Die kleine Buchhandlung am Ufer der Themse - Frida Skybäck - E-Book
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Die kleine Buchhandlung am Ufer der Themse E-Book

Frida Skybäck

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Beschreibung

Charlotte lebt in Schweden und ist eigentlich zu jung, um Witwe zu sein, zu jung, um ihren geliebten Mann verloren zu haben. Sie vergräbt sich in ihrer Arbeit, bis eine unerwartete Nachricht ihr Leben auf den Kopf stellt: Sie hat von einer entfernten Tante eine Buchhandlung in London geerbt.
Kurz entschlossen fliegt Charlotte nach England, um das Haus zu verkaufen. Doch schnell fühlt sie sich mit dem Laden eng verbunden – genauso wie mit den beiden warmherzigen Mitarbeiterinnen, dem Kater Tennyson und dem Schriftsteller William. Sie versucht, das fast bankrotte Geschäft zu retten. Dabei stößt sie auf Widersprüche und Rätsel: Warum hat sie ihre Tante Sara nie getroffen, warum hat ihre Mutter nie von ihrer Vergangenheit erzählt, und was ist das dunkle Geheimnis der beiden Schwestern?

Die kleine Buchhandlung am Ufer der Themse erzählt, wie ein Haus voller Bücher, gute Freunde und ein kratzbürstiger Kater einer Frau helfen, einen Neuanfang zu wagen – ein charmanter und hoffnungsvoller Roman zum Wohlfühlen.

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Seitenzahl: 585

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Frida Skybäck

Die kleine Buchhandlung am Ufer der Themse

Aus dem Schwedischen von Hanna Granz

Insel Verlag

1

Mittwoch, 24. August

Der hübsche Einband der Neuauflage von Mrs Dolloway wird Sara bestimmt gefallen, dachte Martinique für einen kurzen Augenblick, doch dann holte die Gegenwart sie wieder ein. Vorsichtig strich sie über den Buchrücken und drückte den Roman an ihre Brust.

Einen knappen Monat war es her, seit ihre Freundin gestorben war, und oft ertappte Martinique sich dabei, an Sara zu denken, als wäre sie noch da. Jedes Mal, wenn sie an der Bäckerei vorbeikam und die Scones mit Moosbeeren sah, die Sara so geliebt hatte, wollte sie ihr welche kaufen, und es dauerte, bis ihr wieder einfiel, was geschehen war.

Sie ließ sich auf einen der Stühle hinter der mächtigen Eichenholztheke der Buchhandlung sinken. Um sie zu trösten, sagte ihr Mann Paul immer, das sei ganz normal, das Gehirn brauche einfach Zeit, um den Verlust eines nahestehenden Menschen zu verarbeiten. Doch trotz dieser gutgemeinten Erklärung war sie immer wieder aufs Neue verzweifelt.

Martinique nahm eine Zeitschrift vom Tisch und fächelte sich Luft zu. In der schwülen Spätsommerluft fühlte sie sich ungefähr so frisch wie ein ausgewrungener Putzlappen. Die halbe Nacht hatte sie nicht schlafen können, weil ihre Tochter Angela so laut Musik gehört hatte, und dann musste sie auch noch früher aufstehen als sonst, um ihre drei Neffen rechtzeitig zur Schule zu bringen, denn deren Mutter Marcia hatte eine Tennisstunde, die sie unmöglich verschieben konnte.

Martinique massierte sich die Schläfen. Wie kam man auf die Idee, eine Tennisstunde auf morgens früh um acht zu legen?

Sie strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und seufzte. Paul fand, sie ließ sich von Marcia ausnutzen. Er fürchtete wahrscheinlich, es könnte ihr alles zu viel werden, doch sie konnte ihrer Schwester nichts abschlagen. Die Scheidung von ihrem Mann Richard war für Marcia traumatisch gewesen, sie brauchte diese Tennisstunden, um nicht vollkommen den Halt zu verlieren. Und da Richard obendrein mit dem Kindermädchen der Familie fremdgegangen war, konnte sie sich bisher noch nicht dazu durchringen, ein neues einzustellen. Martinique war die Einzige, der Marcia noch vertraute.

Sie warf einen Blick auf die große norwegische Waldkatze, die auf ihrem Lieblingsplatz neben dem Abigail-Regal mit den Sachbüchern von A bis K lag und sich das dichte, silbergraue Fell leckte. Am liebsten würde sie nach Hause fahren und es sich mit einer Flasche Wein vor dem Fernseher gemütlich machen, aber sie hatte versprochen, Spencer vom Cricket-Training abzuholen, damit Marcia nicht mit Sterling und Edison zum Sportplatz fahren musste. Paul hatte wie immer gefragt, warum Marcia denn nicht einfach einen Fahrer schickte. Angesichts der Millionen, die sie nach der Scheidung bekommen hatte, wäre das eine viel einfachere Lösung, als Martinique zu bitten, im Feierabendverkehr durch halb London zu fahren. Martinique wäre jedoch nie auf die Idee gekommen, ihr so etwas auch nur vorzuschlagen. Ihr war es immer schwergefallen, Marcia etwas zu verweigern, und angesichts ihrer momentanen Situation war das schier unmöglich. Um des Hausfriedens willen versuchte sie stattdessen vor Paul zu verbergen, wie viel sie tatsächlich für ihre Schwester tat.

»Jetzt muss ich allerdings erst einmal diese niedliche kleine Katze hier in mein Auto bekommen«, sagte Martinique einschmeichelnd.

Sobald Tennyson merkte, dass sie ihn ansah, streckte er sich und begann zu schnurren. Er lebte im Riverside Bookshop, seit Martinique ihn vor ein paar Jahren reingelassen hatte, als er kläglich maunzend vor der Tür saß. Nass und zerzaust war er an ihr vorbeigehuscht und hatte sich unter einem Bücherregal versteckt, bis es Sara Stunden später gelungen war, ihn mit einem Teller Heringe, die sie beim Fischhändler auf dem nahe gelegenen Borough Market gekauft hatte, hervorzulocken.

Da Tennyson ein Halsband trug und offensichtlich eine Rassekatze war, waren sie überzeugt gewesen, dass sein Besitzer bald auftauchen würde, aber niemand meldete sich. Am nächsten Morgen rief Sara alle Tierarztpraxen in der Umgebung an, kontaktierte die Polizei und hängte Zettel auf, alles vergeblich. Zum Glück, denn schon bald wurde Tennyson Teil der Familie, und niemand konnte sich mehr vorstellen, wie es gewesen war, bevor der große dicke Kater um die Regale der Buchhandlung strich.

Martinique ging neben Tennyson in die Hocke. Die regenbogenfarbenen Perlen ihrer Halskette klapperten. Solange Tennyson in der Buchhandlung bleiben durfte, war er der liebste Kater der Welt. Seit Saras Tod hielt Martinique es jedoch für besser, ihn abends mit zu sich nach Hause zu nehmen.

»Komm, Katerchen«, lockte sie. »Zeit, nach Hause zu fahren.«

Tennyson kniff die Augen zusammen und warf ihr einen Blick zu, der sagte: Moment mal, Madame, dieses Reihenhaus, zu dem du mich jeden Abend schleppst, ist gar nicht mein Zuhause. Ich wohne hier.

Martinique seufzte. Jeden Abend musste sie sich etwas Neues ausdenken, um ihn in den Transportkäfig zu locken, und sich dann die ganze Fahrt über sein klägliches Miauen anhören.

Vorsichtig streckte sie die Hand aus und kraulte Tennyson hinter den großen Luchsohren. Der Arme schien immer noch nicht begriffen zu haben, was passiert war. Obwohl bereits mehr als vier Wochen vergangen waren, schlich er sich häufig in Saras Wohnung hinauf, setzte sich vor ihre Schlafzimmertür und miaute, als hätte sich sein Frauchen nur mal eben zurückgezogen, um sich auszuruhen, als käme sie jederzeit wieder heraus.

Mühsam richtete Martinique sich auf. Ihre Glieder schmerzten und sie spürte, wie angespannt Schultern und Nacken waren. Die letzten Wochen hatte sie nichts anderes getan, als zu arbeiten.

Mit einer Hand auf der Schulter, die am meisten wehtat, legte sie den Ordner mit den Bestellungen neben die Kasse. Vor anderen hätte sie es niemals zugegeben, aber manchmal war sie geradezu wütend auf Sara, weil sie so plötzlich gestorben war. Wenn die Freundin ihr wenigstens gesagt hätte, wie krank sie war, hätte sie mehr Zeit gehabt, sich darauf einzustellen, doch Sara hatte bis zuletzt geschwiegen und niemand in ihrem Umfeld hatte geahnt, wie schlimm es wirklich um sie stand.

Erst im Nachhinein begriff Martinique, dass Sara die ganze Zeit gewusst hatte, dass sie es nicht schaffen würde. In einem Brief, den sie ihr hinterlassen hatte, schrieb sie, sie habe nicht gewollt, dass die Krankheit einen Schatten auf ihre letzten Lebenstage wirft. Das bedeutete jedoch auch, dass keiner ihrer Freunde auf ihren Tod vorbereitet war.

Noch immer schauderte Martinique, wenn sie an den Anruf dachte, den sie eines frühen Morgens mitten im Urlaub bekommen hatte. Sie war so geschockt gewesen, dass sie sich nicht einmal selbst anziehen konnte. Paul musste ihr helfen, ihr die Haare kämmen und sie anschließend ins Krankenhaus fahren.

