Medizinische Psychologie - Gion Condrau - E-Book

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Gion Condrau

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Beschreibung

In Gion Condraus bekanntem Werk »Medizinische Psychologie« werden die Krankheiten der Menschen nach ihrem Sinn und Bedeutungsgehalt unter dem Gesichtspunkt psychosomatischer Zusammenhänge sowie den sozialpsychologischen Bedingungen des einzelnen in der Gesellschaft behandelt. Es richtet sich daher an alle, die den Menschen und seine jeweils spezifische Krankheit zu verstehen suchen: an praktische Ärzte, Medizinstudenten, aber auch an medizinische Laien. Zahlreiche Fallbeispiele aus der Praxis des Autors und das Verzeichnis der wichtigsten Fachausdrücke tragen wesentlich zur Anschaulichkeit bei. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Gion Condrau

Medizinische Psychologie

Psychosomatische Krankheitslehre und Therapie

FISCHER E-Books

Inhalt

GEIST UND PSYCHE [...]Dr. med. Augustin Condrau (1811–1887) [...]Vorwort zur zweiten AuflageVorwort zur ersten AuflageEinleitungGrundlagen und Notwendigkeit einer Medizinischen PsychologieWarum gerade Medizin?Warum gerade Psychologie?Drei Wege ärztlicher Begegnung mit dem KrankenDer biologische Zugang zum KrankenEthologie, Umweltlehre, vergleichende VerhaltensforschungDas triebhafte Verhalten und die GehirnorganisationBehaviorismus, KonflikttheorieDie Lehre von den bedingten ReflexenDer psychologische Zugang zum KrankenDer phänomenologische Zugang zum KrankenPsychotherapie und HermeneutikDas phänomenologische KrankheitsverständnisDie Bedeutung der medizinischen Psychologie für die ärztliche PraxisDas psychosomatische Krankengut der AllgemeinpraxisKonsequenzen für die ärztliche Praxis in bezug auf Diagnostik und TherapieFragen der medizinpsychologischen AusbildungDas psychosomatische KrankheitsverständnisDie Beeinträchtigung des Leiblich-Seins menschlichen ExistierensKrankheitswahlOrganspezifität1. Persönlichkeitsspezifität2. Konfliktspezifität3. Symbolgehalt4. Zeitpunkt der Neurotisierung5. Organminderwertigkeit6. Lebensstil7. Soziokulturelle Spezifität8. Psychosomatische Korrelationen9. Unbewußte Identifikation10. Der bedingte Reflex11. Das Talionsprinzip12. Spezifität der Abwehrmechanismen13. Iatrogene Organwahl14. Multikonditionalität15. Theorie der Unspezifität (Streß)16. Der phänomenologische BedeutungsgehaltKrankheits- und SymptomwandelDie menschlichen Lebensphasen in medizinpsychologischer SichtKrankhaft gestimmtes Weltverhältnis in der Kindheit und JugendzeitKleinkindesalterSchulalterPubertät und JugendzeitPsychosomatische Fälle und Probleme des mittleren LebensaltersVegetative DystonieEssentielle HypertonieAsthma bronchialeErkrankungen des alternden Menschen in medizinpsychologischer SichtHerzinfarktAltersdepressionKarzinomZur Therapie psychosomatischer KrankheitenTherapeutische Methoden und MöglichkeitenDie Überweisung an den PsychiaterTherapeutische KompetenzenBehandlung einer sekundären AmenorrhöeDie Indikation zur PsychotherapiePrognose und ErfolgsbeurteilungDas Ende der TherapieDer sterbende Patient – ein vergessenes Problem der MedizinpsychologieDas Verhältnis der Medizin zum TodeDer sterbende PatientDie infauste PrognoseÄrztliche SterbehilfePsychotherapie eines SterbendenDie Bedeutung der Sprache in der ärztlichen HeilkundePsychoanalyseDie »psychosomatische Sprechstunde«Gespräch mit einer KrankenColon irritabileDie biographische AnamneseHeilung durch die SpracheFormen des ärztlichen Gesprächs1. Das fehlende ärztliche Gespräch2. Das banale ärztliche Gespräch3. Das psychagogische Gespräch4. Das autoritäre ärztliche Gespräch5. Das verstehende ärztliche Gespräch6. Das »sinnerhellende«, analytische GesprächVerstehen und VerständigungAnhangFachausdrückeBibliographie (Auswahl)Namen- und Sachregister

GEIST UND PSYCHE

Herausgegeben von Nina Kindler

Dr. med. Augustin Condrau (1811–1887)

Dr. med. Augustin Condrau (1846–1928)

Dr. med. Leo Condrau (1889–1966)

gewidmet

Vorwort zur zweiten Auflage

Die erste Auflage des Buches war praktisch innerhalb eines Jahres vergriffen. Das Bedürfnis, eine Schrift zur Hand zu haben, die den psychologischen Zugang zum Kranken eröffnen sollte, scheint demnach groß zu sein, auch wenn die offizielle Hochschulmedizin nur zögernd deren Notwendigkeit anerkennt. So bin ich dem Kindler Verlag zu Dank verpflichtet, daß er die »Medizinische Psychologie« in der Reihe »Geist und Psyche« neu herausbringt.

Eine »Medizinische Psychologie« kann in verschiedener Form konzipiert werden. Ich wählte die mir nahestehende Art der phänomenologischen Betrachtungsweise, ohne dabei andere Methoden in gravierender Form vernachlässigt zu haben. Insbesondere geht es mir darum, den Arzt für das psychosomatisch Erfahrbare hellhörig zu machen. Aber auch nichtärztliche Psychologen sind angesprochen, da viele unserer Kranken bei ihnen eine ebenso wirkungsvolle Therapie erfahren wie bei den ärztlichen Psychotherapeuten.

Zu den Fragen, deren Beantwortung die Philosophie uns bis heute in allgemeingültiger Weise schuldig blieb, gehört seit Menschengedenken jene nach dem Verhältnis von Leib und Seele. So ist es kaum verwunderlich, daß sich auch die Medizin gezwungen sah, bei Vorstellungen und Begriffsbildungen Zuflucht zu nehmen, die ihr für die tägliche Auseinandersetzung mit dem kranken Menschen als theoretische Grundlage dienen konnte. Das Denkschema wurde schließlich wichtiger als die unmittelbar erfahrene Wirklichkeit. Daran änderte sich nicht Grundsätzliches, als das Zeitalter der mechanistisch-naturwissenschaftlichen Biologie von einem ganzheitlichen, organismischen und dynamischen Verstehenshorizont abgelöst wurde. Psychoanalyse, Neurophysiologie, Reflexologie und Kybernetik, die vergleichende Verhaltensforschung, welche als Ethologie unmittelbar zur Sozialpsychologie hinüberleitet, betrachten die Psychosomatik als ihr Arbeitsgebiet, ohne daß die einzelnen Forschungsrichtungen ihre Untersuchungen koordiniert hätten. Es erstaunt uns daher nicht, daß die psychosomatische Medizin weder einheitlich definiert noch überall anerkannt wird.

Diese zweite Auflage hat gegenüber der ersten wesentliche Neuerungen, Ergänzungen und Verbesserungen erfahren. Fast sämtliche Kapitel wurden erweitert, einzelne neue Gedanken eingefügt und auch die Tabellen erfuhren zum Teil Veränderungen. Neu hinzugefügt findet sich ein Kapitel über das Verhalten des Arztes dem Kranken mit infauster Prognose und dem Sterbenden gegenüber. Dieser Abschnitt stellt eine erweiterte Fassung jenes Referates dar, das bereits einmal in der »Einführung in die Psychotherapie«, später in ausführlicher Darstellung im Hexagon Roche (No. 1, 1975) erschien. So hoffe ich – in voller Kenntnis des fragmentarischen Charakters meiner Ausführungen – dem Studenten der Medizin und der Psychologie ein Lehrbuch in die Hand zu geben, dem praktizierenden Arzt, Psychotherapeuten und Psychologen ein Buch, das zu weiterem Nachdenken anregt.

 

Herrliberg, im Frühjahr 1975

GION CONDRAU

Vorwort zur ersten Auflage

Das vorliegende Buch über Medizinische Psychologie soll dazu dienen, Medizinstudenten und praktizierende Ärzte auf die Grundlagen der modernen Psychologie und deren Bedeutung für die Medizin aufmerksam zu machen, sie mit den Fragen über das Verhältnis von Leib und Seele vertraut werden zu lassen und auf die persönliche Begegnung mit den Kranken vorzubereiten. Dadurch möchte ein gewisser Ausgleich zur rein naturwissenschaftlichen Zielsetzung des Medizinstudiums erreicht werden, was zu einer Zeit, in der die humanistische Vorbildung immer mehr in Frage gestellt wird, nicht schaden dürfte. Der Untertitel »Psychosomatische Krankheitslehre und Therapie« will auf die Bedeutung hinweisen, die ich dem Begriff »Medizinische Psychologie« beimesse. Diese ist nämlich nicht ein spezielles Fachgebiet der Medizin, sondern eine die gesamte ärztliche Tätigkeit umfassende Haltung. Jede ärztliche Begegnung mit dem Kranken ist nur möglich aufgrund eines vorgegebenen, vorwissenschaftlichen Mit-Daseins, das erst ein wirkliches Verstehen des Mitmenschen und seiner Krankheit sowie die entsprechende ärztliche Verhaltensweise gewährleistet. Medizinische Psychologie bedeutet letztlich Begegnung des Arztes mit dem Patienten, dem Leidenden. Die Möglichkeiten solcher Begegnung aufzuzeigen ist das Anliegen der vorgelegten Beiträge. Sie sollen die Grundzüge eines medizinpsychologischen Krankheitsverständnisses darlegen, Möglichkeiten und Grenzen der therapeutischen Anwendung der psychologischen Erkenntnisse in der Allgemeinmedizin aufzeigen und schließlich Einblick gewähren in die psychotherapeutische Spezialpraxis.

