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Patricias Schwester ist während eines Praktikums in Schweden spurlos verschwunden. Jetzt, dreißig Jahre später, erhält sie einen anonymen Brief mit Madeleines Kette darin. Kurzentschlossen verlässt Patricia ihre Farm in Amerika und reist nach Schweden.
Im kleinen Strandort angekommen, mietet sie sich in einer gemütlichen Pension ein. Bald lernt sie auch die Frauen eines Buchsalons kennen, die die begeisterte Leserin prompt in ihren Kreis aufnehmen. Bei Kaffee und Kuchen, bei Gesprächen über Literatur, Liebe und alltägliche Probleme fühlt Patricia sich rundum wohl. Doch einige Frauen scheinen mehr über ihre Schwester zu wissen, als sie zugeben – und um Frieden zu finden, ist Patricia entschlossen, die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Frida Skybäck erzählt charmant, mit Humor und Hoffnung von begeisterten Leserinnen, von alten Wunden und neuen Anfängen.
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Seitenzahl: 500
Veröffentlichungsjahr: 2020
Frida Skybäck
Der kleine Buchsalon am anderen Ende der Welt
Roman
Aus dem Schwedischen von Karoline Hippe und Nora Pröfrock
Insel Verlag
Für Tilda & Klara
1
Als Patricia Sloane den länglichen Briefkasten öffnet und die Tagespost herausholt, bemerkt sie den weißen Umschlag zunächst gar nicht. Sie klemmt sich den Stapel Briefe, Zeitungen und Werbebroschüren unter den Arm, klappt die kleine rote Fahne wieder herunter und geht zum Tor.
Obwohl noch Mai ist, liegt bereits eine drückende Hitze über Charlottesville. Die Wiese ist gelb und trocken und der Acker so ausgedörrt, dass sich rund um den Hof lange Risse im Erdboden gebildet haben.
Patricia legt die Hand auf den weißen Torpfosten. Ihr Arbeitstag im Sekretariat der Mackenzie Junior High war heute außergewöhnlich lang. Gleich am Morgen gab es einen Feueralarm, in der ersten Stunde, mitten im Sexualkundeunterricht der Achtklässler.
Patricia wusste sofort, dass es ein falscher Alarm war. Sie sah Dennis Rodd mit einem Feuerzeug in der Hand über den Korridor laufen. Doch aus Sicherheitsgründen mussten sie das Gebäude trotzdem räumen – und fünfhundert Jugendliche in Reih und Glied auf einem Fußballfeld versammeln zu müssen, kann man sich in etwa so vorstellen, wie eine aufgebrachte Bisonherde durch ein viel zu enges Gatter zu treiben.
Patricia massiert sich die schmerzende Schulter. Die Unterbrechung führte natürlich dazu, dass der Sexualkundeunterricht mit den Achtklässlern nicht zu Ende geführt werden konnte (genau wie alle anderen Unterrichtsstunden), worüber sich der Biologielehrer Mr. Alvarez furchtbar aufregte. Nun hätten die Schüler gerade einmal den ersten, rein informativen Teil seines Vortrags gehört, zeterte er, nicht aber den zweiten, in dem er auf die Konsequenzen eines – wie er es ausdrückte – »unverantwortlichen Umgangs mit dem Reproduktionssystem« eingehe, und er verlangte augenblicklich eine Stundenplanänderung, damit er die Unterrichtseinheit abschließen könne. Patricia hätte am liebsten erwidert, er solle mal über seinen eigenen unverantwortlichen Umgang mit Rasierwasser nachdenken. Doch dann konnte sie mit dem Mathematiklehrer der Klasse vereinbaren, dass Mr. Alvarez eine halbe Stunde von dessen Unterricht für seine Zwecke verwenden durfte.
Zu diesem Zeitpunkt war es bereits zehn Uhr, und Patricia war mit ihren morgendlichen Aufgaben weit hinterher. Eine Dreiviertelstunde später, als gerade wieder Land in Sicht war, kam Rachel Morgan mit zwei Fingern in der Nase ins Sekretariat. Sie trug Sportkleidung, und oberhalb ihrer heruntergerutschten Kniestrümpfe waren Schürfwunden zu sehen.
»Slide-Tackling«, murmelte sie.
Unglücklicherweise war Patricia gerade so tief in einen ellenlangen Bericht des Direktors über den Materialverbrauch der Arbeitsgruppen vertieft, dass sie nur »Wie bitte?« antworten konnte, woraufhin das Mädchen die Finger aus der Nase nahm und das Blut nur so über die Fußmatte mit dem Willkommensschriftzug und dem Emblem der Schule spritzte.
Auf die Schnelle sah Patricia keine andere Lösung, als sich ihr Lieblingstuch vom Hals zu reißen und es Rachel ins Gesicht zu drücken, während sie nach der Schulkrankenschwester rief. Doch wie so oft war Mrs. Fletcher gerade auf einer Fortbildung, und am Ende musste Patricia sich gewaltsam Zugang zu deren Büro verschaffen. Als sie die arme Rachel eine ganze Weile später mit zwei Tampons in den Nasenlöchern wieder fortschickte, hatte es gerade zur Mittagspause geläutet.
»Wenn du wüsstest, was ich heute für einen Tag hatte«, sagt Patricia und begrüßt Barry, den großen Labrador der Familie, der ihr am Tor entgegenkommt. Barry schüttelt fröhlich den Kopf, und Patricia muss lachen. Ohne ihn wäre sie nie allein auf dem Hof in Mill Creek wohnen geblieben. Barry ist nicht nur ihr Wachhund, er leistet ihr auch Gesellschaft, wann immer sie die Einsamkeit überkommt.
Mit wedelndem Schwanz und kleinen, munteren Sprüngen begleitet er sie auf die Veranda, wo Patricia sich auf der blaugestrichenen Hollywoodschaukel niederlässt.
Von den Feldern her weht eine Brise und sorgt für angenehme Erfrischung, während Patricia die Post durchblättert und sie zu kleinen Stapeln sortiert. Alle Rechnungen auf einen, und die Reklame des nahe gelegenen Dorfladens auf die letzte Ausgabe von Ackerbau. Schließlich hält sie nur noch einen Brief in der Hand. Der Umschlag ist klein, die Adresse fein säuberlich mit schwarzer Tinte geschrieben, und der Poststempel stammt aus dem Ausland.
Mit forschendem Blick dreht Patricia das Kuvert um. Kein Absender. Sie bekommt nur selten handgeschriebene Briefe und denkt als Erstes, dass dieser hier eigentlich bei Tom und Eunice zwei Häuser weiter hätte landen sollen. Die beiden nehmen regelmäßig Austauschschüler bei sich auf, und in den letzten zehn Jahren haben Jugendliche aus Holland, Frankreich und Deutschland bei ihnen gewohnt, um das Leben an einer echten amerikanischen High School kennenzulernen. Patricia hat noch nie verstanden, warum Familien mit dem entsprechenden Kleingeld ihre Kinder ausgerechnet nach Mill Creek schicken, aber vermutlich können Bier-Pong und Flaschendrehen in einer englischsprachigen Umgebung durchaus lehrreich sein. Der Brief jedoch ist nicht an Tom und Eunice adressiert, sondern an sie.
Patricia versucht, den weißen Umschlag zu öffnen, doch er ist sorgfältig zugeklebt, und nach der Heimfahrt durch die Hitze hat sie Durst. Sie geht ins Haus, schenkt sich aus einer Karaffe im Kühlschrank ein Glas Eistee ein und nimmt bei der Gelegenheit ein Messer mit nach draußen, um den Briefumschlag aufzuschlitzen.
Drüben an der roten Scheune steht eine Tür offen und schlägt im Wind. Das Gebäude müsste mal wieder gestrichen werden – die Farbe ist ausgeblichen und blättert schon hier und da ab –, aber Patricia hat weder Zeit noch Geld, um sich darum zu kümmern.
Müde lässt sie den Blick über die Felder schweifen. Seit ihrer Kindheit hat sich an der Umgebung des Hofes nichts verändert. Die grünen Tabakpflanzen wehen im Wind, und dahinter, inmitten der leuchtenden Weizenhalme, glänzt der Getreidesilo des Nachbarn in der Sonne.
Patricia wedelt sich mit der Zeitung Luft zu. Ihre bescheidene Landwirtschaft konnte sich noch nie mit ihrem Nachbarn Henderson messen, und in den letzten Jahren hat sie den Betrieb Schritt für Schritt eingestellt. Der Großteil des Ackerlandes, das sie von ihren Eltern geerbt hat, ist inzwischen verkauft, sämtliche Kühe und Schweine versteigert, und selbst von den wenigen Gerätschaften, die in gebrauchtem Zustand noch etwas wert waren, hat sie sich getrennt. Ein Teil von ihr hätte die Tierhaltung gern fortgeführt, aber so ein Hof lässt sich allein nicht betreiben. Nun sind nur noch ein paar Hühner und ein kleiner Gemüsegarten übrig, in dem sie Kürbisse, Tomaten und Bohnen zieht, doch die Geräusche und der Geruch von Vieh fehlen ihr sehr.
Hin und wieder fragt sich Patricia, was wohl geschehen wäre, wenn sie den Hof verlassen hätte. Es war nie ihre Absicht, hierzubleiben, doch nachdem ihre jüngere Schwester Madeleine vor mehr als dreißig Jahren spurlos verschwunden war, konnte Patricia den Hof nicht einfach aufgeben.
