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Frida Skybäck

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Beschreibung

Der Nr.-1-Bestseller aus Schweden Das Krimidebüt der schwedischen Bestsellerautorin Frida Skybäck. Für Leser*innen von Skandinavien-Krimis, Fans von Viveca Sten, Kristina Ohlsson und Charlotte Link. An einem dunklen Wintermorgen hetzt eine junge Frau über einen zugefrorenen See. Das Eis trägt nicht, die Frau versinkt binnen Sekunden im eiskalten schwarzen Wasser ... Die junge Ermittlerin Fredrika Storm, in der Gegend aufgewachsen, stößt zum bunten Team der Mordkommission Lund. Gleich an ihrem ersten Tag wird sie mit dem verschrobenen Henry Calment auf den Fall der ertrunkenen Frau angesetzt. Dieser Fall rührt an Geschichten, über die in Fredrikas Heimatdorf Harlösa schon viel zu lange geschwiegen wird. Und er führt zurück in ihre eigene Familienvergangenheit, zum plötzlichen Verschwinden ihrer Mutter vor vielen Jahren. Bald muss sich Fredrika entscheiden: Ist sie ihrer Familie oder der Wahrheit verpflichtet? Der Auftakt der Krimireihe um die Ermittlerin Fredrika Storm und ihren exzentrischen Kollegen Henry Calment. »Atmosphärisch und komplex, psychologische Spannung vom Feinsten.« Marie Magnussen, Smålandsposten

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Seitenzahl: 526

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Über das Buch

Auf einmal drang ein Geräusch aus dem Wald, und ein schwarzer Vogel flog schreiend auf. Eine junge Frau kam aus dem Wald gestürzt. Gun starrte in die Richtung. Die Frau lief nach Süden, wie um den See zu umrunden, doch plötzlich änderte sie die Richtung und rannte auf das Eis zu.

»Hallo!«, schrie Gun. »Das Eis hält nicht!« Doch die Frau schien sie nicht zu hören. Panisch rief ihr Gun noch einmal zu: »Das ist gefährlich. Das Eis kann brechen!«

Um den See war es völlig still, als hielte die ganze Welt den Atem an. Der Wind rüttelte ein bisschen an den Bäumen, ansonsten lag der Wald schweigend da. Irgendwo in der Ferne vernahm Gun ein leises Knarzen. Es schien sich um die Bucht fortzupflanzen, lief wie eine Vibration durch das gefrorene Wasser, und Gun wusste, was das bedeutete …

Frida Skybäck

Schwarzvogel

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Julia Gschwilm und Thomas Altefrohne

 

 

 

Presently my soul grew stronger;

hesitating then no longer,

»Sir«, said I, »or Madam, truly

your forgiveness I implore;

But the fact is I was napping,

and so gently you came rapping,

And so faintly you came tapping,

tapping at my chamber door,

That I scarce was sure I heard you« –

here I opened wide the door; –

Darkness there and nothing more.

 

Edgar Allan Poe: The Raven

Prolog

Vor ihr breitete sich der See aus, der Vombsjön, dort, wo er in die Senke zwischen zwei Hügelketten und dann weiter bis in die Ostsee floss.

Gun stand auf dem Sandstrand und blickte auf die mächtige gefrorene Wasserfläche hinaus. Es war bereits Januar, aber noch hatte es nicht geschneit. Das dünne Eis lag glänzend vor ihr, der betongraue Himmel spiegelte sich darin. Rundherum erstreckte sich ein Kranz aus dunklen Baumspitzen.

Schon immer war der große See ein wichtiger Teil ihres Lebens gewesen. Auf der einen Seite umgeben von Feuchtwiesen, flachem Grasland und niedrigen Sandwellen, auf der anderen Seite von Wald. Hier gab es eine vielfältige Vogelfauna und es herrschte ein Geruch nach Rinde und Mandelblüte, den sie sehr liebte. Hierher kam sie, wenn sie sich nach Ruhe sehnte. Dies war ihr Ort.

Als Anders und Lasse noch Kinder gewesen waren, waren sie im Sommer immer zum Baden an den See gefahren, und als sie älter wurden, beobachteten sie Vögel und angelten mit ihrem Vater Ingemar. Gun erinnerte sich an ihre stolzen, begeisterten Gesichter, wenn sie glänzende Fische hochhielten, und das Bild rührte sie. Als Kinder hatten sie so gern miteinander gespielt, doch als sie älter wurden, entfernten sie sich immer mehr voneinander. Ihre aufreibende Teenagerzeit war von harten Worten, knallenden Türen und der einen oder anderen Prügelei geprägt gewesen. Inzwischen waren ihre Söhne fast bei jedem Thema unterschiedlicher Meinung.

Nur in einer Sache waren sie sich einig – dass Gun ihre langen Spaziergänge am See einstellen sollte. Jedes Mal, wenn sie aufbrach, monierten sie, es sei gefährlich, allein wegzufahren, sie solle sich lieber in der Umgebung des Hofes aufhalten, wo das Risiko, zu stürzen oder sich zu verirren, geringer war.

Es schmerzte sie ein wenig, wenn sie so redeten. Gun war immer stolz auf ihre Stärke und Tatkraft gewesen. Eines Sommers, als Ingemar sich eine Rückenverletzung zugezogen hatte, hatte sie den Großteil der Ernte selbst eingefahren, aber jetzt hielt die Arthrose sie in festem Griff. Beide Knie und die Nackenwirbel blockierten und die Beine waren schwer wie Blei.

Es war natürlich schön, dass ihre Söhne sich um sie sorgten, doch manchmal wünschte sie, sie würden nicht so viel Wirbel um ihr Alter machen. In dieser Gegend, in der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, würde sie sich ganz sicher nicht verirren, aber sie hatte sich überreden lassen, stets ein Handy bei sich zu haben, falls irgendetwas passieren sollte. Was auch immer das sein sollte, draußen in der Natur fühlte sie sich sicherer als sonstwo.

Auf einmal drang ein Geräusch aus dem Wald, und ein schwarzer Vogel flog schreiend auf. Der dichte Kiefernwald war einer von Guns Lieblingsorten. Als Kind hatte sie oft dort gespielt – war barfuß über weiches Moos und piksende Kiefernnadeln gelaufen, hatte für ihre Mutter Pilze gesammelt und Hütten zum Schutz gegen den Schnee gebaut.

Das war noch in den Zeiten, bevor die Natur zurückschlug und alles sich veränderte. Inzwischen drehte sich das Landleben in Skåne darum, extreme Wetterlagen zu parieren, Überschwemmungen und trockene Sommer zu überleben und sich nach Wintern zu sehnen, die nie kamen. Winterspaziergänge über den Öresund bis nach Dänemark, wie sie ihre Eltern in ihrer Jugend gemacht hatten, gehörten längst der Vergangenheit an. Und die nächste Generation der Bewohner von Harlösa würde wohl kaum noch wissen, was Schnee überhaupt war.

Bald würde Gun ihren fünfundachtzigsten Geburtstag feiern, und sie blickte mit einer gewissen Wehmut zurück. In ihren gemeinsamen Jahren hatten Ingemar und sie Stürme, Missernten, Krankheiten und Dürre erlebt. Aber sie hatten auch alles wertgeschätzt, was der Hof ihnen gegeben hatte – gute Ernten, Nähe zur Natur, Versorgung der Familie und ein geliebtes Heim.

Jedes Mal, wenn Gun auf den Hof fuhr und das ausgebaute Haus sah, das anfangs eine kleine Hütte gewesen war, die sie von Ingemars Eltern übernommen hatten – die große Scheune, das Nachbargrundstück, das sie zugekauft hatten, die Stauden und den gepflegten Bauerngarten –, schwoll ihre Brust, denn sie wusste, dass Ingemar und sie all das selbst geschaffen hatten. Dass nichts davon ohne sie existieren würde.

Obwohl es viel Müh’ und Plag’ bedeutet hatte und es durchaus Dinge gab, die Gun bereute, wie sie sich eingestehen musste. Dinge, für die sie sich schämte und die niemals herauskommen durften. Niemand konnte ein ganzes Leben zubringen, ohne Fehler zu machen, doch sie hoffte inständig, dass ihr vergeben werden würde, wenn der Tag gekommen war.

Gun suchte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch und hatte es gerade herausgezogen, als sich auf der anderen Seite der kleinen Bucht etwas bewegte. Eine junge schwarz gekleidete Frau kam aus dem Wald gestürzt. Zuerst dachte Gun, sie würde joggen, doch dann bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Die Frau rannte viel zu schnell und sah aus, als wäre sie auf der Flucht.

Gun beobachtete, wie sie sich dem Ufer näherte. Die Frau lief nach Süden, wie um den See zu umrunden, doch dann drang ein Laut aus dem Wald, und plötzlich änderte sie die Richtung und rannte auf das Eis hinaus.

»Hallo!«, rief Gun und hob die Hand. Es hatte erst seit einer knappen Woche Minusgrade und das Eis war noch frisch.

Aber die Frau blieb nicht stehen, und je weiter sie kam, desto unruhiger wurde Gun.

»Hallo!«, schrie sie wieder. »Das Eis hält nicht!«

Die Frau war nur ein paar Hundert Meter entfernt, doch sie schien sie nicht zu hören, sondern bewegte sich weiter vorwärts und versuchte offenbar, den See zu überqueren.

Das Herz schlug Gun bis zum Hals. Wild gestikulierend versuchte sie der Frau deutlich zu machen, dass sie zurückgehen sollte, diese aber war schon in der Mitte der Bucht, als sie endlich langsamer wurde und sich umwandte. Zurück zum Wald spähte, obwohl Gun dort überhaupt nichts sehen konnte.