Eine Überweisung psychosomatisch Kranker an den Psychotherapeuten ist nur dann sinnvoll, wenn sowohl überweisender Arzt wie überwiesener Patient eine Vorstellung von dem haben, was dabei zu erwarten ist. Aus diesem Grunde richtet sich das Buch auch an die medizinischen Laien; auch sie werden immer mehr »psychosomatischer« Zusammenhänge einsichtig. Während der psychoneurotisch Kranke heute vielfach spontan den Psychotherapeuten aufsucht, wird der psychosomatisch Kranke vom Hausarzt überwiesen. Dies ist auch richtig, denn jeder Psychotherapie sollte eine gründliche ärztliche Untersuchung vorausgehen. Erweist sich dann jedoch die Überweisung an den Psychiater oder Psychologen als notwendig, ist der Arzt auf die Mitarbeit seines Patienten angewiesen. Eine solche kann aber nur erwartet werden, wenn die Kenntnis leibseelischer Zusammenhänge zum allgemeinen Volkswissen gehört. Um dem Laien und nichtärztlichen Psychologen gewisse Fachausdrücke verständlich werden zu lassen, ist ein kurzes Wortverzeichnis im Anhang angeführt. Gewiß hätten sich die Termini technici im Text in die Umgangssprache übersetzen lassen; sie werden jedoch in der ärztlichen Sprechstunde täglich gebraucht und sind bereits weitgehend von den Laien übernommen worden, ohne daß letztere deren Bedeutung genau anzugeben wüßten.

Jedes Kapitel dieser Schrift sollte eine in sich abgerundete Problematik zur Darstellung bringen. Trotzdem besteht ein innerer Zusammenhang zwischen den einzelnen Kapiteln und ein gewisser logischer Aufbau, auch wenn auf eine eigentliche, lehrbuchmäßige Systematik verzichtet wurde. Der erste Teil behandelt das Thema eher allgemein und von seiner grundsätzlichen Natur her: das medizinpsychologische Krankheitsverständnis. Im zweiten Teil wird die Therapie neurotischer beziehungsweise psychosomatischer Erkrankungen erörtert. Durch diesen Aufbau hoffe ich, einen tour d’horizon über das Gebiet der medizinischen Psychologie zu vermitteln. Einfache Fallbeispiele aus meiner psychotherapeutischen Praxis mögen die theoretischen Überlegungen ergänzend veranschaulichen. Die Wahrung des ärztlichen Geheimnisses bedingte dabei jeweils eine darstellerische Veränderung äußerer Daten und Lebenssituationen, so daß Außenstehenden die Erkennung der betreffenden Kranken unmöglich ist. Wo es mir nötig schien, holte ich die Erlaubnis des Patienten zur Veröffentlichung ein.

Die Arbeit wurde mit Hilfe des Schweizerischen Nationalfonds für wissenschaftliche Forschung möglich, dessen finanzielle Unterstützung ich hier bestens verdanke. Dank gebührt auch jenen Ärzten, deren Erfahrungen mit ihren Kranken in gemeinsamen Seminarien mir zunutze kamen.

 

Herrliberg, im Frühjahr 1968

GION CONDRAU

Einleitung

Die Medizin betrachtet sich als die Wissenschaft von der Behandlung und Heilung kranker Menschen. Als solche hat sie sich im Laufe der Jahrtausende machtvoll etabliert und jegliche unwissenschaftliche Konkurrenztätigkeit, von der abergläubischen Naturheilkunde bis zum religiösen Wunderglauben, in ihre Schranken gewiesen. Ihre Aufgabe ist es, vorsorgliche Maßnahmen für die Bewahrung der Gesundheit des Individuums und der Gruppe zu treffen (Präventivmedizin) und Erkrankte zu heilen (Kurativmedizin). Die wissenschaftliche Erkenntnis in der Medizin ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. ROTHSCHUH sagt in den »Prinzipien der Medizin«, die Einmaligkeit des Kranken lasse zwar die Anwendung von vielen wissenschaftlichen Methoden zur Feststellung ärztlich wichtiger Größen zu, aber die Einsicht bleibe bruchstückhaft. Somit sei die Medizin eigentlich keine Wissenschaft, aber es gebe eine wissenschaftliche Medizin, die Wissenschaft um der Erkennung und Heilung der Krankheit willen treibt.

In dieser, etwas überspitzten Formulierung kommt die Erkenntnis zum Ausdruck, daß »die Rolle des Wissenschaftlichen« in der Medizin oft überschätzt wird. Man sprach und spricht deshalb oft auch davon, daß Medizin eine Kunst sei, wobei nicht etwa an eine schöpferische Gestaltung als vielmehr an ein besonderes Geschick in der Erfassung und Behandlung von Kranken gedacht wird. Medicina est ars ad humani corporis sanitatem tuenda profligandosque morbes comparata – die Medizin ist eine Kunst, aufgebaut zur Bewahrung der menschlichen Gesundheit und zur Niederwerfung der Krankheiten – schrieb FERNEL1542.

Die Medizin wird auch als Handwerk bezeichnet, was für die Chirurgie einige Berechtigung haben mag (schon der griechische Ausdruck Cheirurgos heißt Handwerker) oder als Seelsorge, insbesondere die Psychotherapie. Weniger schmeichelhaft ist die Auffassung, Medizin sei ein Geschäft wie jedes andere, wie es auf der anderen Seite verfehlt ist, die ärztliche Heilbehandlung lediglich als charismatische Liebestätigkeit aufzufassen.

Eindeutig und sicher ist aber die Medizin eine Aufgabe; die ärztliche Heilkunde versteht sich von ihren Zielen her. Dieser Aufgabe haben sich alle wissenschaftlichen Erkenntnisse unterzuordnen. Ärztliches Denken und ärztliche Erfahrung bestimmen die Tätigkeit am Krankenbett, gestützt von den medizinischen Hilfswissenschaften (Krankheitslehre, allgemeine und spezielle Pathologie, Heilmittellehre, Hygiene, Anatomie, Physiologie und Soziologie), getragen von der Arzt-Patient-Beziehung, die immer im Mittelpunkt ärztlicher Handlung steht. ROTHSCHUH charakterisiert die Aufgabe der Medizin zweifellos am besten als »Förderung und Erhaltung der Gesundheit«, als Linderung von Schmerzen und krankheitsbedingten Beschwerden sowie als Wiederherstellung einer gestörten Gesundheit oder beeinträchtigten Leistungsfähigkeit. »Die ärztliche Aufgabe gegenüber dem hilfesuchenden Patienten gliedert sich in einen sachlichen und einen menschlichen Sektor. Die sachliche Versorgung besteht aus Erkennen und Beurteilen der Gegebenheiten und dem Ergreifen der erforderlichen Maßnahmen. Die menschliche Versorgung besteht im Erkennen der persönlichen Not der Kranken, des Stellenwertes der Krankheit im Dasein des Kranken und in der Lösung der menschlichen Aufgabe, die Angst des Kranken zu zerstreuen, ihm Mut zu machen, ihn zur Mitarbeit und zu richtiger Einsicht und Einstellung zu bringen«. Mit anderen Worten: die Aufgabe des Arztes kann niemals nur in unpersönlicher Verabreichung von Rezepten, Injektionen oder chirurgischen Eingriffen bestehen; vielmehr wird von ihm eine mitmenschliche Anteilnahme am Leiden seines Kranken verlangt.

Die Arbeit des Arztes läßt sich nach ROTHSCHUH mit Vorteil dreifach gliedern: er wirkt edukativ in der Belehrung über die bestmögliche Erhaltung der Gesundheit, präventiv in der tatkräftigen Vorsorge gegen die Entstehung und Ausbreitung von Krankheiten, und kurativ in der Heilbehandlung. Die kurative Tätigkeit besteht zunächst in der Erkennung und Benennung der Natur einer Krankheit (Diagnose) aufgrund der Krankheitsgeschichte (Anamnese), der Krankheitszeichen (Symptome) und des objektiven Untersuchungsbefundes (Status). Die anzuwendende Hilfe wird als Therapie bezeichnet und die Voraussage der voraussichtlichen Entwicklung als Prognose.

Ein kurzes Beispiel soll dies erläutern:

 

Frau G.P., 28jährig, verheiratet, 1 Kind

Symptome: Patientin leidet an unkontrollierbarem, unwillkürlichem Harnabgang, sowohl bei Bewegung wie beim Sitzen und Stehen. Dazu kommen starke Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Seit etwa 5 Jahren Migräneanfälle.

Anamnese:1967 wegen Fluor vaginalis und Pruritus vulvae in der Frauenklinik behandelt, 1964 Geburt eines Knaben. Kontinuierlicher Übergang des Fluor in Harninkontinenz.

Status und Diagnose: Urininkontinenz III. Grades. Uterus retroversus flexus partim fixatus. Kein wesentlicher Deszensus. Dyspareunie, Migräne. Pruritus vulvae.

Procedere: Urethrogramm, Cystoskopie und Cystotonometrie, psychosomatische Abklärung.

Therapie: noch offen.

Prognose: unbestimmt.

Zum vorliegenden Fall ist zu bemerken, daß wohl alle Symptome der Patientin psychosomatischer Natur sind und kaum durch eine medikamentöse oder chirurgische Therapie geheilt werden dürften. Trotzdem sind fast zehn Jahre vergangen, bis sie – von einem Klinikassistenten zugewiesen – von einem Psychotherapeuten interviewt werden konnte.

Die reichhaltige Symptomatik der Patientin spricht für sich.

Die psychosomatische Bedeutung von Fluor albus, Incontinentia urinae und Pruritus vulvae liegt vor allem darin, daß es sich um Symptomkomplexe handelt, die eine Mittelstellung zwischen hysterischen und organneurotischen Phänomenen halten. Einerseits spielen sich die krankhaften Vorgänge scheinbar fast ausschließlich im Bereich des Leiblichen ab, andererseits wird in ihrem gebärdehaften Charakter die mitmenschliche Bezogenheit deutlich ersichtlich.

In der pathologischen Hyperfunktion beim Fluor albus wird dieser Umweltbezug besonders klar. Weil der normgemäße Austrag des geschlechtlichen Weltbezuges gestört ist, wird die Funktion der Exkretion, der Ausscheidung von Säften aufgebläht, so daß es zur Fluorbildung kommt. Der Fluor ist der leibliche Austrag einer emotionellen Erregtheit, die keine normgemäße Abfuhr findet.