Martinique war wirklich verletzt, weil Sara ihr nicht mehr Zeit zum Abschiednehmen gegeben hatte. Es kam ihr unwürdig vor, sich in einem kahlen Krankenzimmer von ihrer Freundin verabschieden zu müssen, in dem Sara bleich und fremd mit Schläuchen in den Armen und in der Nase dalag, auch wenn es natürlich viel wert war, ihre letzten zwei Tage zusammen zu erleben.

Martinique versuchte tief durchzuatmen. Noch immer fiel es ihr schwer, nach allem, was passiert war, wieder normal zu funktionieren. Da sie diejenige war, die am längsten in der Buchhandlung arbeitete, fiel es ihr zu, sich um Tennyson und den Laden zu kümmern, bis Saras Nichte Charlotte auftauchen würde, die das Haus geerbt hatte. Ihre Kollegin Sam arbeitete nur in Teilzeit und es war auch kein Geld da, um sie für zusätzliche Stunden zu bezahlen. Außerdem war Sam sehr impulsiv. Die wenigen Male, die sie eine Lieferung entgegennehmen oder eine größere Bestellung aufgeben musste, hatte das in einer mittleren Katastrophe geendet.

Egal, wie verzweifelt Martinique war und wie schlecht sie auch schlief, es war ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Buchhandlung jeden Tag zur gewohnten Zeit öffnete. Um Punkt zehn Uhr schloss sie die schwere Glastür auf, holte den kleinen Wimpel hervor, der an der Fassade befestigt wurde, und drehte das kleine Schild in der Scheibe herum, sodass die Besucher mit einem freundlichen Welcome begrüßt wurden.

Martinique wischte mit einem feuchten Lappen über die Theke, an der vor ein paar Stunden Parnella und Herbert gesessen hatten. Wären da nicht Saras viele Freunde in der Nachbarschaft, die immer wieder hereinschauten, um zu plaudern und Kaffee zu trinken, hätte sie es kaum ausgehalten. Dank ihnen hatte Martinique etwas, worauf sie sich jeden Tag freuen konnte. Außerdem erweckte es den Anschein, die Buchhandlung sei gut besucht, was auf Dauer hoffentlich weitere Kunden anlockte. Denn die hatte der Laden bitter nötig.

Energisch versuchte Martinique die Ringe wegzurubbeln, die Herberts und Parnellas Kaffeetassen auf dem Holz hinterlassen hatten. Bereits vor Saras Tod war der Umsatz zurückgegangen, doch jetzt stagnierte er völlig. Sosehr Martinique sich auch bemühte – sie gab jedem, den sie traf, Leseempfehlungen, startete immer wieder Kampagnen und achtete darauf, die Neuerscheinungen gut sichtbar im Schaufenster zu platzieren –, nun hatten sie einen absoluten Tiefpunkt erreicht.

Martinique kannte sich mit den Finanzen der Buchhandlung nicht genügend aus, um zu wissen, wie schlecht es stand, doch die wenigen Verkäufe waren kein gutes Zeichen. Was, wenn die Buchhandlung keinen Gewinn mehr abwarf? Würde Saras Nichte sie dann überhaupt weiterführen wollen?

Bei diesem Gedanken wurde ihr schlecht. Sie kannte Charlotte nicht, und sie hoffte, dass Sara gewusst hatte, was sie tat, als sie ihrer Nichte alles vererbte. Wenn die Buchhandlung in Konkurs ging, verlor Martinique nicht nur das Letzte, was ihr noch von Sara blieb, sondern auch ihren Job, und eine Frau mittleren Alters mit einem Abschluss in Literaturwissenschaft war auf dem britischen Arbeitsmarkt wirklich nicht besonders gefragt.

Tennyson maunzte, und Martinique warf ihm einen liebevollen Blick zu. Es wurde Zeit, sich auf den Heimweg zu machen. Am liebsten bliebe Tennyson wahrscheinlich immer in der Buchhandlung, aber Martinique wagte nicht, ihn nachts allein zu lassen. Nicht weil sie glaubte, er könnte gestohlen werden. Das soll mal einer versuchen, dachte sie und musterte die Kratzer an ihrer linken Hand. Sie fürchtete eher, dass er ein gewaltiges Chaos anrichten würde, wenn man ihn unbeaufsichtigt ließ. Bei ihr zu Hause hatte er bereits ein Sofa zerkratzt und mehrere Vorhänge heruntergerissen.

Sie legte den Kopf schief und betrachtete den trägen Kater, der noch vor kurzem so lebhaft und verspielt gewesen war.

»Mir fehlt sie auch«, flüsterte sie.

Tennyson blinzelte und ließ den Kopf auf die groben Dielen sinken. Vorsichtig stellte Martinique den Käfig vor ihn hin und öffnete die Tür.

»Ich gucke nur schnell nach, ob überall das Licht aus ist. Wäre toll, wenn du in der Zwischenzeit schon mal einsteigen könntest.«

Martinique drehte eine letzte Runde durch den Laden. Sie mochte diesen ruhigen Moment kurz vor dem Schließen. Wenn alles still war, meinte sie beinahe, Saras Anwesenheit spüren zu können.

Sie ließ die Hand über die Buchrücken gleiten. Die Buchhandlung am Riverside Drive hatte Sara mehr als fünfundzwanzig Jahre geführt, und jeder Einrichtungsgegenstand erinnerte an sie. Die alte Holztreppe mit ihrem handgeschnitzten Geländer, das Sara, inspiriert durch einen französischen Film, erbsengrün angestrichen hatte, die zerschlissenen Sessel, die sie immer wieder neu beziehen ließ, statt sie durch andere zu ersetzen, sowie die bunt zusammengewürfelten Tassen in der Küche, die sie im Laufe der Jahre gesammelt hatte – das alles war typisch für Sara. Sie hatte diese alte Buchhandlung geliebt und erzählte jedem, der es hören wollte, seine wunderbare Geschichte.

Der erste Besitzer, Pastor Waters, hatte den Riverside Bookshop vor über hundert Jahren eröffnet, weil er erbauliche Literatur unter die Leute bringen wollte. Er zimmerte eigenhändig die zwölf gewaltigen Regale, die den Innenraum des Ladens prägen, und widmete jedem seiner Kinder eins. Wenn man genau hinsah, konnte man noch die kleinen Messingschilder entdecken, auf denen ihre Namen eingraviert waren, und wenn ein Stammkunde ein bestimmtes Buch suchte, reichte es oft, wenn man sagte: Schauen Sie doch mal drüben bei Josephine.

Die Sessel wiederum waren ein Geschenk an die Buchhandlung gewesen. Während der Sommermonate 1958 trieben rechtsextreme Gruppen auf den Straßen der Nachbarschaft ihr Unwesen, sodass die Kinder der Einwandererfamilien nach der Schule nicht draußen spielen konnten. Die damaligen Besitzer, Mr und Mrs Mantle, hatten ihr Bestes getan, um sie mit Lesen und Basteln bei Laune zu halten, bis ihre Eltern von der Arbeit kamen und sie mit nach Hause nehmen konnten. Zum Dank hatten die Familien zusammengelegt und vier handgeschnitzte Sessel mit gepolsterten Rückenlehnen und gedrechselten Beinen gekauft, die seitdem im Laden standen.

Martinique versicherte sich, dass die Bürotür abgeschlossen war, und schmunzelte über das handgemalte Protestplakat an der Wand. Sara war ebenso sozial engagiert gewesen wie ihre Vorgänger, hatte jeden willkommen geheißen, und so war die Buchhandlung ein Treffpunkt für die gesamte Nachbarschaft geblieben. Hier setzte man sich zusammen, um lokale Probleme zu diskutieren, Kulturfestivals zu organisieren oder Geld zu sammeln, wenn die Schulkinder im nahe gelegenen St Andrews kein Geld für den alljährlichen Ausflug nach Brighton hatten, oder aber auch, um Demos vorzubereiten.

Doch die Zeiten hatten sich geändert. Bereits als Martinique in der Buchhandlung anfing, ging das nachbarschaftliche Engagement zurück. Die Leute waren zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt, und Martinique konnte das gut verstehen. Sie selbst fühlte sich ebenfalls ständig gestresst von den Aktivitäten in Angelas Schule, bei deren Organisation man ihre Hilfe erwartete und für die sie backen oder Lose verkaufen sollte.

Martinique warf noch einen kurzen Blick in die Küche, um sicherzugehen, dass die Kaffeemaschine ausgeschaltet war. Trotz des abnehmenden Interesses in der Nachbarschaft hatte Sara weiterhin Suppen-Lunchs und Gesprächskreise in der Buchhandlung organisiert, doch seit ihrem Tod befanden sich alle in einer Art Limbus und warteten auf Charlotte, die laut Saras Anwalt jeden Tag eintreffen konnte.

Martinique strich über Joyce Carol Oates' Blond, das jemand in einem der Lesesessel vergessen hatte, und stellte es an seinen Platz im Louisa-Regal zurück. So positiv sie auch zu denken versuchte, sie machte sich doch Sorgen, was Charlotte von der Buchhandlung halten würde. Für sie selbst war es einer der schönsten Orte Londons. Sie liebte die geschmackvolle Einrichtung aus der Zeit der Jahrhundertwende; die handgeschnitzten Leisten aus dunklem Holz, den massiven Dielenboden, den alten Kamin mit dem Sims aus grünem Marmor und die fantastische Aussicht auf die Themse, doch sie sah plötzlich auch all die Mängel. Zudem kam es ihr merkwürdig vor, dass Saras Nichte sich nicht längst gemeldet hatte. Das konnte durchaus bedeuten, dass sie die Buchhandlung gar nicht behalten wollte.

Martinique wrang den Putzlappen aus, den sie immer noch in der Hand hielt. Paul sagte ihr, sie solle so nicht denken, doch das war nicht so einfach, schließlich hing ihre berufliche Existenz an einem seidenen Faden.