Wieder rief Gun ihr zu. »Das ist gefährlich. Das Eis kann brechen!« Ihr Atem sammelte sich in kleinen feuchten Wolken, und Gun schwankte. Das Alter machte sich bemerkbar, wie eine schwere Hand drückte es sie nieder.

Was sollte sie tun, wenn die Frau nicht reagierte? Obwohl Gun rief, so laut sie konnte, schien sie nichts zu hören, und wenn Gun wieder winkte, würde die Frau das vielleicht als Aufforderung ansehen, den Weg in ihre Richtung fortzusetzen. Gun konnte den Blick nicht von ihr abwenden, und jetzt bemerkte sie etwas anderes. Die Frau schlug die Hände vors Gesicht und drehte sich um hundertachtzig Grad. Sie schien verwirrt. Vielleicht hatte sie einen Unfall gehabt und die Orientierung verloren. Durch den Wald führte eine Straße, auf der die Leute oft viel zu schnell fuhren, konnte dort irgendetwas passiert sein?

Die Frau machte ein paar weitere Schritte, und Gun musste fassungslos zusehen. Wenn sie nicht bald umkehrte, würde sie einbrechen, und dann würde Gun ihr nicht helfen können.

Die Panik wuchs in ihrer Brust, begriff die Frau nicht, dass sie in tödlicher Gefahr war? Gun fühlte Tränen aufsteigen. Was sollte sie tun, jemanden anrufen und um Hilfe bitten? Aber wer würde rechtzeitig da sein? Sie beschloss, selbst auf das Eis hinauszugehen. Wenn sie Kontakt zu der Frau bekam, konnte sie sie vielleicht zur Umkehr bewegen.

Vorsichtig setzte sie einen Fuß aufs Eis, das wie eine Haut auf dem dunklen Wasser lag. Die Fläche war spiegelglatt und Gun stöhnte resigniert auf. Es hatte etwas Erniedrigendes, wenn man sich nicht mehr auf seinen Körper verlassen konnte und von Anfang an davon ausgehen musste, dass die Sache nicht gut ausgehen würde.

Um den See war es völlig still, als hielte die ganze Welt den Atem an. Der Wind rüttelte ein bisschen an den Bäumen, ansonsten lag der Wald schweigend da.

Gun machte ein paar unsichere Schritte. Sie befand sich immer noch in Ufernähe, wo es am seichtesten war.

Irgendwo in der Ferne vernahm sie ein leises Knarzen. Es schien sich um die Bucht fortzupflanzen, lief wie eine Vibration durch das gefrorene Wasser, und Gun wusste, was das bedeutete.

»Achtung!«, schrie sie aus vollem Hals, doch als das Eis brach, ging es so schnell, dass Gun nicht einmal blinzeln konnte.

Es dauerte keine Sekunde und die Frau war in der Tiefe des Wassers verschwunden.

Und Gun stand da, mit zitternden Knien, nicht in der Lage, ihr zu helfen.

1

Dienstag, 7. Januar

»Alles in Ordnung?«, fragte Kent Holmström und verschränkte die Finger vor sich auf dem Tisch. Mit seiner altmodischen Edelstahlbrille und dem braun gemusterten Strickpulli wirkte er eher wie einer ihrer alten Gymnasiallehrer und nicht wie ein Abteilungsleiter der Kriminalpolizei.

»Absolut.«

Er beugte sich über den Tisch und warf ihr einen vertraulichen Blick zu. »Du sollst wissen, dass das, was passiert ist, unter uns bleibt. Das geht niemanden etwas an. Jetzt fangen wir ganz neu an.«

Fredrika Storm nickte. Ihr vorheriger Chef hatte gesagt, sie könne froh sein, dass man sie nach allem, was passiert war, nicht degradiert hatte, wobei sie sich manchmal fragte, ob das nicht besser gewesen wäre. Mit einer handfesten Strafe hätte sie vielleicht besser umgehen können.

»Wie fühlt es sich an, wieder in Skåne zu sein?« Seine Stimme war freundlich und sein Gesichtsausdruck aufrichtig interessiert. Ihr guter Freund Nils-Eric Lilja hatte gesagt, Kent erinnere ihn an einen müden Labrador, der eigentlich viel zu phlegmatisch für einen Chefposten war.

»Gut.« Fredrika versuchte ein Lächeln zu unterdrücken, als Kent sich am Bart kratzte. Normalerweise mochte sie es nicht, wenn Nils-Eric über gemeinsame Kollegen frotzelte, aber ihr neuer Chef hatte tatsächlich etwas von einem Hund.

»Du hast die Schlüssel und deine Waffe bekommen?«

»Ja.«

Für einen Moment wünschte Fredrika, Nils-Eric würde ihr gegenübersitzen. Er hatte ihr vorgeschlagen, sich um die Stelle in Lund zu bewerben, war der Meinung gewesen, ein Ortswechsel würde ihr guttun. Anfangs hatte sie das für eine gute Idee gehalten. Sie hatte ohnehin abgeschlossen mit Stockholm. Die letzten Monate hatte sie wie in einem Vakuum gelebt und sich nur danach gesehnt, wieder arbeiten zu dürfen, doch jetzt, wo sie hier saß, sträubte sich etwas in ihr dagegen, und sie fragte sich, ob sie wirklich bereit war.

»Wir sind froh, eine so qualifizierte Ermittlerin ins Team zu bekommen. Die anderen sind gleich da. Hast du sie schon kennengelernt?«

»Brita hat mich vorgestellt«, sagte Fredrika, obwohl sie nur Bengt Runge getroffen hatte, einen älteren Polizisten mit langem, grauem Vollbart, der ihr gleich anbot, ihn Blitz zu nennen.

»Wunderbar«, erwiderte Kent und nahm seine Papiere auf. »Es ist eine nette Truppe, du wirst dich wohlfühlen. Und wenn etwas ist, kannst du dich immer an mich wenden.«

»Danke.«

Fredrika legte ihre Hände um den Kaffeebecher, den Brita ihr gegeben hatte. Sie sah die anderen aus der Gruppe in den Konferenzraum schlendern und spürte, wie ihr Nacken sich anspannte. Es war ihr noch nie leichtgefallen, einen positiven ersten Eindruck von sich zu vermitteln. Sie fand immer, dass sie wohl bestenfalls jemand war, an den man sich gewöhnte.

Ein großer Mann mit dunklem, glatt gekämmtem Haar und einem breiten Lächeln streckte ihr die Hand entgegen.

»Dragan Popovic.«

»Fredrika Storm.«

»Und ich heiße Helmi Mäkinen«, sagte die Frau hinter ihm. »Herzlich willkommen! Ich habe gehört, Nils-Eric Lilja hat dich empfohlen?«

Fredrika sah sich verstohlen in der Runde um. Bis letzten Sommer war Nils-Eric Polizeichef der Region gewesen, aber im August hatte er plötzlich aufgehört und war in Frühpension gegangen. Nils-Erik hatte nicht erzählt, was passiert war, doch zwischen den Zeilen meinte Fredrika verstanden zu haben, dass es kein freiwilliger Abgang gewesen war.

»Er war mein Betreuer auf der Polizeihochschule.«

»Du bist nicht zufällig verwandt mit Lasse Storm, dem Sprinter?«, erkundigte sich jetzt Dragan, der, wie Fredrika bemerkte, mindestens zwei Meter groß war.

»Er ist mein Onkel.«

»Ich habe ihn bei der EM im Fernsehen gesehen.«

»Aha. Super.«

Bevor Dragan noch etwas dazu sagen konnte, betraten zwei weitere Personen den Raum.

»Das ist unsere neue Kollegin, Fredrika Storm«, rief Helmi ihnen fröhlich entgegen. »Und das sind Niclas Bergström und Natalie Becker.«

Bergström nickte zum Gruß. Seine sonnengebräunte Haut wurde durch das blonde Haar noch mehr hervorgehoben, und Fredrika dachte, dass er über Weihnachten wahrscheinlich irgendwo im Süden gewesen war. Breitschultrig und muskulös wie er war, verbrachte er vermutlich zudem nicht wenig Zeit im Fitnessstudio.

Sie streckte ihm die Hand entgegen und er schlug ein.

»N… Niclas«, stotterte er und warf ihr einen unsicheren Blick zu. Sein Gesicht bekam einen angespannten Zug.

Auch Becker begrüßte Fredrika und setzte sich. Sie war in vielerlei Hinsicht das direkte Gegenteil von Niclas, klein und schmal, mit blassem Gesicht und langem, rötlichem Haar.

Kent ging zur Tür und winkte Bengt »Blitz« Runge herein. »Wäre nicht schlecht, du könntest auch dabei sein. Falls du Zeit hast?«

Fredrika musterte ihn schweigend. Sie war autoritäre Chefs gewöhnt, aber Kent schien eher einen Vorschlag zu machen, als eine Anweisung zu erteilen.

Als Kent ihren Blick bemerkte, lächelte er. »Bengt teilen wir uns mit dem anderen Ermittlerteam. Wir haben hier eine etwas spezielle Konstruktion. Ich leite beide Teams.«

»Das nennt man Sparmaßnahmen«, warf Helmi ein. »Deshalb arbeite ich auch nebenbei als IT-Expertin. Aber das ist okay, wir schaffen das zusammen.«

Fredrika bemerkte ihre sorgfältig lackierten Fingernägel und versteckte ihre eigenen ungepflegten unter dem Tisch.

