Das Verschwinden der Linnea Arvidsson - Frida Skybäck - E-Book + Hörbuch

Das Verschwinden der Linnea Arvidsson Hörbuch

Frida Skybäck

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  • Herausgeber: AUDIOBUCH
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Als Daniel Simovic verdächtigt wird, in einer gehobenen Gegend von Malmö eine junge Frau entführt zu haben, bricht für seine Schwester Lydia eine Welt zusammen. Zwar verkehrte Dani als Jugendlicher in den falschen Kreisen und saß auch eine Weile im Gefängnis, doch mit den Anschuldigungen gegen ihn stimmt einfach etwas nicht. Lydia beschließt, selbst der Sache auf den Grund zu gehen.

Die vermisste Frau, Linnea Arvidsson, studiert an der Universität Malmö – nur einen Steinwurf von dem Café entfernt, in dem Dani arbeitet. Aber das scheint die einzige Verbindung zwischen den beiden zu sein, warum also sollte Dani eine Frau entführen, die er gar nicht kennt? Und ist Linnea wirklich diejenige, für die die Polizei und die Medien sie halten?

Das Verschwinden der Linnea Arvidsson ist ein fesselnder Roman, durch den wir erfahren, wie stark Geschwisterbande sind, was das Aufwachsen in Armut mit einem Menschen macht und wie die Liebe uns dazu bringen kann, Dinge zu tun, die wir nie für möglich gehalten hätten.

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Zeit:9 Std. 33 min

Sprecher:Jana Marie Backhaus-Tors

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Titel

Frida Skybäck

Das verschwinden der Linnea Arvidsson

Roman

Aus dem Schwedischen von Karoline Hippe und Nora Pröfrock

Insel Verlag

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Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel De rotlösa bei LB Förlag, Stockholm.

eBook Insel Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4941.

Erste Auflage 2022insel taschenbuch 4941© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2022© Frida Skybäck 2021 in agreement with Enberg Agency

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagfotos: FinePic®, München

eISBN 978-3-458-77505-8

www.suhrkamp.de

Das verschwinden der Linnea Arvidsson

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

LYDIA

Kapitel

1

Kapitel

2

Kapitel

3

Kapitel

4

Kapitel

5

Kapitel

6

Kapitel

7

Kapitel

8

Kapitel

9

Kapitel

10

Kapitel

11

Kapitel

12

Kapitel

13

Kapitel

14

DANI

Kapitel

15

Kapitel

16

Kapitel

17

Kapitel

18

Kapitel

19

Kapitel

20

Kapitel

21

Kapitel

22

Kapitel

23

Kapitel

24

Kapitel

25

Kapitel

26

Kapitel

27

Kapitel

28

Kapitel

29

Kapitel

30

Kapitel

31

LINNEA

Kapitel

32

Kapitel

33

Kapitel

34

Kapitel

35

Kapitel

36

Kapitel

37

Kapitel

38

Kapitel

39

Kapitel

40

Kapitel

41

Kapitel

42

Kapitel

43

Kapitel

44

Kapitel

45

Kapitel

46

Kapitel

47

Kapitel

48

Kapitel

49

Kapitel

50

Kapitel

51

LYDIA

Kapitel

52

Kapitel

53

Kapitel

54

Informationen zum Buch

LYDIA

Kapitel 1

Es klopft an der Tür. Ich drehe den Wasserhahn in der Küche ab und werfe einen Blick ins Wohnzimmer, wo Papa zusammengesunken in seinem Fernsehsessel sitzt. Rufe »Ich mach auf« und denke noch, das ist wahrscheinlich Tanja, die irgendwas vergessen hat. Sie wohnt mit ihren Töchtern in der Wohnung gegenüber, und wenn sie Nachtschicht hat, sehe ich manchmal nach den beiden.

Aber auf dem graumelierten Treppenabsatz steht nicht Tanja, sondern ein Mann um die vierzig mit einem derart ernsten Gesicht, dass sich alles in mir zusammenzieht.

»Guten Tag. Ich …«

»Ja?«, unterbreche ich ihn ungeduldig.

Er trägt eine dunkle Stoffhose, ein schickes Jackett und Lederschuhe.

»Ich bin von der Polizei. Darf ich reinkommen?«, fragt er mit einer Geste in die Wohnung.

Ich kann nicht einfach irgendeinen Fremden reinlassen, denke ich, er sollte sich erst einmal ausweisen, doch sein Auftreten lässt keinen Zweifel daran, dass er die Wahrheit sagt, auch wenn er nicht in Uniform ist. Jedes Mal, wenn in der Gegend etwas Ernstes passiert ist, steht die Polizei bei uns auf der Matte und will wissen, ob Papa oder ich etwas gesehen haben. Aber ich will einfach nur meine Ruhe haben und antworte immer mit Nein. Dieses Mal ist jedoch irgendetwas anders. Der Mann vor der Tür hat nicht diesen müden, resignierten Blick, und er bewegt sich auch nicht so steif und zögerlich wie die Polizisten, die sonst bei uns klingeln.

Während er seinen Notizblock hervorholt, überlege ich, was er wohl will. Er wirkt irgendwie farblos. Sein Gesicht ist bleich, sogar die Wimpern sind ganz hell, aber er hat eine Präsenz, die sich regelrecht aufdrängt.

»Sie sind Lidija Simovic?«, sagt er mit monotoner Stimme.

»Lydia«, korrigiere ich, auch wenn ich weiß, dass im Melderegister Lidija steht. »Ist was passiert?«

»Ich habe nur ein paar Routinefragen.«

»Ich bin vorhin erst von der Arbeit gekommen und habe nichts gesehen.«

Er scheint mir gar nicht zuzuhören. Stattdessen mustert er die aufgereihten Schuhe im Schuhregal, bis er schließlich den Blick hebt und mich zum ersten Mal wirklich ansieht.

»Der Name Ihres Bruders ist Daniel Simovic, ist das richtig?«

Einen kurzen Moment vergesse ich zu atmen.

»Ja, aber der wohnt hier nicht.«

Der Polizist wirft einen Blick an mir vorbei in Richtung Fernseher, der laut im Hintergrund läuft.

»Das ist mein Vater.«

»Branko Simovic«, ergänzt er. »Sie wohnen hier zusammen?«

»Ja«, antworte ich angespannt und versuche, mir einen Reim darauf zu machen, warum der Polizist nach Dani fragt. Ob ihm etwas passiert ist? Hatte er einen Unfall? Aber das hätte mir die Polizei wahrscheinlich sofort mitgeteilt.

»Wann haben Sie zuletzt mit Ihrem Bruder gesprochen?«

»Ich weiß nicht … Vor ungefähr einer Woche«, sage ich und versuche, die Ruhe zu bewahren, auch wenn mein Herz rast wie bei einem aufgescheuchten Tier. »Entschuldigung, aber worum geht es hier eigentlich?«

»Wissen Sie noch, an welchem Tag das war?«

Ich ziehe mein Handy aus der Gesäßtasche, scrolle durch die Anrufliste, und während vor meinem inneren Auge ein Katastrophenszenario nach dem anderen vorüberjagt, halte ich dem Polizisten das Display hin: Der letzte ausgehende Anruf mit Dani war am Montagabend vor exakt einer Woche, um fünf nach halb sieben. Vor ein paar Jahren, als Dani noch Teenager war und lauter Mist im Kopf hatte, hätte mich diese Art von Besuch nicht sonderlich überrascht. Aber inzwischen hat mein Bruder sein Leben im Griff, er hat jetzt eine Wohnung und einen Job und ist stolz darauf. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das aufs Spiel setzen würde.

Der Polizist macht sich eine Notiz und nickt.

»Worüber haben Sie gesprochen?«

»Ich wollte nur mal hören, wie es ihm geht.«

»Und was hat er gesagt?«

»Es war alles in Ordnung«, antworte ich gereizt und denke, das muss doch ein Irrtum sein. Aber ich traue mich nicht, etwas zu sagen, wohl wissend, wer hier am längeren Hebel sitzt.

»Und seitdem haben Sie ihn nicht mehr gesehen oder gesprochen?«

»Nein.«

»Hatte Ihr Vater Kontakt zu ihm?«

»Mein Vater hatte im Januar einen Schlaganfall und hat seitdem Gedächtnisprobleme. Ich glaube nicht, dass er mit Dani Kontakt hatte. Wieso?«

Der Polizist räuspert sich.

