hausarztes» wurde zu einem Schlagwort, das zumindest theoretisch das Interesse weiter Ärztekreise weckte. In vielen Ländern, so auch in der Schweiz, entstanden Gesellschaften für Psychosomatische Medizin. Studienwochen für praktische Psychotherapie und medizinische Psychologie wurden zu sich jährlich wiederholenden Institutionen – am bekanntesten in Deutschland die Lindauer Psychotherapiewoche und in der Schweiz die Studienwoche «Der psychologische Zugang zum körperlich Kranken» in Sils. An verschiedenen Orten bildeten sich schließlich Ärztegruppen, die den praktischen Ärzten und nicht-psychiatrischen Spezialisten psychotherapeutisches Gedankengut vermitteln. Die Psychotherapie des Hausarztes, darüber darf man sich keinen Täuschungen hingeben, vermag jedoch längstens nicht allen Ansprüchen zu genügen. Es handelt sich dabei im allgemeinen nicht um eine tiefenpsychologisch oder analytisch orientierte Psychotherapie. Sowohl das freie Assoziieren wie die Deutung der Träume, ja selbst die Besprechung der Übertragungsbeziehung zum Arzte – ein Grundpfeiler der Psychoanalyse – fallen weg (dort, wo solches dilettantisch versucht wird, geschieht es meistens zum Schaden der Kranken). Diese Technik ist auch in Kursen und aus Büchern nicht erlernbar. Somit bleibt die sogenannte «kleine» oder «einfache» Psychotherapie auf das gezielte und verstehende Gespräch beschränkt. Der Arzt muß sich Zeit und Muße nehmen, den Kranken nicht nur körperlich zu untersuchen, sondern ihn anzuhören, seine Sorgen mit ihm zu besprechen. Daß es sich dabei um ein Verfahren handelt, das an der Oberfläche bleibt, ist nicht zu vermeiden. Immerhin wird dadurch bereits viel Gutes gegestiftet. Das Verhältnis des Kranken zu seinem Arzte erhält einen neuen und intimeren Aspekt. Ein Arzt, der sich seinem Patienten gegenüber psychologisch geschickt und einfühlend verhält, wird die besseren Therapieresultate erzielen, selbst dort, wo das Krankheitsbild scheinbar nur naturwissenschaftlich zugänglich erscheint.

Die Psychotherapie des Hausarztes wird aber nur von einer relativ geringen Anzahl Ärzte durchgeführt. In unserer Industrie- und Konsumgesellschaft mit ihrem chronischen Zeitmangel gelingt es den meisten Ärzten auch nicht, die nötige innere und äußere Muße für ein psychologisches Eingehen auf die Nöte der Patienten zu finden. Zum anderen geraten jene Ärzte, die sich die dazu notwendige Zeit ihrer Praxis abstehlen, oft in eine Sackgasse. Beides führt zur Überweisung des Kranken an den Spezialarzt für Psychiatrie und Psychotherapie, was neue Schwierigkeiten bringt. Statistiken zufolge ist – wie bereits angedeutet – die Zahl der ausgebildeten Fachpsychotherapeuten völlig ungenügend. Görres stellte anhand eingehender Untersuchungen in der Bundesrepublik Deutschland fest, daß die analytische Psychotherapie für die Volksgesundheit praktisch so gut wie bedeutungslos sei, weil die gegenwärtige und die in Zukunft zu erwartende Zahl von Psychotherapeuten um ein Vielfaches geringer sei als der Bedarf. An dieser Situation ändert sich auch nichts Wesentliches, wenn nichtanalytische Psychotherapieformen (wie etwa das autogene Training, die Hypnose, Bewegungs- und Atemtherapie, Protreptik u.a.), die Görres unter dem Begriff «pragmatische Psychotherapie» zusammenfaßt, dazugerechnet werden.