Kent schielte auf die Uhr, die fünf nach zehn zeigte. »Hat jemand Henry gesehen?«

Im selben Moment betrat ein Mann in braunem Tweedanzug samt Weste den Raum. Das lockige Haar stand ihm in alle Richtungen, und obwohl er zu spät war, blieb er vor Fredrika stehen, sah sie intensiv an und streckte ihr die Hand entgegen. »Henry Calment. Freut mich.«

Kent räusperte sich. »Also gut, ich glaube, dann haben alle unseren Neuzugang kennengelernt, Fredrika Storm. Herzlich willkommen bei der Kriminalpolizei, Arbeitsgruppe B.«

»Zwei«, korrigierte Helmi ihn. »Wir haben doch gesagt, wir nennen sie Arbeitsgruppe zwei.«

»Ja, natürlich. Entschuldigt, ihr seid selbstverständlich keine minderwertige Gruppe.«

»Egal«, unterbrach Natalie ihn. »Können wir nicht einfach anfangen, Niclas und ich haben viel zu tun.«

»Klar. Also, der Raubüberfall in Klosters Fälad. Was ist der Stand der Dinge?«

Niclas streckte sich. »Wir s… sammeln immer noch Zeugenaussagen. Helmi und Dragan helfen uns.«

»Ich gehe gleich ins Krankenhaus und spreche mit Beata. Also, dem Opfer«, verdeutlichte Helmi.

»Ihr habt sie noch nicht vernehmen können?«

»Ich hab’s gestern versucht, aber sie war noch so aufgewühlt.« Helmi wandte sich an Fredrika. »Am späten Sonntagabend wurde bei ihr eingebrochen. Die Täter haben sie an einen Stuhl gefesselt und für den Rest der Nacht sich selbst überlassen. Sie ist neunundachtzig. Hilfe wurde ihr erst zuteil, als um zehn der Pflegedienst kam.«

»Hat sie körperliche Verletzungen davongetragen?«, wollte Kent wissen.

»Sie war unterkühlt, weil sie im Nachthemd dasaß, und sie hat überall Schmerzen und blaue Flecken von den Fesseln«, antwortete Helmi mit dünner Stimme.

Dragan legte seine Hand auf ihre. »Sie wird sich erholen.«

»Das ist ein schwacher Trost, wenn es ihr so schlecht geht.«

»Okay«, sagte Kent. »Was ist der nächste Schritt?«

»Helmi hilft uns, die Überwachungskameras in der Umgebung zu sichten, und Blitz klärt, ob es ähnliche Raubüberfälle gab«, erwiderte Becker.

»Gut. Gerade ist noch ein Vorfall gemeldet worden. Jemand ist ertrunken, aber das müssen Henry und Fredrika übernehmen. Ihr anderen konzentriert euch auf den Raubüberfall. Wie immer müssen Überstunden von mir genehmigt werden.«

Fredrika seufzte leise. Sie hatte ein komisches Gefühl bei Henry. Vermutlich würde sie mit ihm zusammenarbeiten müssen, weil niemand anderes in der Gruppe ihn als Partner haben wollte. Er hatte sich nicht einmal dafür entschuldigt, dass er zu spät gekommen war, und wirkte zerstreut, wie er dasaß und aus dem Fenster schaute. Außerdem war er angezogen wie ein Detektiv aus dem neunzehnten Jahrhundert. Fredrika, die mehr oder weniger ihr ganzes Leben lang versucht hatte, sich einzufügen, war immer perplex, wenn sie auf Menschen stieß, die sich nicht darum scherten, ob sie aus der Reihe fielen. Überhaupt machte das ganze Team einen eher inkohärenten Eindruck. Vielleicht passte Gruppe B doch ganz gut.

»Wohin müssen wir?«, fragte Henry.

»Zum Vombsjön. Eine Frau ist im Eis eingebrochen. Der Bereitschaftsdienst hat alle Informationen für euch gesammelt.« Kent reichte Henry ein Blatt Papier.

»Das sind ja dreißig Kilometer dorthin«, stellte Henry fest. »Da schaffen wir es wohl nicht bis zum Mittagessen zurück.«

»Nein, das Risiko besteht«, antwortete Kent geduldig. »Wenn ihr keine weiteren Fragen habt, dann schlage ich vor, wir legen los.«

»Es ist wichtig, dass ich zu regelmäßigen Zeiten esse«, erklärte Henry und begann das Blatt zu überfliegen, das er bekommen hatte, während die anderen Polizisten den Raum verließen.

Helmi legte eine Hand auf Fredrikas Schulter und drückte sie. »Viel Glück.«

»Danke.« Das kann ich wahrscheinlich brauchen, dachte sie matt. Sie hatte im Lauf der Jahre zwar schon mit einigen Sonderlingen zusammengearbeitet, aber der hier hatte das Potenzial, gleich in die Top Ten einzusteigen.

Fredrika überlegte, ob sie erzählen sollte, dass sie in Harlösa in nächster Nähe zum Vombsjön aufgewachsen war, beschloss dann aber, damit noch zu warten.

»Dann wollen wir mal«, sagte Henry. »Kannst du fahren?«

»Klar.«

»Wunderbar.« Henry schlug sich an die Schläfe. »Ich kann besser denken, wenn ich mich nicht auf mehrere Dinge gleichzeitig konzentrieren muss.« Er stand auf. »Ich hole nur noch ein paar Sachen, wir sehen uns dann in der Garage.«

Zum Beispiel was?, dachte Fredrika. Hut, Pfeife und Lupe?

Als Henry das Zimmer verlassen hatte, warf sie Kent einen Blick zu, der ihr aufmunternd zunickte.

»Henry ist ein guter Polizist, gib ihm einfach eine Chance. Und meldet euch, wenn ihr Hilfe braucht.«

»Okay«, erwiderte Fredrika. Sie war ja vielleicht in der Partnerlotterie auch nicht gerade der Hauptgewinn. In der Zeit, in der sie nicht arbeiten durfte und dann krankgeschrieben war, hatte sie oft darüber nachgedacht, ob sie wirklich als Polizistin weitermachen wollte. Sie war erst dreiunddreißig und konnte noch immer umsatteln. Eine Weile hatte sie überlegt, eine Ausbildung als Krankenschwester zu machen, aber sie hatte keine Lust, noch einmal die Schulbank zu drücken und noch mehr Schulden anzuhäufen, die sie nie würde tilgen können. Vielleicht hätte sie einen Bürojob bekommen und irgendwelchen Papierkram erledigen können, aber das wäre sie wohl ziemlich schnell leid gewesen. Und dann gab es natürlich immer noch den Hof. Nichts würde ihren Vater glücklicher machen, als wenn sie nach Hause zurückkehren und für die Familie arbeiten würde, dachte sie finster, schob den Gedanken jedoch schnell beiseite.

2

Fredrika holte den Autoschlüssel und ihre Waffe und ging in die Garage. Sie hatte Nils-Eric versprochen, der Sache hier eine Chance zu geben, aber falls es nicht funktionierte, musste sie sich etwas anderes suchen, und der Gedanke erfüllte sie mit Wehmut.

Henry setzte sich auf den Beifahrersitz und Fredrika bemerkte, dass er ein schweres Buch auf dem Schoß liegen hatte.

»Krieg und Frieden«, sagte er. »Falls wir Zeit übrig haben.«

Fredrika wusste nicht, was sie antworten sollte. »Also«, ging sie über seine Bemerkung hinweg, »was kannst du mir erzählen?«

»Über das Buch?«

»Über den Rest des Teams. Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem du Klatsch und Tratsch loswerden kannst.« Sie grinste.

»Ich weiß nicht, ob es etwas zu erzählen gibt.«

»Bengt, zum Beispiel«, half Fredrika ihm. »Wie kommt er zu seinem Spitznamen? Blitz. Ist er der schnellste Polizist von Lund?«

»Wohl kaum«, schnaubte Henry. »Schnecke würde es besser treffen. Aber er war in den Neunzigerjahren in einen Unfall verwickelt. Hat eine Frau gerettet, die fast von einem Zug überfahren worden wäre. Sie hatte ihrem Freund geholfen, Kupferdraht zu stehlen, und ist irgendwie hängen geblieben. Bengt konnte sie losmachen, wurde aber selbst verletzt. Er hat zehntausend Volt abgekriegt.«

»Zehntausend Volt! Überlebt man das?«

»Normalerweise nicht, aber er hatte Glück. Alle Zeitungen haben darüber geschrieben – der Zehntausend-Volt-Held bei der Polizei. Ich nehme an, das ist so was wie goldenes Ticket, eine Art golden handshake. Er kann machen, was er will, weil es niemand wagt, ihn anzufassen.«

»Was macht er denn zum Beispiel?«

Henry zuckte mit den Schultern. »Keine großen Sachen, aber ich kenne kaum einen Polizisten, der so oft und ausgedehnt Kaffeepause macht wie er. Und er zeigt sehr gern allen, die danach fragen, seine Narben, auch die unter der Gürtellinie.«

»Okay. Gibt es noch mehr, was ich wissen sollte?«

Er schien nachzudenken. »Ja, sei vorsichtig mit Becker. Sie hat dasselbe Temperament wie ihr Namensvetter.«

»Wer?«

»Der Tennisspieler, du weißt schon.«

Fredrika nickte. Sie hasste es, wenn Leute auf Menschen anspielten, die sie nicht kannte. »Aber sie wirkt clever.«

»Sie ist beinhart. Obwohl Niclas hundert Kilo im Bankdrücken schafft, würde ich in einer Schlägerei immer auf Becker setzen.«

»Gut zu wissen«, meinte Fredrika und fuhr in das graue Tageslicht hinaus. »Wie lange bist du denn schon Polizist?«

»Seit sechs Jahren.«

»Okay.« Fredrika rechnete im Kopf rasch nach. Henry war mindestens vierzig. Wenn man die dreijährige Ausbildung zum Polizisten und seine sechs Jahre im Dienst abzog, fehlten noch mindestens zehn Jahre. »Hast du vorher was anderes gemacht?«

»Ich habe Soziologie, Kriminologie und Rechtswissenschaften studiert. Und nebenbei noch ein paar Semester Sozialanthropologie und Literaturgeschichte.«

Was für eine Überraschung, dachte Fredrika. Sie hatte Leute, die zum Spaß lernten, noch nie verstanden. »Und dann hast du dich trotzdem entschieden, Polizist zu werden?«

»Ja, und das hat meine Mutter am meisten genervt«, lachte er.