»Wir müssen Daniel kontaktieren, wir haben ein paar Fragen an ihn.«

»Haben Sie es schon auf seinem Handy versucht?«

»Das ist ausgeschaltet.«

»Ist bestimmt nur nicht aufgeladen. Das verpeilt er schon mal«, sage ich lächelnd, doch der Polizist verzieht keine Miene, und an seiner Nasenwurzel bilden sich kleine konzentrierte Falten.

»Kann man sonst irgendwie Kontakt zu ihm aufnehmen?«

Ich zögere. Dani will wahrscheinlich keinen Polizeibesuch an seinem neuen Arbeitsplatz, aber schließlich gebe ich nach.

»Er arbeitet im Wayne’s Coffee. Das am Turning Torso in Västra Hamnen.«

Wieder macht sich der Mann eine Notiz auf seinem Block, dann reicht er mir eine Visitenkarte mit der Aufschrift Christian Wallin, Kriminalkommissar.

»Kommt es öfter vor, dass er einfach so verschwindet?«

»Nein, überhaupt nicht.«

»Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie etwas von ihm hören. Wir müssen so schnell wie möglich mit ihm reden, es ist wichtig.«

»Okay.«

Sein Blick ruht eine Weile auf Mamas und Papas Hochzeitskreuz an der Wand, wandert dann weiter zu den überfüllten Arbeitsflächen in der Küche und bleibt schließlich in einer Ecke des Fußbodens hängen, wo sich der schmutzige Rand des Linoleumbelags aufgerollt hat. Eine Welle der Scham überkommt mich. Ich weiß genau, was er denkt, ich sehe es ihm an.

Sobald ich die Wohnungstür geschlossen habe, greife ich zum Handy und wähle Danis Nummer. Mit angehaltenem Atem warte ich auf das Freizeichen, doch am anderen Ende ertönt nur ein Klicken und dann eine monotone Stimme, die mich darüber informiert, dass der Teilnehmer nicht erreichbar ist. Sicherheitshalber versuche ich es noch einmal und öffne dann WhatsApp, um ihm eine Nachricht zu schicken.

Dani, wo bist du? Muss mit dir reden. Ruf so schnell wie möglich an, es ist wichtig. Die Polizei sucht nach dir.

Durchs Fenster sehe ich, wie der Polizist um die Ecke verschwindet. Ich lese die Nachricht noch einmal und lösche den letzten Satz, bevor ich sie absende.

Papa hustet. Ich kann ihn bis in die Küche riechen. Er müsste eigentlich duschen, aber ich habe auf der Arbeit schon so schwer gehoben und will jetzt meine Ruhe.

Ohne den Blick vom Handy abzuwenden, lasse ich mich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen. Vielleicht hat Dani sein Telefon verloren oder es wurde ihm gestohlen. Bestimmt ist er längst dabei, sich ein neues zu besorgen, und meldet sich, sobald er Ersatz hat. Das erklärt allerdings nicht, warum die Polizei nach ihm sucht.

Ich muss an Danis Straftaten von früher denken. Da hat immer diese Gang dahintergesteckt, mit der er damals rumhing, aber den Kontakt hat er längst abgebrochen. Ein paar Jahre war er auf der schiefen Bahn und hat echt blöde Entscheidungen getroffen, doch das liegt inzwischen alles hinter ihm.

Draußen wird es langsam dunkel, der Wind zerrt an den Bäumen. Mit jedem Abend rückt der Herbst jetzt näher, und in letzter Zeit waren die Straßen morgens immer nassgeregnet. Ich gehe zu Papa und mache ihn bettfertig, sage mir, es wird schon alles nicht so schlimm sein. Doch die Unruhe lässt mich nicht los, und nachdem ich Papa ins Bett gebracht habe, sitze ich den Rest des Abends da und starre auf das schwarze Display meines Handys.

Kapitel 2

Am nächsten Morgen koche ich den Kaffee extra stark. Dani hat nichts von sich hören lassen, und langsam bin ich echt genervt. Kapiert er nicht, wie es mir geht, wenn er sich einfach so in Luft auflöst, was für Sorgen ich mir mache? Auch Mila hat nicht auf meine Nachricht geantwortet. Ich habe ihr gestern am späten Abend noch geschrieben und gefragt, ob sie weiß, wo Dani steckt, aber wahrscheinlich ist meine große Schwester zu beschäftigt mit ihrem perfekten Leben, um sich bei mir zu melden.

Als ich die oberste Küchenschublade öffne, blitzt mir ein Messer entgegen, und ich spüre, wie es mir eiskalt den Rücken runterläuft. Das muss ich beim Spülmaschineleeren aus Versehen dort eingeräumt haben. Schnell verstaue ich es in dem Versteck im Schrank, wo auch die übrigen Messer, die Streichhölzer und andere spitze Gegenstände liegen. Bisher ist noch nichts Schlimmes passiert, aber ich kenne die Gefahren. In Rönnen, wo ich arbeite – dem »Gefängnis für lebende Tote«, wie meine Kollegen sagen –, habe ich schon die schrecklichsten Dinge erlebt. An so einem Ort würde Papa sich nie wohlfühlen, und solange er nicht auf eigene Faust die Wohnung verlässt, kommen wir auch alleine klar.

Papa schläft noch, und bevor ich losgehe, mache ich Frühstück und stelle es ihm auf den Tisch: eine dicke Scheibe Brot ohne Kruste, weil er die nicht mehr so gut kauen kann, Butter und Käse obendrauf, dazu eine Thermoskanne Kaffee und ein Glas Apfelsaft.

Vor der Wohnung treffe ich Tanja. Das Klackern ihrer Absätze hallt durchs Treppenhaus, und ich rieche das Parfüm von gestern, das inzwischen eins mit ihrer Haut geworden ist. An einem der Fenster bleibt sie stehen, öffnet es einen Spalt breit und zündet sich eine Zigarette an. Wartet, bis die Glut richtig glimmt, und nimmt dann einen tiefen Zug.

»Hat alles geklappt?«

Ich nicke. Ich habe ihr heute Morgen schon geschrieben, gleich nachdem ich die Mädchen geweckt hatte.

»Ich kann ruhig auch bei euch in der Wohnung übernachten, das weißt du.«

»Passt schon«, sagt sie und dreht die Zigarette, so dass die angehäufte Asche nach oben zeigt. »Dein Vater braucht dich mehr.«

»Okay, aber sag auf jeden Fall Bescheid, wenn du es dir anders überlegst«, antworte ich und schließe die Tür hinter mir ab. »Sein Mittagessen steht im Kühlschrank.«

Sie bläst den Rauch in die Luft und drückt die Zigarette auf dem Fensterblech aus. »Ich hoffe, meine Kinder kümmern sich später auch mal so um mich. Übrigens habe ich gehört, du hattest gestern Besuch? Inez hat angerufen«, fügt sie mit einem Achselzucken hinzu.

Diese dämliche Inez, denke ich. Hängt wahrscheinlich rund um die Uhr am Küchenfenster, nur um ja alles mitzukriegen, was hier im Viertel passiert.

»Ach, das war nichts. Nur ein Vertreter.«

»Aha«, sagt sie, schnippt den Zigarettenstummel weg und schließt das Fenster. »Pass auf dich auf.«

»Du auch.«

Die Morgensonne spiegelt sich in Inez’ Küchenfenster, so dass man nicht hindurchsehen kann, aber ich weiß, dass sie dort sitzt, und unterdrücke den Impuls, ihr den Mittelfinger zu zeigen. Auf dem Weg zum Bus versuche ich es noch einmal auf Danis Handy, wo wieder nur die monotone Ansage ertönt. Was macht er bloß? Wieso geht er nicht ran?

In mir brodelt es, und ich lege mir schon zurecht, was ich bei unserem nächsten Treffen alles zu ihm sagen werde. Sich einfach so aus dem Staub zu machen, ist wahnsinnig unverantwortlich. Dann muss ich daran denken, wie Dani einmal auf dem Stortorget zwei Streithälse auseinanderbringen wollte und mit einer abgebrochenen Flasche verletzt wurde. Sofort kommt wieder Sorge in mir auf, und ich schäme mich für meine Gedanken. Vielleicht ist mein Bruder ja überfallen worden. Was, wenn er gerade blutend in irgendeiner Nebenstraße liegt?