Müde ließ sie den Blick auf einer kaputten Fußbodenleiste ruhen. Wahrscheinlich mussten sie eine gewaltige Charmeoffensive starten, um Charlotte für die Buchhandlung zu gewinnen. Sie hatte bereits ein langes Gespräch mit Sam geführt, ebenso mit William, der die Wohnung neben Saras gemietet hatte, und sie hoffte, dass ihnen der Ernst der Lage klar war. Wenn Saras Nichte das alles hier nicht gefiel, konnte es gut sein, dass sie das Haus an den Höchstbietenden verkaufte.

Allein der Gedanke, dass Saras Lebenswerk verlorengehen könnte, brach Martinique das Herz. Sie mussten es schaffen, Charlotte davon zu überzeugen, wie großartig und wichtig die Buchhandlung war.

Martinique blickte auf Tennyson, der sich noch immer nicht vom Fleck gerührt hatte. Wie Charlotte zu ihm stehen würde, war ein ganz anderes Thema. Doch was wusste sie schon. Vielleicht liebte Saras Nichte starrsinnige alte Kater.

»Tut mir leid, mein Guter, aber es wird Zeit.«

Martinique griff nach ihrer Handtasche und deutete mit dem Kopf auf den Käfig.

»Hereinspaziert.«

Tennyson warf ihr einen amüsierten Blick zu und rollte sich dann auf die Seite. Er hatte offenbar keinerlei Absicht, mit ihr zu kooperieren.

Martinique seufzte, ging dann auf die Knie, fasste den schweren Kater um den Bauch und setzte ihn in den Käfig. Tennyson leistete zwar keinen Widerstand, zeigte seinen Unmut allerdings deutlich, und als sie den Käfig schloss und ihn maunzen hörte, bekam sie erneut ein schlechtes Gewissen.

»Wir kommen doch morgen wieder«, sagte sie beschwichtigend, »und wenn wir Glück haben, taucht Charlotte bald auf und ist genauso wunderbar wie ihre Tante.«

Bei diesen letzten Worten versagte ihr die Stimme und sie musste schlucken. Sie hoffte, dass Charlotte bald kam, denn sie wusste nicht, wie sie es schaffen sollte, noch länger alleine die Stellung zu halten.

Durch die Gitterstäbe blickte Tennyson sie vorwurfsvoll an, und sie fügte schnell hinzu: »Wir haben Thunfisch zu Hause. Wenn du jetzt lieb bist, kriegst du nachher ein bisschen.«

Dabei bemühte sie sich um einen strengen Blick, wusste aber schon, wie es ausgehen würde: Noch ehe der Abend vorbei war, würde Tennyson sich die letzten beiden Thunfischdosen erbettelt haben und es würde in der ganzen Küche stinken, denn obwohl sie immer gefunden hatte, dass Sara ihn viel zu sehr verwöhnte, hatte sie nicht das Herz, ihm etwas zu verwehren. Schließlich hatte er gerade seine Lebensgefährtin verloren.

2

Montag, 4. September

Charlotte zog ihr Handy heraus und gab die Adresse ein: 187 Riverside Drive. Jedes Mal, wenn sie das Telefon in der Hand hielt, verspürte sie den Drang, ihren Kollegen Henrik anzurufen und zu fragen, ob er die To-do-Liste abgearbeitet hatte, die sie für ihn erstellt hatte.

Um sie herum toste der Verkehr, und sie strich mit dem Nagel über das Handygehäuse. Eigentlich war diese Liste gar nicht wichtig, aber mitten in einer der größten Städte der Welt fühlte sie sich plötzlich sehr einsam und sehnte sich nach Henriks Stimme.

Einen Moment lang ließ sie den Finger auf dem Hörersymbol liegen, dann konzentrierte sich wieder auf den Stadtplan im Display. Henrik würde sie auslachen, wenn sie ihren ersten SOS-Anruf bereits so kurz nach der Landung absetzte.

Charlotte marschierte los, und erst als sie über eine Gehwegkante stolperte, blickte sie wieder von ihrem Handy auf. Hohe Wolkenkratzer glitzerten in der Septembersonne, das Rumpeln der U-Bahn ließ den Boden erzittern und schwarze runde Taxis sausten auf der falschen Straßenseite an ihr vorbei. Charlotte schaute sich verwirrt um. Das ist also London, dachte sie. Dann senkte sie erneut den Blick.

Am liebsten wäre sie zu Hause geblieben und hätte die Angelegenheit von Schweden aus geregelt. Seit Alex vor etwas mehr als einem Jahr gestorben war, hatte sie ihre Firma c/o Charlotte allein geleitet und sich in Arbeit vergraben. Erst jetzt hatte sie das Gefühl, allmählich wieder Fuß zu fassen, und doch fiel es ihr immer noch schwer, seinen Tod zu akzeptieren. Sie blieb in ihrer eigenen kleinen Blase und fühlte sich sogar ganz wohl damit, alles andere auszusperren.

Agnetha Wislander, die Gesprächstherapeutin, zu der ihr Arzt sie überwiesen hatte, hatte gefragt, ob Charlotte wirklich so viel arbeiten müsse. Die modische Brille auf der Nasenspitze, hatte sie erklärt, es käme ihr vor, als würde Charlotte die Arbeit als eine Art Schutz benutzen, um nicht innehalten und im Hier und Jetzt leben zu müssen. Wenn ich im Hier und Jetzt leben würde, würde ich mich in Grund und Boden schämen, weil ich zu Ihnen gehen muss, hatte Charlotte gedacht. Sie war bisher gut allein zurechtgekommen, und schon die Vorstellung, jemand in der Firma könnte erfahren, dass sie zur Therapie ging, ließ sie schaudern.

Im Hier und Jetzt leben war im Übrigen einer von Agnethas Lieblingsausdrücken und ihre Lösung aller menschlichen Probleme. Sie schien zu glauben, dass Mindfulness-Übungen, wie etwa zehn Minuten auf einer Rosine herumzukauen, um den echten Geschmack zu erleben, alles heilen konnten: von Migräne bis hin zu überlasteten Achillessehnen.

Doch trotz ihrer Proteste, sie würde sich nicht in ihrer Arbeit vergraben, wusste Charlotte insgeheim, dass Agnetha recht hatte. Zu arbeiten war ihre Methode, zu vergessen, und nachdem sie endlich wieder die Kontrolle über ihr Leben zurückgewonnen hatte, dachte sie nicht daran, sie so ohne weiteres wieder abzugeben.

Noch schlimmer war es, wenn Agnetha auf ihrem avocadogrünen Drehstuhl wippte und fragte, mit wem Charlotte sich eigentlich in ihrer Freizeit traf. Es war anscheinend lebenswichtig, Menschen um sich zu haben, und dem konnte auch Charlotte sich nicht entziehen, obwohl sie Witwe war. »Meinen Sie, es geht Ihnen besser, wenn Sie so viel alleine sind?«, fragte Agnetha mit ihrer sanftesten Therapeutinnenstimme und legte den Kopf schief.

Wenn sie das hörte, krampfte sich Charlottes Magen zusammen, denn was sollte sie darauf antworten? Natürlich wollte sie nicht für den Rest ihres Lebens alleine bleiben, aber sie war noch nicht dazu bereit, neue Leute kennenzulernen, und außerdem war die Chance, dass sie noch einmal jemand so Wunderbaren kennenlernen würde wie Alex, nahezu bei null. Dennoch war es natürlich nicht besonders lustig, weder Freunde noch Familie zu haben, und nachdem ihr Mann gestorben war, würde sie vermutlich auch niemals eigene Kinder haben.

Es konnte Charlotte in den Wahnsinn treiben, an die vielen Male zu denken, die sie und Alex über ein gemeinsames Kind gesprochen hatten. Bisher hatte das Timing nie gestimmt, immer waren sie gerade mitten in einer entscheidenden Entwicklungsphase der Firma gewesen und hatten sich darauf geeinigt, noch ein Jahr zu warten, fest davon überzeugt, dass sie alle Zeit der Welt hatten. Doch dieses eine Jahr kam und ging viele Male, und jetzt stand sie mit leeren Händen da. Wobei, sie hatte immer noch die Firma. C/o Charlotte war das Einzige, was ihr von Alex geblieben war, und sie wollte auf keinen Fall auch das noch verlieren.

Wenn das Gespräch ins Stocken kam, kaute Agnetha immer auf ihrem Bleistift herum, wie um zu zeigen, wie angestrengt sie nachdachte, und dann kam irgendein völlig absurder Vorschlag, der nur zeigte, wie wenig sie Charlotte wirklich kannte. Zuletzt hatte sie ihr vorgeschlagen, einen Tanzkurs zu besuchen.

»Eine ausgezeichnete Möglichkeit, mit Menschen in Kontakt zu kommen«, hatte sie enthusiastisch gerufen und mit ihrem zerbissenen Bleistift herumgewedelt, worauf Charlotte nur den Kopf geschüttelt hatte. Sie konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als mit einem fremden Mann zu tanzen, der vermutlich sowohl Schweißhände als auch Filzläuse hatte.

Was Agnetha nicht zu begreifen schien, war, dass Charlotte, wenn sie die Wahl hätte, das Haus am liebsten gar nicht mehr verlassen würde. Dennoch war sie jetzt hier. In London. Hunderte Kilometer von zu Hause entfernt. Wenn Agnetha das wüsste, würde sie sich wahrscheinlich gar nicht mehr einkriegen vor Begeisterung. In einer Stadt mit über acht Millionen Einwohnern für sich zu bleiben war nahezu unmöglich, und das Risiko, Filzläuse zu bekommen war rasant gestiegen, seit Charlotte das Flugzeug verlassen hatte.