Die von einer »psychosomatischen« Harninkontinenz befallenen Frauen befinden sich in einer emotionalen Spannung, die im »Wasser lösen« ihren leibsprachlichen Ausdruck findet. Es sind häufig Menschen, die im Verhältnis zu ihrer Sensibilität und Erregbarkeit, zu ihren Neigungen zu motorischen Entladungen und zur Stärke ihrer vitalen Triebhaftigkeit zu vielen Reizen und Erregungen ausgesetzt sind oder sich zu strenge Versagungen und Hemmungen auferlegen.

Die an Pruritus vulvae erkrankte Frau weist eine besonders gereizte, sensible und unbefriedigte Grundstimmung auf, die nicht obligat, jedoch vornehmlich mit einer sexuellen Frustriertheit einhergeht. Allen drei Symptomen, dem Fluor, der Inkontinenz und dem Pruritus liegt die gleiche emotionelle Spannung zugrunde: eine Störung der mitmenschlichen Beziehung im triebhaft-vitalen Lebensbereich. Die Kranken leben im Widerstreit mit den Ansprüchen ihrer außerordentlich starken Vitalität und einer ebenso starken Abwehr, wobei die Hemmung von ihnen selbst ausgehen kann oder von außen aufgezwungen wird. In dieser »Ambivalenz« kommt es zu den genannten Frustrationserscheinungen.

Die Dyspareunie, die diffusen, nicht genau lokalisierbaren Schmerzen im Bereich des kleinen Beckens beim Coitus, deutet auf eine schwere Störung der sexuellen Erlebnisfähigkeit hin, die möglicherweise partnerschaftlich bedingt ist. In der Migräne schließlich leibt die Patientin ihren Versuch, alles sie Bedrängende kopfmäßig, das heißt, mit Intellekt und Willen zu bewältigen. Die vasomotorischen Vorgänge bei der Migräne veranschaulichen das den ganzen Menschen erfassende Verkrampfen, Andrängen und Stauen des abgewehrten emotionalen, erotischsinnlichen Lebensbereiches. Im Migräneanfall hat man das leiblich ausgetragene Sichsperren gegen das andrängende Leben schlechthin zu sehen, während die Lärmüberempfindlichkeit auf ein Nicht-hören-Wollen, die Lichtscheu auf ein Nicht-sehen-Wollen und das Erbrechen auf ein Nichts-aufnehmen-Können hindeuten (SCHWÖBEL). Die Patienten verschließen sich derart ihrer Umwelt, daß sie sich völlig isolieren.

Eine solche Isolation fand der psychosomatische Konsiliarius an der Frauenklinik auch bei der obgenannten Patientin vor. Zunächst schien es kaum möglich, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Sie trug eine mimische Maske, hielt sich steif und gab auf Fragen nur kontrollierte, knappe Antworten. Schließlich schmolz das Eis, als die Patientin merkte, daß sie nicht wegen Verdachts auf »Geisteskrankheit« oder »Einbildung« an den Psychiater gewiesen worden war. Es wurde ihr klar gemacht, daß vorgängig einer eventuellen Operation die näheren Lebensumstände abgeklärt werden müßten, daß möglicherweise psychische Konfliktsituationen, Ehe- und Kinderprobleme die Heilungsaussichten verringerten, falls sie nicht gelöst würden.

Eine erste Einstiegsmöglichkeit ins Gespräch bot uns die anamnestische Angabe, daß die Beschwerden der Patientin mit der Geburt ihres ersten (und einzigen) Kindes eingesetzt hatten. Und so erfuhren wir, daß sie gerade zur Zeit, als sie eine zwei Jahre dauernde, konfliktbeladene Verlobung auflösen wollte, schwanger wurde. Mehrere Versuche zu einem Schwangerschaftsabbruch mißlangen, so daß sich die Patientin zu einer »Mußheirat« entschloß. Seither lebt sie in unglücklicher Ehe mit einem Mann, der ihr weder intellektuell noch emotionell entspricht, mit einem Kind, das sie von Anfang an ablehnte. Kurz nach der Geburt litt es an einem Pylorospasmus und mußte deswegen hospitalisiert werden. Die Mutter nahm es aber auch später nicht mehr nach Hause, so daß es die Säuglingszeit im Kinderspital verbringen mußte. In der Schulzeit wurde der Knabe schwer neurotisch.

Soweit die unmittelbar ersichtliche Konfliktsituation der Patientin, die an sich schon weitgehend die Symptome verständlich werden lassen. Allerdings darf sich der Arzt auch damit nicht begnügen. Eine vollständige Abklärung des Krankheitsbildes erfordert auch eine eingehende biographische Anamnese. Da zeigte sich, daß die Patientin bereits als Kind selbst in einer konfliktbeladenen Atmosphäre aufwuchs. Der Vater, ein sozial schlecht gestellter Bahnbeamter, chronischer Alkoholiker, bedrohte mehr als einmal die Familie, so daß diese flüchten mußte. Die Mutter hingegen war eine sich hingebende, aufopfernde Frau, welche die Kinder an sich band und auf deren Mitleid angewiesen war.

Es liegt auf der Hand, daß dieser Patientin mit einem operativen Eingriff nicht zu helfen war. Eine Psychotherapie schien dringend erforderlich und wurde auch sofort eingeleitet. Die weitere Entwicklung ist noch offen. Möglicherweise bessert sich das Verhältnis zum Ehemann, möglicherweise entsteht eine echte Beziehung zum Kinde, möglicherweise führt die Therapie zur Ehescheidung. In allen drei Fällen kann der Patientin nur aufgrund eines medizinpsychologischen Verständnis ihres »Falles« sinnvoll geholfen werden.

Grundlagen und Notwendigkeit einer Medizinischen Psychologie

Die Forderung, ein psychologisches Krankheitsverständnis in die Medizin einzubeziehen, wird heute kaum mehr in Frage gestellt. Ihre praktische Verwirklichung liegt jedoch der theoretischen Einsicht gegenüber im Rückstand. Die Gründe hierfür sind vielfältiger Natur; nicht zuletzt muß auch die Tatsache verantwortlich gemacht werden, daß die Begriffsbestimmung dessen, was wir unter medizinischer Psychologie oder psychologischer Medizin zu verstehen haben, noch recht unklar und keineswegs allgemeingültig ist. Während die einen darunter lediglich die Lehre von den Geisteskrankheiten oder das Gebiet der klassischen Psychiatrie verstehen, meinen andere damit ausschließlich eine allgemeine Psychopathologie; ein großer Teil der Ärzte denkt hingegen an Neurosenlehre und Psychotherapie oder an die Anwendung psychotherapeutischer Prinzipien sowie psychodiagnostischer Hilfsmittel in der somatischen Medizin und setzt die medizinische Psychologie der Psychosomatik gleich.

Versucht man eine Differenzierung der Begriffe, so müßte man zunächst Aufgabe und Methode der verschiedenen Disziplinen einander gegenüberstellen. Die Psychiatrie – in ihrer klassischen Form – sieht ihre Aufgabe in der Erforschung und Behandlung der Geisteskrankheiten – letztere im weitesten Sinne und unter Einbezug der Psychopathien und Neurosen verstanden. Die Psychiatrie hat sich zu einem Spezialfach der Medizin entwickelt, sie ist zu einem der großen Pflichtfächer des Medizinstudiums geworden. Methodisch ist sie heute noch weitgehend naturwissenschaftlich orientiert. Sie sucht nach Gesetzmäßigkeiten, ordnet die Krankheiten einheitlich und systematisch, untersucht Verläufe und Beeinflussungsmöglichkeiten. Das Krankheitsbild wird erforscht und behandelt, die individuelle Wesensart des Kranken wird diesem untergeordnet.

Ähnlich verhält es sich mit der Psychopathologie. In Analogie zur pathologischen Anatomie und Pathophysiologie wird auch im Bereiche der seelischen Störungen Grundlagenforschung betrieben. Auch sie war bisher großenteils naturwissenschaftlich orientiert. Eng verbunden mit der Gehirnpathologie, war ihr Forschungsziel die Aufdeckung organischer Gehirnprozesse als Grundlage der Geistesstörungen. In einzelnen Fällen ist ihr das gelungen – denken wir an die progressive Paralyse, die arteriosklerotische Demenz, die psychischen Veränderungen nach Gehirntumoren oder Schädelverletzungen. Immer häufiger jedoch wurden Stimmen laut, die das Ungenügen einer derartigen Grundlagenforschung erkannten und nach einer verstehenden, phänomenologisch orientierten Psychopathologie riefen. Bei V. GEBSATTEL wurde die Psychopathologie zu einer medizinischen Anthropologie, BINSWANGERS »psychiatrische Daseinsanalyse« eröffnete einen neuen Verstehenshorizont für die Psychosen, JASPERS führte die »phänomenologische Psychopathologie« ein.

Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich in der Neurosenlehre und in der Psychotherapie, in jüngster Zeit auch in der psychosomatischen Medizin ab. Die Neurosenlehre, ursprünglich ausschließlich eine Grundlagenforschung und Systematisierung lebensgeschichtlich zu verstehender, weder organisch noch hereditär bedingter psychischer Krankheiten, wurde durch Einbezug des »Unbewußten« zu einer Tiefenpsychologie. Die Psychotherapie wurde zur Therapie der Wahl solcher Störungen. Beide schienen zwar nicht mehr ausschließlich in den Aufgabenbereich der Psychiatrie zu gehören, doch blieben sie zunächst eine medizinische »Spezialität«. Erst durch den Einbezug »organischer« Krankheiten in das medizinpsychologische Verständnis wurde die Basis breiter. Schließlich fehlte nur noch die Psychologie des Arztes beziehungsweise des ärztlichen Berufes zum vollständigen Bild der Medizinischen Psychologie. Die Erfahrungen, die in der psychotherapeutischen Betreuung neurotisch Kranker gesammelt wurden, erwiesen mit aller wünschenswerten Deutleichkeit, daß der Arzt selbst eine wesentliche Rolle im Heilungsprozeß spielt. Dies gilt auch für die somatische Medizin, was BALINT veranlaßte, von der »Droge Arzt« zu sprechen. SEGUIN weist in einer ausgezeichneten Schrift über den psychotherapeutischen Eros darauf hin, daß das gefühlsmäßige Erleben des Arztes selbst während einer Behandlung bisher in den Darstellungen arg vernachlässigt wurde. Diese Vernachlässigung gründe in der falschen Annahme, der Arzt müsse und könne »objektiv« sein und solle sich von aller persönlichen, gefühlsmäßigen Anteilnahme an dem psychotherapeutischen Prozeß freihalten. Die grundsätzliche Unmöglichkeit einer derartigen ärztlichen Objektivität ist jedoch offensichtlich. In Wirklichkeit gibt es überhaupt keine einzige mitmenschliche Beziehung ohne eine gegenseitige gefühlsmäßige Anteilnahme. »Wenn es nämlich für einen Arzt möglich wäre, sich im Heilungsprozeß aus allem tieferen Engagement herauszuhalten, eine rein ›berufliche‹, eine ›objektive‹, eine distanzierte, nicht involvierte Einstellung durchzuhalten, so dürfte man dies gar nicht mehr eine mitmenschliche Beziehung im eigentlichen Sinne dieses Wortes nennen. Vielmehr hätten wir dann … lediglich noch ein Individuum vor uns, das die Menschlichkeit seines Patienten vernichtet, ihn in ein ›Objekt‹, in ein Ding verwandelt und ihn als ein solches zu manipulieren sucht«.

Warum gerade Medizin?

Ist jedoch der Arzt in einer besonderen Weise am Krankheits- und Heilungsgeschehen seiner Patienten mitbeteiligt, so stellt sich naturgemäß sofort die Frage, was ihn primär zu einem solchen Beruf motiviert hat, beziehungsweise welche Voraussetzungen in bezug auf Persönlichkeit und Charakter vorgegeben sein müssen, damit er dieser Aufgabe, die den intellektuellen Lernprozeß übersteigt, gewachsen ist.

Unter den intellektuellen und charakterlichen Voraussetzungen für den Beruf des Arztes werden zumeist Begabung für naturwissenschaftliches Denken und Freude an der Biologie genannt. Der Arzt soll nüchtern, abstrakt und systematisch denken können, über eine gute Beobachtungsgabe und ein vorzügliches Gedächtnis verfügen. Dazu gehört ferner die praktische Begabung, namentlich ein gewisses manuelles Geschick. Ebenso wichtig ist die Mitmenschlichkeit: Güte, Toleranz, affektive Ansprechbarkeit. Eigenbrötlerei paßt nicht zum Bild des guten Arztes; dem reinen Mathematiker oder Physiker fehlt die Menschlichkeit, die vom Arzt in überdurchschnittlichem Maß gefordert wird. Steuerungsfähige Stimmung, Kompromißbereitschaft, Achtung vor dem Mitmenschen gehören zum ärztlichen Beruf; Süchtigkeit, Hemmungslosigkeit und Aggressivität, aber auch zu große Hemmungen und moralische Intransingenz passen nicht dazu. Kastengeist und Ekelschranke sind in der ärztlichen Tätigkeit aufgehoben. Der theoretische Mensch, um einige von SPRANGER beschriebene Persönlichkeitstypen zu erwähnen, dem das Richtige, das Prinzip, das Wahre, das System zum Grundsatz seines Handelns wird, eignet sich besonders für die Forschung. Er wird in der Regel – wenn überhaupt praktisch tätig – eine spezialärztliche Ausbildung vorziehen, die ihm ein gründliches Fachwissen vermittelt. Der ökonomische Mensch, dem Erfolg und Nutzen wichtig sind, wird sich sein Fachgebiet nach mehr wirtschaftlichen Aussichten wählen, der soziale Mensch hingegen sich der Allgemeinpraxis widmen, wenn er nicht als Werkarzt oder in Heimen und Fürsorgeinstitutionen tätig ist. Er ist der Mensch, der „nicht nein sagen kann“, der Tag und Nacht für seine Patienten da ist, sich und seiner Familie kaum Urlaubstage oder Ferien gönnt. Schließlich gibt es den ästhetischen Menschen, dem Kunst und Bildung, aber auch Freundschaft, Liebe, Lebensgenuß über alles gehen. Man trifft diese Persönlichkeitsstruktur häufig, wenn auch natürlich nicht ausschließlich, bei Kinderärzten und Frauenärzten an. Der Machtmensch hingegen wird sich eine ärztliche Spezialität aussuchen, die möglichst viel Erfolg und Ruhm verspricht. Medizin ist ihm ein Ehrenberuf, sie verschafft ihm hohe soziale Stellung und Autorität. Der religiöse Mensch dagegen wird seinen Beruf als Sendung Gottes auffassen, was ihn beispielsweise zum Missionsarzt prädestiniert. Alle diese charakterlichen Eigenschaften bedingen wiederum ein je anderes Verhältnis des Arztes zu seinem Kranken.

ROGERS hat sich eingehend mit den Voraussetzungen auseinandergesetzt, die ein Psychotherapeut zu erfüllen hat, um seinem »Klienten« helfen zu können. Seine Ratschläge gelten auch für den psychosomatisch interessierten und engagierten Mediziner und Psychologen. Als Kernpunkt des therapeutischen Verhaltens wird eine Haltung des Therapeuten angesehen, die sich strikte jeder Wertung enthält und den Patienten in keiner Weise zu beeinflussen wünscht. Der Respekt vor der Individualität des Kranken hat den ersten Rang einzunehmen. Achten wir seine Befähigung und sein Recht zur Selbstlenkung, oder glauben wir im Grunde, daß sein Leben am besten von uns geleitet würde? Bis zu welchem Grad haben wir das Bedürfnis und den Wunsch, andere zu beherrschen? Die Beantwortung dieser Fragen in einem für den Patienten richtigen Sinn darf nicht dahin mißverstanden werden, daß sich der Therapeut lediglich passiv verhält. Auch im Gewähren-Lassen und gleichzeitigem In-Frage-Stellen liegt Aktivität. Passivität und Fehlen von Interesse und Beteiligtsein sowie Indifferenz werden als Ablehnung erlebt. Aufmerksames Zuhören und Empathie dagegen vermitteln das Gefühl von Angenommensein und Wertschätzung. Aus diesem Grunde sollte der Therapeut jedes schulmeisterliche und belehrende Verhalten dem Patienten gegenüber vermeiden.

Auf einer Medizinstudententagung in Zürich wurde 1970 die Frage nach der Motivation zum Medizinstudium sehr lebhaft diskutiert. Von medizinpsychologischer Seite wurde vor allem darauf hingewiesen, daß sie sehr unterschiedlich gelagert sein kann. Vorstellungen und Wünsche aus eigenen Erlebnisbereichen können dabei ebenso ausschlaggebend sein wie persönliche Neigungen, die möglicherweise mit einer bestimmten Seite des Berufes in Zusammenhang stehen; aber auch äußere Faktoren (Sozialstatus, Wirtschaftlichkeit), Familientraditionen (gesellschaftliche Vorurteile) wie auch der bloße Zufall spielen eine Rolle. Neurotische Motivationen dürfen nicht übersehen werden: Angst, Schuldgefühle, Identifikationszwänge mit Kranken und Leidenden, der Wunsch nach Selbstheilung (besonders motivierend für das Psychologie- und Psychiatriestudium). Im Laufe der Ausbildung kann auch ein Wandel der Motivation eintreten, wobei es gelegentlich zum Berufswechsel kommt.

Berufswahlmotivationen sind für die meisten Berufe tiefenpsychologisch eruiert worden. Hier sei u.a. an die Arbeiten aus der Schule von SZONDI erinnert, wonach die Sozialisierung der kranken Ahnenansprüche und Ich-Störungen im Beruf durch die Erreichung der Entwicklungsstufe des homo elector und homo humanus beziehungsweise des homo liberator et humanisator erreicht wird. Diese Sozialisierung und Humanisierung nach dem Prinzip des Operotropismus soll auch für die Umgebung optimal sein. Die Berufswahl wäre somit eine Antwort auf bestimmte pathologische Vorbedingungen in der Ahnenstruktur des Einzelnen und als Konversion zu verstehen. SZONDI bringt dafür eine ganze Reihe von Beispielen aus allen Berufsgattungen.

Man mag sich zu den eben genannten Deutungsversuchen stellen wie man will; auch die Psychoanalyse erbringt Erklärungsversuche zur Berufswahl als Sublimationsprozeß verdrängter Triebregungen. Möglicherweise spielen heute andere Faktoren eine Hauptrolle bei der Beurteilung medizinischer und psychologischer Berufe. Zweifellos steht das Anliegen des Helfens und Heilens, der unmittelbare Bezug zum Mitmenschen im Vordergrund. Die Freiheit der Berufswahl ist eine der bedeutsamsten Folgen einer fortschrittlichen Entwicklung unserer Zeit, aber gleichzeitig auch Ursache zahlreicher Risiken, deren sich der junge Mensch unserer Zeit »zu Beginn und Verlauf seines Lebens- und Berufsschicksals im Gegensatz zu unseren Altvorderen ausgesetzt sieht« (SCHARMANN). Emanzipation der Arbeit und Freiheit der Berufswahl implizieren nämlich gleichzeitig die grundsätzliche Freisetzung und Isolierung des Individuums, der viele nicht mehr gewachsen sind. Die Welt ist nicht mehr ein geschlossenes System, sondern offen geworden.

Für das Medizinstudium entscheiden sich Jugendliche häufig aus zwei Grundtendenzen heraus. Einmal jene, die sich besonders für das technisch-naturwissenschaftliche Rüstzeug der Medizin interessieren, die sich entweder schon frühzeitig der Forschung verschreiben oder sich besonders auf ihre handwerklichen Fähigkeiten verlassen. Andererseits jene, denen die gesamtmenschliche Situation mit all ihren Kontakt- und Beziehungsproblemen nahegeht, die vordergründig am Menschen als Mitmenschen interessiert sind. Aus ihnen werden sich später eher die medizinpsychologisch interessierten Allgemeinpraktiker, die Psychosomatiker und Psychotherapeuten, die Sozialmediziner rekrutieren.