Ich rufe die Website der größten Tageszeitung auf, überfliege die Schlagzeilen und kann mich etwas beruhigen. Von Überfällen oder Messerstechereien ist dort nichts zu lesen. Stattdessen handeln die Nachrichten von einem Güterzugunglück irgendwo im Norden, einer politischen Auseinandersetzung und einer verschwundenen Frau. Mein Blick bleibt einen Moment an ihrem Bild hängen. Sie ist blond, trägt eine weiße Bluse und hat große Rehaugen, und wie ich lese, wird sie seit vier Tagen vermisst. Morgen ist sie bestimmt auf sämtlichen Zeitungsaushängen zu sehen, darauf würde ich meinen Hintern verwetten.

Ich muss an Fatima denken, die Siebzehnjährige, die letztes Jahr hier in der Gegend verschwunden ist, nur ein Viertel weiter. Sie wollte sich schnell ihre Jacke aus dem Waschkeller holen und ist nie wieder aufgetaucht. Als die Mutter kurze Zeit später nachsehen ging, wo sie blieb, lag die feuchte Jacke noch in der Waschmaschine. In den folgenden Wochen sah man die verzweifelten Eltern kopierte Fotos ihrer Tochter an die Laternenpfosten hängen. Trotz all der ungeklärten Fragen um das Verschwinden des Mädchens wurde in den Medien kaum darüber berichtet. Aber Fatima war natürlich auch nicht blond und rehäugig.

Die Erinnerung an diese Geschichte gibt mir ein ungutes Gefühl, und ich überlege, ob ich nicht nach Dani suchen sollte, mal eine Runde um seinen Block drehen und im Laden an der Ecke vorbeischauen, wo er immer einkauft, doch dann kommt mein Bus, und ich steige ein. In zwanzig Minuten fängt meine Schicht an, und wie besorgt ich auch bin, so kurzfristig finde ich jetzt keine Vertretung.

Acht Stunden später verlasse ich das Pflegeheim. Ich habe immer noch kein Lebenszeichen von Dani, und nach einigem Zögern rufe ich seinen Chef Samir an, von dem ich erfahre, dass mein Bruder sich am Freitag krankgemeldet hat und seitdem nicht mehr bei der Arbeit aufgetaucht ist.

»Er hat sein Handy verloren«, bringe ich hervor. »Aber es geht ihm immer noch ziemlich schlecht. Ich glaube, er hat die Grippe.«

»Die Polizei war hier und hat nach ihm gefragt«, sagt Samir. »Weißt du was davon?«

Einen Moment ist es still in der Leitung, während ich fieberhaft überlege, was ich als Nächstes sagen soll.

»Er war Zeuge bei einem Überfall«, lüge ich schließlich. »Die Polizei hat bestimmt versucht, ihn auf dem verschwundenen Handy zu erreichen.«

»Ach du Scheiße«, sagt Samir, aber ich höre ihm seine Skepsis an.

»Er hustet und hat Fieber«, lüge ich weiter, denn ich weiß, wie wichtig Dani dieser Job ist. »Aber er meldet sich auf jeden Fall, sobald er wieder fit ist.«

»Okay. Dann sag ihm mal gute Besserung.«

In der Ferne sehe ich den vollbesetzten grünen Bus näher kommen. Ich schaue auf die Uhr. Papa braucht etwas zu essen, und ich muss noch einkaufen, trotzdem drehe ich mich um und gehe in die entgegengesetzte Richtung.

Dani wohnt in einer Einzimmerwohnung in einem heruntergekommenen Mehrfamilienhaus. In der Schule hatte ich mal einen Lehrer, der uns erzählt hat, wie diese Gegend früher aussah: nichts als Ackerland, bis in den 1920er Jahren Notunterkünfte für die Arbeiter hermussten. Acht zweistöckige Holzhäuser ohne Toiletten und fließendes Wasser. Provisorische Übergangsbehausungen, die mit der Zeit dauerhaft genutzt wurden, als drum herum immer mehr bezahlbarer Wohnraum für kinderreiche Familien hochgezogen wurde, millionenschwere Projekte für Leute ohne Geld. Noch heute ist diese Gegend wie ein schwarzes Loch – ist man einmal hier gelandet, wird man die schimmligen Wände und das Ungeziefer nicht mehr los, es gibt keinen Ausweg.

Bei dem Gedanken wird mir ganz mulmig. Was, wenn Dani zu Hause irgendwas zugestoßen ist? Vielleicht ist er gestürzt und hat sich den Kopf verletzt, oder er ist akut erkrankt. Ich beschleunige meinen Schritt und spüre, wie Wut in mir aufkommt, Wut auf den Polizisten von gestern. War der überhaupt bei meinem Bruder in der Wohnung und hat nachgesehen, ob Dani nicht hilflos am Boden liegt?

Mein Herz hämmert, und ich schlucke gegen die aufkommende Übelkeit an. Da ist das gelbe Haus mit den verwitternden Ziegelsteinen. An einem Balkon hängt ein Windschutz aus Bambus, den ein Nachbar irgendwann einmal angebracht hat, aber jetzt ist kaum noch etwas davon übrig, und zwischen schmutzigen Satellitenschüsseln wehen die angegrauten Stäbe trostlos im Wind.

Als ich das wohlbekannte Treppenhaus betrete, denke ich zurück an den Tag vor fast drei Jahren, als Dani hier eingezogen ist. Wie froh er über seine erste eigene Wohnung war. Mila hat geholfen, die schwarzen Plastiksäcke mit seinem Kram und die Möbel aus dem Secondhandladen reinzutragen. Nach getaner Arbeit haben wir uns eine Pizza bestellt und einfach aus dem Karton gegessen, wie eine ganz normale Familie.

Als ich den Schlüssel umdrehe und die Tür einen Spalt breit öffne, spüre ich meinen Puls in den Schläfen.

»Dani?«, sage ich laut, aber es kommt keine Antwort. Die Tür gleitet weiter auf, und was ich dahinter sehe, lässt mich zusammenfahren. Regungslos bleibe ich an der Schwelle stehen und starre in die Wohnung. Im Flur herrscht ein heilloses Durcheinander. Die Jacken, die hier normalerweise ordentlich nebeneinander hängen, wurden heruntergerissen, das Schuhregal ist umgestürzt, und alles, was sonst auf der Kommode steht, liegt kreuz und quer auf dem Boden verteilt. Die Glasschale, in der Dani immer seine Schlüssel ablegt, ist in tausend Stücke zersprungen, die spitzen Scherben glitzern in der Abendsonne.

Ich hole tief Luft, mache einen Schritt über das Chaos hinweg und ziehe die Tür hinter mir zu. Dani hätte die Wohnung nie so hinterlassen, er ist viel ordentlicher, als man von ihm denken könnte.

Im Wohnzimmer sieht alles normal aus. Der Vorhang zur Bettnische ist halb zur Seite gezogen, und dahinter kommt Danis fein säuberlich gemachtes Bett mit den lilafarbenen Bezügen zum Vorschein. Eine Schranktür steht sperrangelweit offen, aber ansonsten ist alles wie immer. Auf dem Sofa liegen ein Taschenbuch und eine schludrig gefaltete Decke, und auf dem Tisch stehen zwei halbvolle Wassergläser.

Die Panik zerreißt mich fast, ich spüre einen Druck auf der Brust, der mich kaum atmen lässt, während ich einzuordnen versuche, was ich hier sehe. Auf der Suche nach Hinweisen gehe ich weiter durch die Wohnung. Auf dem kleinen Glasregal über dem Waschbecken im Badezimmer steht ein leerer Becher ohne Zahnbürste, und der Kulturbeutel, den Dani von mir zu Weihnachten bekommen hat, ist verschwunden.

Mit zitternden Fingern ziehe ich Christian Wallins Visitenkarte aus der Tasche und taste nach meinem Handy. Ich muss ihn um Hilfe bitten. Irgendwer hat Dani etwas angetan, das erscheint mir nun völlig klar. Ich sehe Männer mit Sturmhauben vor mir, die die Tür aufbrechen und meinen Bruder aus der Wohnung zerren, sehe, wie er sich mit Händen und Füßen wehrt. Ich bin schon dabei, die Telefonnummer einzutippen, doch dann halte ich inne. Mein Blick fällt auf die Gläser auf dem Tisch – wieso zwei? Und warum ist Danis Zahnbürste weg?