Sie schauderte, wenn sie an die vielen Krankheiten dachte, die in einer so großen Stadt umgehen mussten, und fluchte im Stillen, während sie versuchte, die Karte zu lesen, die sich immer in die verkehrte Richtung zu drehen schien. Eigentlich war an allem nur dieser Anwalt schuld. Er hatte so autoritär geklungen, als er mit seinem versnobten Englisch angerufen und die Vokale gedehnt hatte, dass Charlotte ihn förmlich vor sich sehen konnte, wie er in seinem Büro mit Blick auf den Buckingham Palace saß und sich von seinem Butler Tee servieren ließ. Wahrscheinlich trug er obendrein ein Monokel und einen gezwirbelten Schnurrbart.

»Sie müssen Ihrer Tante viel bedeutet haben, da sie Ihnen das Haus mitsamt der Buchhandlung vermacht hat, Miss Rydberg«, hatte er gesagt. Nein, wollte sie antworten, das kann nicht sein, wir kannten uns gar nicht, wir sind einander nie begegnet. Doch sie hatte kaum ein Wort herausgebracht, und dann war das Gespräch auch schon beendet gewesen, der Anwalt hatte aufgelegt.

Es spielte keine Rolle, dass das Ganze wie ein seltsamer Aprilscherz klang. Wenn ein britischer Anwalt anruft und einem sagt, dass man von einer mehr oder weniger unbekannten Verwandten ein Haus geerbt hat, dann fährt man hin. Das hatten sowohl Henrik als auch Agnetha ihr klar und deutlich zu verstehen gegeben.

Ein Passant lief in einer Wolke billigen Parfüms an ihr vorbei und sie hielt sich instinktiv die Nase zu. Es war viel gewesen heute. All die Eindrücke von der Reise. Der Lärm am Flughafen. Ihr Sitznachbar im Flieger, der alles über sie wissen wollte. (Das Erste, was er sagte, als er sich ihr zuwendete, war: »Jetzt fangen wir mal ganz von vorne an. Wo sind Sie geboren?«) Eine Welle von Müdigkeit überrollte sie, und sie stützte sich auf ihren Koffer.

Das alles wäre viel einfacher, wenn sie Alex dabeihätte. Er konnte großartig mit Menschen umgehen und es fiel ihm leicht, neue Kontakte zu knüpfen. Als sie vor acht Jahren die Kosmetikfirma c/o Charlotte gegründet hatten, war von Anfang an klar gewesen, dass er sich um die Kundenkontakte kümmern würde, während sie, die Alex liebevoll sein introvertiertes kleines Genie nannte, für die Produktentwicklung zuständig war.

Charlotte zog ihr Desinfektionsmittel heraus und rieb sich sorgfältig die Hände ein. Sie erinnerte sich daran, wie sie und Alex zusammen zu einer Fabrik nach Spanien hinuntergefahren waren, weil deren Produktion plötzlich stockte. Sie waren gerade in der Startphase gewesen, und Charlotte, die genau wusste, welche Probleme es mit sich brachte, wenn die Ware nicht rechtzeitig geliefert wurde, war außer sich vor Wut. Alex dagegen hatte in seiner gewohnt ruhigen Art gemeint, es nütze nichts, einfach nur Druck zu machen. Stattdessen hatte er den Vorarbeiter der Fabrik, Juan, um den Finger gewickelt, Marabou-Schokolade für dessen zwei Söhne mitgebracht und sich einen ganzen Abend lang seine Sorgen angehört. Nachdem Alex festgestellt hatte, dass Juan recht hatte, dass es nämlich tatsächlich viel zu warm in der Fabrik war, und sich darum gekümmert hatte, dass mehr Ventilatoren zur Verfügung gestellt wurden, war die Produktion sehr schnell wieder in Gang gekommen.

Noch immer schrieb Juan ihnen gelegentlich eine Postkarte, und als Mitte Juli wieder einmal eine im Briefkasten lag, adressiert an Alex und Familie, war Charlotte beinahe zusammengebrochen. Sie war davon ausgegangen, dass inzwischen jeder von Alex' Unfall wusste, doch bis in die Fabrik in Granada war die Nachricht anscheinend noch nicht vorgedrungen.

Ein lauer Wind wehte über die Themse, und Charlotte hielt einen Moment inne und genoss die Wärme. Überall wimmelte es von Menschen, doch keiner von ihnen blickte ihr in die Augen. Als einer alten Dame in himmelblauem Mantel und mit eleganter Frisur die Einkaufstüte aus der Hand glitt, war Charlotte die Einzige, die sich bückte und die umherrollenden Äpfel wieder aufsammelte.

Charlotte reichte ihr die Tüte mit dem Obst und versuchte gleichzeitig, dem Passantenstrom auszuweichen. Sie war es nicht gewohnt, so viele Leute um sich zu haben. Die meiste Zeit arbeitete sie von ihrem Haus auf dem Land aus, und oft sprach sie tagelang mit niemand anderem als mit Henrik. Und mit ihren Mitspielern auf Wordfeud natürlich, doch die zählten laut Agnetha nicht.

Die Dame lächelte dankbar.

Kurz darauf radelte ein kleines Mädchen im Spiderman-Kostüm auf Charlotte zu, und sie musste zur Seite springen, um nicht angefahren zu werden. Eigentlich hatte sie gar nicht die Zeit, hier zu sein. Sie war mitten in Verhandlungen mit mehreren großen Ketten, die ihre Kosmetikserie in ihren Läden verkaufen wollten. Henrik hatte vorgeschlagen, dass sie unter den gegebenen Umständen noch ein wenig warten sollten. Er machte sich Sorgen, Charlotte könnte sich überarbeiten. Was niemand zu begreifen schien, war, dass sie sich beschäftigen musste. Außerdem wollte sie mehr denn je Alex' Visionen verwirklichen, denn solange sie ihre gemeinsamen Projekte verfolgte, blieb er gewissermaßen an ihrer Seite.

Charlottes Koffer ratterte über das Pflaster. Da sie keine Ahnung hatte, wie lange sie bleiben würde, hatte sie wahllos ein bisschen von diesem und jenem eingepackt. Bestenfalls war sie bereits morgen wieder auf dem Heimweg, wie sie Henrik zu erklären versucht hatte, als er Musical-Karten für sie organisieren wollte.

Das Ganze war wirklich ein Rätsel. Also nicht die Tatsache, dass Henrik Eintrittskarten für sie kaufen wollte. Er war geradezu besessen von Andrew Lloyd Webber und hatte bei Ebay sogar schon auf ein von ihm benutztes Taschentuch geboten. Was Charlotte nicht begriff, war vielmehr, dass ihre Mutter bis auf ein paar flüchtige Anmerkungen nie etwas von ihrer älteren Schwester Sara erzählt hatte. Soweit Charlotte wusste, hatten sie zu Lebzeiten keinerlei Kontakt gehabt.

Charlotte blickte auf den gewaltigen Fluss und verlor beinahe das Gleichgewicht, als ein kräftiger Windstoß sie erfasste. Der Anwalt hatte ihr erklärt, das Gebäude bestehe aus zwei Wohnungen sowie Geschäftsräumen, und dass es die Buchhandlung im Erdgeschoss seit über hundert Jahren gebe. Charlotte hatte keine Ahnung, was sie mit einem so alten Haus anfangen sollte, und noch weniger konnte sie sich vorstellen, warum ihre Tante es ausgerechnet ihr hinterlassen hatte.

Nach ihrem Gespräch mit dem Anwalt Mr Cook schrieb sie ihm eine lange Mail, in der sie vorschlug, er könne das Haus in ihrem Namen vermieten. Doch Mr Cook antwortete im selben autoritären Ton, den er schon bei ihrem Telefongespräch angeschlagen hatte, er bestehe darauf, dass sie herkomme und es sich ansehe. Da sie einen Betrieb mit mehreren Angestellten geerbt habe, sei sie es ihnen schuldig, sich die Buchhandlung anzusehen, bevor sie irgendwelche Entscheidungen treffe. Und natürlich hatte er recht, auch wenn es eine schwierige Begegnung werden würde. Denn was konnte sie Saras Personal schon anbieten? Sie konnte schließlich schlecht nach London ziehen und anfangen, Bücher zu verkaufen, statt sich um ihre eigene Firma zu kümmern.

Charlotte blieb stehen, um sich zu vergewissern, dass sie auf dem richtigen Weg war. Auf der Themse glitt ein Frachter vorbei, ein paar Möwen kreischten am Himmel, und die Sonne schien so grell durch die lockere Wolkendecke, dass sie blinzeln musste.

Laut der Kartenapp war sie fast da. Charlotte hob die Hand, um ihre Augen abzuschirmen, und als sie es plötzlich direkt vor sich erblickte, wusste sie, dass sie angekommen war.

Es war ein typisch viktorianisches Stadthaus. Der obere Teil war aus Backstein gemauert, der untere mit einer zinnoberroten Fassade versehen, es sah charmant englisch aus. Das Einzige, was das Bild störte, war, dass jemand massenhaft Gerümpel in das überfüllte Schaufenster gestellt hatte. Ansonsten wirkte es sehr ansprechend.

Charlottes Herz machte einen Sprung. Zwar war das Gebäude eher klein und stand etwas eingequetscht zwischen zwei anderen da, dennoch hatte es mit seinen Fensterläden und antiken Blumenkästen einen eigenen Charakter, und aus irgendeinem Grund beschleunigte das ihren Puls.