»Calment, das ist Französisch, oder?«

»Ich bin in Paris aufgewachsen, aber mein Vater ist gestorben, als ich acht war, und dann sind wir hierhergezogen. Meine Mutter ist in Falsterbo groß geworden.«

Fredrika trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. Sie wartete nur darauf, dass Henry sie fragte, wo sie früher gearbeitet hatte und warum sie nach Lund gezogen war, aber es kam nichts dergleichen. Stattdessen tauschten sie sich über die Informationen aus, die sie über das Unglück mit der Ertrunkenen bekommen hatten.

Als sie Dalby erreicht hatten, klingelte Henrys Handy. Aus den Augenwinkeln sah Fredrika, dass er auf das Display sah und zögerte, bevor er den Anruf wegdrückte. Dreißig Sekunden später klingelte es erneut.

»Entschuldige«, sagte er, hob das Handy ans Ohr und wandte sich ab. »Ja, hallo?«

Fredrika hielt den Blick auf die Straße gerichtet, konnte jedoch nicht anders, als zuzuhören. Eine Frauenstimme war zu hören.

»Tut mir leid«, seufzte Henry, »aber du kannst nicht erwarten, dass du Frühstück serviert bekommst. Ich musste zur Arbeit. Es geht jetzt nicht. … Nein, habe ich gesagt, ich habe es nicht geschafft. Ruf bloß nicht mehr an, ich muss arbeiten«, fauchte er genervt, bevor er das Handy wieder in seine Manteltasche steckte.

Fredrika runzelte verwundert die Stirn. Wer sprach denn so mit seiner Freundin? Oder war es nur eine Zufallsbekanntschaft, die Henry an – sie hielt gedanklich inne – einem Montagabend aus der Kneipe mit nach Hause genommen hatte? Nicht, dass das die Sache besser machte.

Das Telefonat dämpfte die Stimmung, und sie saßen eine Weile schweigend da, bis Henry sich räusperte.

»Stockholm?«

»Ja«, antwortete Fredrika erleichtert. Endlich konnte sie das Thema hinter sich bringen.

»Aber du kommst von hier?«

»Ich bin in Harlösa aufgewachsen.«

»Also eine Heimkehrerin. Ich habe außer der ersten Zeit in Paris auch in Kopenhagen, New York und Lyon gewohnt«, erklärte er. »Aber es ist wohl so, wie man sagt: Zu Hause ist’s doch am schönsten.«

»Genau«, sagte Fredrika, obwohl sie anderer Meinung war. Sie hatte schon lange nicht mehr das Gefühl gehabt, irgendwo zu Hause zu sein. Aber sie war dankbar, dass sie das Ganze überstanden hatte und dass Henry, wie die meisten Männer, die sie kannte, keine weiteren Fragen stellte, sondern lieber über sich selbst redete.

3

Ihren Angaben nach befand sich der Rettungsdienst südlich des kleinen Hafens, doch die Gegend war nicht ganz einfach zu erfassen. Viele der Schotterstraßen waren Privatwege und es dauerte eine Weile, bis sie die Stelle fanden.

Fredrika parkte hinter einem der Einsatzfahrzeuge und stellte fest, dass bereits ein Krankenwagen und ein Streifenwagen vor Ort waren.

Einer der Rettungskräfte stand zusammen mit den Sanitätern und einem Polizisten neben der Leiche, während die anderen sich die Neoprenanzüge auszogen. Auf dem Boden lagen Schwimmwesten und andere Ausrüstung.

»Wir haben sie dort drüben rausgezogen«, sagte der Feuerwehrmann und zeigte auf ein Eisloch, das wie eine schwarze, klaffende Wunde in der kleinen Bucht aussah. »Sie hatte keinen Puls, aber wir haben sie trotzdem zu reanimieren versucht, mit HLW und Defibrillator.«

Während Henry einen Block aus der Tasche zog und sich Notizen machte, ging Fredrika um die Gruppe von Leuten herum. Ihr erster Gedanke war, dass die junge Frau auf dem Boden kalt aussah. Die Kleidung war am Oberkörper aufgerissen worden und sie hatte einen Schuh verloren. Fredrika musste einen Impuls unterdrücken, sie mit irgendetwas zuzudecken.

Sie betrachtete das bleiche Gesicht der Frau, das von feuchten dunklen Haaren eingerahmt war, und spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Verwirrt trat sie einen Schritt zurück. Leichen riefen immer eine Reaktion bei ihr hervor, aber normalerweise keine so heftige. Irgendetwas an der jungen Frau traf sie mehr als gewohnt. Vielleicht war sie einfach aus der Übung.

Eine Erinnerung kam in ihr hoch. Ein strahlend schöner Wintertag drei Jahre zuvor, an dem sie auf einem langen Spaziergang am Seeufer bei Farsta plötzlich Blaulicht gesehen hatte. Sie war sofort hingelaufen, um zu helfen. Eine Familie mit zwei kleinen Kindern war beim Schlittschuhlaufen ins Eis eingebrochen, und es herrschte Chaos. Den Vater hatte man herausziehen können, er lag am Ufer, in Jacken von Passanten eingewickelt, und fragte verzweifelt nach seiner Frau und seinen Kindern, während die Feuerwehrleute versuchten, zu dem Riss im Eis zu gelangen. Es war ein furchtbares Erlebnis gewesen, und Fredrika konnte noch immer seine Schreie hören, als das Rettungspersonal mit den geborgenen Leichen an Land kam.

Henry ging in die Hocke, zog sich einen Gummihandschuh über und holte ein Handy aus der Jackentasche der Toten. In der Hülle steckte ein Personalausweis.

»Nomi Pedersen«, las er. »Geboren 1997.«

»Es sieht aus, als hätte sie einen Schlag abbekommen«, sagte eine der Sanitäterinnen und zeigte auf die Nase der Ertrunkenen.

Fredrika biss die Zähne zusammen und trat näher. Die Frau hatte eine Wunde auf dem Nasenrücken, und in der Nase war Blut zu sehen. Konnte sie absichtlich auf das dünne Eis hinausgegangen sein, in einem Versuch, allem ein Ende zu setzen? Ein Gefühl, das Fredrika selbst nicht fremd war. In den letzten Monaten hatte sie mit dunklen Gedanken gekämpft, sie war hin und her gerissen gewesen zwischen zersetzender Angst und verzweifelten Versuchen, einen Sinn in ihrem Dasein zu finden. Aber nicht einmal in ihren schrecklichsten Stunden hatte sie darüber nachgedacht, ihrem Leben auf diese Weise ein Ende zu bereiten. Es gab einfachere Auswege, die deutlich weniger brutal waren. Hatte das Eis einmal nachgegeben, gab es keinen Weg zurück.

»Könnte die Verletzung entstanden sein, als sie ins Wasser gefallen ist?«, erkundigte sich Henry.

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, antwortete der Feuerwehrmann. »Zumindest habe ich so etwas noch nie gesehen. Wenn man ins Eis einbricht, stößt man sich normalerweise nicht den Kopf an.«

»Jemand hat gesagt, dass sie gejagt wurde?«, fuhr Henry fort.

»Ja, die Frau, die den Notruf abgesetzt hat, sitzt da drüben.« Der Polizist deutete auf einen Baumstumpf ein Stück weiter. »Sie hat gesehen, was passiert ist. Sie wirkt ziemlich geschockt, sodass wir dachten, es wäre besser, auf euch zu warten, bevor wir mit ihr sprechen.«

»Danke, das war gut.« Henry gab Fredrika mit einem Wink zu verstehen, dass sie mitkommen sollte.

Als sie sich dem Baumstumpf näherten, zuckte die Frau zusammen. »Fredrika!«, rief sie und schüttelte verwirrt den Kopf.

»Oma, was machst du denn hier?«

Jemand hatte der Frau eine Decke um die Schultern gelegt und ihr einen Pappbecher mit Kaffee gegeben, aber sie schien kaum etwas getrunken zu haben.

»Ich war auf meinem Morgenspaziergang«, antwortete die Frau mit gedämpfter Stimme.

»Henry, das ist meine Großmutter, Gun Storm. Oma, das ist mein neuer Kollege, Henry Calment.«

»Ich wohne nur zehn Minuten von hier entfernt«, erklärte Gun.

»Wie geht es dir?«, erkundigte sich Fredrika besorgt.

»Es war schrecklich, das mit ansehen zu müssen.«

Fredrika musterte ihre Großmutter. Das weiße, kurz geschnittene Haar und die kleinen eisblauen Augen. Sie war schmaler als Fredrika sie in Erinnerung hatte, doch ihr Blick war so lebendig wie eh und je.

»Ist es okay, wenn Henry dir ein paar Fragen stellt? Ich sollte besser niemanden vernehmen, zu dem ich eine Beziehung habe.«

Gun nickte und Henry trat einen Schritt vor.

»Sie sagten, Sie sind hergekommen, um einen Spaziergang zu machen? Tun Sie das oft?«

»Ja, so gut wie jeden Tag, wenn auch an unterschiedlichen Orten. Ich beobachte Vögel.«

»Ah, haben Sie heute ein paar besondere Exemplare gesehen?«

»Ein paar Birkenzeisige und einen Mäusebussard. Er ist immer noch da.« Sie zeigte zum bleigrauen Himmel, an dem ein Greifvogel seine Kreise zog und heisere Laute von sich gab. »Er klingt so traurig.«

Henry blickte zum Himmel. »Jammervogel nannte man ihn früher.«

»Du kennst dich mit Vögeln aus?«, fragte Fredrika erstaunt.