Die Kante des dunkelgelben Sofas ist unförmig und gibt nach, als ich mich setze, aber ich brauche einen kurzen Moment zum Nachdenken. Christian Wallins Besuch gestern war kein Zufall. Er hat irgendeinen Verdacht gegen meinen Bruder und wird das Chaos im Flur bestimmt als Bestätigung dafür deuten. Das Ganze hier kann leicht gegen Dani verwendet werden, und jetzt weiß ich, was ich zu tun habe.

An der Wand neben dem Putzschrank hängt ein eingerahmtes Foto von Dani und mir. Obwohl ich ein Jahr älter bin, ist er der Größere von uns, und auf dem Bild stützt er sich lässig auf meine Schulter.

»Pseudozwillinge« hat man meiner Mutter damals bei den Vorsorgeuntersuchungen gesagt. »Die werden im Laufe ihres Lebens noch viel voneinander haben.« Ich betrachte unsere lächelnden Gesichter und die Pullis im Partnerlook. Das muss eins der letzten Bilder sein, die vor Mamas Erkrankung von uns gemacht wurden. Mit diesem Gedanken öffne ich den Schrank.

Das Durcheinander ist erstaunlich schnell beseitigt. Als ich die Gläser gespült, die Kleidungsstücke aufgehängt, das Schuhregal wieder an seinen Platz gestellt und die Scherben in einem Müllbeutel zusammengesammelt habe, deutet nichts mehr darauf hin, dass hier etwas vorgefallen sein könnte. Ich bin zufrieden und denke, dass Dani sich bestimmt über den aufgeräumten Flur freut, wenn er zurückkommt. Erst als ich mich hinunterbeuge, um eine alte Münze vom Boden aufzuheben, die bis an die Fußleiste gerollt ist, entdecke ich sie. Auf der pfirsichfarbenen Strukturtapete befinden sich ungefähr zehn rote Flecken, und mir ist augenblicklich klar, dass es sich um Blut handelt.

Wie in Trance starre ich die dunklen Spritzer an und spüre, wie sich mir der Magen umdreht. Viel ist es nicht, es könnte von einer kleinen Handverletzung oder einer blutenden Nase stammen, aber die Form der Flecken und die Stelle an der Wand beunruhigen mich. Im Pflegeheim kommt es schon mal vor, dass sich jemand aus Versehen schneidet, ein Glas zerbricht oder mit dem Messer abrutscht, und wenn dann Blut zu Boden tropft, sehen die Kleckse meist rund und sternchenförmig aus. Die Flecken da an der Wand hingegen sind auffällig in die Länge gezogen. Und dann kommt mir dieser andere Gedanke, dieser verbotene: Vielleicht stammt das Blut gar nicht von Dani. Vielleicht hat er etwas getan, das ihn jetzt zur Flucht zwingt.

Blutflecken zu entfernen ist eine völlig andere Nummer als ein bisschen saubermachen. Das können Beweisspuren sein, ich weiß nur nicht, wofür, und ich frage mich, was wohl passiert, wenn ich das jetzt wegputze. Ist so was illegal? Mache ich mich strafbar? Kann ich einfach behaupten, mir wäre nicht bewusst gewesen, dass ich da irgendwelche Spuren vernichte, ich wollte einfach nur saubermachen?

Von der Baustelle auf der anderen Straßenseite dringen Bohrgeräusche herüber. Das Dröhnen übertönt alles andere und macht es unmöglich, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Wenn das Danis Blut ist, können die Flecken schon älter sein. Stammt es aber von irgendwem anders, wird das der Polizei zu denken geben.

Ich betrachte die Spritzer an der Wand, hole einmal tief Luft und sprühe dann Reinigungsmittel darüber. Die Flüssigkeit schäumt und läuft in Richtung Boden, und ich reibe kräftig mit dem Lappen über die Wand. Scheuere, bis nichts mehr von den Flecken zu sehen ist.

Als ich fertig bin, wische ich auch sämtliche andere Oberflächen ab, genau wie im Film. Fahre mit dem Lappen über Türgriffe und -rahmen, stelle das Reinigungsspray zurück und fasse die Klinke beim Verlassen der Wohnung nur noch mit dem Plastikbeutel an.

Ich stehe gerade wieder im Treppenhaus, als mein Handy klingelt. Es ist Mila, die sich endlich zurückmeldet.

»Hallo. Warum suchst du nach Dani?«

»Ich versuche seit gestern, ihn zu erreichen, aber sein Handy ist aus.«

»Er hat es bestimmt verloren oder sein Ladegerät vergessen, wie immer«, seufzt Mila. »Überrascht dich das?«

Ich schlucke, weiß nicht, wie viel ich erzählen soll, und sie spürt meine Unsicherheit.

»Ist was passiert?«

»Nein. Oder doch, ein Polizist hat bei Papa zu Hause angeklopft. Er war auf der Suche nach Dani.«

»Was? Wieso?«

»Wollte er nicht sagen.«

»Verdammt. Warte kurz.« Ich höre die Terrassentür quietschen und sehe genau vor mir, wie sie sich in ihren sichtgeschützten Garten mit dem Pavillon und den Hochbeeten hinausschleicht. »Glaubst du, er kommt auch zu uns?«, fragt sie schließlich.

»Der Polizist? Vielleicht.«

»Was hat er nur wieder angestellt!«, schnaubt sie.

»Ist doch gar nicht gesagt, dass er irgendwas angestellt hat. Du weißt doch, wie die Bullen sind.«

»Lydia«, sagt sie entgeistert. »Wir reden hier von Dani.«

»Der sich vorbildlich benommen hat, seit er wieder draußen ist, und bei jeder einzelnen Therapiesitzung war.«

»Und er hat Ellen versprochen, dass er zu ihrer Tanzaufführung nächste Woche kommt. Sie wird total enttäuscht sein.«

»Du sagst den Kindern doch nichts, oder? Wir wissen ja nicht mal, was eigentlich los ist.«

»Nein, natürlich sage ich nichts, aber es fühlt sich auch nicht gut an, sie anzulügen. Die kriegen es doch mit, wenn Dani einfach verschwindet.«

Eine Weile ist es still, aber ich weiß genau, was sie denkt. Sie überlegt, was das Ganze jetzt für sie bedeutet, wie sie den Schaden für ihr eigenes Leben in Grenzen halten kann.

»Ich mache mir Sorgen um ihn«, sage ich schließlich.

»Das verstehe ich, aber du musst aufpassen, dass du da nicht in irgendwas reingerätst. Denk auch ein bisschen an dich.«

»Aber vielleicht braucht Dani Hilfe«, protestiere ich.

Sie seufzt.

»Ich bin mir nicht sicher, ob er die verdient. Du weißt doch, mit was für Typen er immer rumgehangen hat. Wenn die dahinterstecken, will ich nichts mit der Sache zu tun haben.«

»Hör auf, er ist unser Bruder.«

»Ist mir egal. Das hat er sich selbst zuzuschreiben.«

Ich spüre, wie mir die Tränen kommen, und schlucke kräftig.

»Hör zu«, fährt sie jetzt mit einem harten Klang in der Stimme fort. »Halt dich von Dani fern und erzähl niemandem davon. Wenn die Polizei involviert ist, dann ist es ernst. Am Ende steckst du da auch noch mit drin, und das ist das Letzte, was du willst.«

Ich blicke auf den grünen Müllbeutel in meiner Hand, spüre das weiche Plastik an den Fingern. Der Putzlappen und die Glasscherben wiegen so gut wie nichts. Dann denke ich: Mila kapiert überhaupt nichts. Ich stecke schon längst mittendrin. Danis Probleme sind auch meine Probleme. So war es schon immer.

Kapitel 3

Ich bin elf Jahre alt und stehe mit Josefine im Schatten eines heruntergekommenen Hauses nicht weit von der alten Eisenbahnlinie. Die Fenster sind mit Spanplatten und notdürftig festgenagelten Brettern verrammelt, und die Fassade ist fast vollständig mit Graffiti bedeckt. Große Buchstaben in Grau und Schwarz prangen auf der roten Backsteinmauer.