Ein Taxi hupte wütend, als sie über die Straße ging, ohne sich umzusehen, doch sie konnte den Blick einfach nicht von dem Haus wenden. Über dem vollgestopften Schaufenster prangten vergoldete Buchstaben. The Riverside Bookshop, las Charlotte.

Gefesselt von dem Anblick blieb sie eine Weile auf dem Gehweg stehen. Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich das Haus nur kurz von außen anzuschauen und anschließend direkt in ihr Hotel zu gehen, doch jetzt war sie plötzlich neugierig geworden. Das alte Haus schien sie geradezu magisch anzuziehen, es schien, als fiele der Boden zum Eingang hin ab.

Charlotte kratzte sich im Nacken. Sie könnte kurz hineingehen und sich ein wenig umsehen. Die Angestellten kannten sie schließlich nicht. Danach hätte sie noch genügend Zeit, das Hotel zu suchen, das Henrik für sie in der Nähe gebucht hatte. Ja, so würde sie es machen. Entschlossen streckte sie die Hand nach der massiven Klinke aus.

Die Tür aus eingefasstem Glas war schwer und vermutlich seit Jahrzehnten nicht mehr gereinigt worden. Charlotte nahm sich vor, sich nochmals die Hände zu desinfizieren. Doch sobald sie drinnen war, vergaß sie jeden Gedanken an Hygiene und blickte sich stattdessen andächtig um.

Alles kam ihr seltsam vertraut vor. Gleichzeitig schien es ihr, als wäre sie hundert Jahre in der Zeit zurückgereist. Die Bretter der dunkel gebeizten, bis zur Decke reichenden Holzregale bogen sich unter der Last der Bücher. Der Boden bestand aus breiten, unregelmäßigen Dielen, und durch die schmutzigen Scheiben fiel das Sonnenlicht, in dem Staubteilchen tanzten.

Charlotte blickte zu den grünen Glaslampen hinauf, die in ihren Kupferfassungen von der Decke hingen, und nahm den Geruch von Druckerschwärze, altem Papier und Vanille wahr.

Beeindruckt ließ sie den Blick schweifen. Diese Buchhandlung war wirklich etwas Besonderes. Von außen hatte sie hübsch, aber relativ anspruchslos gewirkt, doch wenn man hineinkam, öffnete sich eine eigene Welt. Der kunstvolle Stuck und die dekorativen Leisten, dazu der offene Kamin mit seinem dunklen Holzrahmen und dem Funkenschutz aus schwarzem Gusseisen, verliehen dem Raum einen wohnlichen Eindruck. Trotz seines etwas heruntergekommenen Äußeren strahlte er Wärme und Gemütlichkeit aus; ein perfekter Ort für jeden Buchliebhaber. Solange man keine Hausstauballergie hat, dachte Charlotte.

Hingerissen von der Fülle blieb sie auf dem weinroten Teppich im Eingangsbereich stehen. Die gewaltige Menge an Büchern, unter denen sich die Regalbretter bogen, sah alt aus und erweckte eher den Eindruck eines Antiquariats. An den Wänden hingen schwere Messingrahmen mit Autorenporträts und Zitaten aus berühmten Büchern, wie Charlotte annahm, und in der Ecke standen einladende Sessel, falls man sich setzen und ein wenig lesen wollte. In der Mitte thronte eine mächtige, u-förmige Eichenholztheke mit geschnitzten Details und einer schönen silbernen Kasse im Stil der Jahrhundertwende.

Anscheinend hatte sie sich bereits an den Großstadtlärm draußen gewöhnt, denn die plötzliche Stille im Inneren des Ladens drinnen fiel ihr auf. Das also ist Saras Buchhandlung, dachte sie. Meine Buchhandlung.

Erst als sich ihr eine kräftige Frau in einem roten Kaftan näherte, brach der Zauber. Charlotte wandte sich ihr zu, um ihr zu sagen, dass sie keine Hilfe brauche, sondern sich nur ein wenig umsehen wolle, doch noch ehe sie den Mund öffnen konnte, streckte die Frau beide Arme aus und umarmte sie strahlend.

Ein paar lange Sekunden steckte sie in der unfreiwilligen Umarmung fest und spürte, wie sich der große, weiche Körper an sie drückte. Panik stieg in ihr auf und sie versuchte vergeblich, sich zu befreien. Als die Frau sie endlich losließ, trat Charlotte in Erwartung einer Entschuldigung oder zumindest einer Erklärung – Ich habe wohl vergessen, meine Medikamente zu nehmen – ein paar Schritte zurück. Doch stattdessen rief die Frau: »Wie schön, Sie endlich kennenzulernen!«

Charlotte starrte sie verwundert an. Die Frau in Rot musste irgendetwas missverstanden haben. Vielleicht verwechselte sie sie mit irgendeiner Berühmtheit? Jemand hatte ihr mal gesagt, sie ähnele auf ihrem Facebook-Profilbild Scarlett Johansson. Das Bild war von der Seite aufgenommen und Charlotte hatte einen Filter darübergelegt. Eine gewisse Ähnlichkeit war tatsächlich vorhanden, das fand sie selbst auch. Hatte die Frau sie also mit Scarlett Johansson verwechselt?

Jedenfalls ließ sie sich nicht davon stören, dass sie keine Antwort erhielt und legte ungeniert eine Hand auf Charlottes Arm.

»Wie schön, dass Sie endlich da sind! Ich habe mir solche Sorgen gemacht, was aus allem werden soll. Und ich habe versucht, mich so gut es ging um die Buchhandlung zu kümmern, aber seit Sara nicht mehr da ist …« Sie schüttelte betrübt den Kopf. »Ja, also ich habe mein Bestes gegeben, aber mit Ihrer Hilfe wird bestimmt alles leichter. Gott, wie ich mich auf diesen Moment gefreut habe! Es gibt so viel, was ich Ihnen zeigen möchte!«

Charlottes Hand krampfte sich um ihre Handtasche. Sie begriff überhaupt nichts mehr. Wieso hatte diese Frau sie erkannt?

»Ich bin übrigens Martinique, aber das haben Sie sich bestimmt schon gedacht«, sagte sie und lachte so laut und herzlich, dass ihre dunklen Locken wippten. Sie hatte ein wirklich freundliches Gesicht mit entwaffnendem Lächeln.

Charlotte schluckte. Wie sollte sie erklären, dass sie keine Ahnung hatte, wer Martinique war?

»Entschuldigung, aber …«

Weiter hinten öffnete sich eine Tür, und die Frau legte die Hände an den Mund und rief laut:

»Sam, rate mal, wer da ist! Komm und sag Charlotte guten Tag!«

Charlotte griff sich an den Hals. Sie wusste also sogar ihren Namen? In ihrem Kopf drehte sich alles. War der Anwalt hier gewesen, um die Angestellten zu informieren? Ja, dachte sie, das muss es sein. Und vielleicht fand Martinique auch, dass sie Sara ähnelte, oder sie sah einfach schwedisch aus, mit ihrem blonden Haar. Eine bessere Erklärung fiel ihr nicht ein.

Eine deutlich jüngere Frau in ausgestellten Jeans, braunem Hemd mit gestärktem Kragen und gelber Strickweste schlenderte auf sie zu. Sie wirkte zum Glück nicht ganz so euphorisch über ihre Ankunft und streckte lediglich die Hand aus, um sie zu begrüßen.

»Sie sind also Saras Nichte. Nett, Sie kennenzulernen«, sagte sie. Dann wandte sie sich wieder an Martinique:

»Soll ich noch mehr Tüten bestellen, oder wollen wir das erst noch mal gemeinsam besprechen?«

Charlotte spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Die Mitarbeiterinnen hatten also auf sie gewartet. Natürlich wollten sie wissen, wie es jetzt mit ihnen weiterging, doch für den Moment konnte Charlotte ihnen gar nichts sagen. Erst musste sie mit dem Anwalt sprechen.

Während Martinique und Sam sich über den Tütenverbrauch unterhielten, überlegte Charlotte fieberhaft, was sie ihnen sagen sollte. Natürlich wollte sie die Situation auf die bestmögliche Weise lösen und hoffte, einen Mieter zu finden, der die Buchhandlung übernahm, doch sie konnte überhaupt nicht einschätzen, ob ihr das gelingen würde.

Als sie fertig diskutiert hatten, sah Martinique Charlotte an und lächelte.

»Sie sind bestimmt müde von der Reise. Ich zeige Ihnen Saras Wohnung, denn Sie wollen doch bestimmt dort übernachten?«

Charlotte nickte zögernd. Sie hatte nicht vor, in der Wohnung ihrer verstorbenen Tante zu schlafen, doch sie war neugierig auf Sara und wollte sehen, wie sie gelebt hatte. Anschließend würde Martinique sie dann hoffentlich allein lassen, und sie konnte in Ruhe ihr Hotel suchen.

Charlotte nahm ihren Koffer und machte sich bereit, wieder auf die Straße hinauszugehen, doch Martinique zeigte ins Ladeninnere:

»Hier entlang, Herzchen. Sara wohnte in der Wohnung gleich über dem Laden. Wir sind immer eine große Familie gewesen. Ich, Sam und Sara. Und natürlich William, der in der anderen Wohnung wohnt.«

Die grün gestrichene Treppe wirkte wie aus einem Märchen, und als sie an Saras Wohnungstür ankamen, überraschte es Charlotte keineswegs, dass sie mit handgemalten, orangegelben Blumen verziert war.

Martinique reichte ihr einen Schlüsselbund und nickte zu der Tür mit dem Namensschild S. Rydberg und der Katzenklappe.