»Sie sind aus kulturhistorischer Perspektive sehr interessant. In vielen Teilen der Erde haben sie symbolische Bedeutung.«

»Seelenvögel«, erklärte Gun mit Trauer in der Stimme. »Früher dachte man, sie würden die Seele auf den richtigen Weg bringen, sodass sie sich nicht verirrt. Deshalb sind sie oft auf Grabsteinen abgebildet. Allerdings natürlich keine Mäusebussarde.«

»Erzählen Sie, was passiert ist«, forderte Henry Gun nun auf.

»Ich bin hier entlanggegangen.« Mit einer Bewegung des Kinns verwies sie auf den kleinen Streifen Sand am Ufer.

»Waren Sie allein?«

»Ja, soweit ich sehen konnte. Und dann kam sie ganz plötzlich aus dem Vombs Fure gerannt.«

»Aus dem Wald da drüben«, erläuterte Fredrika und zeigte hinüber.

»Sie wirkte gehetzt. Ich war ein Stück von ihr entfernt, aber ich hatte das Gefühl, dass etwas nicht stimmt.«

»Okay. Was ist dann passiert?«

»Zuerst dachte ich, sie wollte um den See laufen, aber dann änderte sie die Richtung, als wollte sie die Bucht überqueren.«

»Haben Sie etwas zu ihr gesagt?«

»Ich habe geschrien, dass sie aufpassen soll. Das Eis ist frisch, ich wusste, dass es nicht halten würde.«

»Aber sie hat nicht auf Sie gehört?«

»Ich weiß nicht, ob sie es überhaupt mitbekommen hat«, seufzte Gun. »Ich habe alles getan, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, ich habe gewinkt und gerufen, aber es hat nichts geholfen. Ich hatte den Eindruck, sie war verwirrt. Sie hat sich um sich selbst gedreht und die Hände vors Gesicht geschlagen.«

Henry wechselte einen Blick mit Fredrika. »Haben Sie gesehen, ob sie irgendwelche Verletzungen hatte?«

»Sie war viel zu weit weg. Aber ich hatte das Gefühl, sie ist vor irgendwas im Wald geflohen.«

»Aber Sie haben niemand anderen gesehen oder gehört?«

»Nein, aber ich sehe auf die Entfernung auch nicht mehr so gut«, antwortete Gun düster.

»Wie lange war sie auf dem Eis, bis sie eingebrochen ist?«

»Ich weiß nicht. Eine Minute, vielleicht zwei. Es ist schwer, die Zeit einzuschätzen, wenn man aufgeregt ist. Ich habe sofort den Notruf angewählt, und es hat sich wie eine Ewigkeit angefühlt, bis die Feuerwehr kam, aber als ich auf die Uhr sah, waren nur neun Minuten vergangen.«

Gun stellte den Kaffee ab und schniefte.

»Ich wollte ihr helfen, aber es ging nicht. Es war glatt und ich habe mich nicht zu weit hinausgewagt.«

Sie wies auf zwei große Äste, die auf dem Eis lagen.

»Haben Sie die rausgeschoben?«

»Ja«, nickte Gun. »Ich dachte, ich könnte versuchen, sie damit zu erreichen.«

»Es ist fast unmöglich, jemanden ohne richtige Ausrüstung aus einem Eisloch zu retten«, sagte Henry, und Fredrika warf ihm einen dankbaren Blick zu. Vielleicht war er doch nicht ganz so sozial inkompetent, wie sie zunächst gedacht hatte.

»Ist die Frau tot?« Gun sah Fredrika betrübt an.

»Ja, leider.«

Guns Augen füllten sich mit Tränen, und Henry reichte ihr ein Papiertaschentuch. »Was für eine schreckliche Verschwendung eines Menschenlebens«, wimmerte sie. »Was wollte sie nur auf dem See?«

»Sie haben getan, was Sie konnten, um ihr zu helfen«, erwiderte er freundlich. »Eine letzte Frage noch. Sagt Ihnen der Name Nomi Pedersen etwas?«

Gun schlug sich zitternd die Hand vor den Mund. »Mein Gott, es ist Nomi?«

»Kennst du sie?«, fragte Fredrika erstaunt.

»Kennen würde ich nicht sagen, aber sie hat ein paarmal bei uns geputzt. Sie arbeitet bei der Personalvermittlung.«

»Okay, dann müssen wir mit Kristoffer reden. Meinem Cousin«, erklärte sie Henry. »Ihm gehört die Firma.«

Fredrika umarmte ihre Großmutter, bevor sie und Henry ein paar Schritte zur Seite traten. »Wenn jemand Nomi gedroht und aufs Eis gezwungen hat, müssen wir wegen Mordes ermitteln«, sagte Fredrika ernst.

»Noch wissen wir nicht, ob sie wirklich gejagt wurde«, gab Henry zu bedenken.

»Meine Großmutter glaubt es.«

»Ja, aber bei allem Respekt …«, Henry sah auf seinen Schreibblock, »… sie ist alt und sagt selbst, dass sie nicht besonders gut sieht.«

»Und wie erklärst du dir die Verletzung an der Nase?«, wandte Fredrika ein.

»Vielleicht ist sie irgendwo dagegengerannt«, mutmaßte Henry. »Aber noch etwas anderes: Wie weiß man eigentlich, ob das Eis fest genug ist, um es zu betreten?«

»Man testet es mit dem Eispickel. Es müssen mindestens zehn Zentimeter Kerneis sein, und bis sich das bildet, braucht es mehr als ein paar Tage mit Minusgraden.«

»Wissen das alle, die hier wohnen?«

»Ja, und jeden Winter wird im Ort darüber diskutiert. Besonders unter den Eisfischern.«

Henry holte sein Handy heraus. »Ich rufe Kent an und erzähle ihm, was wir erfahren haben.«

»Gut. Wir müssen den Kriminaltechniker anfordern.«

»Was weißt du über den Wald da drüben?«

Fredrika warf einen Blick zum Vombs Fure hinüber. »Er wurde in den Neunzigerjahren zum Naturschutzgebiet erklärt, aber davor war er gut besucht. Es gibt sogar ein paar alte Ferienhäuschen in der Umgebung. Meine Familie hat eine kleine Fischerhütte, aber die wird nicht mehr genutzt, und inzwischen trifft man kaum mehr jemanden dort. Am ehesten noch Leute aus der Umgebung, die Pilze suchen oder spazieren gehen.«

»Wie kann sie dorthin gelangt sein?«

»Es gibt mehrere Straßen, sie kann mit dem Fahrrad oder dem Auto gefahren sein.«

»Und gelaufen?«

»Das kommt darauf an, woher sie kam, aber zu Fuß ist es eher schwierig, wenn man nicht in der Nähe wohnt oder Ortskenntnisse hat.«

Fredrika sah zu ihrer Großmutter hinüber. »Ist es okay, wenn ich sie nach Hause fahre? Wir müssen sowieso auf die Techniker warten.«

»Klar, mach das. Vielleicht fällt ihr noch etwas ein, wenn sie in Ruhe mit dir reden kann.«

4

Als Fredrika das Auto ihres Vaters auf dem Hof stehen sah, spürte sie einen Stich. Sie parkte vor dem roten Wohnhaus und half ihrer Großmutter aus dem Wagen. Es waren fast zwei Jahre vergangen, seit sie zu Hause gewesen war, und sie hatte sich damals geschworen, beim nächsten Mal besser vorbereitet zu sein, doch jetzt fühlte sie sich wie immer aus dem Gleichgewicht gebracht.

Es war ein seltsames Gefühl, den tapezierten Flur zu betreten, bekannt und fremd zugleich. Hero, der schwarz gefleckte Mischlingshund der Familie, kam in solcher Geschwindigkeit angerast, dass er mitsamt dem Flurteppich ins Rutschen geriet. Er bellte fröhlich, und als Fredrika ihm die Hände entgegenstreckte, schleckte er sie begeistert ab.

Ihr Vater saß am Küchentisch, eine aufgeschlagene Zeitung vor sich und die Lesebrille auf der Nasenspitze. Auf der Arbeitsfläche stand ein benutzter Teller, und man hörte das leise Brummen der Kaffeemaschine.

»Hallo, Papa.«

»Fredrika, was machst du denn hier?«

»Ich habe doch gesagt, ich komme diese Woche vorbei.«

»Ja, aber ich dachte, du würdest vorher anrufen.«

Er machte keine Anstalten aufzustehen. Sie ging auf ihn zu, legte die Arme um ihn und bekam eine halbherzige Umarmung zurück.

»Ich wurde zum Vombsjön gerufen. Jemand ist ins Eis eingebrochen.«

Gun ließ sich auf ihren Stuhl sinken.

»Wie geht’s dir, Mama?«, fragte Anders.

»Ich war dabei, als die Frau ertrunken ist.«

»Was für eine Frau?«

»Nomi, die für Kristoffer gearbeitet hat. Sie war im Herbst ein paarmal zum Putzen hier.«

»Ich kann mich nicht an sie erinnern«, sagte er und machte eine Handbewegung in Richtung Kaffeemaschine. »Wollt ihr?«

»Sehr gern«, antwortete Gun.

Fredrika schüttelte den Kopf. »Ich muss zurück.«

»Eine Tasse schaffst du doch wohl?«, protestierte die Großmutter. »Wir haben dich ja seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen!«

»Okay, eine schnelle.«

»Du bist dir sicher, dass du als Polizistin weitermachen willst? Nach allem, was passiert ist, meine ich?«, brummte ihr Vater und nahm Kaffeetassen aus dem Küchenschrank.

Fredrike senkte den Blick. Ihr Vater kannte nur einen Bruchteil dessen, was sie erlebt hatte, und sie wusste, dass seine Frage einen anderen Grund hatte. Sie war Teil seiner nicht enden wollenden Versuche, sie dazu zu bringen, den Hof zu übernehmen.