Ich durchwühle meine Tasche nach den Süßigkeiten, die ich Josefine versprochen habe, während sie sich das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammenbindet. Es ist lang und blond und an den Spitzen gekräuselt. Josefine hat alles, wovon ich träume. Ein süßes Gesicht, Talent zum Zeichnen, ein großes Elternhaus in Kulladal und ein zweifarbiges Crescent mit Fahrradkorb.

Wir sind ein gutes Stück von der Schule entfernt, aber ich komme gern hierher. Hier haben wir unsere Ruhe vor den anderen Mädchen. Eigentlich ist Josefine Thereses beste Freundin, trotzdem ist an ihrer Seite auch immer ein bisschen Platz für mich. Wenn Therese mal erkältet oder mit ihrer Familie verreist ist, stehe ich sofort parat, und in meinem Mäppchen habe ich immer einen Vorrat Radiergummis, um Josefine bei Bedarf eins zu schenken. Therese weiß das und bewacht ihre Freundin wie eine Wölfin ihre Jungen. Sobald ich mich nähere, legt sie den Arm um sie und erzählt ihr irgendein Geheimnis, steckt den Kopf mit ihr zusammen und flüstert ihr etwas ins Ohr, das niemand sonst hören soll. Aber ich lasse mich nicht beirren, Josefine ist mein ein und alles. Manchmal frage ich mich, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie mich als beste Freundin auserkoren hätte.

Doch in diesem Moment habe ich einen Trumpf im Ärmel. Josefine ist in Thereses Cousin Benjamin verliebt. Er ist ein Jahr älter und der niedlichste von allen Siebtklässlern an der Sofie-Lund-Schule. Findet zumindest Josefine, und inzwischen sind die beiden auch zusammen. Aber neulich habe ich Benjamin mit Angelina aus unserer Parallelklasse gesehen, er hat sich richtig an sie rangemacht, mit seinem langen Pony und diesem süßen Lächeln. Der Einsatz ist hoch, aber ich bin es leid, immer nur die zweite Geige zu spielen, und will meine Chance jetzt nutzen.

»Was wolltest du mir sagen?«, fragt Josefine und nimmt sich einen sauren Schnuller aus der Tüte, die ich ihr hinhalte.

Ich zögere. Egal, wie ich es ausdrücke, sie wird auf jeden Fall traurig sein.

»Lydia?«

»Ja«, seufze ich und versuche zu zeigen, wie schwer mir die Sache fällt. »Also, pass auf …« Weiter komme ich nicht, denn plötzlich biegt Therese mit ihrem Fahrrad um die Ecke.

»Da seid ihr ja!«, ruft sie, macht einen Schlenker auf den Bürgersteig und hält so dicht vor uns, dass sich ihr Vorderrad zwischen uns drängt. »Warum seid ihr denn einfach abgehauen?«

Ihre Stimme klingt vorwurfsvoll, und ich verfluche mich innerlich. Warum bin ich nicht gleich mit der Sprache rausgerückt? Jetzt wird alles nur noch schwieriger.

»Lydia wollte mir was erzählen«, antwortet Josefine und nimmt sich noch einen Schnuller.

»Aha, und was?«

Verlegen ziehe ich die ausgeleierten Bündchen meiner Jacke in die Länge, höre aber sofort damit auf, als ich Thereses skeptischen Blick bemerke. Sie gibt mir ständig das Gefühl, dass irgendwas mit mir nicht stimmt.

»Es geht um Benjamin«, murmele ich.

»Was ist denn mit ihm?«, fragt Josefine.

Ich hole tief Luft.

»Ich habe ihn am Samstag vor einem Café in der Amiralsgata gesehen«, sage ich mit einem Blick zu Josefine. »Zusammen mit Angelina, sie sahen irgendwie verliebt aus.«

»Verliebt? Wie meinst du das?«

»Also, sie haben sich geküsst.«

Therese steigt vom Rad und lässt es zur Seite fallen.

»Du lügst«, sagt sie, und an Josefine gerichtet fährt sie fort: »Er war Samstag bei uns. Wir hatten Cousins-und-Cousinen-Treffen.«

»Wann am Samstag?«, fragt Josefine mich.

»Am Nachmittag.«

»Das stimmt nicht«, faucht Therese. »Du kannst meine Mutter fragen, wenn du willst.«

Josefine schaut mich an, mit leidvollem Blick, als wüsste sie nicht so recht, was sie glauben soll.

»Du bist nur neidisch, weil du selbst keinen Freund hast«, wettert Therese weiter und legt Josefine eine Hand auf die Schulter.

Ich merke, wie mir die Sache entgleitet. Das war meine Chance, Josefine für mich zu gewinnen, aber jetzt bin ich auf dem besten Weg, sie zu verlieren.

»Ich bin mir sicher, dass er es war«, protestiere ich, doch meine Stimme setzt eine halbe Oktave zu hoch an, und ich höre selbst, wie verzweifelt ich klinge.

»Er mag nur dich«, versichert Therese und zieht Josefine zu sich. »Hör nicht auf Lydia, die erzählt nichts als Lügen.«

Ich will widersprechen, aber in Konfliktsituationen war ich noch nie besonders souverän. Mir fehlt einfach Thereses Selbstvertrauen und ihre Schlagfertigkeit. Ohne ein Wort wende ich mich ab, und in dem Moment erblicke ich ihn.

Dani ist uns gefolgt. Er steht ein paar Meter weiter, halb versteckt hinter einem Container, und belauscht uns heimlich. Sofort überkommt mich die Scham. Mit einer Handbewegung signalisiere ich meinem Bruder, dass er verschwinden soll, ich will ihn nicht hier haben.

»So was würde Benjamin nie tun«, sagt Therese tröstend und nimmt Josefine in den Arm. »Er liebt dich doch.«

Eine dumpfe Leere breitet sich in mir aus. Ich will nur noch hier weg, aber ich kann mich nicht rühren, und als Josefine sich aus Thereses Umarmung befreit, zwinge ich mich, sie anzusehen.

»Hast du gelogen?«, fragt sie.

Ich schüttele den Kopf, doch das reicht nicht, um sie zu überzeugen.

»Ich glaub’s nicht«, sagt Josefine. »Wie mies von dir, so eine Geschichte zu erfinden.«

Therese hebt ihr Fahrrad auf, und als sie zusammen mit Josefine abrauscht, fühlt es sich so an, als würde sich eine harte Hülle um mich bilden. Ich will von niemandem gesehen werden, will einfach nur verschwinden. Im Erdboden versinken und nie wieder auftauchen.

Dani hat sich nicht vom Fleck bewegt. Er steht immer noch da, und insgeheim bete ich, dass er nichts von unserer Unterhaltung gehört hat.

»Hallo«, sagt er vorsichtig.

»Was machst du hier?«

»Nichts«, antwortet er und zuckt mit der Schulter, so dass ein Träger des vollgestopften Rucksacks, den er ständig mit sich rumschleppt, runterrutscht.

»Wenn Mama mitkriegt, dass du nach der Schule nicht direkt nach Hause gehst, gibt’s Ärger«, sage ich, aber er sieht mich unbeirrt weiter an.

»Warum hattest du Streit mit Josefine? Ich dachte, ihr wärt Freundinnen.«

»Ach, scheiß drauf.«

»Waren sie gemein zu dir?«

Bei diesen Worten fühlt es sich so an, als würde ich explodieren. Ich habe genug von seiner Fragerei, will nur noch in Ruhe gelassen werden.

»Verpiss dich«, schreie ich und renne davon.

Als ich nach Hause komme, ist es vollkommen still in der Wohnung. Niemand ist da, trotzdem knalle ich die Tür zu. Es tut gut, das laute Geräusch zu hören, und anschließend werfe ich mich aufs Bett. Kurz darauf kommt auch Dani. Ich drücke das Gesicht ins Kissen und versuche, das ungute Gefühl im Körper loszuwerden. Schäme mich dafür, was er gerade beobachtet hat. Zu Hause erzähle ich immer viel von Josefine, und die anderen in der Familie halten uns für beste Freundinnen. Sie glauben, wir würden uns nach der Schule treffen und zusammen in den Park gehen und so. Jetzt weiß mein Bruder, dass ich gelogen habe, dass nichts von dem, was ich am Esstisch erzähle, wahr ist, dass ich gar keine richtigen Freunde habe.