»Die sind für Sie. Wir haben versucht, ein bisschen aufzuräumen«, sagte sie entschuldigend, »aber es fühlte sich nicht richtig an, in Saras Sachen herumzuwühlen, bevor Sie da waren.« Sie lächelte erneut, während Charlotte versuchte, den Schlüssel in das zerschrammte Schloss zu stecken. »Kommen Sie runter, wenn Sie sich eingerichtet haben, dann mache ich uns was zu essen.«

Charlotte bedankte sich, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, heute Abend noch mit Sam und Martinique zu essen. Im Moment war das Einzige, woran sie denken konnte, dieses Hotel zu finden, lange zu duschen, den Zimmerservice zu bestellen, ins Bett zu kriechen und ihre Firmen-E-Mails zu checken.

Endlich verschwand Martinique die Treppe hinunter, und es gelang Charlotte, die Tür zu öffnen. In der Wohnung empfing sie ein einziges Durcheinander, überall lagen Notizblöcke und alte Zeitungen herum. An den Türrahmen hingen massenhaft Post-its mit dahingekritzelten Bemerkungen wie Franzens neuen Roman bestellen und Mrs Ipswich wird den Taschendieb lieben, sie muss ihm nur eine Chance geben, und überall auf dem Boden verteilt waren riesige Bücherstapel.

Erschöpft sah Charlotte sich um. Eigentlich war sie eine begnadete Organisatorin und liebte es, aufzuräumen. Zu Hause hatte jedes Ding vom Haargummi bis zum Anspitzer seine eigene Schachtel, und wenn Alex, der ein richtiger Chaot war, auf der Suche nach irgendetwas seine Schreibtischschubladen auf dem Boden ausgekippt hatte, war sie jedes Mal wütend auf ihn geworden. Die plötzliche Erinnerung zog ihr das Herz zusammen. Im Nachhinein konnte sie nicht mehr nachvollziehen, dass sie sich über solche Banalitäten gestritten hatten.

Charlotte rückte einen Bilderrahmen an der Wand gerade und seufzte. Sie zog die kleine Flasche aus ihrer Handtasche und desinfizierte sich erneut die Hände. Hier drinnen war es so unordentlich, dass sie gar nicht wusste, wo sie überhaupt anfangen sollte. Die Wohnzimmerwände waren mit verblichenen Postern von Bob Dylan und Janis Joplin bedeckt, die so spröde wirkten, dass sie wahrscheinlich zerfielen, wenn man sie nur berührte.

Vorsichtig trat Charlotte ein paar weitere Schritte in die Wohnung. Es kam ihr vor wie ein Museum. Sie ließ den Blick wandern. Die Zimmer waren relativ klein und eng und die Möbel wirkten, als seien sie hier und da auf Flohmärkten erstanden und zusammengewürfelt worden. Es war stickig und ein wohlbekannter süßsaurer Geruch machte sich bemerkbar, als hätte jemand Obst in einer Tasche vergessen.

Sie blinzelte angestrengt. Wäre sie nicht so müde gewesen, wäre sie wahrscheinlich gleich wieder runtergegangen, doch sie hatte keine Kraft mehr, sich mit irgendwem zu unterhalten.

Auf einer kleinen Kommode entdeckte sie ein gerahmtes Foto, das ihre Mutter Kristina zusammen mit einem anderen jungen Mädchen zeigte, vermutlich ihrer Tante. Die beiden saßen auf einer Bank, und obwohl ihnen der Wind die Haare ins Gesicht wehte, lächelten sie in die Kamera. Sie hatten das gleiche blonde Haar und Sommersprossen auf der Nase. Sie sahen sich unglaublich ähnlich, und sie waren so jung. Nicht älter als zwölf oder dreizehn.

Lange starrte Charlotte das Foto an. Sie hatte immer geglaubt, ihre Mutter sei deutlich jünger gewesen als ihre Schwester und sie hätten vielleicht deshalb den Kontakt verloren, doch auf dem Foto sahen sie beinahe gleich alt aus.

Mit dem Finger berührte sie das Gesicht ihrer Mutter. Warum hatte sie ihr nie etwas von Sara erzählt? Hatten sie sich zerstritten?

Charlotte wurde immer wehmütig, wenn sie an ihre Mutter dachte, und blinzelte eine Träne fort. Obwohl sie bereits seit mehreren Jahren tot war, vermisste sie sie unendlich und überlegte, wie es wohl gewesen wäre, wenn sie Sara noch hätte kennenlernen dürfen. Wahrscheinlich hätte sie sie sehr an ihre Mutter erinnert.

Charlotte sah sich weiter im Zimmer um und entdeckte etwas Bekanntes drüben beim Fernseher. Sie ging zu dem Regal hinüber, wo weitere Fotos aufgereiht waren und betrachtete sie verwundert. Die meisten kannte sie gut. Sie selbst war darauf als Kind zu sehen: als Einjährige in einer Badewanne sitzend, als Vierjährige über eine Wiese rennend. Wenn ihre Mutter Sara die Bilder geschickt hatte, mussten sie doch Kontakt gehabt haben. Warum hatte ihre Mutter ihr nichts davon erzählt?

Als sie einen weiteren Rahmen in die Hand nahm, stutzte sie. Auf dem Foto war sie als Erwachsene zu sehen. Es stammte aus einem Interview mit einer Zeitung, als sie gerade ihre Firma gegründet hatte.

Charlotte erinnerte sich noch gut an diesen Tag. Erst hatte sie sich geweigert, sich fotografieren zu lassen, doch Alex hatte gemeint, sie sei das Aushängeschild, immerhin trage die Firma ihren Namen, und so war sie schließlich einverstanden gewesen. Erstaunlicherweise hatte es ihr dann sogar Spaß gemacht, nach den Anweisungen des Fotografen vor der Kamera zu posieren.

Still betrachtete sie das Foto. Es war von schlechter Qualität, wahrscheinlich mit einem alten Tintendrucker ausgedruckt, dennoch fand sie, dass sie hübsch aussah. Ein anderes Foto war eines ihrer ehemaligen Profilbilder auf Facebook. Martinique musste sie anhand dieser Fotos wiedererkannt haben.

Charlotte stellte das Bild zurück. Wieso hatte ihre Tante sich für ihr Leben interessiert? Wenn sie sie hätte kennenlernen wollen, warum hatte sie sich dann nicht einfach gemeldet?

Sie ging zwischen den Möbeln hindurch, bis sie einen Sessel fand, den sie abklopfte, bevor sie sich setzte. Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf umher. Warum hatte Sara ihr die Buchhandlung vermacht?

Resigniert blickte sie sich um. Wenn man das Haus renovierte, war es bestimmt viel wert, aber Charlotte konnte von ihrer Firma gut leben und brauchte das Geld nicht. Außerdem war sie sich nicht sicher, ob sie eine weitere Wohnungsauflösung ertragen würde. Die ihrer Mutter hatte sie fast umgebracht.

Charlotte gähnte. Sie wollte nicht undankbar erscheinen, aber sie war nicht bereit, ein solches Projekt zu übernehmen. Wäre Alex noch am Leben, wäre es etwas anderes, dann wären sie wenigstens zu zweit. Außerdem wusste Charlotte gar nicht, wie man eine Buchhandlung führt, und es wäre Martinique und Sam gegenüber nicht fair, mit ihrer Zukunft zu spielen. Bestimmt ließ sich jemand finden, der besser geeignet war, sich um den Riverside Bookshop zu kümmern.

Morgen bitte ich den Anwalt, jemanden zu suchen, der das Haus mieten will, dachte Charlotte, oder kaufen, falls das einfacher ist.

Die Lider wurden ihr schwer und sie schloss für einen Moment die Augen. Eine kurze Ruhepause war genau das, was sie jetzt brauchte, dann würde sie sich auf die Suche nach diesem Hotel machen. Und konnte hoffentlich bereits morgen den Nachmittagsflieger zurück nach Schweden nehmen.

Als Charlotte erwachte, war die Wohnung in Dämmerung gehüllt. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, wo sie war, und wurde panisch. Verwirrt sah sie sich um, dann entdeckte sie die Fotos auf den Regalen. Sie war also noch in Saras Wohnung.

Im gelben Licht der Straßenlaterne, das von draußen hereinfiel, kam es ihr vor, als wären die Bücherstapel gewachsen; sie warfen lange dunkle Schatten auf den Boden.

Charlotte schaute auf die Uhr. Viertel vor sieben. Hatte sie tatsächlich mehrere Stunden geschlafen? Sie seufzte und rieb sich das Gesicht.

Sie stand auf und trat ans Fenster. War die Buchhandlung noch geöffnet? Charlotte hoffte es, denn sie wusste nicht, wie sie sonst herauskommen sollte.

Fröstelnd blickte sie sich um. Vielleicht sollte sie doch einfach die Nacht hier verbringen? Das Sofa war zwar voller Bücher, aber die könnte sie ja wegräumen, und saubere Laken ließen sich bestimmt auch irgendwo auftreiben. Sie hatte wenig Lust, Sam und Martinique noch einmal zu begegnen, bevor sie einen Plan gemacht hatte, wie es mit der Buchhandlung weitergehen sollte.

Die Treppe draußen knarrte, und Charlotte drehte sich hastig um. Zögernd trat sie in den Flur.

Plötzlich klopfte es an der Tür, so laut, dass es durch die ganze Wohnung hallte.

Charlotte schluckte. Martinique und Sam wussten natürlich, dass sie immer noch hier war, und wenn sie nicht öffnete, wäre das einfach nur peinlich. Aber warum sagten sie nichts?

Als es zum zweiten Mal klopfte, streckte Charlotte die Hand nach dem Lichtschalter aus und schaltete die runde Glaslampe ein, die den ganzen Flur in sanftes Licht tauchte.