Ihr Blick fällt auf die hölzerne Armlehne der Hollywoodschaukel, in die ein M und ein P eingeritzt sind, und sie muss seufzen. Als Kinder waren sie wie Pech und Schwefel. Sie verbrachten jede freie Minute zusammen, und als sie älter wurden, war Madeleine Patricias engste Vertraute. Nachdem Patricia von zu Hause ausgezogen war, rief sie ihre Schwester jeden Sonntag an. Sie konnten stundenlang miteinander telefonieren, auf dem Bett liegend, die Telefonschnur um den Finger gewickelt, und sich über die Ereignisse der vergangenen Woche austauschen. Jedes Mal, wenn Patricia von einem missglückten Date oder irgendeiner peinlichen Begebenheit am College berichtete, brach Madeleine in so lautes Gelächter aus, dass ihr Vater im Nebenzimmer an die Wand klopfte.
Deshalb war Patricias Freude nicht ungetrübt, als sie von dem Praktikumsplatz erfuhr, den Madeleine in einer Freikirche in einem kleinen schwedischen Ort bekommen hatte. Sie wusste zwar, dass dies eine Chance für ihre Schwester war, etwas von der Welt zu sehen und das Heimatland ihrer Mutter kennenzulernen, aber die Trennung fiel ihr dennoch schwer. Bald würde ein ganzer Ozean zwischen ihnen liegen.
Patricia schüttelt den Kopf. Die Erinnerung an die letzten gemeinsamen Minuten mit ihrer Schwester treibt ihr immer noch Tränen in die Augen. Patricia war damals diejenige, die sie zum Bahnhof nach Charlottesville fuhr. Madeleine war so glücklich. In ihren Augen funkelte die Vorfreude, und sie winkte fröhlich zum Abschied. Hätte Patricia gewusst, was geschehen würde, hätte sie Madeleine an der Abreise gehindert, doch so stand sie nur am Bahnsteig und winkte zurück.
Sanft fährt sie mit den Fingern über die Inschrift auf der Hollywoodschaukel. Es ist ein eigenartiges Gefühl, einen geliebten Menschen zu verlieren, und noch eigenartiger ist es, nicht zu wissen, was eigentlich mit ihm geschehen ist. Madeleine war gerade einmal ein paar Monate in dem kleinen Ort, als sie verschwand. Eines Tages packte sie einfach ihren Koffer und verließ die Kirche, ohne irgendwem zu sagen, wohin sie wollte, und seither ward sie nicht mehr gesehen.
Patricia schiebt die Gedanken beiseite und wendet sich wieder dem Brief zu. Ihre Lesebrille steckt noch in der Tasche, doch sie hat jetzt keine Lust, sie hervorzuholen. Mit zusammengekniffenen Augen mustert sie den Umschlag genauer. Auf der Briefmarke ist in Blaugrau die Silhouette einer Königin mit Krone abgebildet. Während ihre Finger um die Ecken des Kuverts spielen, entziffert sie halbherzig die Buchstaben. S v e r i g e.
Patricia fährt zusammen. Der Brief kommt aus Schweden?
Schnell führt sie das Messer seitlich in den Umschlag und schlitzt ihn auf. Mit pochendem Herzen greift sie hinein, doch zu ihrer großen Überraschung findet sie darin keinen Brief. Der Umschlag ist leer. Nein, nicht ganz, da ist irgendwas, das spürt sie, und als sie den Umschlag umdreht, fällt es heraus.
Patricia starrt auf die kleine Halskette in ihrer Hand. Ihr wird schlagartig schlecht, und sie weiß nicht, wohin mit sich. Eine innere Stimme sagt ihr, dass sie aufstehen und davonlaufen soll, doch sie rührt sich nicht vom Fleck.
Mit zitternden Fingern hält sie die zierliche Kette in die Sonne. Das Silber glänzt matt, und das kleine Medaillon in Form einer Note baumelt hin und her.
Patricia schließt die Hand um das Schmuckstück. Sie hat es seit dreißig Jahren nicht gesehen, doch sie erkennt es sofort wieder.
Langsam nimmt sie das Medaillon zwischen die Finger und betrachtet es genauer. Mit einem Mal scheint die Welt um sie herum aus den Fugen geraten zu sein. Diese Kette hat sie Madeleine zum achtzehnten Geburtstag geschenkt. Am Tag ihrer Abreise nach Schweden trug sie sie um den Hals.
Patricia schließt die Augen. Ihre Gedanken überschlagen sich, und sie versucht, sie zu sortieren. Ist das wirklich Madeleines Halskette? Und wenn ja: Wieso wird sie ihr nun zugeschickt? Heißt das vielleicht, irgendjemand weiß, was mit ihrer Schwester passiert ist?
Erst, als Barry sie anstupst, öffnet sie die Augen wieder. Sie steht auf und wankt in die Küche, wo es fast genauso warm ist wie draußen. Sie dreht den Wasserhahn auf und beugt sich vor, um sich das Gesicht zu waschen.
Das kalte Wasser rinnt Patricia den Hals hinunter, und sie holt tief Luft. Barry hat sich auf den Küchenläufer neben sie gesetzt. Erwartungsvoll sieht er sie an, so als warte er auf Futter.
Patricia greift nach einem Küchenhandtuch und tupft sich das Gesicht ab. Sie versucht, die Halskette aus der Hand zu legen, muss sie aber immer wieder anschauen. Wie benommen reibt sie sich den Nacken.
Ihr halbes Leben fragt sie sich nun schon, was ihrer kleinen Schwester wohl zugestoßen sein mag. Auf der Suche nach einer Erklärung für Madeleines Verschwinden hat sie sich die verschiedensten Szenarien ausgemalt, doch keins davon ließ sie jemals zur Ruhe kommen. Patricia hat stets im Schatten der Ungewissheit gelebt und die Fragen mit sich getragen. So eine Trauer lässt einen nicht los, spürt sie, dieses Gefühl ist immer zugegen, wie ein Hohlraum im Herzen.
Sie legt Barry die Hand auf den Kopf und streichelt das weiche Hundefell. Dann rückt ihre Gefühlswelt plötzlich auf Abstand. Wer immer ihr die Halskette geschickt hat, weiß etwas über Madeleines Verbleib, also muss sie versuchen, den Absender oder die Absenderin zu finden. Aber wie soll Patricia herausbekommen, von wem der Brief stammt?
Obwohl es eigentlich noch zu früh ist, füllt sie Trockenfutter in Barrys rostfreie Schale. Der Hund wedelt freudig mit dem Schwanz und stürzt sich auf seine Mahlzeit, als Patricia sie vor ihm abstellt.
Sie betrachtet ihn. Seit Jahren wünscht sie sich nichts sehnlicher als ein Zeichen ihrer Schwester, aber jetzt, da sie endlich eins bekommen hat, lässt sie das eigenartig kalt.
»Ich werde wohl nach Schweden müssen«, sagt sie mit tonloser Stimme zu Barry. »Ich werde wohl noch einmal dort hinreisen und einen neuen Versuch starten müssen, Madeleine zu finden.«
Barry schaut auf und sieht sie mit seinen treuen Augen an, und eine Sekunde lang hat sie das Gefühl, dass er sie genau versteht. Dann senkt er den Kopf und widmet sich wieder seinen Pellets mit Lebergeschmack.
2
Der Drehschalter ist locker, gibt aber immer noch ein Klicken von sich, als Evy das Radio um Punkt 07:54 Uhr einschaltet, genau zu Beginn des Land- und Seewetterberichts. Das Gerät hat gerade mal zehn Jahre auf dem Buckel, aber es macht schon Mucken, und Evy weiß, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis sie mit dem Bus in die Stadt fahren muss, um ein neues zu kaufen.
Einen kurzen Moment ist Funkstille, dann stellt sich der Meteorologe vor. Evy seufzt. Manchmal fragt sie sich, nach welchen Kriterien diese Wetterfrösche eigentlich ausgewählt werden. Ob die bei Radio Schweden absichtlich nervtötende Stimmen suchen? Vielleicht wollen sie ja, dass die Zuhörer während der Wettervorhersage einschlafen, vielleicht ist das so eine Art Experiment.
Mit schleppendem Ton geht der Meteorologe seinen Bericht durch. Er klingt, als wäre er eben erst aufgewacht und würde beim Ablesen des Textes darüber nachdenken, wie lange seine Frühstückseier kochen sollen. (Eigentlich mag ich es ja am liebsten, wenn das Eigelb noch flüssig ist, aber hartgekochte Eier lassen sich besser in Scheiben schneiden und aufs Brot legen. Die Sicht über die südliche Ostsee ist übrigens gut, Regen wird es keinen geben, am Vormittag weht ein mäßiger bis frischer Wind aus nordwestlicher Richtung, aber mit abnehmender Stärke, und der Wasserstand ist unverändert.)
Evy drückt die Spitze ihres Stiftes auf den Notizblock und schreibt so schnell sie kann. Ihr darf nichts entgehen, denn der nächste Seewetterbericht wird erst wieder um 12:55 Uhr gesendet.
Als sie fertig ist, trinkt sie einen Schluck Kaffee und lässt den Blick aus dem Fenster schweifen. Nur weil im Moment gute Wetterverhältnisse herrschen, heißt das noch lange nicht, dass weniger Unglücke passieren. Im Gegenteil, bei schönem Wetter zieht es nur umso mehr Menschen ans Meer, sodass das Risiko sogar eher steigt.
Sie will sich gerade zwei Scheiben Knäckebrot mit Butter, Leberwurst und Gurke fertig machen, als sie draußen ein Geräusch hört. Ein lautes Jammern durchdringt die Luft, und im selben Moment kratzt es an der Tür. Schnaufend steht Evy vom Tisch auf und humpelt los.
Auf der Treppe steht Saba und reckt sich in der Morgensonne. Es scheint ihr kein bisschen unangenehm zu sein, dass sie die ganze Nacht unterwegs war. Unbekümmert schwingt sie den Schwanz von Seite zu Seite, wie um zu sagen: »Die Königin ist heimgekehrt.«
Evy öffnet die Tür einen Spalt breit und starrt die Katze an, die nur unbeeindruckt zurückstarrt.