»Ja, bin ich.«

»Und du willst nicht hier wohnen? Wir haben jede Menge Platz und hätten nichts gegen ein paar mehr helfende Hände.«

»Ich bekomme in ein paar Wochen eine Wohnung, und bis dahin wohne ich im Hotel.«

»Du sollst doch nicht im Hotel wohnen, wenn es hier ein gemachtes Bett für dich gibt«, wandte die Großmutter ein.

Fredrika wand sich. Zurück in ihr altes Kinderzimmer zu ziehen, war das Letzte, was sie wollte.

»Das Hotel liegt in der Nähe des Bahnhofs und ich habe zum Teil unangenehme Arbeitszeiten, es ist also viel einfacher so.«

»Ich verstehe«, sagte Gun. »Aber du bist hier immer willkommen, das weißt du. Kannst du nicht morgen zum Abendessen kommen? Alle hier würden dich so gerne sehen.«

»Das kommt ein bisschen darauf an, wie es mit dem Fall weitergeht«, log Fredrika. »Habt ihr irgendwelche Ideen, was Nomi im Wald gemacht haben könnte?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Gun.

»Weißt du, ob sie ein Auto hatte?«

»Leider weiß ich überhaupt nichts.«

»Okay, ich muss Kristoffer fragen.« In diesem Moment klingelte ihr Handy, Henrys Name leuchtete auf dem Display auf. Fredrika nahm den Anruf entgegen. »Hallo. Gibt’s was Neues?«

»Nicht direkt, aber wenn du willst, kann ich dich abholen, dann können wir vielleicht was zum Mittagessen besorgen?«

Fredrika sah zu dem roten Fiat ihrer Großmutter hinaus. Sie hatte Beruf und Privatleben immer strikt getrennt gehalten, und es war ihr nicht ganz angenehm, dass Henry auf den Hof ihrer Familie kam. Andererseits war ihre Familie bereits Teil der Ermittlung. »Klar«, antwortete sie. »Ich warte draußen auf dem Hofplatz.«

Fredrika bedankte sich für den Kaffee, ging in die raue Winterluft hinaus und suchte die Website von Kristoffers Zeitarbeitsfirma heraus, die er im selben Jahr gegründet hatte, in dem sie weggezogen war. Sie fand Informationen dazu, welche Dienstleistungen sie anboten. Vor allem schienen sie Putzkräfte zu vermitteln, aber sie hatten auch verschiedene Arten von Saisonarbeitern und ein Umzugsunternehmen. Die Kontaktdaten waren einfach zu finden, und Fredrika rief ihren Cousin an.

»Kristoffer Storm.«

»Hallo Kristoffer, hier ist Fredrika.«

»Na so was! Fredrika! Bist du wieder zu Hause?«

»Ja, ich bin am Wochenende gekommen.«

»Wie schön. Ich habe deine Nummer gar nicht in meinen Kontakten.«

»Das ist mein Diensthandy. Es ist etwas passiert, und ich bräuchte deine Hilfe.«

Fredrika erzählte von dem Unglück und fragte Kristoffer, was er über Nomi wusste.

»Nicht viel. Sie hat auf eine Stellenanzeige geantwortet, die wir Ende des Sommers geschaltet hatten, und hat Mitte August hier angefangen, wenn ich mich recht erinnere.« Kristoffer klang erschüttert.

»Hat sie zu dem Zeitpunkt schon hier gewohnt?«

»Ich glaube nicht.«

»Okay. Weißt du, ob sie heute hätte arbeiten sollen?«

»Keine Ahnung, und ich bin gerade bei einem Meeting in Malmö, aber wenn du willst, kann ich dir ihren Dienstplan mailen, wenn ich wieder im Büro bin.«

»Prima, danke. Ich brauche ihre Adresse und auch Angaben zu ihrer Person.«

»Klar.«

»Nur noch eine letzte Sache – hatte Nomi ein Auto?«

Einen Moment lang herrschte Schweigen. »Das weiß ich nicht«, sagte Kristoffer dann, »aber wenn ich sie gesehen habe, dann immer mit dem Fahrrad.«

»Und weißt du, was für ein Fahrrad das war?«

»Ein gewöhnliches Damenrad, glaube ich. Aber es war gelb.« Wieder hielt Kristoffer einen Moment inne. »Darf ich dich auch etwas fragen?«, sagte er dann.

»Nur zu.«

»Wenn Nomi ins Eis eingebrochen ist, sollte man das dann nicht als Unfall werten?«

»Doch, aber wir wissen noch nicht genau, was passiert ist.«

»Ah, ja klar. In jedem Fall muss ich jetzt weiterarbeiten.«

»Natürlich. Danke für deine Hilfe. Ich melde mich, wenn ich noch mehr Fragen habe.«

Gerade als sie auflegte, fuhr Henry auf dem Hofplatz vor. Fredrika setzte sich auf den Beifahrersitz und wies ihm den Weg.

5

»Ich verstehe ja, dass wir hier in einem kleinen Ort sind«, sagte Henry und wischte sich Remouladensauce von den Fingern. »Aber auch die Landbewohner haben doch wohl ein Recht auf gutes Essen?«

»Beschwer dich nur nicht.« Fredrika nahm einen Bissen von ihrem Hamburger. »Hier gibt es eine riesengroße Auswahl.«

»Genau das beunruhigt mich ja. Kein Koch der Welt kann fünfzig verschiedene Gerichte fabrizieren.«

»Ich glaube nicht, dass sie das Ziel haben, den Guide Michelin zu gewinnen.«

»Man gewinnt den Guide Michelin nicht, man bekommt Sterne von ihm, wenn das kulinarische Niveau ausreichend hoch ist.«

Henry verstummte. Ihm wurde klar, dass er Fredrika gerade auf eine ziemlich unangenehme Art und Weise korrigiert hatte, und warf ihr einen besorgten Blick zu. Im Arbeitsumfeld neue Menschen kennenzulernen, war nicht seine Stärke. Bei einem privaten Abendessen oder in einer Kunstausstellung fühlte er sich wohler, wusste, wie er mit den Leuten reden musste, aber bei der Arbeit konzentrierte er sich voll und ganz auf die Aufgabe, die vor ihm lag. Das war seine Strategie, um Fälle zu lösen. Manchmal aber führte sie auf direktem Weg ins Chaos. Besonders, wenn er mit empfindlichen Typen zusammengebracht wurde.

Als Fredrika lachte, atmete er auf.

»Wenn du das sagst …«, erwiderte sie. »Mir schmeckt das Essen jedenfalls.«

Henry stocherte in seinem halb aufgegessenen Schollenfilet herum und legte schließlich das Besteck beiseite.

Wenn möglich zog er es vor, allein zu arbeiten. Seine Stärke lag darin, Tatorte zu analysieren, Fäden zu entwirren und Schlüsse aus gesammelten Daten zu ziehen, aber er wusste, dass ihm Feldarbeit nicht schadete. Abwechslung ist das halbe Leben, wie man so schön sagte.

Im Herbst war Henry von dem wohlbekannten Gefühl der Melancholie befallen worden. Es kam jedes Mal auf, wenn er sich zu lange an ein und demselben Ort befand. In seinen ersten Jahren als Polizist hatte es ihn verschont. Das Streifefahren war herausfordernd und abwechslungsreich, und als er dann eine Stelle als Ermittler bekam, hatten ihn seine neuen Aufgaben so ausgefüllt, dass er dachte, er wäre das Gefühl für immer losgeworden, doch jetzt war es wiedergekommen, es ließ sich einfach nicht ein für alle Mal verbannen.

Henry hasste diese Seite an sich selbst. Er wünschte, er könnte sich mit dem zufrieden geben, was er hatte, aber wenn die Tage durch ein wachsendes Gefühl der Leere immer schwerer wurden, war dieser Zustand kaum zu ertragen. Deshalb war er froh, wenn Dinge außer der Reihe passierten, zum Beispiel, dass er eine neue Kollegin bekam. Und Fredrika schien gar nicht so übel zu sein.

»Der Techniker sollte bald vor Ort sein, und nachher kommen noch zwei Streifen, die uns helfen, von Tür zu Tür zu gehen«, sagte er.

»Und ich habe um Nomis Dienstplan gebeten.« Fredrika nahm die letzten Pommes und kratzte auf unappetitliche Weise die Saucenreste vom Teller. »Übrigens, was hat Kent eigentlich gesagt?«, fuhr sie mit vollem Mund fort, und Henry überlegte, ob er sie vielleicht doch etwas zu wohlwollend beurteilt hatte.

»Er hat für heute Nachmittag ein Meeting zur Abstimmung angesetzt.« Henry warf einen letzten Blick auf ihren verschmierten Teller und wischte sich zwanghaft mit einer dünnen Papierserviette die Hände ab. »Kent hat Blitz gebeten, nach Angehörigen zu suchen. Nomis Mutter ist offenbar schon gestorben, aber ihr Vater wohnt in Kungsbacka.«

»Und ihr Handy?«

»Helmi tut, was sie kann.«

»Na, dann wollen wir hoffen, dass wir etwas Verwendbares finden.«

Henry ließ seinen Blick aus dem Fenster schweifen. Die Temperatur war auf null Grad angestiegen, und eine farblose, feuchte Haut lag über allem. In den umliegenden Gärten hingen billige Lichterketten in grellen Farben und blinkten traurig vor sich hin, während sie darauf warteten, wieder in ihren Kisten zu verschwinden. Er schauderte bei dem Gedanken daran, wie es wohl war, an einem solchen Ort aufzuwachsen. Arme Fredrika, dafür bekam sie Trostpunkte.

Drei Männer in Arbeitskleidung kamen herein und setzten sich an einen Tisch auf der anderen Seite des Gastraums. Sie redeten laut, als gehöre ihnen das Lokal.

»Wir nehmen jeder eine Pizza von der Tageskarte«, rief einer von ihnen, der das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. »Und Cola. Ich muss nur schnell pissen«, brummte er dann und verschwand.