Der junge Mensch ist zumeist für verschiedene Tätigkeiten »berufen« und geeignet. Umwelteinflüsse und Zeitbedingungen geben häufig den Ausschlag. Ob allerdings zwischen Neigung und Beruf eine innere Beziehung bestehen soll, ist umstritten. Jedenfalls ist die Annahme nicht gesichert, wonach volle geistige Entfaltung und Befriedigung nur in einem Beruf erwartet werden kann, welcher einer psychischen Affinität entspricht. Menschen haben in ihrem Beruf Hochwertiges geleistet, die ihn entgegen ihrer Neigung ergreifen mußten, einer »Pseudoneigung« folgten, ihn ambivalent und unentschlossen ergriffen, ihn von außen aufgezwungen bekamen und als selbstverständliches Schicksal hinnahmen. Auch Ärzte konnten so eine persönliche Wertverwirklichung erfahren, wie sie angeblich nur der Wahl- und Neigungsberuf ermöglicht (SCHARMANN).

Wie weit dies auch für Psychiater, Psychotherapeuten und Psychologen gilt, läßt sich wohl schwer überprüfen. Generell darf wohl gesagt werden, daß medizinpsychologisches Verständnis eine innere Offenheit und Bereitschaft für den Mitmenschen voraussetzt, die einer eigenen Neigung entsprechen muß. Ohne diese Voraussetzung dürfte selbst die Technik des einfachen ärztlichen Gesprächs kaum erlernbar sein.

Medizinische Psychologie umfaßt somit sowohl das psychologische Verständnis menschlichen Krankseins als auch die Persönlichkeit des Arztes und die therapeutische Beziehung zwischen Arzt und Patient. Wenn wir feststellten, sie sei als Wissenschaft nicht überall anerkannt, so hat das verschiedene Gründe. Die Schwierigkeiten, denen das medizinpsychologische Denken in der Praxis der ärztlichen Heilkunde begegnet, dürften jedoch ihren Hauptgrund darin haben, daß der psychologische Zugang zum Kranken und das damit verbundene Krankheitsverständnis auf anderen Voraussetzungen beruht als die naturwissenschaftlich orientierte Medizin.

Warum gerade Psychologie?

Mit neurotischen und psychosomatischen Störungen befassen sich nicht nur die Ärzte. Von der Sache her, aber auch aus persönlichen Motiven wenden sich immer häufiger Studenten dem Psychologiestudium zu mit dem erklärten Ziel, später einmal psychotherapeutisch tätig zu sein. Man mag sich zu dieser Entwicklung einstellen wie man will: sie ist nicht aufzuhalten. Viele Ärzte betrachten die Psychologen als Psychotherapeuten zweiter Klasse. Und auch die Patienten selbst bekunden nicht selten Mißtrauen, wenn sie einem nichtärztlichen Psychotherapeuten überwiesen werden, oft zu Unrecht. Denn die Psychologen arbeiten methodisch wie die Ärzte, insofern sie eine nachuniversitäre beziehungsweise spezielle psychotherapeutische Ausbildung genossen haben. Voraussetzung dafür scheint mir allerdings eine eigene Lehranalyse zu sein.

Was die Motivation zum Psychologiestudium betrifft, so dürfte kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß damit häufig die eingestandene oder nichteingestandene Erwartung verknüpft ist, mit eigenen Schwierigkeiten und Krisen fertig zu werden. Untersuchungen in Deutschland haben aber ergeben, daß diese Motivation nicht ausreicht, um das Studium durchzuhalten, denn das Psychologiestudium löst keine eigenen Probleme. Andererseits ist zu sagen, daß jugendliche Unreife und gestörtes seelisches Gleichgewicht auch in anderen Studienfächern anzutreffen sind. Es wäre zu einfach, die Psychologiestudenten generell als labiler zu bezeichnen als andere Studenten. Zumindest müßte eine diesbezügliche Untersuchung auch andere Studienfächer miteinbeziehen. Sicher aber ist – und das erachte ich, im Gegensatz zur eben geäußerten Meinung, gerade als ein Reifezeugnis für unsere Jugend –, daß das Interesse am Menschen beziehungsweise an der menschlichen »Psyche« und an gesellschaftlich relevanten Phänomenen bei der Jugend zugenommen hat und im Vordergrund steht. So ist es nicht mehr verwunderlich, daß jene Fächer, die mit der »Psyche«, mit der Erziehung und mit der Gesellschaftsstruktur engstens verbunden sind, nämlich die Psychologie, die Pädagogik und Soziologie stark frequentiert werden.

Eine interessante Studie des Psychologischen Institutes Düsseldorf hat ergeben, daß ein Großteil der Studienanfänger in Psychologie mit der Vorstellung an die Universität kommen, sich damit zum Psychotherapeuten ausbilden zu können. Mit anderen Worten, sie sehen den Beruf des Psychologen analog zu jenem des Mediziners in der Betreuung Kranker. Diese Studenten müssen sich während des Studiums entweder umstellen oder nach einer anderen, außeruniversitären Ausbildung Umschau halten. Auf jeden Fall schien bei den gefragten Studenten Einigkeit darüber zu bestehen, daß ihre Studienwahl nicht zufällig erfolgte.

Prädestiniert für eine psychotherapeutische Tätigkeit wären an und für sich die klinischen Psychologen. Unter Klinischer Psychologie versteht man eine Wissenschaft, die in engem Zusammenhang mit der Medizin, insbesondere der Psychiatrie, der Psychotherapie und Psychosomatik stehen. Während es im Ausland, beispielsweise in Amerika, seit vielen Jahren üblich ist, daß an den Kliniken auch Psychologen tätig sind, steckt die Klinische Psychologie bei uns noch in den Kinderschuhen. Wohl aus diesem Grunde, das heißt, weil entsprechende Stellenangebote fehlen, wenden sich so wenige Absolventen diesem Gebiet zu. Dabei wäre es eine dringliche öffentliche Aufgabe, vermehrt Stellen für klinische Psychologen zu schaffen.

Klinische Psychologie darf jedoch nicht lediglich als eine medizinische oder paramedizinische Hilfswissenschaft verstanden werden. Ihr kommt nämlich in Diagnostik und Forschung im Bereich der Psychiatrie und der psychosomatischen Medizin eine hervorragende Rolle zu. Darüber hinaus ist der klinische Psychologe aber auch – bei entsprechender Weiterbildung – durchaus in der Lage, Psychotherapie zu treiben, auch wenn sie bis heute das Vorrecht der Mediziner zu sein scheint. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang, daß die Ausbildung psychotherapeutisch tätiger Psychologen zwei Ebenen umfaßt: die universitäre und die außer- oder nachuniversitäre. Weder das Medizinstudium noch das heutige Psychologiestudium bilden eine ideale Grundlage für den Beruf des Psychotherapeuten. Der Psychotherapeut bedarf vielmehr einer interdisziplinären Ausbildung, die medizinische Kenntnisse umfaßt, aber auch Soziologie, Pädagogik, Psychologie, Philosophie bzw. philosophische Anthropologie einschließt. Es stellt sich hier die Frage nach einem interfakultären oder interdisziplinären Studiengang.

In Deutschland und in der Schweiz sind Bestrebungen im Gange, Ausbildungsrichtlinien für einen »Fachpsychologen für Klinische Psychologie« zu erarbeiten. Dieser Titel sollte etwa jenem eines Facharztes vergleichbar sein. Den Fachpsychologen für Klinische Psychiatrie käme eine ganz wesentliche Bedeutung für die Psychotherapie zu. Allerdings setzt dies voraus, daß die noch allzu häufige Animosität zwischen Ärzten und Psychologen abgebaut würde. Konkurrenzdenken zwischen Medizin und Psychologie darf es im Bereich der Medizinischen Psychologie nicht geben.

Abbildung 1:

Drei Wege ärztlicher Begegnung mit dem Kranken

Der ärztlichen Begegnung mit dem Kranken stehen drei Wege offen, die wir versuchsweise in Form einer Pyramide im Schema »Aufbau der Medizin« dargestellt haben. Die Medizin als angewandte Naturwissenschaft bemüht sich um die wissenschaftliche Klärung der Ursachen und der Entstehungsbedingungen einer Krankheit sowie um die Wiederherstellung der Gesundheit. Sie kümmert sich demnach um die menschliche Existenz in ihrer defizienten Form, denn Krankheit bedeutet immer eine Einschränkung des normgemäßen Austrags gesunden Daseins. Zu einer Zeit, da menschliches Leben in seinem vollen Bedeutungsgehalt unversehrt als ein ganzheitliches Existieren erfaßt wurde, Leib und Seele eine Einheit bildeten, und diese wiederum von der Natur, von den »äußeren« Gegebenheiten dieser Welt nicht trennbar schien, war die Heilung Kranker dem Priester, Zauberer, Magier überlassen. Heilung und Heil waren gleichbedeutend. Man spricht deshalb von Priestermedizin, wobei ihr wohl zu Recht der Beigeschmack unwissenschaftlicher Spekulation und Naivität anhaftet. Zweifellos war jedoch den Priesterärzten mancher Zugang zum menschlichen Kranksein offen, der später verschüttet wurde und heute erst mühsam wieder aufgedeckt werden muß.