»Na dann, rein mit dir«, murmelt sie und lässt das Tier vorbeihuschen.
Saba springt auf den freien Stuhl am Küchentisch, und Evy serviert ihr auf dem zweiten Teller, der schon bereitsteht, etwas Leberwurst.
Die beiden essen schweigend, und Evy denkt, dass dies die beste Zeit des Tages ist. Ein paar Minuten sitzt sie einfach da, spürt das knusprige Knäckebrot und die fettige Leberwurst im Mund und hängt ihren Gedanken nach. Doch dann ist plötzlich erneut ein Geräusch zu hören. Nebenan fällt die Tür des Nachbarn ins Schloss, und Evy wirft erschrocken einen Blick auf die Uhr. Halb neun. Schon?
Schnell legt Evy den Deckel auf die Leberwurstdose. Normalerweise hat sie zu dieser Zeit bereits fertig gefrühstückt, aber heute hat alles etwas länger gedauert, wegen dieser vermaledeiten Arthrose. Wenn sich ihr Knie bemerkbar macht, kommt sie nicht so leicht vom Fleck wie sonst, und der stechende Schmerz bringt sie dazu, länger sitzen zu bleiben, als sie eigentlich sollte.
»Runter auf den Boden!«, zischt sie Saba zu und versucht gleichzeitig, die Küchengardine vor dem offenen Fenster zuzuziehen. Doch es ist schon zu spät. Yusuf steht bereits draußen und winkt.
»Guten Morgen«, sagt er fröhlich. Wie jeden Tag trägt er ein braunes Hemd, eine grüne Weste und eine khakifarbene Hose, die ihm knapp bis über die Knie reicht und ihn noch kleiner aussehen lässt, als er ohnehin schon ist.
Evy starrt ihn an.
»Sie versperren mir die Aussicht.«
»Entschuldigung«, murmelt Yusuf und macht schnell einen Schritt zur Seite. »Ich wollte eigentlich nur Bescheid sagen …«
Er gerät ins Stocken, und Evy verdreht die Augen.
»Ja, was wollten Sie sagen?«
»Dass … dass Saba heute Nacht auf meinem Balkon war. Mal wieder.«
Evy fasst sich an die Stirn. Sie und Yusuf wohnen nun schon seit über einem Jahrzehnt Tür an Tür, und trotz all ihrer subtilen Signale im Laufe der Jahre hat er immer noch nicht kapiert, dass sie keinerlei Interesse an seiner Gesellschaft hat. Es ist wirklich erstaunlich, wie vielen Einwohnern dieses Ortes es an grundlegender Sozialkompetenz zu mangeln scheint.
»Aha. Und was soll ich Ihrer Meinung nach dagegen tun? Die ganze Nacht aufbleiben und sie bewachen vielleicht?«
Yusuf schaut betreten zu Boden, während ihm sein frecher kleiner Dackel Melker um die Beine scharwenzelt.
»Nein, das geht natürlich nicht.«
Evy seufzt.
»Hören Sie einfach auf, sie zu füttern, dann löst sich das Problem von selbst.«
»Aber das habe ich doch nur einmal gemacht, als Sie im Krankenhaus waren«, protestiert Yusuf.
Saba ist mit ihrer Leberwurst fertig und schnurrt zufrieden, so als wüsste sie genau, was sie angerichtet hat. Evy beginnt, den Tisch abzuräumen.
»Ich habe jetzt keine Zeit, mich noch weiter zu unterhalten«, sagt sie bestimmt.
»Nein, nein«, antwortet Yusuf nickend. »Sie müssen ja Ihre Runde drehen.«
»Genau.«
Er zieht an Melkers Leine.
»Aber wenigstens ist heute schönes Wetter«, versucht er sie aufzumuntern.
»Das heißt überhaupt nichts.«
»Nein, natürlich nicht.«
Evy verschränkt die Arme vor der Brust und starrt ihn an, bis er endlich den Anstand hat, sich zurückzuziehen.
»Na, dann sehen wir uns später«, ruft er ihr noch zu.
»Nicht, wenn ich Sie zuerst sehe«, antwortet sie, aber der Dackel hat ihn bereits außer Hörweite gezogen.
»Ich glaube, heute ist mal wieder so ein Tag«, murmelt Evy und begegnet Sabas Blick. »Was hältst du von ein bisschen Schlagsahne zum Nachtisch?«
Wegen der Schmerzen im Knie dauert die Morgenrunde heute besonders lange, und als Evy endlich fertig ist, humpelt sie den Pfad zurück zur Hauptstraße. Saba folgt ihr. Sie begleitet Evy immer auf ihrer Runde, schleicht ihr in einigen Schritten Abstand hinterher und späht über die Wiesen, als wäre sie auf geheimer Mission.
Es ist jeden Morgen die gleiche Prozedur. Zuerst kontrolliert Evy, ob die Aufhängung des Rettungsrings ordnungsgemäß festgeschraubt und die Sicherheitsleine vor dem Sonnenlicht geschützt ist, anschließend sieht sie nach, ob sich der Rettungshaken an seiner Stange befindet und der Signalwimpel unversehrt ist.
Hin und wieder kommt es vor, dass irgendein dämlicher Teenager seine Kumpels beeindrucken will und den Rettungsring ins Wasser wirft, und dann muss sie den Ring wieder an Land ziehen, aufhängen und sich vergewissern, dass er nicht beschädigt wurde.
Die Verantwortung für die örtliche Rettungsausrüstung hat Evy von sich aus übernommen, nicht, dass ihr das hier irgendjemand danken würde. Seit Jahren versucht sie nun schon, den Stadtrat zur Anschaffung einer Rettungsinsel für die kleine Strandbucht zu bewegen, außerdem hat sie die Anbringung einer zusätzlichen Rettungsleiter an der Südseite des Anlegers vorgeschlagen, aber von alldem will der Stadtrat nichts wissen.
Evy ballt die Hand in der Tasche zur Faust. Beim bloßen Gedanken daran überkommt sie Wut. Alf, der Stadtratsvorsitzende, ist wirklich nicht der Hellste. Ihm zufolge ist die Strömung am Anleger eher schwach, eine Boje sei somit mehr als genug, dabei weiß doch jedes Kind, dass die Strömung von variierender Stärke ist und noch dazu aufs offene Meer hinausführt. Am liebsten würde Evy Alf mal die Südseite hinunterstoßen, um zu sehen, ob er es mithilfe einer Boje zurück an Land schafft, aber bisher fehlt ihr noch eine Idee, wie sie ihn runter zur Bucht locken könnte.
Es ist ein schöner Morgen, auch wenn Evy solcherlei Dingen normalerweise nicht besonders viel Bedeutung beimisst, und auf dem letzten Stück ihres Weges in den Ort hinein spürt sie die warmen Sonnenstrahlen im Gesicht.
In der Ferne sieht sie Monas Bed, Breakfast & Books. Die alte gelbe Kapitänsvilla mit ihrer verspielten Architektur, den Zierleisten an der Fassade und den zierlich gedrechselten Fensterrahmen prangt am Ende der Hauptstraße umgeben von einem dicht bewachsenen Garten. Evy kennt Mona, seit sie Anfang der Achtzigerjahre nach Ljusskär kam, und auch wenn sie furchtbar zerstreut ist und ständig dieselben Fragen stellt (»Wie geht es dir?« – »Es geht, ich habe Knieschmerzen.« – »Oje, und wie ist es mit deinem Knie?« Da capo!), gehört sie zu den wenigen Menschen, mit denen Evy gut zurechtkommt.
Evy wirft einen Blick über die Schulter, bevor sie die Straße überquert. Als Mona ihr damals erzählte, dass sie das alte Hotel ihrer Eltern umtaufen und »Monas Bed, Breakfast & Books« nennen wollte, war Evy aufrichtig beeindruckt. Sie sah bereits vor sich, wie Ljusskär zum Reiseziel literaturinteressierter Touristen würde und sie auf der großen Glasveranda progressive Diskussionsrunden und spannende Autorenlesungen stattfinden ließen.
Doch leider fiel Monas Vision sehr viel bescheidener aus. Sie wollte das Haus vor allem deshalb mit Büchern füllen, weil sie das gemütlich fand, und seither sind lediglich Besucher nach Ljusskär geströmt, die weder von Faulkner noch von Proust gehört haben.
Evy presst die Hand auf ihr schmerzendes Knie. Da sie mit Mona keinen Streit vom Zaun brechen will, hat sie das Thema mittlerweile fallenlassen, aber es besteht kein Zweifel, dass man aus diesem B, B & B noch viel mehr machen könnte. Beim Reinkommen hat man fast das Gefühl, im Wohnzimmer einer altersdementen Bibliothekarin gelandet zu sein. Wobei selbst eine senile alte Bibliotheksassistentin wohl noch irgendein Ordnungssystem hätte. Bei Mona hingegen liegen die Bücher überall kreuz und quer verteilt – zwischen den seltsamen Blumentöpfen an den Fenstern, auf kleinen Tischchen neben den zerschlissenen Sesseln und unter jeder Schüssel und jedem einzelnen Dekorationsgegenstand. Außerdem sind sämtliche Gardinen und Tischdecken aus unterschiedlichen Stoffstücken genäht, und auf allen freien Flächen stehen handgeblasene Flohmarktvasen, alte Blechdosen mit Deckel und merkwürdige Kerzenständer. Das Ganze wirkt gelinde gesagt chaotisch, und noch dazu serviert Mona dort ihre selbstgetrockneten Algen in kleinen Gefäßen in Tierform. Als würde irgendjemand mit Sinn für Literatur und einem gewissen Maß an Selbstrespekt Snacks aus rosafarbenen Flamingo-Schälchen essen!