Henry musterte sie schweigend. Er hatte diese Art von Männern noch nie gemocht, die keinen Respekt für ihre Umgebung zeigten. »Wie viele Leute wohnen hier in der Gegend?«, fragte er.

»In Harlösa? Um die achthundert. Wenn man die anderen Dörfer um den See mit einrechnet, kommen wir wohl auf ein paar Tausend.«

»Gibt es viel Kriminalität?«

Fredrika schüttelte den Kopf. »Nein. Viele sind Bauern und haben genug damit zu tun, ihren Hof am Laufen zu halten. Schlimmstenfalls brennen die Leute ihren eigenen Schnaps oder fahren ohne Führerschein Traktor.«

Der langhaarige Mann kam von der Toilette zurück. »Übrigens, habt ihr das von Anders Storm gehört?«

»Was denn?«, erwiderte der Älteste von ihnen. »Ist jetzt endlich rausgekommen, dass er bei seinen Kühen schläft?«

Alle drei brachen in lautstarkes, polterndes Gelächter aus. Fredrika verstummte, und Henry begriff, dass sie zuzuhören versuchte.

»Nein«, fuhr der Langhaarige fort, »sie denken darüber nach, Ackerland an Algotsson zu verkaufen. Vermutlich haben sie finanzielle Probleme.«

»Das wundert mich nicht, so wie die mit Geld um sich werfen. Neue Maschinen, Küchenrenovierung, Gewächshäuser. Ich kann diesen Kristoffer nicht ausstehen. Er glaubt, das Dorf gehört ihm, nur weil er eine beschissene Putzfirma gegründet hat.«

»Ja, aber die Frage ist doch, wo das Geld ursprünglich herkommt. Ingemars Eltern waren arm wie die Kirchenmäuse. Als er den Hof übernommen hat, war da nur eine kleine Hütte. Die haben andere schon immer schamlos ausgenutzt.«

»Das haben sie wohl im Blut«, meinte der Ältere.

»Wieso?«

»Wisst ihr das nicht? Sie sind doch verwandt mit Albin Sturm, diesem Typen, der nach dem Amalthea-Attentat seine Kameraden verkauft hat. Diese Familie tut alles für Geld.«

Fredrika senkte den Blick, und Henry begriff, dass sie über ihre Familie sprachen.

»Hat dieses Dorf einen Ortskern?«, erkundigte er sich rasch, um von dem Gespräch abzulenken.

»Nein. Die Straße, an der wir vorbeigekommen sind, mit der Tankstelle und dem Supermarkt, ist die Ortsmitte von Harlösa.«

»Und das hier ist das einzige Restaurant?«

»Ja, aber in dem kleinen Lebensmittelladen gibt es ein paar Fertiggerichte zu kaufen. Lass uns gehen.« Sie nahm ihre Jacke und verließ das Lokal, ohne sich noch einmal umzusehen.

Henry eilte hinterher. »Worüber die da geredet haben …«

»Anders ist mein Vater.«

»Das war doch nur blödes Gewäsch.«

»Ja, aber das mit Albin Sturm stimmt.« Fredrika steckte die Hände in die Hosentaschen.

»Das Amalthea-Attentat …«, murmelte Henry und versuchte, sich an die Details zu erinnern.

»Es war ein politisches Attentat in Malmö 1908«, kam Fredrika ihm zuvor. »Drei Jungsozialisten haben ein Schiff mit britischen Streikbrechern gesprengt, und eine Person ist umgekommen. Zwei der Attentäter sind zum Tode verurteilt worden, wurden aber irgendwann begnadigt. Mein Verwandter war auch in diesem Verein und hat sie für eine Belohnung von dreitausend Kronen angeschwärzt.«

»Aber das war doch wohl richtig?«

»Seine Freunde zu verraten? Ich weiß nicht«, sagte Fredrika. »Es war natürlich schrecklich, eine Bombe zu legen, aber ich kann auch verstehen, wie machtlos sie sich gefühlt haben müssen. Sie haben für bessere Arbeitsbedingungen gestreikt, und die Arbeitgeber haben einfach Streikbrecher eingestellt. Es ist jedenfalls nicht gerade eine lustige Familiengeschichte.«

Henry nickte. Er hatte selbst ein ziemlich schweres DNA-Gepäck, aber das konnten sie ein andermal besprechen.

»Wollen wir fahren?«

»Je früher, desto besser.«

6

Es war bereits halb fünf, als sie wieder auf der Polizeiwache waren. Kent hatte ein Foto von Nomi Pedersen an seinem Whiteboard befestigt.

»Wie lief es bei euch?«

Henry pustete in seinen frisch gebrühten Kaffee. »Wir haben ein ziemlich großes Gebiet am See durchsucht, aber leider haben wir nichts gefunden.«

»Habt ihr eine Ahnung, wie Nomi dorthin gekommen ist?«

»Nein«, sagte Fredrika. »Es gab weder ein Auto noch ein Fahrrad, und die Wohnung, die Nomi gemietet hat, liegt ein ziemliches Stück entfernt, es ist also nicht sehr wahrscheinlich, dass sie zu Fuß gegangen ist.«

»Wir denken, jemand hat sie zum Wald gefahren. Andernfalls wurde ihr Transportmittel entfernt«, fuhr Henry fort.

»Und die Befragung der Bewohner?«

Fredrika schüttelte den Kopf. »Niemand hat etwas gehört oder gesehen.«

»Okay, was wissen wir über Nomis Familie?«

Blitz streckte sich. »Ihre Mutter, Alexandra Pedersen, ist vor einem guten Jahr verstorben, und ihr Vater, Mads Pedersen, wohnt in Kungsbacka. Er ist informiert worden und auf dem Weg hierher, wir können also morgen mit ihm sprechen.«

»Gut.« Kent trommelte mit dem Kugelschreiber auf seine Handfläche. »Und die Leiche ist im Rechtsmedizinischen Institut, mit etwas Glück kommen wir einigermaßen schnell an Informationen. Noch etwas, das ihr besprechen wollt?«

»Nomi hatte eine Wunde im Gesicht«, berichtete Fredrika. »Es sah aus, als wäre das Nasenbein gebrochen, und der Feuerwehrmann, der die Rettungsarbeiten geleitet hat, glaubt nicht, dass sie sich am Eis verletzt hat.«

»Könnte ihr jemand etwas angetan haben, bevor sie aufs Eis gelaufen ist?«

»Ja.« Fredrika nickte. »Es weiß ja jeder, dass man nicht aufs Eis gehen kann, wenn es so dünn ist. Vielleicht hat jemand sie getrieben. Und das wäre dann Mord.«

»Die Zeugin hat allerdings niemand anderen vor Ort gesehen«, entgegnete Henry. »Und sie hat Nomi auch als verwirrt empfunden. Sie könnte gegen einen Baum gerannt sein oder unter Drogen gestanden haben.«

Kent kratzte sich am Kopf. »Wir werden sehen, was die Rechtsmedizin sagt, aber bis dahin bleibt der Verdacht eines Verbrechens bestehen. Auch wenn niemand sie mit Absicht aufs Eis gejagt hat, besteht das Risiko, dass sie vor jemandem weggerannt ist, der sie bedroht hat, und dann läuft das Ganze auf Misshandlung oder fahrlässige Tötung hinaus.«

»Okay«, sagte Fredrika. »Ich warte noch immer auf Nomis Dienstplan, damit wir herausfinden können, wo sie war, bevor sie ertrunken ist.«

»Super. Alle wissen, was zu tun ist, wir machen morgen genauso weiter und stimmen uns nach dem vorläufigen Bericht der Rechtsmedizin wieder ab.«

Während die anderen den Raum verließen, rief Kent Fredrika zu sich. »Wie ist es heute gelaufen?«

»Gut.«

»Hat die Zusammenarbeit mit Henry funktioniert?«

»Absolut.«

»Ich habe gehört, dass deine Großmutter die Zeugin war, die den Zwischenfall miterlebt hat, aber Henry meinte, ihr hättet es so gelöst, dass er die Vernehmung durchgeführt hat.«

»Ja, das war kein Thema.«

»Versprich mir, dass du Bescheid sagst, wenn es irgendwelche Probleme gibt.«

»Klar. Wir sehen uns morgen.«

Fredrika eilte den anderen nach und holte Henry vor seinem Büro ein.

»Wollen wir losfahren und uns Nomis Wohnung anschauen?«

Henry warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich kann heute Abend leider nicht.«

»Aber es ist erst fünf.«

»Sorry, ich habe schon was vor. Aber wir können morgen früh sofort fahren, wenn du willst.«

Erstaunt über diese Antwort ging Fredrika in ihr Büro. Es fühlte sich falsch an, Nomis Wohnung nicht sofort zu durchsuchen, aber sie konnte ja nicht einfach allein hinfahren. Im Hinblick auf ihre persönliche Verbindung zu dem Fall würde sie es vorsichtig angehen müssen, sonst bestand das Risiko, dass Kent sie anderswo einsetzte.

Fredrika öffnete Facebook und suchte nach Nomi Pedersen. Sie fand ein Bild der jungen Frau, darüber hinaus gab es keinerlei Angaben. Dort stand weder, wo sie wohnte, noch, wo sie herkam oder zur Schule gegangen war, und sie hatte, soweit Fredrika sehen konnte, nichts gepostet. Smartes Mädchen. Wenn die Leute nur wüssten, wie jegliche private Information gegen sie verwendet werden konnte, wenn sie in die falschen Hände geriet.

Sie betrachtete das Foto, auf dem Nomi schüchtern in die Kamera lächelte. Das dunkle Haar war zusammengebunden, und durch die geöffneten Lippen ließ sich eine Lücke zwischen den Schneidezähnen erahnen, die sie jünger aussehen ließ, als sie war.