Eine ganze Weile bleibe ich einfach liegen und warte darauf, dass Dani an die Tür klopft, aber das tut er nicht, und allmählich bekomme ich Hunger. In der Schule gab es Fisch mit Mandelkruste und völlig zerkochte Kartoffeln, da habe ich nur Knäckebrot gegessen. Schließlich halte ich es nicht mehr aus, stehe auf und gehe in die Küche.

Die Sonne scheint durchs Fenster, und in der Luft wirbeln die Staubkörner. Dani sitzt am Tisch und schmiert sich Butter aufs Brot. Wortlos gehe ich zur Arbeitsplatte, öffne die Brotkiste, sie ist leer. Ich werfe einen Blick in den Kühlschrank, aber auch da ist kaum noch was drin. Ein paar halbvolle Gläser mit eingemachtem Gemüse, Senf, ein paar verschrumpelte Kartoffeln und eine Zwiebel, sonst nichts.

»Das war die letzte Scheibe«, sage ich, ohne meinen Bruder anzusehen. Selbst schuld, höre ich ihn schon sagen, doch stattdessen schiebt er mir den Teller rüber.

»Kannst du haben, wenn du willst.«

Sein Entgegenkommen lässt meine Hülle nur härter werden, am liebsten würde ich einfach wieder verschwinden, aber ich habe viel zu viel Hunger.

»Danke«, murmele ich. »Wir können ja teilen.«

Ich setze mich ihm gegenüber und schneide das Brot in zwei gleich große Hälften, nehme mir die eine und schlinge sie hinunter. Als alles aufgegessen ist, fühlt sich mein Magen immer noch leer an, und ich schaue auf die Uhr. Mama kommt frühestens in zwei Stunden nach Hause.

»Lydia?«, sagt Dani, aber ich wende das Gesicht ab, um zu zeigen, dass ich nicht darüber reden will. Ich habe jetzt keine Lust, ihm zu erklären, was da draußen vor dem verlassenen Haus passiert ist, will einfach alles vergessen und am liebsten nie mehr zur Schule gehen, Therese und Josefine nie wieder begegnen.

Als ich seinem Blick immer wieder ausweiche, steht er auf, geht zur Vorratskammer, holt Kakao, Zucker und Haferflocken heraus und gibt von allem etwas in eine Schüssel. Dann greift er zur Butter, schaufelt einen großen Esslöffel davon in die Schüssel und verrührt das Ganze.

»Hier«, sagt er und hält mir den Löffel hin. Die klebrige braune Masse glänzt im Licht der Deckenlampe. Ich nehme ihm den Löffel ab, probiere vorsichtig mit der Zungenspitze und habe den süßen Geschmack von Kuchenteig im Mund.

»Und jetzt spielen wir Zelda«, erklärt er lachend.

Wir sitzen auf dem Boden vor dem wuchtigen Fernseher und versuchen Prinzessin Zelda zu retten. Dani hat mich fast die ganze Schokopampe allein essen lassen. Mit jedem Lachen löst sich meine Anspannung, und ich spüre, wie langsam wieder Wärme in mir aufkommt. Mein Körper wird weicher, und ich bin froh, dass Dani da ist. Auch wenn es mich wahnsinnig macht, dass er überall Sachen herumliegen lässt – dreckige Pullis, Stifte, Plastikspielzeug –, und mir sein Eminem-Gedudel beim Hausaufgabenmachen den letzten Nerv raubt, weiß ich eins ganz sicher: Ich bin nie allein. Am Wochenende spielen wir Secret of Mana und trinken literweise Cola. Nur ab und zu ist Dani mal bei seinem besten Kumpel Jocke, der aber meistens mit seinem Hockeytraining zu tun hat.

Papa und Mila kommen nach Hause. Sie führen eine laute Diskussion, und durch den Türspalt sehe ich, wie Mila ihre Tasche zu Boden wirft.

»Kapierst du nicht, wie peinlich das für mich ist? Alle anderen in meiner Klasse haben auch so eine.«

»Wir können nicht so einen Haufen Geld für eine Jacke ausgeben, das geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil wir uns das nicht leisten können. Wenn du eine teure Jacke haben möchtest, musst du sie dir selbst kaufen. Besorg dir einen Job. Mit vierzehn habe ich im Restaurant meines Vaters Geschirr gespült.«

»Machst du Witze? Ich habe jede Menge Hausaufgaben, wie soll ich da noch jobben?«

Als sie keine Antwort bekommt, stößt sie ein lautes Knurren aus, stampft in unser Zimmer und schlägt die Tür hinter sich zu. Bis letztes Jahr habe ich mir noch mit Dani ein Zimmer geteilt, aber als ich zehn wurde, fand Mama es besser, dass ich bei Mila einziehe. Die hält überhaupt nichts davon, lässt mich den Einbauschrank nicht mitbenutzen, und schleudert alles, was ich auf den Schreibtisch stelle, unter mein Bett.

»Machst du Witze?«, äffe ich sie nach, und Dani kichert.

Kurz darauf kommt auch Mama nach Hause. Sie hat vier schwere Einkaufstüten dabei, deren weiße Trageschlaufen schon ganz lang und durchsichtig sind. Wir beenden unser Spiel und gehen in die Küche. Papa hat das Radio eingeschaltet und hilft Mama beim Einräumen der Lebensmittel. Immer wenn sie an ihm vorbeigeht, ergreift er ihre Hände und wirbelt mit ihr herum, dass ihr Haar nur so durch die Luft fliegt. Mein Blick hängt an Mama, ich sehe sie so gern an. Mit ihrem Lachen macht sie einfach alle um sich herum glücklich, sogar die mürrischen Gemüsehändler in Möllan erstrahlen bei ihrem Anblick. Mila hat viel Ähnlichkeit mit ihr, sie hat genau die gleichen hohen Wangenknochen und Mamas samtweiche Haut. Nur bei mir ist das anders.

»Jetzt lass mich aber mal in Ruhe, ich muss Essen machen.« Mit gespieltem Ernst hebt Mama den Zeigefinger.

»Wie soll das gehen? Schließlich bist du die schönste Frau von Malmö!«

»Nur von Malmö?«, sagt sie enttäuscht, und Dani und ich lachen.

»Als ich eure Mutter kennengelernt habe, wusste ich sofort, dass ich sie heiraten wollte. Sie war die Schönste von ganz Kroatien«, sagt er zu uns, »also habe ich bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten.«

Mama legt Kartoffeln, Zwiebeln und Möhren auf die Arbeitsplatte und verdreht die Augen.

»Er wollte wissen, wie ich uns versorgen will, und da bin ich mit ihm zu Opas Restaurant, dem feinsten von ganz Zagreb, und habe gesagt: In ein paar Jahren besitze ich ein noch besseres. Ich habe erzählt, dass ich dort arbeite, um mir was anzusparen, aber sobald ich könnte, würde ich selbst eins aufmachen. Das absolute Spitzenrestaurant der Stadt sollte das werden, und Mama sollte in Saus und Braus leben.«

»Und was hat er da gesagt?«, fragt Dani.

»Er hat Ja gesagt, also habe ich mich aufs Rad geschwungen und bin den ganzen Weg bis zu dem Handarbeitsladen gefahren, in dem eure Mutter damals gearbeitet hat, und zwischen Stoffrollen und Wollknäueln bin ich vor ihr auf die Knie gegangen. Und natürlich konnte sie so ein Angebot auch nicht ausschlagen.«

Mama schüttelt den Kopf, und ich bin mir nicht sicher, ob sie das wegen Papas lustiger Art zu erzählen tut oder weil er nicht die Wahrheit sagt.

»Was ist denn aus dem Restaurant geworden?«, fragt Dani begierig, auch wenn wir die Geschichte schon hundertmal gehört haben.

»Der Krieg kam, und deine Mutter und ich beschlossen, erst mal hierher zu ziehen. Aber keine Sorge«, sagt Papa und reckt die Arme zur Siegerpose. »Ich habe den Plan nicht vergessen. Sobald wir genug Geld gespart haben, eröffnen wir das Restaurant einfach hier. Die besten und leckersten Gerichte vom Balkan – das kann nur ein Erfolg werden!«

»Du könntest ja erst mal mit einem leckeren Gericht für uns anfangen«, sagt Mama und reicht ihm einen Kartoffelschäler. »Wie ist es übrigens bei der Bank heute gelaufen?«

Papa wirft ihr einen Blick zu, schüttelt kurz mit dem Kopf und hält dann drei Kartoffeln hoch.