Je länger Evy darüber nachdenkt, desto mehr gerät sie in Rage. In all den Jahren hat Mona nicht einen einzigen Literatursalon zustande gebracht. Einmal hätte sie fast Bjarne Neesgard zu Gast gehabt, aber sein Hallux valgus machte ihm so zu schaffen, dass er wieder absagen musste, auch wenn Mona ihm uneingeschränkte Fußpflege während seines Aufenthalts und einen Lebensvorrat an Zehenspreizern versprochen hatte.
Ein Lesezirkel hat zwar hin und wieder mal stattgefunden, aber auf den gibt Evy nicht viel. Anfangs war sie selbst ein paarmal dabei, doch sie war die banalen Diskussionen schnell leid. Oft ging es mehr um den Wein, der bei den Treffen getrunken werden sollte, als um das Buch, und viele Teilnehmerinnen nutzten die Gelegenheit ganz dreist dazu, ihren persönlichen Problemen Luft zu machen, anstatt sich auf die Handlung und die Entwicklung der Figuren zu konzentrieren. Wenn man selbst mehrere Stunden darauf verwendet hat, ein Werk aufs Gründlichste durchzuanalysieren, und darauf brennt, seine Ergebnisse mit den anderen zu teilen, ist es höchst enttäuschend, stattdessen einer weinseligen Versicherungsangestellten mit selbstgemachter Dauerwelle zuhören zu müssen, die sich darüber beklagt, dass eine Band namens ABBA auseinandergegangen ist.
Beim letzten Treffen, zu dem Evy sich aufraffen konnte, hat sie heimlich eine Stoppuhr benutzt, und genau wie sie befürchtet hatte, wurden gerade mal elf Prozent der Zeit auf die Besprechung des ausgewählten Buches verwandt. Als die Dauerwelle obendrein verkündete, sie wolle zum nächsten Mal Das Tal der Pferde lesen, beschloss Evy, aus dem Buchklub auszutreten.
Evy bekommt noch immer einen üblen Geschmack im Mund, wenn sie an all die Trivialliteratur denkt, die sie um ein Haar hätte lesen müssen. Nein, ein solches Opfer kann sie selbst für Mona nicht bringen.
Sie wechselt die Straßenseite und will in Richtung Hotel abbiegen, als ihr plötzlich jemand ins Auge fällt. Schnell macht sie einen Schritt hinter eine Hausecke. Obwohl gut dreißig Meter zwischen ihnen liegen, ist Evy nicht im geringsten Zweifel, wen sie da kommen sieht. Diese Figur auf den aberwitzig hohen Absätzen, die ein so enganliegendes Kleid trägt, dass sie aussieht, als hätte ihr jemand eine Ganzkörperbandage verpasst, ist Marianne.
Evy lehnt sich an die Wand und spürt, wie Saba, die sie inzwischen eingeholt hat, sich an ihre Beine schmiegt. Sie kann nicht verstehen, dass Marianne freiwillig auf solchen Schuhen herumläuft, und was sie in Ljusskär macht, ist auch eine gute Frage. Kann sie nicht einfach in Amerika bleiben, wo es ihr doch offenbar so gut gefällt?
Marianne scheint gerade auf dem Weg zu Mona zu sein, hält jedoch inne, als ein Piepsen aus ihrer Handtasche ertönt. Mit einer routinierten Geste zückt sie ein Handy und drückt es sich ans Ohr.
Evy rümpft die Nase. Gewisse Menschen sind offensichtlich so wichtig, dass sie jederzeit erreichbar sein müssen. Sie selbst würde sich nie so ein tragbares Telefon zulegen. Wenn irgendwer mit ihr reden will, tut es auch der Festnetzschluss.
Evy stößt ein Seufzen aus. Eigentlich wollte sie sich ein bisschen Algengebäck kaufen, aber solange Marianne um das Hotel herumstreunt, setzt sie dort keinen Fuß hinein. Seit diese Person ihr Elternhaus abreißen und diese hässliche Villa bauen ließ, die Evy den Meerblick versperrt, ist ihr Marianne zuwider. Sie ist arrogant und selbstgefällig, eine richtige Madame Je-sais-tout, wie Voltaire sagen würde. Sie hat einfach überhaupt keine Manieren.
Verärgert macht Evy kehrt. Es ist ihr ein Rätsel, wieso Ljusskär so eine magnetische Anziehungskraft auf die eigenartigsten Individuen ausübt. Ausgerechnet hier scheinen sich sämtliche Idioten der Welt zu versammeln, und Evy fürchtet, dass sie bald der einzige zurechnungsfähige Mensch in diesem bedauernswerten Ort sein wird.
3
Erika neigt den Rückspiegel und betrachtet Lina, die mit dem iPad auf dem Schoß auf der Rückbank sitzt. Als ihre Tochter aufschaut und sie ansieht, lächelt Erika ihr zu.
»Wir sind bald da.«
Lina nickt. Die Arme hat nicht die geringste Ahnung, dass sie den frühen Aufbruch um acht Uhr morgens an diesem ersten Sommerferientag den missglückten Verführungsplänen ihrer Mutter zu verdanken hat.
Erika kaut an ihrem kleinen Fingernagel. Als Teenager dachte sie, das mit dem Sex würde sich schon irgendwie regeln, sobald sie erwachsen wäre. Damals hatte sie die Vorstellung, dass es irgendwann zu einem natürlicheren Teil des Lebens würde – so wie Sonntagsbraten oder Fensterputzen (was, wenn sie genauer darüber nachdenkt, im Grunde einiges mit Sex gemeinsam hat – beides erfordert einen gewissen Einsatz und ist mit einer Reihe seltsamer Stellungen verbunden, aber hinterher ist man zufrieden und fragt sich, warum man es nicht öfter macht).
Sie lässt den Blick kurz über die Felder schweifen. Fenster putzen muss sie tatsächlich auch mal wieder, aber wann soll sie das machen bei all den Aufgaben ihrer ewig langen To-do-Liste? Ihre Nachbarin Henrietta Sköld hat erzählt, dass sie und ihr Mann sich nach einem festen Plan mit der Hausarbeit abwechseln, damit immer alles rechtzeitig erledigt ist. Ihr Haus sieht stets makellos aus – die Fenster sind sauber, der Garten ist picobello und der Rasen frisch gemäht. Henrietta würde nie vergessen, ihren Kindern Proviant für den Schulausflug einzupacken, vor den Feiertagen das Haus entsprechend zu dekorieren oder rechtzeitig von Sommer- auf Winterreifen zu wechseln. Vermutlich läuft bei ihr und Adam auch im Bett alles wie am Schnürchen. Ihr Sexleben ist bestimmt genauso durchreguliert wie das Fensterputzen.
Ein Mercedes überholt in viel zu hohem Tempo, und Erika zuckt erschrocken zusammen, sodass der Wagen einen kleinen Schlenker macht. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals, und sie wirft Lina erneut einen Blick zu, doch die scheint nichts mitbekommen zu haben.
Vorsichtig verringert sie die Geschwindigkeit und atmet einmal tief durch. Lange Strecken fährt Erika überhaupt nicht gern. Eigentlich hätte die ganze Familie gemeinsam in den Urlaub fahren sollen, so war es von Anfang an geplant, und dann sitzt normalerweise Martin am Steuer. Aber dieses Jahr hat er zu viel in der Firma zu tun. »Fahrt schon mal«, sagte er, ohne von seinem Computer aufzuschauen, »ich komme nach, sobald ich hier fertig bin.« Und ihre älteste Tochter Emma hat ihren ersten Sommerjob. Sie wird die Ferien über auf einem nahe gelegenen Bauernhof Erdbeeren pflücken.
Erika drückt die Fingernägel ins Lenkrad. Wie sich die Zeiten ändern, denkt sie. Emma wird allmählich erwachsen, und Erika kann gut verstehen, dass man mit fünfzehn nicht mehr unbedingt mit den Eltern in den Urlaub fahren will. Trotzdem bedrückt es sie, dass sie diesen Sommer nicht zusammen verbringen werden. Sie hatte sich wirklich darauf gefreut, ein letztes Mal die ganze Familie im Hotel ihrer Mutter zu versammeln.
Sie gibt wieder Gas. Monas B, B & B existiert, seit Erika selbst ein Kind war. Im Laufe der Zeit ist es zu einer regelrechten Institution in Ljusskär geworden – hier kommen Menschen zusammen, um ein Schwätzchen zu halten und das beliebte Brot und Gebäck ihrer Mutter zu kaufen, und im Übrigen ist es die einzige Übernachtungsmöglichkeit im Dorf. In den Glanztagen des Hotels kamen viele herbeigepilgert, um auf der schönen Glasveranda zu essen oder Taufen, Geburtstage und andere Feste zu feiern, doch mittlerweile finden immer weniger Besucher den Weg in den kleinen Badeort.
Ein Hase jagt über die Straße, aber bevor Erika Lina darauf aufmerksam machen kann, ist er auch schon wieder verschwunden. Die Nähe zur Natur gehört zu den Gründen, warum sie Ljusskär so liebt. Es ist wirklich wunderschön gelegen, eine verborgene Perle am Meer, umgeben von Österlens wogenden Feldern und Kunsthandwerkerhöfen. Doch Erika weiß auch, dass es ein hartes Stück Arbeit für ihre Mutter ist, das Hotel ganz allein zu betreiben. In den letzten Jahren ging es mit Monas Gesundheit zunehmend bergab. Erika hat mehrere Anrufe von Nachbarn ihrer Mutter bekommen, die ihr mitteilen wollten, dass Mona sich wieder und wieder in riskante Situationen bringt. Im Herbst ließ sie einen Topf Milch auf dem Herd stehen, sodass es in der Küche zu brennen begann, und ein paar Wochen später kletterte sie aufs Dach, um nachzusehen, ob ein Vogel im Schornstein festsaß, und kam anschließend nicht mehr herunter. Zu allem Überfluss war ihre Gesundheit zunehmend angeschlagen. Im Winter handelte sie sich eine Infektion nach der anderen ein, und im Februar musste sie sogar ins Krankenhaus, weil ihr Fieber einfach nicht herunterging und das Antibiotikum nicht anschlug.