Fredrika lehnte sich zurück. Irgendetwas an Nomi Pedersen ging ihr besonders nahe, aber sie konnte nicht ausmachen, was es war. Vielleicht lag es daran, dass das Unglück in der Gegend passiert war, in der sie aufgewachsen war, an einem Ort, an dem sie selbst viel Zeit verbracht hatte, vielleicht war sie auch nur nicht mehr in Form.

Der Flur vor dem Raum war still und leer, und in den anderen Büros brannte kein Licht mehr. Fredrika wand sich in ihrem Stuhl. Alles, was auf sie wartete, war ein leeres Hotelzimmer.

Sie kramte ihr Handy heraus und scrollte die Anrufliste durch, suchte Marcus. Legte das Handy weg, nahm es wieder in die Hand. Starrte auf die sechs Buchstaben, bevor sie das Telefon zurück in ihre Tasche steckte. Sie hatte den naiven Gedanken gehabt, die Erinnerungen würden weniger aufdringlich sein, wenn sie Stockholm verließ, aber offenbar war das ein Irrtum.

In ihrem Kopf drehte sich plötzlich alles und ihr Puls begann zu rasen. Atmen, dachte sie und sah den gefrorenen Vombsjön vor sich. Genauso fühlte es sich an – als liefe sie auf einer dünnen Eisschicht, die jederzeit brechen konnte. Jeder Schritt war fragil, und das Einzige, was sie wollte, war, wieder auf festen Grund zu kommen, aber sie wusste nicht wie.

Als sie sich vorstellte, wie sie einbrach, zog sich alles in ihr zusammen. Es musste unfassbar grauenvoll sein, ins eisige Wasser zu stürzen, das Gewicht der nassen Kleider zu spüren und zu merken, dass man keine Chance mehr hatte. Fredrika wusste, dass sich manchmal Leute aus Eislöchern retteten, aber das grenzte an ein Wunder. Ohne Hilfsmittel war es fast unmöglich. Wer nicht sofort ertrank, versuchte wieder aufs Eis zu klettern, das dann aber unter dem Gewicht brach. Es blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis die Kräfte versagten. Sie konnte sich keinen schrecklicheren Tod vorstellen.

Fredrika schloss die Tür des kleinen Büros und verließ die Polizeistation. Ein Bild ihrer Mutter blitzte auf. Vor ihrem inneren Auge sah sie das lächelnde Gesicht und erlaubte sich, einen Moment bei ihm zu verweilen, bevor die Gefühle sie einholten und ihr Körper sich verkrampfte.

Sie schüttelte das Bild ab. Es galt, noch so vieles in ihrer Vergangenheit zu verarbeiten, und das ausgerechnet jetzt, wo sie zurück war, wo sie wieder an der Oberfläche auftauchte. Sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte.

7

Mittwoch, 8. Januar

Nomis Wohnung war klein, und für Henry sah sie eher aus wie ein Ort für gelegentliche Übernachtungen und nicht wie ein Zuhause. An den Fenstern hingen keine Gardinen, auf der Arbeitsfläche in der Küchennische stand einsam und allein ein Wasserkocher und in dem kombinierten Wohn- und Schlafzimmer gab es nicht mehr als ein schmales Bett, ein zerschlissenes Zweisitzersofa und einen billigen Fernsehtisch von IKEA.

Während Fredrika den Einbauschrank im Flur durchsuchte, in dem Nomi die meisten ihrer Habseligkeiten verwahrt zu haben schien, bedankte Henry sich beim Vermieter, dass er sie hereingelassen hatte.

»Wie lange hat sie hier gewohnt?«, fragte Fredrika, als der Vermieter wieder gegangen war.

»Er meinte, sie wäre am fünfzehnten August eingezogen.«

»Das war ungefähr der Zeitpunkt, zu dem sie bei der Zeitarbeitsfirma angefangen hat.«

»Apropos, hast du den Dienstplan schon bekommen?«

Fredrika holte ihr Handy heraus, checkte ihre E-Mails und schüttelte den Kopf. »Ich erinnere sie noch mal daran«, sagte sie entschuldigend und begann zu schreiben. »Blitz hat doch gesagt, dass Nomi einen Job hatte und mit einer Adresse in Olskroken in Göteborg gemeldet war, bevor sie hierhergezogen ist.«

Henry musterte Fredrika beeindruckt. Was für ein Multitasking-Talent, er würde es nie schaffen, gleichzeitig zu schreiben und zu sprechen.

»Ja.«

»Ist es nicht etwas seltsam, dass sie ohne konkreten Grund Wohnung und Job verlassen hat?«

»Ja, da hast du recht.«

»Abgeschickt.« Fredrika steckte das Handy wieder ein. »Wir müssen ihren Vater fragen, ob er weiß, warum. Wann sehen wir ihn?«

»Wir treffen uns um zehn im Hotel Lundia, in der Lobby.«

Henry ging durch die Wohnung. Es war bedrückend zu sehen, wie armselig Nomi gelebt hatte. Beim Anblick der kargen Einrichtung verkrampfte sich sein Magen. Wenn man so wohnte, konnte es einem nicht gut gehen.

»Ich sehe keinen Computer.«

»Vielleicht war sie zu jung. Inzwischen reicht vielen ihr Handy.«

Henry trat vor ein Foto an der Wand. Der Abzug hatte eine hohe Farbsättigung und zeigte einen jungen Mann mit Schnurrbart, der auf einer Bank saß und in die Linse blickte. Er trug ein T-Shirt mit einem Aufdruck, der wohl einen Mann mit einer Gasmaske darstellen sollte, und eine schwarze Lederjacke. Hinter ihm waren knospende Bäume zu sehen.

Vorsichtig nahm Henry das Foto ab und reichte es Fredrika. »Mai 1996«, las sie auf der Rückseite.

»Weißt du, wer das ist?«

»Nein.«

»Was hat er auf dem T-Shirt stehen?«

»Kennst du das Emblem nicht? Das ist Black Sabbath. Die Heavy-Metal-Band«, fügte sie hinzu und lächelte schief.

»Das weiß ich doch«, antwortete Henry und nahm einen Schluck aus seinem mitgebrachten Thermobecher. Er war mit dem falschen Fuß aufgestanden und hatte versucht, seine schlechte Laune durch eine lange Dusche und eines seiner Lieblingshemden wettzumachen, aber nichts hatte geholfen. Peinlich berührt wandte er das Gesicht ab. Er wollte nicht, dass Fredrika glaubte, er würde gleich sauer werden, nur weil sie angedeutet hatte, dass er eine ausgediente Rockband nicht kannte.

 

Die beiden brauchten nicht lang, bis sie die Wohnung in alle Winkel hinein durchsucht hatten. Sie zogen die Wohnungstür zu und machten sich auf den Rückweg. Im Eingangsbereich stießen sie mit einer Frau zusammen, die einen großen Hund mit struppigem Fell bei sich hatte, der sabberte und grauenvoll roch.

»Elsie?«, rief Fredrika überrascht, und die Frau lächelte erfreut.

»Ist das nicht Anders’ Fredrika?«

»Ja, die bin ich. Wohnst du jetzt hier?«

»Ja, nachdem mein Mann gestorben war, ist mir der Hof zu viel geworden«, erwiderte die Frau mit trauriger Miene.

Henry seufzte still. Hoffentlich trafen sie nicht noch mehr Menschen, mit denen Fredrika zu reden anfing, sonst würden sie den Rest des Tages hier verbringen.

»Das tut mir leid. Das ist übrigens mein Kollege, Henry Calment. Henry, das ist meine alte Grundschullehrerin, Elsie Mott.«

Elsie lächelte Henry freundlich an und wandte sich dann wieder Fredrika zu.

»Es ist mir schon zu Ohren gekommen, dass du wieder da bist. Seid ihr hier, um herauszufinden, warum dieses arme Mädchen ertrunken ist?«

»Ja, kanntest du sie?«

»Nein.« Elsie schüttelte den Kopf. »Wir haben uns nur ein paarmal im Treppenhaus gegrüßt.«

»Hatte sie öfter mal Besuch?«

»Nicht dass ich wüsste. Sie war meistens allein. Ein bisschen seltsam ist es ja schon, dass ein so junges, hübsches Mädchen aufs Land zieht, wo sie niemanden kennt.«

»Sie hatte sicher ihre Gründe«, erwiderte Henry und trat einen Schritt zurück, als der Hund keuchend an seinen Schuhen schnüffelte.

»Aus, Caesar!« Die Frau zog am Halsband und das Tier ließ sich nieder. »Entschuldigen Sie, er ist nicht ganz einfach zu bändigen.«

»Dann sollten Sie vielleicht keinen so großen Hund haben«, murmelte Henry, aber Elsie schien ihn nicht zu hören. Stattdessen deutete sie auf das Foto in Fredrikas Hand.

»Warum hast du ein Foto von Tobias Falk?«

»Du kennst ihn?«

»Ja, er hat früher hier im Ort gewohnt.«

»Ich glaube, ich habe den Namen schon mal gehört, aber ich erinnere mich nicht richtig an ihn«, meinte Fredrika.

»Das ist nicht so verwunderlich, damals warst du ja noch ein Kind.« Elsie lächelte. »Tobias war ein richtiger Tunichtgut. Es gab ständig Ärger mit dem Jungen. Einmal hat er das Fußballfeld mit seinem Moped ruiniert, und ein anderes Mal Diebesgut aus der Garage seiner Mutter verkauft. Sie war völlig verzweifelt, die Arme.«

»Was ist aus ihm geworden?«

Elsie tätschelte Caesar den Kopf und atmete schwer. »Er ist irgendwo hingezogen, wo es warm ist, meine ich mich zu erinnern. Ehrlich gesagt waren die meisten einfach nur froh, dass er weg war.«

»Wohnt denn seine Mutter noch hier?«