Rasch warf sie einen Blick auf ihr Spiegelbild über der Kommode, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und drehte dann den Wohnungsschlüssel um.

Auf dem Treppenabsatz stand Sam, an die Wand gelehnt. Ihre halblange Pagenfrisur hatte sie zurückgekämmt, sie erinnerte mit ihrer entspannten Haltung an einen Schauspieler aus den fünfziger Jahren. James Dean vielleicht, oder Elvis. Charlotte erwartete fast, dass sie eine Zigarette hinter ihrem Ohr hervorzog und sie mit einer Schachtel Streichhölzer aus der Brusttasche anzündete.

»Hallo«, sagte Sam.

»Hallo.«

»Martinique und ich wollten was essen. Kommen Sie auch?«

Charlotte zögerte, dann schüttelte sie den Kopf.

»Danke, sehr nett, aber ich habe keinen großen Hunger«, antwortete sie und hoffte, dass Sam nicht hörte, wie ihr Magen knurrte.

Sam hob die Augenbrauen.

»Okay. Allerdings hat Martinique extra für Sie gekocht. Sie ist den ganzen weiten Weg bis zum Tesco gelaufen, um jede Menge Gemüse zu kaufen, von dem ich nicht einmal die Namen weiß, deshalb wäre es toll, wenn Sie mit runterkommen und wenigstens probieren könnten.«

Charlotte war peinlich berührt.

»Sie hat selbst gekocht? Dann komme ich natürlich. Augenblick, ich muss nur kurz etwas holen.«

Sie ging ins Wohnzimmer zurück und nahm ihre Handtasche. Den Koffer ließ sie stehen, denn bei Dunkelheit würde sie ohnehin nicht allein hinausgehen.

Auf halber Treppe warf Sam ihr über die Schulter einen Blick zu.

»Sind Sie Single oder verheiratet oder leben Sie in sonst irgendeiner Partnerschaft?«

Charlotte verzog das Gesicht. Sie sprach nicht gern über ihr Privatleben.

»Single.«

Sam nickte.

»Nur, damit Sie es wissen: Wir haben ein System hier im Laden. Jeder Kunde, der reinkommt, gehört zuerst einmal mir. Wenn Sie einen daten wollen, geht das klar, aber Sie müssen es erst mit mir absprechen. Okay?«

Charlotte nickte, obwohl ihr diese Bemerkung seltsam vorkam. Dachte Sam, sie wolle hierbleiben? Wusste sie nicht, dass sie bereits einen Job in Schweden hatte? Und warum sollte sie ein Interesse daran haben, sich mit den Kunden der Buchhandlung zu treffen? Sie hätte gern gesagt, dass sie nicht die geringste Absicht habe, hierher zu ziehen, doch das hätte nur zu weiteren Fragen geführt, und so ließ sie es lieber sein.

Das Licht im Erdgeschoss hatte sich verändert. Es kam Charlotte beinahe neblig vor, jetzt, da die Sonne unterging und man sich ganz auf das Licht der großen grünen Lampen verlassen musste sowie auf den Schein der Kerzen auf dem Kaminsims.

Charlotte folgte Sam. Der Duft nach Essen erinnerte sie daran, wie hungrig sie war, und sie lächelte, als sie sah, dass jemand ein weißes Tischtuch über die lange Seite der Eichenholztheke gebreitet und unterschiedliche Teller aufgedeckt hatte.

»Setzen Sie sich, wir kommen gleich«, sagte Sam und deutete auf die Barhocker, die an der Theke standen.

Charlotte setzte sich und musterte ihre Finger. Der anspruchslose, hellbeige Nagellack erinnerte sie daran, wie wenig sie sich derzeit um ihr Äußeres kümmerte. Früher war sie ein wandelndes Modell ihrer eigenen Schönheitsprodukte gewesen, heute konnte sie sich kaum zu einer einfachen Maniküre aufraffen.

Obwohl es bereits dämmerte, war draußen auf der Straße noch viel los. Die Themse glitzerte im Schein der Straßenlaternen, und die Promenade unten am Fluss war voller Spaziergänger. Von den Restaurants auf der anderen Straßenseite drang warmes Licht herüber, und man konnte die Silhouetten von Menschen erkennen, die beieinandersaßen und aßen.

Paare liefen Hand in Hand, eine Frau saß auf einer Parkbank und sang zur Gitarre, und ein Mann mit einem Hund auf dem Arm hörte ihr zu. Es gab so viel zu sehen, dass es Charlotte schwerfiel, den Blick abzuwenden. Zu Hause vor dem Bürofenster gab es höchstens ein paar Krähen, und es war faszinierend, so viele Momentaufnahmen aus verschiedenen Leben auf einmal geboten zu bekommen.

Durch die Regale vor dem Schaufenster sah sie den Leuten zu, die vorübergingen. Sie hatte das Gefühl, als wäre die Buchhandlung ein geheimer Ort, der den Blicken anderer verborgen war, und diese Vorstellung ließ ihr Herz schneller schlagen.

Sie war selbst überrascht über ihre Neugier. Im vergangenen Jahr war sie so viel allein gewesen, dass sie sich an die Stille gewöhnt hatte. Wenn sie sich mit Leuten traf, kam das Thema früher oder später immer auf Alex, und darauf hatte sie keine Lust.

Agnetha hatte gemeint, sie bräuchte ja niemandem zu sagen, was passiert war, zumindest nicht, wenn sie jemanden neu kennenlernte, doch Charlotte kam es vor, als würde sie dann lügen. Fast jede Frage schien letztlich zu Alex zu führen, und von ihrem toten Ehemann zu erzählen konnte wirklich jede Stimmung verderben. Außerdem hatte sie immer noch wahnsinnige Angst, plötzlich in Tränen auszubrechen, was ihr hin und wieder tatsächlich passiert war, unter anderem an der Kinokasse, als der Verkäufer ihr die Handlung von Ein ganzes halbes Jahr erklärt hatte.

Von weitem entdeckte Charlotte einen jungen Mann in Lederjacke. Er hatte dunkles, lockiges Haar und schien wütend, so wie er heranpreschte. Dennoch hatte er etwas Elegantes an sich, obwohl er nicht rasiert war und unter seiner Jacke ein zerknittertes Hemd hervorschaute.

Er kam geradewegs auf Charlotte zu. Statt weiter der Straße zu folgen, hielt er direkt vor der Buchhandlung, und als er die Klinke herunterdrückte, schnappte Charlotte nach Luft.

Die Tür öffnete sich und ein Windstoß fuhr herein. Charlottes Herz setzte kurz aus. Sie war überzeugt gewesen, die Tür sei abgeschlossen; und nun zu merken, dass jederzeit jemand hereinspazieren konnte, fühlte sich für sie bedrohlich an.

Der Mann in der braunen Lederjacke starrte sie an. Charlotte musste sich zwingen, seinem Blick nicht auszuweichen.

»Wo ist Sam?«, fragte er barsch.

Sie wies auf den hinteren Teil des Ladens und sah ihm hinterher, wie er über die massiven Dielen polterte, die bei jedem seiner Schritte knarrten.

Charlotte atmete tief aus. Das Gefühl der Ruhe, das sie eben noch empfunden hatte, war wie weggeblasen. Wenn sie jetzt blieb, wäre sie bestimmt einer Menge anstrengender Fragen ausgesetzt. Am besten nahm sie einfach ihre Handtasche und ging, suchte das Hotel und kehrte morgen zusammen mit dem Anwalt zurück.

Als sie gerade vom Stuhl herunterrutschte, tauchte Martinique mit einem riesigen Kochtopf auf.

»Hallo, Liebes«, zwitscherte sie. »Konnten Sie sich ein bisschen ausruhen?«

Enttäuscht darüber, dass es ihr nicht gelungen war zu entwischen, setzte Charlotte sich wieder hin und nickte.

»Saras Wohnung ist wirklich etwas Besonderes. Wenn kein Nebel ist, kann man vom Wohnzimmerfenster aus die Tower Bridge sehen!«

»Ach, wirklich«, antwortete Charlotte kurz und biss sich auf die Unterlippe. Martinique war so freundlich zu ihr. Sicherlich würde sie es ihr übelnehmen, wenn sie nicht zum Essen blieb. Außerdem duftete es verlockend. Sie konnte ihnen ja wenigstens einen Moment Gesellschaft leisten.

Martinique stellte den Topf ab, hob den Deckel und rührte mit einem Holzlöffel um. Sie hatte wunderschöne Haut von einer Farbe, die Charlotte als Praliné oder Muscovadozucker beschreiben würde. Ihre neuen goldbasierten Highlighter würden perfekt zu ihr passen, und wäre Charlotte sie selbst gewesen, also so, wie sie vor Alex' Unfall gewesen war, hätte sie schleunigst dafür gesorgt, dass Martinique eine Probepackung des Produkts erhielt.

Charlotte blickte sich schüchtern um und überlegte, was sie sagen könnte. Sie hatte eigentlich keine Sprachprobleme. Es fiel ihr sogar leichter, Englisch zu sprechen als Schwedisch, denn da konnte sie so tun, als wäre sie jemand anderes. Allerdings war sie ganz schlecht im Smalltalk, egal, um welche Sprache es sich handelte.

»Was für schönes Wetter Sie hier haben«, sagte sie und versuchte zu lächeln, als plötzlich etwas um ihre Beine strich. Irgendwo hatte Charlotte gelesen, dass man in einer Großstadt wie London nie mehr als ein paar Meter von einer Ratte entfernt war, und für den Bruchteil einer Sekunde war sie überzeugt, es wäre eine, die unter der Theke vorbeihuschte. Noch bevor sie den buschigen Schwanz registrieren konnte, war sie so heftig aufgesprungen, dass der Barhocker umfiel.