Erika schaudert beim bloßen Gedanken daran. Es ist wirklich nicht leicht, all diese Nachrichten zu erhalten und doch nicht helfen zu können, weil sie zweihundert Kilometer weit entfernt wohnt. Jedes Mal, wenn es Mona schlechtging, hatte Erika angeboten, sich ins Auto zu setzen und zu ihr zu kommen, doch ihre Mutter wollte partout keine Hilfe annehmen. »Du hast schon genug zu tun«, sagte sie immer, und in gewisser Weise stimmt das auch. Mit einem Haus, an dem ständig etwas auszubessern ist, zwei Vollzeitjobs, einem Teenager und einer Fünfjährigen wächst die Zeit für sie und Martin wahrhaftig nicht auf Bäumen, aber hätte ihre Mutter sie um Hilfe gebeten, dann hätte Erika natürlich trotzdem eine Möglichkeit gefunden.
Sie stößt einen Seufzer aus. Die letzten fünf Jahre waren alles andere als einfach. Während der Elternzeit mit Lina hat Martin sich als Wirtschaftsprüfer selbstständig gemacht, und seitdem fühlt es sich so an, als würden sie kaum noch ein Wort miteinander wechseln. Ihr Mann hängt nur noch vor dem Computer. Wenn es nicht um irgendwelche Jahresabschlüsse oder einzutreibenden Gehälter geht, dann um Steuererklärungen.
Als Martin ihr das erste Mal von seiner Idee erzählte, ein eigenes Unternehmen zu gründen, dachte Erika, es gehe ihm vor allem um flexiblere Arbeitszeiten, doch inzwischen arbeitet er doppelt so viel wie vorher. In letzter Zeit war er sogar so beschäftigt, dass er angefangen hat, im Büro zu übernachten, und Erika kann sich schon gar nicht mehr daran erinnern, wann sie zuletzt nebeneinander im Bett gelegen haben. Oder Fenster geputzt, denkt sie verbittert.
Vor seiner Selbstständigkeit war Martin die Familie immer am wichtigsten, und er, Erika und Emma waren in Ljusskär, wann immer sie etwas länger am Stück frei hatten. Sie halfen Mona, wenn das Hotel ausgebucht war: bezogen Betten, putzten, spülten und machten Frühstück. Und obwohl das einiges an Arbeit bedeutete, hatten sie immer Spaß dabei. Es war zur Tradition geworden, dass sie sich ins Auto setzten, runter nach Skåne fuhren und ein paar Tage an der Südostküste verbrachten, inmitten der wunderschönen Landschaft.
Doch diese Zeit scheint jetzt vorbei zu sein, und Erika hat viel über ihre Mutter nachgedacht. Mona wird bald achtundsechzig, ein weiteres Jahr mit Krankheiten und schwankendem Einkommen wird sie womöglich nicht mitmachen, befürchtet sie. Außerdem ist die alte Familienvilla mittlerweile ziemlich heruntergekommen. Das Haus müsste mal gestrichen, die Fußböden abgeschliffen und hier und da das Dach repariert werden, aber für Ausbesserungen fehlt Mona das Geld. Daher wäre es eigentlich das Klügste, das Hotel jetzt zum Verkauf anzubieten, in der lukrativen Hochsaison, bevor es noch mehr verfällt.
Erika biegt vom Östra Kustvägen ab und fährt an einem Kornfeld vorbei, dessen grüne Halme gerade dabei sind, sich buttergelb zu färben. Sie weiß genau, was ihre Mutter vom Verkaufen hält. Die Kapitänsvilla befindet sich seit fünf Generationen im Besitz der Familie, und sie und Martin haben sogar tatsächlich einmal darüber nachgedacht, sie selbst zu übernehmen. Doch das ist lange her. Inzwischen weigert sich ihr Mann, das Thema überhaupt anzuschneiden. Martins ganzes Leben befindet sich in Halmstad. Weder er noch Emma können sich vorstellen, von dort wegzuziehen, und auch wenn Erika es nicht so gern zugibt, fühlt sie sich in der Stadt eigentlich selbst ganz wohl. Sie müsste ihre Mutter also nicht nur davon überzeugen, dass es langsam Zeit für den Ruhestand ist, sondern sie müsste sie auch dazu bringen, sich von der alten Familienvilla zu trennen, und das ist leichter gesagt als getan.
In Ljusskär scheint die Sonne. Erika weiß immer noch nicht, was sie von dem gestrigen Fiasko halten soll. Ein Teil von ihr findet, dass Martin an allem schuld ist, aber insgeheim fragt sie sich, ob sie nicht vielleicht überreagiert hat. Ist sie empfindlicher als sonst? Sind das womöglich die Hormone?
Das Licht in Österlen, wo Ljusskär liegt, ist anders, und als Erika geparkt hat, schließt sie die Augen und nimmt sich vor, die Gedanken mal für eine Weile ruhen zu lassen. Von allen Orten auf der Welt hat dieser hier die wohltuendste Wirkung auf sie. Hier fühlt sie sich zu Hause und sicher, hier kann sie zur Ruhe kommen. Sobald sie in Ljusskär ist, spürt sie förmlich, wie ihre Schultern gleich mehrere Zentimeter sinken, und bevor sie Lina die Autotür öffnet und das Gepäck ausräumt, holt sie einmal ganz tief Luft.
Im Hotel sieht es aus wie immer. Lina stürmt sofort in den großen Cafébereich, der zugleich als Lobby fungiert. Hinter dem graugrünen Tresen steht Mona. Sie trägt eins ihrer typischen Outfits, farbenfrohe Leggings und eine großgeblümte Bluse. Als sie Lina erblickt, lässt sie alles stehen und liegen, um ihre Enkelin mit offenen Armen zu begrüßen.
»Da seid ihr ja schon! Ihr müsst aber ganz schön schnell gefahren sein«, sagt sie.
»Ja«, sagt Lina. »Und Mama hat mich heute ganz früh geweckt.«
»Dann hast du jetzt sicher Hunger. Wie wär's mit einem frischgebackenen Milchbrötchen?«
Lina nickt und klettert auf einen Barhocker, während Erika um den Tresen geht und Mona umarmt.
»Hallo, Mama. Wie geht es dir?«
»Gut. Nur ein bisschen Rückenschmerzen.«
»Oje, du Ärmste.«
»Ach was, halb so schlimm«, sagt sie und macht eine abwehrende Geste. Erika sieht etwas vor ihrer Brust hin und her baumeln.
»Was ist das denn?«, fragt Erika.
»Das hier?«, sagt Mona und greift nach einem Vergrößerungsglas, das sie an einer langen Schnur um den Hals trägt. »Das hilft mir beim Lesen, wenn der Text mal zu klein ist.«
»Aber Mama«, seufzt Erika. »Du weißt schon, dass es dafür Brillen gibt?«
»So alt bin ich noch nicht«, protestiert Mona. »Das Vergrößerungsglas funktioniert einwandfrei. Und außerdem war es billig. Weißt du, was eine Brille heutzutage kostet? Allein für den Sehtest nehmen sie mehrere hundert Kronen.«
Erika schweigt. Es macht sie traurig, dass Mona nicht einmal Geld für eine Brille zu haben scheint, obwohl sie offensichtlich eine braucht. Vielleicht sollte sie das Thema Verkauf doch direkt mal anschneiden. »Du, ich habe da über etwas nachgedacht …«, setzt sie an, als die Tür plötzlich aufgeht und Doris hereinkommt. Beim Anblick von Lina und Erika erstrahlt sie.
»Hallo! Wie schön, dass ihr hier seid!«
»Hallo, Doris! Komm rein, ich wollte gerade Kaffee aufsetzen«, sagt Mona.
Erika begrüßt die Freundin ihrer Mutter, die auf einem Barhocker neben ihr Platz nimmt. Doris war schon immer ein wenig sonderbar, aber sie ist eine gute Seele und hat im Laufe der Jahre eine Unzahl an Mützen und Socken für Erikas Töchter gestrickt.
»Geht es dir gut?«, fragt sie.
»Ja. Und dir?«
»Auch gut, danke«, antwortet Doris und wendet sich Mona zu. »Wusstest du, dass Alf jetzt eine Freundin hat?«
»Nein, wie ist er denn an die gekommen?«
»Keine Ahnung. Aber Britt hat erzählt, dass er neuerdings einen Gürtel trägt. Das kaschiert offenbar seinen Bauch. Außerdem hat er sich die Haare gefärbt. Die sind jetzt pechschwarz, aber sein Schnurrbart ist immer noch weiß.«
»Ach was«, sagt Mona und schneidet ein Milchbrötchen auf.
»Britt meint, er überlegt gerade, sich eine Yamaha zu kaufen«, fährt Doris kichernd fort. »Dann kommt er hier bestimmt bald in voller Ledermontur an.«
Amüsiert über das Gespräch sieht Erika sich um. Ihre Mutter ist eine leidenschaftliche Sammlerin, und das Hotel ist voller kleiner Schätze. Lina kann hier stundenlang herumlaufen und ständig neue Dinge entdecken – kleine Porzellanfiguren, Kästchen, die hübsche Steine enthalten, alte Puzzlespiele, Reisetaschen mit Messingschnallen voller exotischer Kleidungsstücke, vergilbte Comic-Hefte und nach Lavendel duftende Fächer in Seidentüchern. Außerdem ist Ljusskär deutlich kleiner als Halmstad. Hier gibt es so gut wie keinen Verkehr, sodass sie Lina nicht ununterbrochen beaufsichtigen muss.