Psychotherapie und Psychologie

Obwohl die Medizin ein so wichtiges Fachgebiet wie die Psychotherapie vernachlässigt und dadurch einen großen Teil der Kranken ihrem Schicksal überläßt, wacht sie eifersüchtig darüber, daß die psychotherapeutischen Behandlungsmethoden ausschließlich in ihren Zuständigkeitsbereich fallen. Unmißverständlich wird von der Medizin immer wieder betont, die Psychotherapie gehöre in die Hand des Arztes, was in der Schweiz dadurch unterstrichen wurde, daß der Spezialarzttitel FMH nun auch für Psychiatrie und Psychotherapie gewährt wird. Im übrigen wird aber von der Medizin und vom Gesetz jedem Arzt das Recht zugebilligt, psychotherapeutisch tätig zu sein, selbst wenn er keine diesbezügliche Spezialausbildung aufzuweisen hat. In dieser für die psychotherapeutische Betreuung unserer Kranken wenig erfreulichen Situation wird es verständlich, daß in zunehmendem Maße auch Psychologen Psychotherapie ausüben. Seit Freud zugunsten der «Laienanalyse» Stellung bezogen hat, sind die Psychologen auch in den meisten psychoanalytischen Gesellschaften als Mitglieder zugelassen. Dies führte jedoch zu einer nur schlecht verhehlten Polemik zwischen Ärzten und Psychologen. Auf der einen Seite beklagt sich die Medizin über einen unerlaubten Einbruch der «Laien» in ihre Domäne, auf der anderen Seite werfen die Psychologen den Medizinern Intoleranz vor, wobei beides weder gerechtfertigt noch dem Wohle des Kranken dienlich ist. In Tat und Wahrheit bereitet das Medizinstudium den Arzt nicht viel besser für die Laufbahn eines Psychotherapeuten vor als etwa das Psychologiestudium. Letzteres bietet die bessere Gewähr für ein Verständnis neurotischer Erkrankungen als die naturwissenschaftlich orientierte Medizin. Demgegenüber betonen die Ärzte zu Recht, den Psychologen fehle in ihrer Ausbildung der direkte Kontakt mit dem Kranken und damit die Voraussetzung zu einem für jede Therapie immanent wichtigen Krankheitsverständnis.

Das Thema, ob die Psychotherapie ein Teilgebiet der Medizin oder eine selbständige Wissenschaft sei, wurde bereits vor Jahren in der Schweizerischen Ärztezeitung mehrfach besprochen. Ausgelöst durch eine Gesetzesnovelle in einem Kanton, wonach unter bestimmten Bedingungen auch Psychologen die Ausübung der Psychotherapie bewilligt werden sollte, bekannte sich die Schweizerische Gesellschaft für Psychotherapie zum Grundsatz, die Psychotherapie der Erwachsenen gehöre in den Bereich der ärztlichen Heilbehandlung. Bereits damals (1953) meldeten jedoch namhafte Ärzte Bedenken gegen diesen psychotherapeutischen Ausschließlichkeitsanspruch der Medizin an. So schrieb beispielsweise Boss, es sei nicht zu viel behauptet, wenn man sage, daß im Wissen um die Grundverfassung des Menschen und im psychotherapeutischen Können «selbst die psychiatrischen Fachärzte von den Laienmitgliedern der ernsthaften psychotherapeutischen Privatgesellschaften weit übertroffen werden, sofern sich die Psychiater nicht wie diese ihre lange und schwierige tiefenpsychologische Sonderausbildung außerhalb der ‹Schulmedizin› erworben haben. Sind demzufolge – auch wenn der Buchstabe des Gesetzes noch so eindeutig das Gegenteil behauptet – bei einer unübersehbar großen Zahl von Kranken, deren Leiden im Grunde eine eingreifende Psychotherapie erfordert, heutzutage nicht noch die Mehrzahl der Ärzteund gar nicht die behandelnden Laien die eigentlichen Laien