»O Gott, ich wusste nicht, dass es hier eine Katze gibt«, sagte sie errötend und richtete den Stuhl schnell wieder auf.

Martinique warf ihr einen innigen Blick zu.

»Das war nur Tennyson. Er ist eine Art Maskottchen. Die Kunden lieben es, ihn zu kraulen. Stimmt's, Katerchen?«, sagte sie zärtlich, als spräche sie zu einem Kind.

Charlotte sah zu, wie das große, zottige Tier zu einem Korb in der Ecke schlenderte und sich zufrieden darin zusammenrollte. Wenn so ein Riesenvieh hier herumlief, war es nicht weiter verwunderlich, dass alles voller Staub und Katzenhaare war.

Martinique blickte von ihrem Topf auf, und trotz ihres Lächelns lag Trauer in ihrem Blick.

»Sie sehen Ihrer Tante so ähnlich!«, sagte sie.

Charlotte rutschte auf dem Stuhl hin und her. Sollte sie Martinique die Wahrheit sagen – dass sie Sara gar nicht gekannt und nie gesehen hatte?

Martinique wendete sich ab und schniefte.

»Sara liebte meine Eintöpfe«, fuhr sie fort und verteilte das Besteck, das in verschiedenen Größen in einem Korb lag. Diskret wischte sie sich die Augen und lachte schon wieder. »Entschuldigung, ich muss mich wirklich zusammenreißen.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir sind so froh, dass Sie endlich da sind. Sara hat erzählt, dass Sie unter Flugangst leiden, und wir sind so dankbar, dass Sie trotzdem gekommen sind.«

Ach so, dachte Charlotte. So hatte ihre Tante also erklärt, weshalb ihre Nichte sie nie besuchen kam.

Sie entdeckte Sam, die Arm in Arm mit dem Mann in der Lederjacke hereinkam. Mit lauter Stimme redete er auf sie ein.

»Das ist William«, erklärte Martinique, »er wohnt in der Wohnung neben Ihnen.«

Charlotte registrierte, dass es sich so anhörte, als wäre sie bereits in das Haus eingezogen, ließ es aber fürs Erste auf sich beruhen.

Sam hielt zwei Weinflaschen in der Hand, und an der Theke angelangt, entkorkte sie die erste, wobei sie dem Mann weiterhin aufmerksam zuhörte. Er redete hitzig und in einem Dialekt, den Charlotte nicht verstand, sodass sie dem Gespräch nicht folgen konnte.

Sam schenkte vier Gläser ein, und William leerte seins in einem Zug.

Charlotte musterte ihn schweigend, doch als er ihr ein Weinglas herüberschob, schaute sie weg. Die Reaktion erfolgte unmittelbar. Er streckte die Hand aus und räusperte sich.

»Entschuldigung«, sagte er. »William.«

Charlotte ergriff halbherzig seine Hand.

»Charlotte.«

»Ich hoffe, ich habe dich nicht erschreckt.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, alles in Ordnung.«

»Bestimmt? Du sahst schon ein bisschen erschrocken aus.«

»Nein, ganz bestimmt nicht«, murmelte sie leise.

»Okay. Möchtest du Wein?«

Charlotte faltete die Hände im Schoß.

»Nein, danke.«

William hielt Sam sein Glas hin.

»Kann ich vielleicht noch etwas bekommen?«

Sam verdrehte die Augen, dann schenkte sie William den Rest aus der ersten Flasche ein und öffnete die zweite.

»Okay«, sagte William. »Bist du eine von Sams Freundinnen?« Die Art und Weise, wie er »Freundinnen« betonte, gab Charlotte zu verstehen, dass er etwas anderes meinte.

Sam seufzte laut.

»Ich schlafe nicht mit jeder Person, die den Laden betritt.«

»Nein, nur mit fünfundsiebzig Prozent …«

»… sagte er neidisch«, vollendete Sam seinen Satz.

Charlotte drehte ihr Weinglas. Sie war nicht abstinent, aber sie trank nur noch selten. Betrunken war sie schon seit Jahren nicht mehr gewesen, und zum Essen ein Glas Wein zu trinken, wenn sie alleine war, kam ihr … überflüssig vor. Jetzt aber war es ganz schön, etwas zum Festhalten zu haben. Außerdem konnte sie ein bisschen Stärkung gebrauchen, fand sie, sog den Duft ein und nahm dann doch einen kleinen Schluck.

»Das ist Saras Nichte«, sagte Sam jetzt ein wenig säuerlich.

William verschluckte sich und sah sie mit seinen samtbraunen Augen zum ersten Mal richtig an.

»Ach, du Schreck! Entschuldigen Sie bitte, Frau Vermieterin«, sagte er und deutete eine scherzhafte Verbeugung an. »Sie werden mir doch nicht die Miete erhöhen, bloß weil ich mich danebenbenommen habe?«

Erst jetzt fiel Charlotte auf, was für eine tiefe Stimme er hatte.

Sam pfiff.

»Ha, du wirst es dir niemals leisten können, hier wohnen zu bleiben.«

William lachte nervös.

»Im Ernst, Charlotte. Sara und ich hatten eine Spezialvereinbarung. Ich bekomme einen Nachlass auf die Miete, solange ich schreibe.«

»Ja, William ist unser Hausautor«, zwitscherte Martinique. »Haben Sie schon mal etwas von Die Taube landet auf deinem Dach gehört?«

Charlotte schüttelte den Kopf. »Leider nicht.«

»Nein? Sein Buch war sogar für einen Preis nominiert. Als bestes Debüt des Jahres! Und das ist nur eines von vielen Dingen, die diesen Ort hier so einzigartig machen.«

William vergrub plötzlich das Gesicht in den Händen.

»Aber William, du musst dich nicht schämen, sei lieber stolz darauf!«, sagte Martinique.

Sam sah Martinique an und schüttelte den Kopf.

»Was denn? Darf ich denn nicht ein bisschen mit unserem Hausautor angeben?«

William seufzte nur, und Sam legte ihm den Arm um die Schulter.

»Komm schon, das wird sich finden.«

Martinique blickte plötzlich ängstlich drein.

»Was ist passiert?«

»Er hatte doch heute dieses Treffen«, zischte Sam.

»Welches Treffen?«

»Mit Deidra, seiner Lektorin«, sagte Sam und schenkte William noch mehr Wein ein.

Ohne aufzublicken, stürzte William noch ein weiteres Glas hinunter und murmelte etwas Unverständliches.

Charlotte wusste nicht, wo sie hinschauen sollte. Das schien ein sehr privates Gespräch zu sein und nicht für ihre Ohren bestimmt. Sie schielte zur Tür hinüber.

»Es wird schon nicht so schlimm gewesen sein, wie du im ersten Moment denkst«, tröstete Martinique und reichte William einen Teller mit dampfendem Eintopf.

Er beugte sich darüber und holte tief Luft.

»Sie haben mir Digestive-Kekse angeboten. Digestive-Kekse! Und es waren noch nicht einmal McVitie's!«

Sam reichte William einen Löffel, und er begann zu essen.

»Und das Manuskript? Du hast schließlich ein ganzes Jahr daran gearbeitet. Meintest du nicht, es sei das Beste, was du je geschrieben hättest?«

William schloss die Augen, Sam seufzte.

»Erinnere ihn bloß nicht daran«, knurrte sie zwischen den Zähnen.

»Was denn?«, fragte Martinique. »Das hat er doch gesagt! Den ganzen Frühling hat er gestrahlt und sogar angefangen, vor sich hin zu pfeifen.«

William atmete schwer und murmelte erneut etwas Unverständliches.

»Was hat er gesagt?«, flüsterte Martinique, aber Sam schüttelte nur den Kopf.

»Was hast du gesagt?«, fragte sie William und füllte noch einmal sein Glas.

William lallte bereits und Charlotte zweifelte daran, dass es so gut war, wenn er noch mehr trank.

»Er … war … tet«, hörte sie ihn mühsam hervorbringen.

Alle am Tisch beugten sich näher zu ihm.

»Etwas erwartet?«, fragte Sam.

William nickte, obwohl niemand zu begreifen schien, was er meinte.

»Ja. Sie hat gesagt, sie hätte mehr von mir erwartet«, stammelte er. »Ich begreife das nicht. Es war richtig gut. Dachte ich zumindest, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Mein Manuskript ist anscheinend der letzte Dreck. Ich bin der letzte Dreck, ich glaube, sie will es kein zweites Mal lesen.«

Ein kleiner Tumult entstand, als Martinique aufstand, um William zu umarmen. Sein Löffel fiel auf das Tischtuch und ein großer, öliger Fleck breitete sich auf dem weißen Stoff aus.

»Ich habe richtig Lust, mir diese Deidra vorzunehmen und ihr die Meinung zu sagen«, sagte Sam und ballte die Fäuste. Martinique sah sie vorwurfsvoll an.

»Ich glaube nicht, dass du sie dazu zwingen kannst, das Buch zu veröffentlichen.«

»Oh, doch! Soll ich sie verprügeln?«, fragte Sam hitzig. Aber William schüttelte nur den Kopf.

Charlotte trank einen großen Schluck Wein. Es war das einzig Solidarische, was sie tun konnte. Dieser arme William würde sonst alles allein in sich hineinschütten.

Noch immer hatte niemand ihr etwas von dem Eintopf angeboten, und es kam ihr unangemessen vor, sich selbst zu bedienen, während alle mit Williams Krise beschäftigt waren, aber sie war furchtbar hungrig. Erst nach dem zweiten Glas fiel ihr ein, dass sie vom Flug noch eine Tüte Nüsse in ihrer Handtasche hatte.