»Bitte sehr«, sagt Mona und reicht Lina ein Milchbrötchen mit Butter, Käse und Marmelade.
»Aber nur eins, sonst hast du keinen Platz mehr fürs Mittagessen«, mahnt Erika.
Ihre Mutter serviert ihr eine Tasse Kaffee.
»Die Brötchen sind besonders gesund«, erklärt sie. »Ich mische nämlich Algen in den Teig. Nimm dir auch eins! Du kannst es gebrauchen.«
Erika verdreht die Augen. Nach außen hin tut sie immer so, als ginge ihr die übertriebene Fürsorge ihrer Mutter auf die Nerven, aber insgeheim liebt sie es, mit Leckereien verwöhnt zu werden.
»Algen? Wieso das denn?«
»Die sind sehr nahrhaft. Außerdem gibt es sie in Hülle und Fülle. Ich habe schon jede Menge gesammelt. Warte, ich zeig's dir!«
Sie dreht sich um, sucht in einem der Schränke und holt schließlich zwei Dosen hervor.
»Das hier ist selbst eingelegter Blasentang«, sagt sie und schiebt die eine Dose über den Tresen. »Ich habe ihn mit Kümmel und Fenchel gewürzt. Und das hier ist getrockneter Zuckertang.«
»Sie macht jetzt alles mit Algen«, sagt Doris und zieht sich den langen grauen Flechtzopf über die Schulter. »Was haben wir noch letzte Woche gegessen?«
»Das war eine Fischsuppe mit Meerlattich und Fingertang.«
»Die war sehr lecker«, bestätigt Doris mit einem Nicken.
Monas rundes Gesicht leuchtet auf. Nichts macht sie so glücklich wie Lob für ihre Kochkünste.
»Ich hatte neulich übrigens eine Idee. Findest du nicht, dass es mal wieder Zeit für ein Treffen mit dem Buchsalon wäre?«
»Hattet ihr den nicht eingestellt?«, fragt Erika.
»Nein«, entgegnet Mona, »nicht eingestellt. Wir haben ein paar Jahre Pause gemacht, aber so langsam habe ich wieder richtig Lust darauf.«
»Ja«, sagt Doris mit weit aufgerissenen Augen. »Tolle Idee!«
»Schön. Ich habe auch Inga gefragt, aber die kann mit ihrem grauen Star nicht mehr so gut lesen, und Hörbücher mag sie nicht. Und Anci ist ja nach Malmö gezogen, um ihrer Tochter mit den Zwillingen zu helfen.«
»Auf mich kannst du jedenfalls zählen«, sagt Doris und rückt sich die gelbe Sonnenblende zurecht, die ihr in der aufgebauschten Frisur steckt. »Aber wir brauchen gewisse Regeln. Bücher mit zu viel Gewalt mag ich nicht.«
»Ich auch nicht«, sagt Mona. »Aber Erotik ist in Ordnung, oder?«
Lina, die einen siebten Sinn für Wörter hat, die nicht für ihre Ohren bestimmt sind, schaut neugierig auf.
»Was heißt ›Erotik‹?«, fragt sie und neigt ihren engelsgleichen Kopf.
»Nichts«, antwortete Erika schnell.
»Doch, Mama, jetzt sag schon! Ich will wissen, was das heißt«, wiederholt sie, schon nicht mehr ganz so engelsgleich.
»Das ist ein Erwachsenenwort«, erklärt Erika. »Wenn du aufhörst zu fragen, bekommst du noch ein Milchbrötchen.«
Mit diesem Deal scheint sich Lina zufriedenzugeben, und Erika ist froh, dass sie noch so leicht zu überreden ist.
»Ich weiß nicht«, murmelt Doris. »Was, wenn die Damen vom Näh-Klub mitbekommen, dass wir Bücher über S. E. X. lesen.«
»Wenn hier irgendwer mehr S. E. X. im Leben gebrauchen kann, dann ja wohl sie«, sagt Mona. »Aber wir werden auf keinen Fall etwas lesen, womit du dich nicht wohlfühlst. Du kannst gern das erste Buch auswählen.«
Doris kratzt sich im Nacken.
»Stolz und Vorurteil wollte ich gerade sowieso noch einmal lesen.«
»Perfekt! Das habe ich damals von meiner Mutter bekommen, als ich in der Schule war, ich habe bestimmt fünfzig Jahre keinen Blick hineingeworfen«, sagt Mona. »Das wird super. Zu unserem ersten Treffen mache ich uns etwas richtig Leckeres, versprochen.«
Als das Glöckchen über der Tür klingelt, dreht Erika sich um und erblickt eine große, stattliche Frau mit eleganter platinblonder Frisur. Es dauert ein paar Sekunden, bis Erika sie wiederkennt, und als der Groschen endlich fällt, ist Mona bereits hinter dem Tresen hervorgekommen.
»Marianne!«, ruft sie und breitet die Arme aus.
Die Frau in dem weißen Designerkleid setzt ein vornehmes Lächeln auf und gibt Mona zwei Luftküsse auf die Wange.
»Mona, Darling«, sagt sie erfreut und schiebt sich die große schwarze Sonnenbrille auf die Stirn.
»Was für eine Überraschung! Wann bist du angekommen?«
»Gestern Nacht. Du ahnst nicht, was ich für eine Reise hinter mir habe«, sagt sie und zieht eine kleine, kaum merkliche Grimasse. »Zuerst gab es im Flieger keine Schlafmasken mehr. In der ersten Klasse! Ich habe dieser Stewardess gesagt, dass ich Goldmitglied bin, aber das schien überhaupt keine Rolle zu spielen. Dann haben sie auch noch kalten Fisch serviert, und als wir endlich in Kopenhagen waren, habe ich vergeblich auf einen meiner Koffer gewartet. Ausgerechnet auf den mit meinen Haarprodukten«, fügt sie etwas leiser hinzu. »›Es tut uns leid‹, haben die Serviceleute an der Gepäckausgabe nur gesagt. Als hätte ich nicht schon genug damit zu tun, mir die Paparazzi vom Hals zu halten.«
»Das klingt ja anstrengend«, sagt Mona und deutet auf den Tresen. »Kann ich dir einen Kaffee und ein Milchbrötchen anbieten?«
Marianne fährt sich mit der Hand über das glatte Haar.
»Milchbrötchen esse ich nicht, aber eine Tasse Kaffee nehme ich gern. Sofern er bio ist.«
»Er kommt aus einer Blechbüchse«, sagt Mona lächelnd. »Meine Tochter Erika und meine Enkelin Lina sind gerade zu Besuch. Und Doris kennst du ja.«
Marianne grüßt in die Runde und setzt sich auf einen Barhocker. Erika betrachtet sie diskret, wie sie sich das weiße Kleid glattstreicht und die Beine übereinanderschlägt. Sie erinnert sich noch gut an die Aufregung früher, wenn Marianne auf Heimatbesuch in Ljusskär war. Es war immer unglaublich spannend, dabei zu sein und zuzuhören, wenn die Kindheitsfreundin ihrer Mutter von ihren Abenteuern in Hollywood erzählte.
»So«, sagt Mona und serviert Marianne eine Tasse Kaffee. »Jetzt bist du jedenfalls zu Hause. Tief durchatmen.«
»Ach, halb so wild«, entgegnet Marianne. »Ein bisschen Aufregung ist nur gut. Das kurbelt den Stoffwechsel an, dann brauche ich morgen früh nicht so lange aufs Laufband.«
»Wie geht es Frank?«, fragt Mona und stellt die Kaffeekanne ab. »Ich fand ihn ja toll in diesem Weltraumfilm.«
»Ja, den Regisseur zu überreden, dass man mit nacktem Oberkörper in einer Weltraumstation herumlaufen darf, schafft auch nicht jeder«, antwortet Marianne trocken. »Ehrlich gesagt, habe ich schon eine Weile nicht mehr mit ihm gesprochen. Wir kommunizieren im Moment nur über unsere Anwälte.«
Mona legt sich überrascht die Hand vor den Mund.
»Ihr wollt euch doch nicht … ?«
»Scheiden lassen. Doch, es geht einfach nicht mehr«, sagt Marianne ruhig und rührt in ihrer Kaffeetasse.
»Das tut mir leid. Frank wirkte immer so …«
»Nett?«, ergänzt Marianne und macht eine kleine Geste mit der Hand, als würde sie eine Fliege verjagen. »Das fand der Pool-Boy leider auch. Und unser Masseur. Und mein Steuerberater.«
Monas Augen werden groß. »Ist nicht dein Ernst!«
»Mein Anwalt hat mir leider verboten, über Einzelheiten zu reden. Aber ich kann euch so viel sagen: Ich hätte nichts dagegen, wenn Frank von einem Bus überrollt würde. Na ja, eine gründliche Steuerprüfung soll mir fürs Erste reichen«, sagt sie lächelnd. »Und wie es aussieht, hat das Finanzamt auch schon einen anonymen Hinweis bezüglich Franks heimlichem Konto auf den Caymaninseln bekommen.« Pflichtbewusst wendet sich Marianne Doris zu, die bisher kein Wort gesagt hat. »Und wie geht es dir so?«
»Gut«, sagt Doris verlegen, doch es klingt mehr nach einer Frage als nach einer Antwort.