Zunächst allerdings forderte die tätige Bewältigung der Welt vom Menschen und damit auch vom Arzte eine begriffliche und arbeitshypothetische Trennung magischer, irrationaler, seelischer und realer, äußerer, dinglicher Gegebenheiten. Diese Spaltung zeigte sich bereits im hippokratischen Altertum und wurde schließlich mit DESCARTES endgültig vollzogen. Nur infolge dieser Trennung und einer Beschränkung der medizinischen Forschung auf jenen Bereich der Natur, welcher meß- und wägbar ist, konnten sich die offenkundigen Erfolge der ärztlichen Heilkunde nach jahrtausendlanger Stagnation einstellen. Die Kindersterblichkeit wurde eingedämmt, die Alterssterblichkeit hinausgezögert, die großen Seuchen und Infektionskrankheiten büßten ihre verheerende Wirkung ein. Chemotherapie und chirurgische Eingriffe wurden bis zur Vollkommenheit entwickelt. Die Erhaltung des menschlichen Lebens wurde, abgesehen von einigen der Forschung noch hartnäckig Widerstand leistenden Krankheitsbildern und zufolge menschlichen Versagens, dank der modernen Medizin praktisch gesichert. JASPERS würdigte die Entwicklung der Medizin mit den Worten: »Über das Wunder der modernen Medizin bedarf es kaum eines Wortes. Wer seit der Jahrhundertwende dabei war, weiß sich als Zeitgenosse eines Vorgangs, der ohne Vergleich in der Geschichte der Medizin ist. Dieser Fortschritt ärztlichen Könnens, langsam begonnen seit dem 17. Jahrhundert, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts schneller, hat seit 50 Jahren einen atemberaubenden Gang genommen.«

So großartig einerseits die Erfolge der positivistisch-technischen Medizin sind, verleiten sie andererseits zur Annahme, die naturwissenschaftliche Grundlage sei allein für die ärztliche Heilkunde maßgebend. Zwar entdeckte man, daß der Mensch nicht nur am Leibe, sondern auch an der Seele erkrankt, ja daß sogar organische Störungen zu psychischen Veränderungen oder seelische Unstimmigkeiten zu somatischen Beschwerden führen können. Einschneidend für das medizinische Denken waren vor allem die Entdeckungen FREUDS und seiner Schule um die Jahrhundertwende, wonach nicht nur materielle Ursachen und Bedingungen krankmachend sein können, sondern auch innerpsychische Erlebnisse und deren fehlerhafte Verarbeitung. Damit wurde eine Wende vollzogen, die an sich die Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis hätte sprengen müssen. Doch die damaligen »Entdecker der Seele« waren von ihren Funden dermaßen überrascht, daß sie unverzüglich versuchten, diese in das ihnen bekannte und als gesichert geltende naturwissenschaftliche Weltbild einzuordnen.

Die Grundlagenwissenschaften der traditionellen Medizin sind die Naturwissenschaften, die sogenannt »exakten« Wissenschaften und die Biologie. Ihre Methoden bestehen im Versuch, von der Erfahrung beziehungsweise vom Experiment her zu allgemein gültigen Aussagen vorzudringen. Anhand der so gewonnenen Erkenntnisse werden Gesetze aufgestellt, die widerspruchsfrei sein müssen. Danach sind auch alle Vorgänge, mit denen es die Medizin zu tun hat, bestimmten und immer gleichbleibenden Gesetzen unterstellt. Die Krankheit als Naturvorgang ist vom Einzelschicksal zunächst unabhängig und ermöglicht ein von der Individualität des Kranken und des Arztes unbeeinflußtes, generell anwendbares und zielbewußtes therapeutisches Handeln.

Neben der statistischen Erfaßbarkeit spielt in der medizinisch-naturwissenschaftlichen Forschung der Begriff der Kausalität eine wesentliche Rolle. Die »Natur« setzt sich aus einer Vielzahl vorhandener Gegenstände in einem homogenen Raum zusammen, die gesetzmäßig aufeinander einzuwirken vermögen, die mit- und untereinander vorausberechenbare, kausale Beziehungen aufweisen. Alles, was ist, kann nur als gesetzmäßig wirkendes Bewirktes vorgestellt werden. Dies hatte in der Medizin zur Folge, daß die Krankheitserscheinungen selbst bedeutungsmäßig hinter Ätiologie und Pathogenese zurücktreten mußten. Man fragte nicht lediglich nach den Gemeinsamkeiten des Krankheitsbildes, sondern auch nach den möglichen »Ursachen« und der »Entstehung« derselben. Der naturwissenschaftlich ausgebildete Arzt stellt aus den subjektiven Angaben des Kranken, der Anamnese und dem objektiven Befund die Diagnose. Diese wiederum, zusammen mit der Erforschung der Ätiologie und Pathogenese, bestimmt die anzuwendende Therapie.

Dieses an sich einfache und logische Schema mag für den Großteil der Krankheitserscheinungen durchaus genügen. Insbesondere garantiert es eine zuverlässige praktische Medizin. Die Bekämpfung der Infektionskrankheiten konnte nur durch das chemische Experiment, die Behandlung gewisser maligner Geschwülste und anderer chronischer Krankheiten nur durch die Anwendung physikalischer Erkenntnisse, die operative Heilung nur durch die Vervollkommnung der Technik gelingen. Zahlenmäßig hält sich der Großteil unserer Ärzte zweifellos fast ausschließlich in diesem naturwissenschaftlichen Bereich auf. Die zur Verfügung stehenden pathologisch-anatomischen und patho-physiologischen Forschungen sowie die technischen Hilfsmittel (Labor, Röntgen, EKG, EEG usw.) vermitteln dem Arzte jene Sicherheit, die für die Ausübung seines verantwortungsvollen Berufes unabdingbare Voraussetzung ist.

Das Leitwort für den naturwissenschaftlichen Bereich der Medizin ist: die Krankheit. Der Arzt am Krankenbette oder in der täglichen Sprechstunde begegnet jedoch nicht lediglich Krankheiten, sondern kranken Menschen. Im Mittelpunkt der ärztlichen Begegnung mit der Krankheit steht: der Kranke. In der lapidaren Feststellung: »ohne Kranke keine Krankheit« liegt die Forderung nach einer ärztlichen Haltung, welche die naturwissenschaftlichen Grenzen sprengt. In diesem Bereiche gelten die Spielregeln mitmenschlicher Beziehungen. Es geht um eine Begegnung von Mensch zu Mensch. Die Arzt-Patient-Beziehung wird für die Therapie wichtig. Standesethik, psychologisches Verständnis und Einfühlungsvermögen, »kleine« oder »einfache«, nicht-analytisch orientierte »Psychotherapie des Hausarztes«, ärztliche Deontologie bilden die Grundlagen solchen Zuganges zum Kranken. Die große Bedeutung dieser Faktoren für die ärztliche Praxis ist wohl den meisten Ärzten unmittelbar bewußt. Leider werden sie allzuhäufig als selbstverständlich vorausgesetzt und erhalten dadurch in der Ausbildung der angehenden Ärzte nicht jene Beachtung, die sie verdienten. Vorlesungen über medizinische Ethik und Deontologie gehören selbst dort, wo sie überhaupt gehalten werden, noch zu den Freifächern. Das psychologische oder psychotherapeutische Gespräch wird praktisch kaum an einer Hochschule gelehrt, geschweige denn geübt.

Zunächst verlangt die Präsenz am Krankenbett nicht nur medizinische Sachlichkeit und medizinisches Können, sondern auch psychologisches Geschick und Einfühlungsvermögen. Der Patient fühlt sich unsicher und ängstlich – beides Stimmungen, die den Krankheitsverlauf ungünstig beeinflussen. Er erwartet von seinem Arzt die autoritäre, wenn oft auch unausgesprochene Zusicherung, daß er »in rechten Händen« ist. Vor allem erwartet er, als Person und Leidender akzeptiert zu werden, der ein Anrecht auf die Geduld und Zeit des Arztes hat.

Die Deontologie – das Pflichtenheft des Arztes – sichert diesem Rechte zu und bürdet ihm Pflichten auf. Zu den Rechten gehört das Recht auf Ausübung des Berufs, das Recht auf angemessene Honorierung, das Recht auf Schutz seiner eigenen Persönlichkeit, wozu auch Intimsphäre und Familie gehören, und in Anbetracht seiner hohen Verantwortungsfunktion auch das Recht auf einen gehobenen Sozialstatus. Seine Pflichten umfassen das Prinzip der Gleichzeit in der Behandlung von arm und reich, die Pflicht zur Hilfeleistung, die Bewahrungspflicht (Verbot des Tötens, primum nil nocere), die Schweigepflicht (auch über den Tod des Patienten hinaus bestehend) und die Offenbarungspflicht (bei ansteckenden Krankheiten oder außergewöhnlichen Todesfällen). Da der Arzt in unserer Gesellschaft – durch seinen Dienst am Leben – eine mehrfache Ausnahmestellung innehat, ist auch eine besondere ärztliche Ethik notwendig geworden. Sie soll aber nicht nur standespolitischen Anliegen dienen (Verbot der Reklame, Verweigerung von Dienstleistungen, um mehr Lohn zu erzielen. Zusammenschluß im Kampf gegen Staat und Versicherungsträger), sondern findet ihren Sinn in der Festlegung der persönlichen Verantwortung des Arztes während seiner Tätigkeit:

da ihm besonders wichtiges Gut, das Leben seines Mitmenschen, anvertraut ist

infolge seiner Rolle als Mitwisser und Vertrauter persönlichster Dinge

wegen der Unkontrollierbarkeit seines Tuns

und weil er häufig schwerwiegende Entscheidungen zu treffen hat.

Das ärztliche Gewissen ist oft vor der Entscheidung zwischen mehreren sachlich möglichen Wegen ohne Normen und Gesetze überfordert. Der Arzt braucht demnach Normen für die Berechtigung seines Handelns, nicht nur für die technische Richtigkeit seines Tuns (verstümmelte Operationen, Schwangerschaftsunterbrechungen, Organtransplantationen).

Am zweiten Internationalen Kongreß für ärztliche Ethik im Mai 1966 in Paris sprach KORNPROBST von der gefährlichen Schwelle, jenseits derer eine erwünschte Behandlung zur strafbaren Körperverletzung wird. Diese Schwelle wird aber nicht nach Normen, sondern von Fall zu Fall in Würdigung aller Umstände bestimmt. Die moderne Welt, so sagte er, lebt je länger je weniger im Zeichen des Vertrauens, läßt jedoch gleichzeitig etwas wie Heimweh nach der verlorenen Geborgenheit erkennen und verlangt daher von jedermann strenge Rechenschaft über die unscheinbarsten Handlungen. Es wird dem Arzt nicht mehr zugestanden, in guten Treuen zu irren. Der wissenschaftliche Fortschritt, die täglich weiterschreitende Verfeinerung und Vervollkommnung der Technik lassen alle Vorgänge als determiniert und determinierbar erscheinen, so daß die Versuchung unwiderstehlich wird, das Leben in mathematischen Gleichungen aufzulösen – im Bereiche der Medizin ein trügerisches Scheinbild.