»Ein richtiger Koch muss mit seinem Gemüse jonglieren können«, sagt er, wirft die Kartoffeln in die Luft und fängt sie wieder auf.

»Das nennst du Jonglieren?«, lache ich ihn aus, woraufhin Papa mir zwei Kartoffeln in die Hand drückt.

»Dann zeig du mal, was du kannst.«

Ich versuche mein Glück, und beim dritten Anlauf klappt es schließlich. Papa und Dani applaudieren, aber Mama stupst mich sanft mit der Hüfte an.

»Wenn ihr was zu essen wollt, müsst ihr jetzt mal Platz machen hier.«

»Wir brauchen einfach eine größere Küche«, erklärt Papa. »In der gleichzeitig jongliert und gekocht werden kann.«

Mila erscheint in der Tür. Sie lehnt sich an den Rahmen und betrachtet uns mit einem gleichgültigen Blick.

»Dazu braucht ihr erst mal Geld, und das habt ihr nicht. Wir sitzen hier fest.«

»Mila«, sagt Mama mahnend, »so spricht man nicht.«

»Wir kommen schon an Geld, ich muss nur die richtige Bank finden«, sagt Papa, wirft eine Möhre hoch und fängt sie triumphierend wieder auf. »Wenn wir erst mal unseren ersten Stern haben, werden sich die Bankchefs schwarzärgern, dass sie nicht in unser Restaurant investieren wollten. Sie werden auf Knien angerutscht kommen und uns anbetteln, dass wir einen Kredit bei ihnen aufnehmen.«

»Wir finden nie eine Bank, die uns was gibt, wir sind nämlich arm«, fährt Mila fort und sieht Papa finster an. »Alle meine Freunde haben Geld und können lauter Sachen machen, weil ihre Eltern genug verdienen. Sie gehen Ski fahren und kaufen sich coole Klamotten und neue Fahrräder. Ich kapiere nicht, warum ihr nicht genauso sein könnt. Warum kannst du dir nicht einen besseren Job suchen, Papa, damit wir nicht mehr in diesem Loch hier hausen müssen?«

»Wenn mein Restaurant …«, beginnt er, aber Mama kommt ihm zuvor.

»Auf dein Zimmer! Sofort!«

Einen Augenblick bleibt Mila noch stehen, dann zuckt sie die Schulter und dreht sich um.

»Ach, ihr seid doch alle bescheuert«, murmelt sie und verschwindet.

Eine Weile ist nur das brutzelnde Öl im großen Kochtopf zu hören, dann lächelt Mama uns zu.

»So ist das nun mal als Teenager«, sagt sie. »Da spielen die Gefühle ein bisschen verrückt.«

Papa lächelt zurück, doch sein Blick ist traurig und die gute Stimmung dahin. Ich fühle mich leer, er soll wieder fröhlich sein.

»Erzähl doch noch ein bisschen vom Restaurant«, sage ich schließlich. »Wie soll es aussehen?«

»Interessiert euch das?«

»Ja«, antworten Dani und ich und nicken eifrig. Papas Augen leuchten wieder auf, und er macht eine Handbewegung, wie um uns sein imaginäres Restaurant zu präsentieren.

»Also, es soll fünfzig Plätze bekommen, genau wie Opa Janeks Restaurant. Oder nein, wir machen hundert draus, an runden Tischen mit weißen Leinentüchern«, schwärmt er. »Und wir servieren sämtliche kroatischen Delikatessen: schwarzes Risotto mit Muscheln, Pasticada, Brudet, Fuzi und jede Menge Meeresfrüchte. Die Leute werden völlig aus dem Häuschen sein!«

Während Mama ihr vegetarisches Gulasch kocht, erzählt Papa weiter von der Speisekarte und vom Interieur. Er klingt jetzt so froh, dass mir ganz warm ums Herz wird, und der Streit mit Therese und Josefine hat kaum noch Bedeutung.

Papa legt den Arm um mich, und ich schmiege mich an ihn. Er riecht nach Schweiß und Tabak und lacht laut auf, als Dani sich zwei Möhren wie Ohren an den Kopf hält und eine Grimasse schneidet. Papas Geschichten beruhigen mich, sie geben mir ein Gefühl von Sicherheit. Mama, Papa, Dani und Mila sind mein Zuhause. Wir gehören zusammen, und solange wir uns haben, ist alles andere unwichtig.

Kapitel 4

Ich drehe das Wasser so heiß, dass es auf der Haut brennt, und atme den Dampf ein. Vor einer Weile hat Papa mich mit einem lauten Schrei aus dem Schlaf gerissen. Es passiert immer öfter, dass er frühmorgens aufwacht und nicht mehr weiß, wo er ist. Er glaubt, er wäre in Zagreb und der Fliegeralarm ginge los. Das Haus wäre schon getroffen und wir müssten schnell raus. Dann dauert es immer eine Weile, bis ich ihn wieder beruhigt habe und seine Angstschreie verstummen.

»Tata«, sage ich und nehme ihn fest in den Arm. »Alles ist gut. Der Krieg ist vorbei.«

Mit verwirrten, geröteten Augen sieht er mich an und bebt am ganzen Körper. Wenn er sich etwas beruhigt hat, gehe ich mit ihm ins Bad und wasche ihn. Anschließend wechsle ich das Bettlaken.

Mila versteht nicht, warum ich mein Leben mehr oder weniger aufgegeben habe, um mich um Papa zu kümmern.

»Er kommt allein zurecht«, sagt sie, dabei hat sie nicht die geringste Ahnung, wie es ihm geht. Mila schaut nie bei uns vorbei, sie ist viel zu beschäftigt. Jetzt will sie mit ihrem Mann auch noch einen Wintergarten bauen, was wahrscheinlich »den ganzen Herbst« in Anspruch nehmen wird. Treffen vereinbart sie am liebsten bei sich zu Hause, in der Villa in Oxie, die nur mit der Unterstützung ihrer Schwiegereltern gekauft werden konnte.

Manchmal frage ich mich, ob meine große Schwester wohl irgendwann vergisst, wo sie aufgewachsen ist. Ob die Scham über ihre Herkunft als Einwandererkind aus dem ärmeren Teil von Malmö so groß ist, dass sie ihren Hintergrund schlicht und einfach verleugnet. Nichts an ihr verrät ihre slawischen Wurzeln. Das Haar wurde schon so oft blondiert, dass nicht mal mehr am Ansatz zu erkennen ist, welche Farbe es von Natur aus hat. Sie ist mit Anders verheiratet, dem weißesten Mann der Welt, hat seinen Namen angenommen, und Besuchern würde sie nie etwas anderes als schwedische Hausmannskost servieren.

Ich steige aus der Dusche und nehme mir vor, nicht schon wieder aufs Handy zu schauen, aber es zieht mich an wie ein Magnet. Christian Wallins Besuch liegt jetzt anderthalb Tage zurück, und noch immer habe ich nichts von Dani gehört.

Als ich angezogen bin, rufe ich mit dem Smartphone die größte Nachrichtenseite auf, wo mir das Gesicht einer blonden Frau entgegenspringt. Wie ich mir schon gedacht habe, ist ihr Verschwinden heute die Neuigkeit des Tages. Zerstreut beginne ich zu lesen. Linnea Arvidsson, 22 Jahre alt, spurlos verschwunden. Freitagmorgen verließ sie ihr Zuhause, um eine Vorlesung an der Universität Malmö zu besuchen, und seitdem wurde sie von niemandem mehr gesehen. Linneas Lebensgefährte, Richard Bofors, hat sie noch am selben Abend als vermisst gemeldet. »Es ist nicht Linneas Art, ohne eine Nachricht zu verschwinden. Als ich merkte, dass ihr Handy ausgeschaltet war, wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmt. Deshalb bitte ich alle, die Linnea möglicherweise gesehen haben, sich bei der Polizei zu melden. Wir brauchen Hilfe und sind für jeden Tipp dankbar.«

Die Sache mit dem ausgeschalteten Handy jagt mir einen Schauer über den Rücken, doch das ungute Gefühl verschwindet genauso schnell, wie es gekommen ist, und mein Blick wandert weiter zu dem Bild von Linneas Freund. Er steht vor einem Neubaukomplex in Västra Hamnen, trägt einen dunklen Anzug und hält ein Foto von Linnea hoch. Sein Gesicht ist ernst.