»Viel zu tun?«, fragt Marianne und trinkt einen Schluck Kaffee. »Ich weiß genau, wie das ist. Nie kommt man zur Ruhe. Wenn es nicht gerade zur Haarverlängerung oder zu Kryolipolyse geht, dann zum Crossfit. Mir steht es ehrlich gesagt langsam bis hier. Ich brauche endlich mal einen richtigen Urlaub, und Saint-Tropez hat mich nur noch mehr gestresst. Im Moment warte ich auf Drehbücher von Spielberg und Scorsese, aber bis die da sind, werde ich mir erst mal eine Auszeit gönnen.«
»Bleibst du hier?«, fragt Mona und schiebt den Teller mit den Milchbrötchen zu ihr hinüber.
Marianne greift nun doch nach einem perfekt geformten Brötchen und dreht es zwischen ihren wohlmanikürten Fingern hin und her.
»Ja, zumindest den Sommer über. George und Amal hatten mich eigentlich in ihr Haus am Comer See eingeladen. Bob de Niro und Meryl hätten mich wohl wahnsinnig gern dabeigehabt. Wir haben ja vor einer Ewigkeit mal einen Film zusammen gedreht«, erklärt sie Doris. »Und ich war sogar schon auf dem Weg, aber dann habe ich gehört, dass Tom Hanks auch kommt, und da habe ich beschlossen, lieber darauf zu pfeifen«, sagt sie und kräuselt die Oberlippe.
»Ach so. Und warum?«, fragt Mona neugierig. »Hat der etwa auch mit Frank … ?«
»Nein, nichts dergleichen. Alle meinen ja immer, dass Tom so ein netter Kerl sei, aber ich finde, der Erfolg ist ihm etwas zu Kopf gestiegen. Egal, worüber man sich mit ihm unterhält, kommt er ständig auf seine zwei Oscars zu sprechen, dabei ist es über fünfundzwanzig Jahre her, dass er die bekommen hat! Was hast du eigentlich in letzter Zeit zustande gebracht?, denke ich mir nur, wenn er von dem perfekten Putzmittel für die Statuetten anfängt.« Marianne schüttelt den Kopf.
»Nein, ein Aufenthalt hier wird mir deutlich besser bekommen. Ich muss mal ein paar Wochen ein normales Leben führen und ein bisschen entspannen.«
Erika sieht das Strahlen im Gesicht ihrer Mutter und ahnt, dass die Umsetzung ihres eigenen Vorhabens in nahezu unerreichbare Ferne gerückt ist.
»Das klingt großartig. Ich freue mich riesig!«
Marianne beißt ein winziges Stück von dem Milchbrötchen ab.
»Es wird sicher guttun, einfach mal wie ein ganz normaler Mensch zu leben, und nicht ständig unterwegs zu sein«, erklärt sie bestimmt.
»Du kannst an unserem Buchsalon teilnehmen«, ruft Mona.
Doris wird puterrot im Gesicht, sagt aber nichts.
»Wer macht denn sonst noch mit?«
»Bis jetzt nur wir – Doris und ich. Oh, das wird genau wie früher«, sprudelt Mona vergnügt. »Wisst ihr noch, wie wir früher unten am Kai gelegen und Nancy-Drew-Bücher gelesen haben?«
Marianne trommelt mit ihren knallroten Fingernägeln auf die Tischplatte.
»Okay«, sagt sie nachdenklich. »Ich brauche immerhin eine Beschäftigung. Aber dann sollten wir das erste Treffen auch angemessen begehen, mit Drinks und Hors d'œuvres.«
»Unbedingt«, zwitschert Mona. »Komm heute Nachmittag noch mal vorbei, dann planen wir das Ganze. Wir wollten mit Stolz und Vorurteil anfangen.«
»Das habe ich tatsächlich noch nie gelesen.«
»Dann ist es ja die perfekte Wahl«, sagt Mona und knufft Doris leicht in die Seite.
Marianne steht auf und lässt das halbverzehrte Milchbrötchen in ihrer Hand kreisen.
»Sag bitte, dass hier keine Butter drin ist.«
»Kaum der Rede wert.« Mona lächelt, aber Erika sieht, dass sie hinter dem Rücken die Finger kreuzt.
Marianne setzt sich die Sonnenbrille auf und winkt auf eine Art und Weise, wie es sonst nur Kinder und Mitglieder der Königsfamilie tun.
»Toodeloo«, ruft sie und verschwindet nach draußen.
Erika will etwas sagen, aber Doris kommt ihr zuvor. Sie sieht aus wie ein zu hoch erhitzter Dampfkochtopf, der jeden Moment explodiert.
»Was fällt dir nur ein?«
»Was denn?«, sagt Mona und schüttelt verständnislos den Kopf.
»Du hast sie zu unserem Buchsalon eingeladen!«
»Was spricht denn dagegen?«
»Glaubst du wirklich, dass sie Wert auf unsere Gesellschaft legt?«, sagt Doris mit einer aufgebrachten Geste. »Wir haben doch so gut wie nichts mehr gemeinsam.«
»Aber Doris, wir sind immerhin alte Freundinnen.«
»Ich würde eher von ehemaligen Freundinnen sprechen. Wann hat sich Marianne das letzte Mal bei dir gemeldet?«
»Das weiß ich nicht mehr so genau«, sagt Mona und zuckt mit einer Schulter.
»Ganz genau. Ich will ja keine Spielverderberin sein, aber mich macht es einfach nervös, wenn sie hier auftaucht. Marianne gibt mir das Gefühl, als wäre ich … eine Außerirdische.«
»Ach komm!«, sagt Mona und legt ihr eine Hand auf den Arm. »Wir werden einen Mordsspaß zusammen haben. Versprochen, es wird genau wie früher.«
»Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen«, murrt Doris.
»Auf einen Versuch können wir es doch ankommen lassen.«
Doris seufzt und lässt den Kopf hängen, sodass ihr Gesicht nur durch die gelbe Sonnenblende zu sehen ist.
»Bitte, mir zuliebe«, fährt Mona fort.
»Okay«, gibt Doris schließlich nach. »Einen Versuch. Aber wenn sie wieder davon anfängt, mit welchem Wachs sie sich die Bikinizone enthaart, wie bei unserer letzten Begegnung, dann gehe ich.«
»Ob Marianne wohl auch mal über ihren Ruhestand nachdenkt?«, fragt Erika. »Es klang ja so, als hätte sie langsam genug von diesem Leben. Wird sie nicht auch achtundsechzig dieses Jahr?«
»Man braucht sich ja nicht gleich zur Ruhe setzen, nur weil man über sechzig ist«, erwidert Mona. »Ich jedenfalls denke nicht im Traum daran, mein Hotel jemals aufzugeben. Ihr werdet mich hier schon eigenhändig raustragen müssen, wenn es so weit ist.«
Erika beißt sich auf die Lippe. Das lief nicht gerade so, wie sie es sich vorgestellt hatte.
»Unsere Familie wohnt hier schließlich schon …«, beginnt Mona und wischt gleichzeitig den Tresen ab.
»… seit fünf Generation«, führt Erika den Satz zu Ende. »Ja, Mama, ich weiß.«
»Ich will ja nicht nerven, aber ich finde es einfach traurig, dass die Kinder nicht in Ljusskär aufwachsen, so wie du. Ich könnte euch mit Lina helfen, und ihr hättet wieder mehr Zeit füreinander. Du weißt ja, ein gutes Sexleben ist das A und O für eine glückliche Ehe.«
»Ach Mama«, stöhnt Erika. Und da wundert sie sich noch, dass ihr Verhältnis zu Sex so kompliziert ist, denkt sie.
»Ich meine ja nur, dass ihr in dem ganzen Kinderchaos auch mal an euch denken müsst. Neulich habe ich von einem Paar gelesen, das die feste Abmachung hatte …«
»Schluss jetzt«, schneidet Erika ihr das Wort ab. »Du hast versprochen, dich nicht in unser Intimleben einzumischen. Es geht uns gut in Halmstad, und dort arbeiten wir nun mal. Wovon sollen wir hier denn leben?«
»Ihr könntet bei mir arbeiten, im Hotel.«
»Du hast sechs Zimmer. Das reicht nicht, um fünf Leute zu versorgen. Außerdem müsste das Hotel mal modernisiert werden.«
»Ich habe meine Geschäftstätigkeit schon ausgeweitet«, entgegnet Mona gekränkt. »Seit ein paar Wochen koche ich für die alten Leute hier vor Ort. Der Fraß, der da per Lastwagen aus der Stadt kam, war ja nicht essbar. Also habe ich angefangen, im großen Stil zu kochen und Essen auszufahren.«
»Du solltest doch eigentlich kürzertreten.«
»Das Angebot kommt sehr gut an«, wirft Doris ein.
»Und mit meinen Algen werde ich auch noch ein Geschäft machen!«, fährt Mona fort und deutet mit einer ausladenden Armbewegung in den großen Eingangsbereich, sodass das Vergrößerungsglas um ihren Hals hin- und herschwingt. »Was hältst du von einem Regal voller Algenprodukte direkt am Eingang? Das zieht doch sicher Kunden an!«
Erika nickt widerwillig. Sie weiß nicht, wie lukrativ das Algengeschäft ist, aber vermutlich ist das besser, als wenn ihre Mutter Wakeboards verkaufen würde. Eigentlich ist sie ja aber hier, um Mona zum Aufhören zu bewegen.