Zumindest in einem Bereich versagt jedoch diese »Verantwortlichkeit« des Arztes – in jenem der Neurosen und psychosomatischen Krankheiten. Es ist mir kein Fall bekannt, da ein Arzt zur Rechenschaft gezogen worden wäre, weil er einen neurotischen oder psychosomatisch kranken Patienten zu spät einer fachärztlichen (psycho-therapeutischen) Behandlung zugeführt hätte. Selbst das Übersehen einer Selbstmordgefahr, das Überhören einer Selbstmorddrohung wird kaum geahndet. Wieviele Selbstmorde und Selbstmordversuche unterbleiben würden, wenn rechtzeitig ein ärztliches Gespräch stattfände, wird wohl immer unbekannt bleiben. Daß die Nichtüberweisung eines Patienten an einen Psychotherapeuten als krasser Kunstfehler zu werten ist, wird in keiner Standesethik festgehalten. Es wäre zu fordern, daß dem Arzt die gleichen Verantwortungen in bezug auf Diagnose und Therapie im Bereiche der psychosomatischen und neurotischen Krankheiten auferlegt würden wie im Bereich der technischen Maßnahmen. Wehe dem Psychotherapeuten, der einen Hirntumor oder die Anzeichen eines Myokardinfarktes übersieht (wobei die meisten Fehldiagnosen wohl nicht von Psychiatern und Psychologen, sondern eher von Fachleuten gestellt werden). Dem Arzt, der eine neurotische Fehlentwicklung, ja sogar eine Depression übersieht, geschieht dagegen nichts!

Eine interessante Feststellung, in welcher ein gewisser Vorwurf an die Ärzteschaft unüberhörbar ist, finden wir bei DE BOOR und KÜNZLER in der Mitteilung, daß Angehörige sogenannt unterer Sozialklassen, also Arbeiter, schneller einer fachärztlichen Instanz überwiesen werden als sozial höher Gestellte. Diese Tatsache weist auf Fragen der Kommunikation, das heißt der Arzt-Patient-Beziehung hin, die auch in der somatischen Medizin eine Rolle spielen. »Der Arzt behält und behandelt länger Patienten, die seiner Sozialschicht angehören oder nahestehen, da er sich mit ihnen besser verständigen kann.« Offenbar ist er auch eher geneigt, die ominöse Diagnose einer »Neurose« bei dieser Klientel aufzuschieben oder zu vermeiden. Möglicherweise spielen dabei auch wirtschaftliche Faktoren eine Rolle.

Dies führt weiter zur Frage des sozialen Engagements des Arztes. Die Verantwortlichkeit der Medizin gegenüber sozialen und gesellschaftlichen Mißständen mag vielerorts mit dem Hinweis erledigt werden, dies sei Aufgabe der Politik und des Staates. Dies mag dort der Fall sein, wo die Medizin verstaatlicht ist und der Arzt keine Einflußmöglichkeit auf die Struktur des Gesundheitswesens oder gar des Staates besitzt. Nicht aber in einem offenen Gesellschaftssystem, das immer noch, wenn auch zähe, Verbesserungen zuläßt. Dort hat der Arzt eine imminent politische Rolle zu erfüllen. Denn er ist, wie kaum ein anderer Berufstätiger, gleichermaßen in allen Sozialschichten »zu Hause«. Er arbeitet zwar in einem freien Beruf, ist aber zugleich für das Gemeinwohl tätig – und die Gesellschaft hat ein Anrecht auf diese Tätigkeit.

Auch die Sozialmedizin – die allerdings mehr Beachtung gefunden hat als die Psychotherapie – verlangt diesen persönlichen Einsatz des Arztes.

In diesem Zusammenhang muß darauf hingewiesen werden, daß Standesethik, Deontologie, Soziologie und Psychologie nur auf dem Boden einer vorzüglichen naturwissenschaftlichen Ausbildung sinnvoll sind. Mitmenschliche Güte und Hilfsbereitschaft machen noch nicht den guten Arzt aus. Wissen und Können bilden die Voraussetzung jeglicher Hilfe am Kranken. Die psychotherapeutischen Eiferer unter den Praktikern stehen allzuoft im Verdacht, die somatische Abklärung zu vernachlässigen. Der psychologische Helferwille gründet nicht selten in eigenen seelischen Unstimmigkeiten. Nichts kann jedoch dem Kranken mehr schaden als ein Arzt, der seine eigene Neurose an den Patienten austrägt und zu heilen versucht.

Ein Gynäkologe berichtete einst in einer Balint-Gruppe über ein 17jähriges Mädchen, das ihn wegen akuter Schmerzen in der rechten Adnexgegend notfallartig nachts zu sich rief. Der Arzt kannte das Mädchen und dessen Mutter, die er beide als hochgradig neurotisch bezeichnete. Die Mutter war zudem auf den Arzt hysterisch-erotisch fixiert. In der Annahme, den Schmerzen der Patientin liege ein seelischer Konflikt mit der Mutter zugrunde, und aufgrund einer vorgefaßten Meinung über hysterisch-neurotisches Verhalten sowie möglicher erotischer Frustrationen verzichtete der Arzt auf eine digitale Untersuchung. Er unterhielt sich mit der Patientin – was damals vom Leiter der Balint-Gruppe als richtiges Vorgehen gedeutet wurde. Meines Erachtens beging der Arzt einen krassen Fehler. Auch neurotische Patienten können an akuten oder chronischen Leiden erkranken. Hier wäre zumindest eine akute Adnexitis, eine Extrauteringravidität, ev. sogar eine akute Appendicitis differentialdiagnostisch auszuschalten gewesen. Und der Leiter der Balint-Gruppe hätte eher die Frage stellen müssen, warum sich wohl der Arzt eigentlich gescheut habe, das Mädchen körperlich zu untersuchen.

Auf der anderen Seite soll hervorgehoben werden, daß die natürliche mitmenschliche Begegnung mit dem Kranken noch nicht als psychosomatische Medizin angesehen werden kann. Dem Kranken als Leidenden beizustehen und ihn »individuell« als Kranken zu erfassen, genügt vielen Ärzten, um ihr Tun als psychosomatisch zu bezeichnen. Wäre dem so, dann hätten jene Kritiker recht, die behaupten, Psychosomatik sei für jeden Arzt eine Selbstverständlichkeit und damit als eigenständiger Begriff überflüssig. Zum Aufbau der Medizin gehört naturgemäß auch jener Bereich, der die Individualität des Patienten und des Arztes umfaßt und berücksichtigt. In Übereinstimmung mit HOFF und RINGEL kann dieser Zugang zum Kranken als »Ganzheitsmedizin« (V. WEIZSÄCKER) bezeichnet werden. Sie beinhaltet die Grundeinstellung des Arztes, in der Therapie sei nicht nur das erkrankte Organ, sondern die gesamte Persönlichkeit des Leidenden, seine Individualität, zu berücksichtigen. Eigentlich müßte »Ganzheitsmedizin« die Gesamtheit aller, auch den psychosomatischen Aspekt der Medizin umfassen. Wir verwenden lieber den Ausdruck Individualmedizin. Gemeint ist im Grunde die »Médecine de la personne« (TOURNIER) oder personale Medizin. Diese Ganzheits- oder Individualmedizin ist, wie gesagt, nicht neu. Der einzelne Arzt stand schon immer, »auch in Perioden, in denen die offizielle Schulmeinung dem Seelischen wenig Raum gab«, einem Leidenden gegenüber, den er in seiner Gesamtheit zu erfassen versuchte. »Würde der Begriff der Psychosomatik nicht mehr beinhalten, dann hätte man ihm zwar zweifelsohne viel zu verdanken … etwas wirklich Neues würde er aber nicht bedeuten.« Psychosomatische Medizin ist jedoch mehr. Es geht ihr nicht nur um ein adäquates psychologisches oder allgemeinmenschliches Verhalten des Arztes, sondern um ein psychologisches Krankheitsverständnis. Mit anderen Worten: ohne Neurosenlehre keine Psychosomatik. V.WEIZSÄCKER drückte diese Auffassung mit den Worten aus: »Die psychosomatische Medizin muß eine tiefenpsychologische sein oder sie wird nicht sein.« HOFF und RINGEL fügen mit Recht hinzu, Psychosomatik im eigentlichen Sinne sei ohne praktische Anwendung der tiefenpsychologischen Erkenntnisse, ohne Neurosenlehre, undenkbar. Darin liege das Neue, das sie von allen bisherigen Bestrebungen, die Wichtigkeit des Seelischen zu betonen, unterscheide. Die Frage, die uns dann im Zusammenhang mit der psychosomatischen Medizin zu beschäftigen hat, ist jene nach dem Wesen einer solchen Tiefenpsychologie.

Aus diesem Grunde haben wir zu den vier Aspekten unseres Schemas zum Aufbau der Medizin noch die Neurosenlehre und – als deren Ergänzung und Bestätigung – die Klinische Psychologie gezählt. Neurosenlehre und Klinische Psychologie liefern das psychosomatische Krankheitsverständnis, aufgrund dessen die Psychotherapie ansetzen kann. Vorgängig jedoch muß die Frage nicht nur nach dem Wesen der Krankheit, sondern nach dem Wesen des Menschen, der da krank wird und geheilt werden soll, gestellt und beantwortet werden. Deshalb gehört die Philosophie an den Anfang allen psychosomatischen Denkens. Immer mehr nämlich erweist sich ein Krankheitsverständnis, das nicht bis zum Kern menschlichen Daseins vorstößt, als ungenügend; immer mehr kommen in der Psychotherapie Probleme zur Sprache, die eine gründliche Kenntnis menschlicher Existenz voraussetzen, soll die Heilung mehr bedeuten als eine Reparatur defekter Organe.