Irgendwie komisch, dass dieses Bild nur eine dreißigminütige Busfahrt weit weg von hier entstanden ist, denke ich. Das Haus hinter Richard Bofors ist strahlend weiß, die Bürgersteige sehen aus wie geleckt, und in den Fensterscheiben spiegelt sich das Meer. Ich frage mich, womit er sein Penthouse am Wasser und diese fette Armbanduhr verdient hat, die wahrscheinlich mehr als mein ganzes Jahreseinkommen gekostet hat. Ist er ein so viel besserer Mensch als ich?

Als es an der Haustür klopft, ist mein Haar immer noch nass. Mit einem Frotteehandtuch um den Kopf gehe ich in den Flur, öffne die Tür und blicke in Christian Wallins Gesicht, der mich prüfend ansieht.

Er trägt ein weißes Hemd und dasselbe gutsitzende Sakko wie bei seinem letzten Besuch, und dieses Mal kommt er mit in die Küche. Ich frage, ob er einen Kaffee möchte, und registriere ein kleines Naserümpfen, bevor er Ja sagt. Wortlos stelle ich ihm eine blaue Tasse hin, frage nicht nach, ob er auch Milch oder Zucker dazu nimmt. Das Schweigen zwischen uns schnürt mir regelrecht die Kehle zusammen.

»Danke«, sagt er und gibt mir mit einem Nicken zu verstehen, dass ich mich setzen soll.

Ich halte mich an der zerkratzten Tischplatte fest und mache mich auf das Schlimmste gefasst. Es sieht ganz so aus, als wäre er hier, um mir etwas mitzuteilen, und in meiner Magengrube breitet sich eine bleierne Schwere aus. Womöglich ist Dani tot und ich soll seine Leiche identifizieren.

»Haben Sie immer noch nichts von Ihrem Bruder gehört?«, fragt er.

Ich schüttele den Kopf und versuche, meine Gedanken zu ordnen. Wieso diese Frage, wenn Dani gar nicht mehr lebt?

»Nein«, antworte ich unsicher. »Er geht nicht ran.«

»Wir ermitteln gerade in einem Vermisstenfall und haben den Verdacht, dass Ihr Bruder etwas damit zu tun hat.«

Mir rutscht ein unwillkürliches Stöhnen heraus.

»Und was?«

»Darauf kann ich leider nicht eingehen.«

»Wie meinen Sie das?«, frage ich. »Glauben Sie, Dani hat jemanden entführt? So was würde er nie tun!«

»Wir haben Grund zu der Annahme, dass er eine Straftat begangen hat«, sagt Christian Wallin. »Mehr kann ich dazu nicht sagen, aber ich wollte sie trotzdem informieren.«

Vor mir auf dem Tisch liegt mein Handy, und plötzlich kommt mir ein Gedanke.

»Geht es um dieses Mädchen in Västra Hamnen?«

Er antwortet nicht, aber ich nehme ein leichtes Flackern in seinem Blick wahr.

»Was sollte Dani denn mit der zu tun haben?«

Christian Wallin räuspert sich.

»Gibt es irgendeinen Ort, den Daniel aufsuchen könnte, wenn er aus Malmö verschwinden will?«

»Nein, nicht dass ich wüsste.«

»Sie haben nicht irgendwo außerhalb der Stadt Verwandte oder einen Ort, wo Sie den Sommer verbringen?«, fährt er fort und holt seinen abgegriffenen Notizblock hervor.

»Nein, haben wir nicht. Und Dani würde niemals jemandem etwas antun.«

Ich versuche, Christian Wallins prüfendem Blick standzuhalten, doch je länger er mich mustert, desto unsicherer werde ich, und als ich an Danis Wohnung denke, läuft es mir kalt den Rücken runter. Ich sehe den zerwühlten Flur, die Blutflecken an der Wand und die beiden Wassergläser vor mir. Hat Dani Linnea Arvidsson überfallen?

»Entschuldigen Sie mich«, murmele ich und gehe zur Spüle. Die Übelkeit drückt mir auf die Brust, und ich wende Wallin den Rücken zu, um zu verbergen, dass ich mir die Hand vor den Mund halten muss.

»Falls irgendjemand in der Familie etwas von Daniel hört, müssen wir sofort informiert werden. Das ist sehr wichtig, verstehen Sie?«

Ich nicke.

»Ich werde auch mit Ihrer Schwester Mila Renström sprechen.«

Ich antworte nicht, starre nur hinunter in die Spüle.

»Wir hören voneinander.«

Es knarrt, als er aufsteht und die Küche verlässt. Ich rühre mich nicht vom Fleck, ich ertrage seinen Blick nicht, und sobald die Tür hinter ihm ins Schloss fällt, sinke ich zu Boden.

Fast augenblicklich ärgere ich mich, dass ich nicht vehementer protestiert habe, dass ich Wallin nicht von seinem Verdacht gegen Dani abbringen konnte, ganz egal, worin er besteht. Kann das überhaupt sein? Darf die Polizei einfach unschuldige Menschen ins Visier nehmen? Doch dann kommen mir andere Gedanken. Gedanken, die ich am liebsten ignorieren würde. Warum sah Danis Wohnung aus, wie sie aussah, und wieso geht er nicht ans Telefon? Irgendwo muss er doch sein.

Allmählich kommt Panik in mir hoch, und einen Moment lasse ich das Gesicht in meinen Handflächen ruhen. Dann weine ich, so leise ich kann, damit Papa mich nicht hört und sich womöglich Sorgen macht.

Heute ist mein freier Tag, und eigentlich wollte ich Brot backen, aber jetzt halte ich es in der Wohnung nicht mehr aus. Christian Wallins Besuch sitzt mir tief in den Knochen. Ich fühle mich regelrecht verfolgt von seinem Blick, also gehe ich hinunter auf die Straße, um nach Dani zu suchen. Ich schwinge mich aufs Rad und klappere alle Orte ab, die mir einfallen, frage in Bars und Restaurants, die er mag, suche in der Bowlinghalle und auf dem Basketballplatz. Nach ein paar Stunden ruft Mila an.

»Hallo. Die Polizei war gerade hier.«

»Okay, was haben sie gesagt?«

»Dass Dani unter Tatverdacht steht und sie ihn finden müssen. Zum Glück waren die Kinder nicht zu Hause, ich weiß nicht, wie ich ihnen das hätte erklären sollen.«

Bei dieser Bemerkung wird mir ganz schwer ums Herz. In meinem Kopf blitzt eine Erinnerung aus dem Sommer auf: Wir haben uns um den weißen Tisch in Milas Garten versammelt. Papa hat den Kopf zurückgelehnt und genießt die Sonne, während Ellen und Dani Fußball spielen. Max sitzt auf Danis Schultern und lacht jedes Mal laut auf, wenn sein Onkel sich von Ellen den Ball abluchsen lässt und ein weiteres Tor kassiert. Milas Kindern zu erklären, was hier los ist, wird so oder so schwer, ganz egal, worum es geht.

»Und wenn ihm was passiert ist? Was, wenn er …« Ich muss schlucken, kann den Satz nicht zu Ende bringen.

»Ich habe der Polizei gesagt, dass sie sich zu hundert Prozent auf mich verlassen können.«

»Was? Wie meinst du das?«

»Na ja, Dani hat offensichtlich irgendwas ziemlich Blödes angestellt, sonst würde er nicht einfach so verschwinden.«

»Woher willst du das wissen? Vielleicht ist ihm was passiert.«

»Lydia«, sagt sie nachdrücklich. Ich hasse es, wenn sie diesen zurechtweisenden Große-Schwester-Ton anschlägt.

»Kapierst du nicht, dass er dadurch noch verdächtiger wirkt? Wenn nicht mal seine eigene Familie an ihn glaubt, wer denn dann?«, sage ich viel zu laut. Ein Mann mit Rollator und einem verbundenen Auge starrt mich entgeistert an.

»Glaubst du, ich finde es toll, hier vor den Augen der Nachbarn Besuch von der Polizei zu bekommen? Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlt?«, faucht sie zurück. »Der Teufel soll ihn holen, wenn er uns in diesen Mist mit reinzieht.«