»Das ist sicher keine schlechte Idee«, lenkt Erika ein. »Wie dem auch sei, du weißt doch, dass Martins Familie in Halland wohnt und die Mädchen alle ihre Freunde dort haben.« Als Mona demonstrativ die Hände in die Hüften stützt, räuspert sie sich. »Aber ich kann natürlich gern noch mal mit ihm darüber reden.«
Erika lässt die Schultern hängen und beißt in ihr Milchbrötchen. Mona hat sich schon immer für eine Art Beziehungsexpertin gehalten. Ein bisschen Lebensberatung sollte ihrer Meinung nach zu jedem Hotelaufenthalt dazugehören, und als Erika noch jünger war, hat sie sich oft für die Ratschläge geschämt, die ihre Mutter Hinz und Kunz ungefragt erteilte. Während andere Mütter zu Filmabenden mit Popcorn und Wellness einluden, gab es bei Mona tiefgründige Gespräche über das Finden der inneren Göttin mithilfe von Kristallen. Und auch wenn Erika sich inzwischen an die Eigenheiten ihrer Mutter gewöhnt hat, stellen sich ihr immer noch jedes Mal die Nackenhaare auf, wenn Mona ihr Ehetipps geben oder irgendwelche balinesischen Fruchtbarkeitsstatuen andrehen will.
Lina, die aufgegessen hat, springt von ihrem Stuhl und legt die Arme um Erikas Taille.
»Darf ich jetzt gehen, Mama?«
»Na klar. Aber bedank dich zuerst bei Oma für die Milchbrötchen.«
»Danke, Oma«, sagt sie.
»Gerne, meine Süße«, antwortet Mona lachend. »Ich habe einen Koffer voller Sachen herumstehen, die ich noch nicht durchsehen konnte, im Dickens-Zimmer. Du weißt schon, das grüne.«
Lina nickt und eilt freudig die Treppe hinauf.
»Ich mache mich jetzt mal auf den Heimweg«, sagt Doris und räumt ihr Geschirr weg.
»Aber heute Nachmittag kommst du wieder, oder?«, fragt Mona ernst.
Doris scheint einen Moment zu überlegen und nickt dann resigniert.
»Dir zuliebe«, antwortet sie und verlässt das Hotel.
Mona bleibt hinter dem Tresen, um die noch herumstehenden Tassen einzusammeln.
»Ich muss mich jetzt ums Mittagessen kümmern, aber bleib ruhig noch sitzen und ruh dich aus, wir essen dann nachher zusammen.«
»Aber ich kann dir doch helfen, Mama.«
»Nein, lass mal. Du hast doch Urlaub.«
»Schluss jetzt. Sag mir, was ich tun kann.«
»In Ordnung«, seufzt Mona. »Vielleicht könntest du schon mal die Aluformen zusammenpacken, die im Ofen stehen.«
»Kein Problem. Soll ich sie auch ausfahren?«
Mona schüttelt den Kopf.
»Das geht nicht. Du weißt ja nicht, wohin, und alle erwarten, dass ich mit dem Essen komme.«
»Aber Mama. Ich will dir doch helfen.«
»Ich weiß, Liebes«, sagt Mona und nickt. »Könntest du dich vielleicht um die Kasse kümmern, während ich weg bin? Dann brauche ich nicht zu schließen. Im Moment kann ich weiß Gott jede Krone gebrauchen.«
»Natürlich. Kann ich sonst nichts tun?«
»Du kannst schon mal Nudeln für die Bolognese kochen, die auf dem Herd steht.«
»Okay«, antwortet Erika.
»Du weißt doch, wie?«
»Selbstverständlich weiß ich, wie man Spaghetti kocht.«
Mona hängt sich die Handtasche über die Schulter.
»Du musst viel Wasser und Salz nehmen und die Nudeln ein paar Minuten kürzer kochen lassen, als auf der Packung steht. Dann schöpfst du eine Tasse von dem Kochwasser ab und mischt es mit dem Olivenöl unter die Nudeln.«
»Ja, Mama«, seufzt sie.
»Nimm die gute Flasche. Natives Olivenöl Extra muss es sein.«
»Ist gut«, sagt Erika und verdreht die Augen. »Mach dir keine Sorgen, ich kriege das schon hin.«
Mona lächelt, und bevor sie sich auf den Weg macht, streichelt sie Erika über die Wange.
»Es ist so schön, dass ihr hier seid. Ich bin in einer Dreiviertelstunde zurück, und sollte irgendwas sein, ruf einfach an.«
Als Mona mit dem verpackten Essen verschwunden ist, fällt Erikas Blick auf eine zerbeulte alte Milchkanne in der Ecke. Ihre Mutter ist eine leidenschaftliche Flohmarktbesucherin, und mit jedem Jahr sammelt sich im Haus mehr Plunder an. Da sich Mona außerdem nur schwer von Dingen trennen kann, befürchtet Erika, dass das Hotel irgendwann aus allen Nähten platzt.
Sie sieht sich um und denkt, dass am Eingang schon noch Platz für ein Verkaufsregal wäre, wenn man nur ein paar Tische zur Seite schiebt. Das könnte sogar richtig nett aussehen, und vielleicht fänden dann dort noch mehr Dinge Platz, die zum Kauf verlocken. Aber dann ruft Erika sich in Erinnerung, dass sie nicht hier ist, um ihre Mutter zu neuen Ideen anzustiften.
Matt lehnt sie sich gegen den Tresen. Irgendwie muss sie Mona beibringen, dass es nicht im selben Tempo weitergehen kann. Auch ihr Herz hängt an der alten Villa, aber es übersteigt schlicht und einfach Monas Kräfte, das Hotel ganz allein weiterzuführen, und wenn sie sich nicht überarbeiten will, muss sie sich zur Ruhe setzen.
Wenn Martin wenigstens dabei wäre, dann wäre alles viel leichter, seufzt Erika. Er gehört zu den wenigen Menschen, von denen Mona sich wirklich etwas sagen lässt. Aber er ist jetzt nicht hier. Erika muss ohne seine Hilfe zurechtkommen. Die Frage ist nur, wie sie das schaffen soll, ohne die Gefühle ihrer Mutter zu verletzen.
4
Patricia steigt aus dem Bus und sieht der Staubwolke nach, die er beim Weiterfahren aufwirbelt. Als sie sich umdreht, wird sie von der hochstehenden Sonne geblendet, und sie hebt die Hand, um sich die Augen zu beschatten. Es ist kaum zu begreifen, dass sie jetzt hier ist, dass sie tatsächlich noch einmal die weite Reise nach Ljusskär auf sich genommen hat.
Sie fährt den Griff ihres Koffers aus und versucht herauszufinden, in welcher Richtung es wohl zum Hotel geht. Bei ihrem letzten Besuch in Ljusskär hat sie in Ystad übernachtet und ist mit dem Mietwagen hergefahren, doch diesen Fehler macht sie nicht noch einmal. Der Verleih hatte nur Autos mit Schaltgetriebe, und da sie so eins noch nie gefahren war, kam sie auf der kurvenreichen Küstenstraße mehr schlecht als recht voran.
Die kleine Hauptstraße liegt vollkommen verlassen da, doch ein Stück weiter entdeckt Patricia einen Kiosk, der geöffnet zu haben scheint. Einen Moment überlegt sie, dorthin zu gehen, doch als sie sich umdreht und das Meer sieht, zieht es sie instinktiv in die andere Richtung.
Mit zügigen Schritten geht sie über den holprigen Bürgersteig. Ein hübsches graugrünes Haus mit moosgrünen Fensterläden kommt ihr eigenartig bekannt vor. Vielleicht hat sie es bei ihrem letzten Besuch gesehen oder in einem von Madeleines Briefen darüber gelesen. Vier Mal hat ihre Schwester vor ihrem Verschwinden geschrieben, und Patricia hat die Briefe so oft gelesen, dass sie jede Zeile auswendig kann.
Sie bleibt kurz stehen und verschnauft. Die Reise war anstrengend, aber es gibt viel zu tun. Der außerplanmäßige Urlaub, den sie ihrem Chef aus den Rippen leiern konnte, ist auf drei Wochen begrenzt. Mr. Marsden war nicht gerade erfreut darüber, die ganze Büroarbeit dem kaugummikauenden Schulassistenten Marco überlassen zu müssen. Doch als Patricia versprach, dass sie sämtliche Probleme, für die Marco potenziell verantwortlich gemacht werden könnte, nach ihrer Rückkehr ausbügeln würde, ohne auch nur einen einzigen Dollar Überstundenausgleich zu verlangen, ließ er sie fahren.
Patricia zieht ihren Rollkoffer über eine Bordsteinkante und schaut auf das tiefblaue Meer hinaus. Wie es so spiegelglatt daliegt und den Himmel reflektiert, wirkt es fast unendlich. Eigentlich müsste sie sich hier wie zu Hause fühlen. Ihre Mutter ist in Skåne aufgewachsen, aber von ihrer schwedischen Verwandtschaft hat Patricia bisher niemanden kennengelernt. Sie erinnert sich daran, dass sie als Kind Briefkontakt zu ihrer Großmutter hatte, doch als ihre Mutter starb, verlief der im Sande.
Müde reibt sie sich die Augen. Die vergangene Woche über hat sie schlecht geschlafen. Der Brief mit der Halskette hat alte Erinnerungen wachgerufen, die sie nachts nicht zur Ruhe kommen lassen. Sobald Patricia die Augen schließt, sieht sie ihre Schwester vor sich – die dunklen Locken, die bei jedem Schritt auf und ab wippen, und dieser unverkennbare Blick, mit dem sie Patricia immer ansah, wenn ihr Vater sich mal wieder darüber beschwerte, dass sie die Küche nicht aufgeräumt oder den Stall nicht ausgemistet hatten. Madeleine wusste genau, wie er sich besänftigen ließ. Sie brauchte nur den Kopf auf die Seite zu legen und »'tschuldigung, liebes Papilein« zu sagen, und schon begann es in seinen Mundwinkeln zu zucken.