Überall dort, wo im Krankheitsgeschehen differenzierte Vorgänge stattfinden, die sogar ein medizinpsychologisches Krankheitsverständnis erfordern, versagt das übliche technische Vorgehen des Arztes. Dies sei am Beispiel der allergischen und jenem der endokrinen Krankheiten kurz erläutert. Zweifellos gelang es der differenzierten Forschung, die spezifischen Überempfindlichkeiten vieler Menschen gegen bestimmte Stoffe chemisch und physiologisch abzuklären. Die Befunde wurden auch therapeutisch weitgehend verwertet. Obwohl die Allergieforschung Hervorragendes leistete, konnte jedoch die einfache Frage bisher nicht gelöst werden, warum ein bestimmter Mensch in seinem zehnten, ein anderer in seinem dreißigsten Lebensjahr einem bestimmten Stoff gegenüber empfindlich wird, während ein dritter sein ganzes Leben schadlos damit umgeht (JORES). Die Frage war unseres Erachtens wohl deshalb nicht zu lösen, weil die »Ursache« im seelischen Bereich zu suchen gewesen wäre, also in einem Gebiet, das sich der naturwissenschaftlichen Forschung weitgehend entzieht. Ähnlich verhält es sich bei der Interpretation endokriner Gleichgewichtsstörungen. Hier sind die Beziehungen zwischen Hormon und Psyche so deutlich, daß sie nicht übersehen werden können. Einerseits wird die Ansicht vertreten, schwere Persönlichkeitsstörungen bewirkten nach einer gewissen Zeit die körperliche Krankheit. Einer solchen »psychogenetischen« steht andererseits eine zweite, »somatogenetische« Betrachtungsweise gegenüber, wonach die psychische Fehlentwicklung als Folge der zugrundeliegenden hormonalen Störung aufzufassen wäre.

Schließlich wurden sogar neurovegetative und hormonale Regulationen entdeckt, die dieses einfache Schema der »Somatogenie« und der »Psychogenie« als Feedback-Mechanismus miteinander in Verbindung bringen.

Obwohl in allen diesen Forschungen der »Psyche« eine wichtige Bedeutung im Krankheitsgeschehen zugestanden wird, blieben ihnen grundlegende Neuentdeckungen versagt. Zunächst mußte schon rein empirisch, das heißt also naturwissenschaftlich-statistisch, festgestellt werden, daß trotz psychogenetischer und somatogenetischer Annahmen ein Kausalverhältnis in Wirklichkeit nicht nachweisbar ist. So schrieb M.BLEULER in seiner »Endokrinologischen Psychiatrie«, daß sich die einfache Frage, welches die Ursache und welches die Wirkung im Krankheitsgeschehen sei, prinzipiell nie klären lasse. Er stellte sogar an Hand seiner Untersuchungen mit Bestimmtheit fest, daß die Frage nach einer psychischen oder somatischen Genese grundsätzlich falsch gestellt sein müsse. Bei allzu vielen Erkrankungen sei man in der Lage, mit genau derselben Berechtigung die emotionellen Abläufe als Ursache wie als Folge der endokrinen zu betrachten.

Aber nicht nur die empirisch gewonnenen Erkenntnisse sprechen gegen ein solches wirkursächliches Verhältnis, sondern auch jedes theoretische Überdenken der Gegebenheiten. So blieben nämlich bisher alle Versuche, die Umsetzung psychischer Konflikte in körperliche Veränderungen auch nur gedanklich erklären zu wollen, erfolglos. Wenn zwar die Neurophysiologie unser Wissen über die Verbindung der Hypophyse zum Hirnstamm und von diesem zur Großhirnrinde bereichert und damit die Bedingung für das Zustandekommen psychosomatischer Erkrankungen aufgedeckt hat, so wissen wir trotzdem nichts Neues über die Art und Weise, wie Gedanken, Gefühle, Träume physiologisch wirksam werden, es sei denn, die Emotionen würden zerebralen und endokrinen Funktionen gleichgesetzt. Mit einer solchen Gleichsetzung, sagt KIND, gehen wir jedoch der Frage aus dem Wege, wer da eigentlich denkt, fühlt und sich von Emotionen hinreißen läßt. »Wir kommen nicht um die Vorstellung eines denkenden und fühlenden Wesens herum, das mit noch so komplizierten und verwickelten physiologischen und biologischen Prozessen nicht identisch sein kann.« Mit andern Worten: Alle diese Untersuchungen liefern wertvolle Erkenntnisse in bezug auf die Pathogenese, tragen jedoch kaum etwas zur Frage der Ätiologie bei und sagen schon gar nichts über das Wesen und den Bedeutungsgehalt psychosomatischer Krankheiten aus.

Der biologische Zugang zum Kranken

Ähnliche Überlegungen lassen sich anstellen, wenn die »exakten« Naturwissenschaften in der Medizin durch »biologische« Grundlagen ersetzt werden. J.H. SCHULTZ verleiht einer weit verbreiteten Ansicht Ausdruck, wenn er schreibt, Medizin könne niemals etwas anderes sein als angewandte Biologie. Medizinische Psychologie habe nur »Eigenrecht«, sofern es sich um die psychologische Betrachtung und Behandlung krankhafter Störungen handle. Für SCHULTZ sind deshalb besonders jene Gebiete von größter Bedeutung, die dem »Naturbereich des menschlichen Seelenlebens« am nächsten stehen, nämlich die Tierpsychologie, die Kinderpsychologie und die Entwicklungspsychologie sowie die Forschungen über das Trieb- und Affektgeschehen, »während eigentlich geistespsychologisch ausgerichtete psychologische Forschungsrichtungen wohl zur Begleitung des Kranken unentbehrlich, aber in ihrer zentralen Struktur außerhalb der Kernfrage krank/gesund gelagert« seien.

In dieser Auffassung ist das ganze Programm der biologischen Forschungsrichtung enthalten. Aber noch mehr: Es wird implizite angetönt, daß menschliches Kranksein an sich ein rein biologischer Vorgang sei und die biologische Wissenschaft über genügend gesicherte Erkenntnisse verfüge, um – zumindest im Bereiche der psychologischen Krankenbetreuung – die Geisteswissenschaften auf den Platz eines »Begleiters« zu verweisen. Bevor wir jedoch diese in den vorliegenden Sätzen apodiktisch aufgestellte Behauptung kritisch würdigen, wollen wir uns die sich daraus ergebenden Konsequenzen vor Augen führen.

Zunächst muß eine biologisch ausgerichtete medizinische Psychologie ihren Krankheitsbegriff jenem des Bereiches organischer Krankheiten anpassen. Zwar erkannte man längst, daß es keine »lokalen« Neurosen gebe, sondern daß der neurotische Mensch immer »ganzheitlich« erkrankt, während wir gewohnt sind, die organischen Krankheiten mehr »örtlich« – etwa als Pneumonie oder Migräne, Herz- oder Magenkrankheit – zu sehen. Dieser scheinbare Widerspruch ließe sich dadurch aufheben, daß auch bei organischen Störungen die Grenze zwischen krank und gesund verwischt und die allgemeine innere Disposition des Menschen wichtiger wird als das äußerlich und lokal einwirkende schädliche Agens. Die zweite Folgerung ist die, daß von Psychotherapie und medizinischer Psychologie nur dort gesprochen werden darf, wo es um die Antinomie von gesund und krank geht. Im Gebiete des Geistigen, meint SCHULTZ, sei es absurd, von Krankheit zu sprechen, da völlig andere Kategorien vorherrschten. Dort werde nicht nach gesund und krank gefragt, sondern nach recht und unrecht, gut und böse, schön und häßlich, wahr und unwahr, gerecht und ungerecht. Es handle sich also letztlich um eine metaphysische Problematik; diese höchsten Menschheitsfragen und Menschheitswerte hätten nichts mit medizinischer Psychologie zu tun. Durch den Einbezug von solch »unnötigem Ballast« und »wirrköpfischer Schönrederei« in die Psychotherapie werde die wissenschaftlich einwandfreie psychologische Arbeit erschwert.

Die erste Schwierigkeit, die trotz oder gerade wegen der eben erwähnten zwei Grundthesen auftritt, ist jene der Festlegung des Begriffes Biologie. Der Rückgriff nämlich auf die naturwissenschaftliche Grundlage der Biologie erweist sich schon deshalb als fragwürdig, weil aus dieser das Kausalitätsprinzip und die Gesetzmäßigkeit nicht wegzudenken sind. Im Bereiche des Lebendigen aber haben beide – vorsichtig ausgedrückt – nur beschränkte Gültigkeit. So gelangte man bereits zu einer Zweiteilung des Biologischen in eine biotechnische und eine bionome Kategorie. Erstere sollte kausal-mechanistisch und gesetzmäßig zu erfassen sein, die zweite einer bestimmten, aber nicht näher definierten lebensgesetzlichen Ordnung folgen.

Eine bionome oder organismische medizinische Psychologie verzichtet zwar auf den obenerwähnten Einbezug »metaphysisch-anthropologischer« Stellungnahmen (»maßt sich doch der so irrende Arzt Anspruch, Sendung und Recht des Seelsorgers an!« SCHULTZ), sie beruft sich aber auf eine vielleicht nicht metaphysische, dafür um so mehr spekulative »Ordnung« des Lebendigen, welch letzteres jedoch nicht aus seinem Wesen heraus erfaßt, sondern nach bestimmten Kategorien mehr oder weniger willkürlich abgeleitet wird. So bleibt nichts anderes übrig, als das Lebendige letzten Endes aus einigen Merkmalen (gegliederter Stufenbau, planmäßiges Baugefüge, Wachstum, Vermehrung usw.) heraus zu deuten und auf die Grundfrage nach dem Sein und dem Sinn des Menschenwesens zu verzichten.

Dieser Grundfrage weichen auch jene Versuche aus, die menschliches und tierisches Verhalten unter einheitlichen Gesichtspunkten erforschen und vergleichen. Wenn versucht wird, der medizinischen Psychologie durch die Beweiskraft tierexperimenteller Befunde einen wissenschaftlichen Boden zu verschaffen, dann müssen die Grenzen eines solchen Unterfangens klar beachtet werden. Einmal sind immer Menschen an Tierversuchen beteiligt; zum andern »beweisen« die physiologischen Experimente höchstens das Vorhandensein biologischer Bedingungen für das Zustandekommen bestimmter Verhaltensweisen, nie jedoch deren Sinn.